Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Arsène Lupin heiratet

»Arsène Lupin hat die Ehre, Ihnen seine Vermählung mit Fräulein Angelika de Sarzeau-Vendôme, Prinzessin von Bourbon-Condé, anzuzeigen und bittet Sie, den Trauungsfeierlichkeiten in der Kirche zur heiligen Clotilde beizuwohnen.«

»Der Herzog von Sarzeau-Vendôme hat die Ehre, Ihnen die Vermählung seiner Tochter Angelika, Prinzessin von Bourbon-Condé mit Herrn Arsène Lupin mitzuteilen und bittet Sie ...«

 

Der Herzog von Sarzeau-Vendôme konnte die Briefe in seiner zitternden Hand nicht zu Ende lesen. Er war bleich vor Zorn, sein langer, hagerer Körper zitterte, er schien zu ersticken.

»Da«, sagte er zu seiner Tochter, indem er ihr die beiden Briefe hinhielt.

»Das haben unsere Freunde auch bekommen! Das wird jetzt seit gestern in allen Straßen verbreitet. Na, wie gefällt dir diese Infamie, Angelika? Was würde deine arme Mutter dazu sagen, wenn sie noch lebte?«

Angelika war lang und hager wie ihr Vater. Dürr und knochig wie er, etwa dreißigjährig, immer in schwarze Wolle gekleidet und außerordentlich schüchtern, hatte sie einen zu kleinen Kopf, der auf beiden Seiten rechts und links eingedrückt war und aus dem eine lange Nase hervorragte, die gegen eine solche Vernachlässigung durch die Natur zu protestieren schien. Trotzdem konnte man nicht sagen, daß Angelika häßlich sei. So schön waren ihre sanften ernsten Augen, die einen traurigen Stolz verrieten. Man vergaß diese Augen nicht mehr, wenn man sie einmal gesehen hatte.

Als sie von ihrem Vater hörte, welche Beleidigung ihr widerfahren sei, war sie über und über rot geworden. Sie liebte diesen Vater, obwohl er manchmal hart, ungerecht und sogar despotisch zu ihr war.

»Ich denke, das ist ein Scherz, Vater, und man sollte der Sache nicht zuviel Gewicht beilegen.«

»Ein Scherz? Aber die ganze Welt redet doch jetzt davon. Zehn Zeitungen drucken heute morgen diesen abscheulichen Brief ab, man kommentiert ihn mit ironischen Bemerkungen. Man erinnert an unsere Genealogie, an unsere Vorfahren, an die berühmten Toten unserer Sippe. Man tut so, als ob man die Sache ernst nähme!«

»Das kann doch niemand glauben ... selbstverständlich niemand.«

»Das hindert jedoch nicht, daß wir das Stadtgespräch von Paris sind.«

»Morgen redet kein Mensch mehr davon.«

»Morgen, meine Tochter, wird man sich auch noch erinnern, daß der Name Angelikas von Sarzeau-Vendôme mehr im Munde der Leute war, als es sich gehört. Ach, wenn man nur wüßte, wer der Elende ist, der die Frechheit gehabt hat ...«

In diesem Augenblick trat Hyazinth, sein Kammerdiener, ein und meldete dem Herzog, daß man ihn am Telephon verlange. Wütend nahm er den Hörer ab und brummte:

»Nun? Was gibt es? – Jawohl, ich selbst, der Herzog von Sarzeau-Vendôme.«

»Ich habe Sie und Fräulein Angelika um Entschuldigung zu bitten, Herr Herzog. Es ist die Schuld meines Sekretärs ...«

»... Ihres Sekretärs?«

»Ja, die Einladungsbriefe waren nur ein Entwurf, den ich Ihnen zur Begutachtung vorlegen wollte. Unglückseligerweise hat mein Sekretär geglaubt ...«

»Ja, zum Teufel, Herr, wer sind Sie denn?«

»Wie, Herr Herzog, Sie kennen meine Stimme nicht, die Stimme Ihres zukünftigen Schwiegersohnes?«

»Was?«

»Arsène Lupin.«

Der Herzog fiel in einen Sessel. Er war totenbleich.

»Arsène Lupin ... Arsène Lupin!«

Angelika mußte unwillkürlich lächeln: »Du siehst Vater, es handelt sich nur um einen Scherz, um eine Mystifikation!«

Doch der Herzog bekam einen neuen Wutanfall und ging gestikulierend im Zimmer auf und ab.

»Ich werde eine Klage anstrengen! Dieses Individuum, das sich über mich lustig zu machen wagt, muß ... Wenn es noch eine Gerechtigkeit gibt, so ...!«

Zum zweiten Male trat Hyazinth herein. Er brachte zwei Karten.

»Chotoir? Lepetit? Kenne ich nicht.«

»Es sind zwei Journalisten, Herr Herzog.«

»Was wollen die?«

»Sie möchten mit dem Herrn Herzog wegen ... der Heirat sprechen und ...«

»Man soll sie 'rausschmeißen!« schrie der Herzog. »Sagen Sie dem Portier, daß mein Haus für Lümmel dieser Art geschlossen ist.«

»Ich bitte dich, Vater!« wagte Angelika einzuwenden.

»Du, laß mich nur in Ruhe! Hättest du in die Ehe mit irgendeinem deiner Vettern eingewilligt, würde uns das jetzt nicht passieren.«

An demselben Abend, an dem sich diese Szene abspielte, brachte einer von den beiden Reportern auf der ersten Seite seines Blattes einen etwas phantastischen Bericht über seinen Besuch in der Rue de Varenne, dem Hause der Sarzeau-Vendôme, und verbreitete sich behaglich über den Zorn und die geharnischten Proteste des alten Edelmannes. Am anderen Tage druckte ein anderes Blatt ein Interview mit Arsène Lupin ab, das angeblich im Couloir der Oper stattgefunden hatte. Arsène sagte darin:

»Ich teile vollkommen die Entrüstung meines zukünftigen Schwiegervaters. Die Versendung dieser Briefe ist eine Inkorrektheit, für die ich zwar nicht verantwortlich bin, für die ich aber öffentlich um Entschuldigung zu bitten mich verpflichtet fühle. Bedenken Sie doch, der Termin unserer Heirat ist noch nicht einmal festgesetzt, mein Schwiegervater ist für Anfang Mai, meine Verlobte und ich finden es ein wenig lange, noch sechs Wochen warten zu müssen!«

Für die Freunde des Hauses hatte die Sache einen ganz besonderen Reiz, weil der Charakter des Herzogs, sein Stolz, seine reaktionäre Gesinnung und seine Prinzipien bekannt waren. Als letzter Abkömmling der Barone von Sarzeau, der edelsten Familie der Bretagne, hatte der Herzog Jean niemals auf irgendeines der Vorurteile des alten Regimes verzichtet. In seiner Jugend war er dem Grafen von Chambord in die Verbannung gefolgt. Im Alter schlug er einen Sitz im Palais Bourbon unter dem Vorwande aus, daß ein Sarzeau nur unter seinesgleichen sitzen könne.

Die Angelegenheit regte ihn sehr auf. Sein Zorn ließ nicht nach. Er legte Lupin kräftige Schimpfnamen bei, drohte, ihn mit allen möglichen Mitteln zu verfolgen, und ließ schließlich seine Erregung an seiner Tochter aus.

»Siehst du! Warum hast du nicht geheiratet? Es hat dir wahrhaftig nicht an Anträgen gefehlt! Deine drei Vettern Mussy, d'Emboise und Caorche sind von gutem Adel, haben eine ausgezeichnete Verwandtschaft und sind reich genug. Sie würden dich heute noch gern heiraten. Warum willst du sie nicht? Ja, das gnädige Fräulein ist eben verträumt, sentimental, ihre Vettern sind ihr zu dick oder zu mager oder zu gewöhnlich ...«

Sie antwortete sanft:

»Du wirst dich noch krank machen, Vater. Vergiß diese lächerliche Geschichte.«

Wie sollte er vergessen? Jeder Tag riß seine Wunde von neuem auf. Drei Tage lang hintereinander empfing Angelika kostbare Blumensträuße, in denen eine Visitenkarte von Arsène Lupin verborgen war. Er konnte nicht in seinen Klub gehen, ohne daß ein Freund zu ihm sagte:

»Die heutige Notiz war wieder furchtbar drollig.«

»Was?«

»Nun, der neue Streich Ihres Schwiegersohnes. Ach, Sie wissen noch nicht? Da, lesen Sie: ›Arsène Lupin wird an den Staatsrat eine Eingabe machen, um die Erlaubnis zu erlangen, seinem Namen den Namen seiner Frau beizufügen und sich fortan Lupin de Sarzeau-Vendôme zu nennen.‹«

Und am folgenden Tage las man:

»Da die junge Verlobte auf Grund einer noch gültigen Verordnung Karls des Zehnten den Titel und das Wappen der Bourbon-Condé führt, deren letzte Erbin sie ist, so wird der älteste Sohn Lupins von Sarzeau-Vendôme den Namen Prinz Arsène von Bourbon-Condé führen.«

Und am folgenden Tage meldete eine Reklamenachricht: »Das große Wäschegeschäft soundso stellte die Ausstattung von Fräulein Sarzeau-Vendôme aus. Die Initialen lauten: L.S.V.«

Dann veröffentlichte eine illustrierte Zeitung ein Bild: »Der Herzog, sein Schwiegersohn und seine Tochter bei einer Partie Piquet.«

Über den Heiratskontrakt erfuhr man folgende Einzelheiten: Lupin zeige eine wunderbare Uneigennützigkeit. Er würde, so hieß es, mit geschlossenen Augen unterzeichnen, ohne die Höhe der Mitgift zu kennen.

Über all das geriet der alte Edelmann außer sich. Sein Haß gegen Lupin nahm krankhafte Dimensionen an. Obwohl ihm der Gang schwer fiel, begab er sich zum Polizeipräfekten, der ihm riet, auf der Hut zu sein.

»Wir kennen diese Persönlichkeit, sie wendet gegen Sie einen ihrer beliebten Tricks an. Er brockt, verzeihen Sie mir den Ausdruck, Herr Herzog, Ihnen eine Suppe ein. Gehen Sie ihm nicht in die Falle.«

»Was für ein Trick? Was für eine Falle?« fragte der Herzog ängstlich.

»Er versucht, Sie rasend zu machen und durch Einschüchterung zu einem Entschluß zu verleiten, auf den Sie kalten Blutes nicht eingehen würden.«

»Arsène Lupin hofft doch wohl nicht, daß ich ihm wirklich die Hand meiner Tochter geben werde?«

»Nein, aber er hofft, daß Sie ... wie soll ich sagen ... eine Dummheit begehen werden.«

»Was für eine?«

»Die Dummheit, die er gerade beabsichtigt.«

»Und was raten Sie mir, Herr Präfekt?«

»Ruhig nach Hause zu fahren, Herr Herzog. Oder, wenn gerade dieses Sie zu sehr mitnimmt, aufs Land zu reisen und dort ruhig zu bleiben, ohne sich aufzuregen.«

Diese Unterhaltung erhöhte nur die Furcht des alten Edelmannes. Lupin war in seinen Augen ein schrecklicher Mensch, der alle teuflischen Mittel anwenden würde und der in allen Weltteilen Komplicen hatte. Er mußte wirklich auf seiner Hut sein. Sein Leben war tatsächlich unerträglich geworden.

Er wurde immer mürrischer und schweigsamer, verschloß seine Tür allen Freunden, selbst den Bewerbern Angelikas, den drei Vettern Mussy, d'Emboise und Caorche, die wegen ihrer Rivalität alle miteinander böse waren, so daß jeder von ihnen in einer anderen Woche seine Besuche machte.

Ohne den geringsten Grund jagte der Herzog seinen Haushofmeister und seinen Kutscher fort. Aber er wagte nicht, sie durch andere Leute zu ersetzen, weil er fürchtete, daß auf diese Weise Kreaturen Arsène Lupins bei ihm eindringen könnten. Zu seinem Kammerdiener Hyazinth, der schon seit vierzig Jahren in seinen Diensten war, hatte er volles Vertrauen. Dieser mußte nun für den Stall und für die Verwaltung sorgen.

Um ihm Mut zu machen, sagte Angelika:

»Ich begreife wirklich nicht, wovor du dich eigentlich fürchtest, Vater. Kein Mensch der Welt kann mich zu dieser absurden Heirat zwingen.«

»Zum Donnerwetter, das fürchte ich ja gar nicht!«

»Was dann, Vater?«

»Weiß ich's? Eine Entführung ... einen Einbruch, einen Gewaltstreich! Zweifellos führt der Elende etwas im Schilde, und zweifellos sind wir von Spionen umgeben.«

Eines Nachmittags bekam er eine Zeitung, in der folgender Artikel mit rotem Bleistift unterstrichen war. »Die Festlichkeit der Ehevertragsunterzeichnung findet heute im Palais Sarzeau-Vendôme statt. Es wird eine ganz intime Feierlichkeit sein, zu der nur einige Bevorzugte zugezogen werden, um den Verlobten ihre Glückwünsche darzubringen. Arsène Lupin wird dem Prinzen von Laroche-Faucould-Limours und dem Grafen von Chartre, den Trauzeugen seiner Verlobten, die Persönlichkeiten vorstellen, die von seiner Seite der Hochzeit beiwohnen werden, nämlich den Herrn Polizeipräsidenten und den Herrn Direktor der Irrenanstalt.«

Das war denn doch zu stark.

Zehn Minuten später ließ der Herzog durch seinen Diener Hyazinth drei Rohrpostbriefe aufgeben. Um vier Uhr empfing er im Beisein Angelikas die drei Vettern Paul de Mussy, einen dicken, schwerfälligen Herrn, Jacques d'Emboise, der klein und schüchtern war und ein rotes Gesicht hatte, und endlich Anatole de Caorche, einen ebenfalls kleinen, mageren und kränklichen Menschen.

Alle drei waren bereits ältliche Junggesellen ohne Eleganz und ohne vornehmes Aussehen.

Die Versammlung dauerte nicht lange. Der Herzog hatte einen Feldzugsplan entworfen, einen Verteidigungsplan, dessen erste Hälfte er in folgenden kategorischen Worten kundgab:

»Angelika und ich verlassen noch heute nacht Paris. Wir werden uns auf unsere Landgüter in der Bretagne zurückziehen. Ich zähle auf euch drei, meine lieben Neffen, um bei dieser Abreise mitzuwirken. Du, Emboise, wirst mich mit deiner Limousine abholen, Sie, Mussy, werden ebenfalls in Ihrem Automobil kommen und so freundlich sein, zusammen mit meinem Kammerdiener Hyazinth sich um das Gepäck kümmern. Du, Caorche, wirst dich am Orléansbahnhof einfinden und für den Zug um 10 Uhr 40 Schlafwagen nach Vannes nehmen. Einverstanden?«

Das Ende des Tages verlief ohne Zwischenfälle. Nach dem Essen gab der Herzog Hyazinth, um allem indiskreten Geschwätz aus dem Wege zu gehen, den Auftrag, nur einen großen und einen kleinen Koffer zu packen. Hyazinth sowie die Kammerfrau Angelikas sollten mitreisen.

Um neun Uhr war die ganze Dienerschaft bereits auf Befehl ihres Herrn zu Bett gegangen. Zehn Minuten vor zehn hörte der Herzog, der mit seinen Vorbereitungen gerade fertig geworden war, die Hupe eines Automobils. Der Portier öffnete das große Tor. Vom Fenster aus erkannte der Herzog den kleinen Landauer Jacques d'Emboise'.

»Sagen Sie ihm, daß ich schon komme«, befahl er Hyazinth, »und benachrichtigen Sie das gnädige Fräulein.«

Einige Minuten später verließ er, da Hyazinth noch nicht zurück war, sein Zimmer. Aber auf dem Treppenabsatz wurde er von zwei maskierten Männern überfallen, die ihm einen Knebel in den Mund steckten, bevor er einen Schrei ausstoßen konnte. Einer der Männer sagte ihm mit leiser Stimme: »Also erstens Herr Herzog: Wenn Sie darauf bestehen, Paris zu verlassen und mir nicht Ihre Einwilligung geben, so wird es noch schlimmer kommen.«

Dasselbe Individuum schärfte seinem Begleiter ein:

»Bewach' ihn gut. Ich werde mich mit dem Fräulein beschäftigen.«

In diesem Augenblick hatten zwei andere Komplicen sich bereits der Kammerfrau bemächtigt. Angelika, die ebenfalls einen Knebel in den Mund bekam, lag ohnmächtig in einem Fauteuil ihres Boudoirs.

Sie erwachte bald darauf unter der Einwirkung von Salzen, die man sie einatmen ließ. Als sie die Augen öffnete, sah sie, wie ein junger Mann in Gesellschaftskleidung mit lächelndem sympathischen Gesicht sich zu ihr herabbeugte; er sagte:

»Ich bitte Sie um Verzeihung, gnädiges Fräulein. Alle diese Handlungen sind ein wenig gewaltsam, und die ganze Art und Weise, vorzugehen, ist ein bißchen ungewöhnlich. Doch die Umstände zwingen uns mitunter zu Handlungen, die von unserem Gewissen nicht gebilligt werden. Entschuldigen Sie mich bitte.«

Er nahm sie sanft bei der Hand und steckte mit folgenden Worten dem jungen Mädchen einen goldenen Ring an den Finger.

»Also jetzt sind wir verlobt, vergessen Sie niemals den, der Ihnen diesen Ring gibt ... er bittet Sie, ihn nicht zu fliehen ... und in Paris die Beweise seiner Ergebenheit abzuwarten. Haben Sie Vertrauen zu ihm ...«

Er sagte das alles in so ernstem und zugleich ehrerbietigem Tone, mit soviel Würde und Respekt zugleich, daß sie nicht die Kraft hatte, zu widerstehen. Ihre Augen trafen sich. Er murmelte:

»Was für schöne Augen Sie haben! Es wird gut sein, unter dem Blick dieser Augen zu leben. Schließen Sie sie jetzt ...«

Er zog sich zurück. Seine Komplicen folgten ihm. Das Automobil fuhr wieder davon, und der Palast in der Rue de Varenne blieb still bis zu dem Augenblick, wo Angelika ihr Bewußtsein wiedererlangte und nach der Dienerschaft rief. Diese fand den Herzog, Hyazinth, die Kammerfrau und alle anderen Angestellten gefesselt. Einige Nippessachen von großem Werte waren verschwunden. Ebenso die Brieftasche des Herzogs sowie aller Schmuck, Krawattennadeln, Perlenboutons, Uhren usw. usw.

Die Polizei wurde sofort benachrichtigt. Bereits am nächsten Morgen erfuhr man, daß am vorangegangenen Abend d'Emboise, als er im Automobil von Hause fort fuhr, von seinem eigenen Chauffeur einen Messerstich erhalten habe und halbtot in einer entlegenen Straße liegengelassen worden sei. Was Mussy und Caorche anbetraf, so hätten sie angeblich vom Herzog einen telephonischen Anruf erhalten, der die Verabredung aufhob.

Ohne sich um die bereits im Gange befindliche Untersuchung zu kümmern, ohne auf die Vorladung durch einen Untersuchungsrichter zu antworten, ja sogar ohne den Bericht Arsène Lupins über »die Flucht aus Varenne« in den Zeitungen zu lesen, nahmen am folgenden Tage der Herzog, seine Tochter und Hyazinth heimlich einen Zug nach Vannes und bezogen abends das alte feudale Schloß, das die Halbinsel Sarzeau beherrschte. Alsbald organisierte man mit Hilfe bretonischer Bauern, wahrer mittelalterlicher Kriegsknechte, den bewaffneten Widerstand. Am vierten Tage kam Mussy an, am fünften Caorche und am siebenten Emboise, dessen Verwundungen nicht so ernster Natur waren, wie man anfangs befürchtet hatte.

Der Herzog wartete zwei Tage, bevor er seiner Umgebung Mitteilung von dem machte, was er nach dem Gelingen seiner glücklichen Flucht, die zweite Hälfte seines Kriegsplanes nannte. Er tat es in Gegenwart der drei Vettern mittels eines strengen Befehls, den er seiner Tochter schriftlich diktiert hatte und der also lautete:

»Alle diese Geschichten bereiten mir den größten Kummer. Ich habe gegen diesen Menschen, dessen Verwegenheit wir ja alle kennengelernt haben, einen Kampf unternommen, der mich erschöpft. Ich will ein Ende machen, um jeden Preis! Dazu gibt es nur ein Mittel, Angelika, nämlich, daß du einen deiner drei Vettern zum Manne nimmst. Vor Ablauf eines Monats mußt du die Frau von Mussy, von Caorche oder von d'Emboise sein. Du hast freie Wahl, entscheide dich.«

Vier Tage lang weinte Angelika, flehte sie den Vater an, aber sie wußte wohl, daß er unerbittlich bleiben würde und daß sie sich schließlich seinem Willen unterwerfen müßte. Sie willigte also endlich ein.

»Welchen du willst, Vater. Ich liebe keinen von ihnen. Also ist es mir egal, mit welchem von ihnen ich unglücklich werde.«

Darüber entstand ein neuer Streit, da der Herzog wollte, daß sie eine persönliche Wahl träfe. Sie gab nicht nach. Endlich, des Kampfes müde und auch weil er der reichste war, bezeichnete sie d'Emboise als den Erwählten. Die Einladungen wurden alsbald versandt.

Von nun ab verdoppelte man die Wachsamkeit rings um das Schloß, zumal Lupins Schweigen und das Aufhören aller weiteren Veröffentlichungen in den Zeitungen den Herzog von Sarzeau-Vendôme nur noch unruhiger machten. Es war klar, daß der Feind einen neuen Handstreich vorbereitete und daß er die Heirat durch eines seiner bekannten Manöver zu verhindern suchen würde.

Es geschah jedoch nichts. Auch der Abend, der der Feierlichkeit vorausging, verlief ruhig.

Die Heirat fand auf dem Bürgermeisteramte statt. Dann folgte die kirchliche Trauung. Das war alles. Jetzt erst atmete der Herzog auf. Trotz der Traurigkeit seiner Tochter, trotz des verlegenen Schweigens seines Schwiegersohnes, dem die Situation ein wenig peinlich zu sein schien, rieb er sich vergnügt die Hände, wie wenn er den stolzesten Sieg davongetragen hätte.

»Man soll die Zugbrücke herunterlassen«, sagte er zu Hyazinth. »Jedermann soll Eintritt haben. Wir haben nichts mehr von dem Elenden zu fürchten.«

Nach dem Essen ließ er Wein unter die Bauern verteilen und stieß selbst mit ihnen an. Sie sangen und tanzten.

Um drei Uhr kehrte er in die Säle des Erdgeschosses zurück.

Es war um die Zeit seines Nachmittagsschlafes. Am Ende des Ganges gelangte er in den Waffensaal. Doch kaum hatte er dessen Schwelle übertreten, als er plötzlich stehenblieb und ausrief:

»Was machst du denn hier, d'Emboise? Soll das ein Scherz sein?«

D'Emboise stand vor ihm in bretonischer Fischerkleidung, mit einem schmutzigen Rock, der zerrissen, geflickt und viel zu lang und weit für ihn war.

Der Herzog war wie vom Donner gerührt. Lange sah er mit verstörten Augen in dieses Gesicht, das er kannte und das doch in ihm die undeutliche Erinnerung an eine sehr entfernte Zeit weckte. Dann ging er auf eines der Fenster zu, das auf die Esplanade hinausführte, und rief:

»Angelika.«

»Was gibt es, Vater?« antwortete sie, indem sie näher kam.

»Dein Mann?«

»Da ist er, Vater«, sagte Angelika, indem sie auf d'Emboise wies, der in einiger Entfernung saß, las und dabei eine Zigarette rauchte.

Der Herzog wankte und fiel zitternd vor Schreck in einen Sessel.

»Ich werde noch verrückt!«

Aber der Mann, der die Fischerkleidung trug, kniete vor ihm nieder und sagte:

»Sehen Sie mich an, Onkel! Sie erkennen mich nicht wieder, nicht wahr? Ich bin es, Ihr Neffe, der einst hier spielte und den Sie Jacquot nannten ... Erinnern Sie sich doch ... Hier, sehen Sie diese Wunde ...«

»Ja,« stammelte der Herzog, »ich erkenne dich wieder ... du bist es, Jacques! Aber der andere ...« Er preßte den Kopf in beide Hände: »Und dennoch, nein, es ist ja nicht möglich ... erkläre mir doch ... Ich begreife nicht ... ich will nicht begreifen.«

*

Es entstand ein Schweigen, während dessen der Neuangekommene das Fenster und die Tür schloß, die in den benachbarten Salon führte. Dann näherte er sich dem alten Edelmann und berührte leise seine Schulter, um ihn aus seiner Betäubung zu erwecken. Ohne weitere Einladung und wie um jede Erklärung abzuschneiden, die nicht notwendig zur Sache gehörte, begann er:

»Sie erinnern sich, Onkel, daß ich vor vierzehn Jahren Frankreich verließ, nachdem Angelika meinen Heiratsantrag abgewiesen hatte. Vor nunmehr vier Jahren, also im elften Jahre meiner Verbannung im äußersten Süden Algiers, machte ich im Laufe einer von einem Araber veranstalteten Jagdpartie die Bekanntschaft eines Menschen, dessen Charme, dessen unerhörte Geschicklichkeit, dessen großer Mut und dessen zugleich ironischer und tiefer Geist mich ganz und gar gefangennahmen. Der Graf Andresy verbrachte sechs Wochen bei mir. Als er abgereist war, standen wir miteinander in ziemlich regelmäßigem Briefwechsel. Außerdem las ich oft seinen Namen unter den gesellschaftlichen und sportlichen Nachrichten in den Zeitungen. Er wollte wiederkommen, und ich bereitete mich vor etwa drei Monaten schon auf seinen Empfang vor, als eines Abends, da ich gerade spazierenritt, die beiden arabischen Diener in meiner Begleitung sich auf mich stürzten, mich fesselten, mir die Augen verbanden und mich sieben Tage und sieben Nächte lang auf einsamen Wegen bis zu einer Bucht an der Küste führten, wo fünf Männer sie erwarteten. Ich wurde alsbald auf einen kleinen Dampfer gebracht, der auch sofort in See ging.

Wer diese Männer waren, welche Absicht sie mit meiner Entführung verbanden, dafür konnte ich keinen Anhaltspunkt finden. Sie hatten mich in einer engen Kabine eingeschlossen, durch die kreuzförmig zwei Stangen hindurchgingen. Jeden Morgen stellte man durch eine kleine Öffnung, die von meiner Kabine in die Nachbarkabine ging, einige Brote, eine Schüssel mit Suppe und eine Flasche Wein auf mein Lager und nahm auf diese Weise auch die Überreste vom vorherigen Tage fort.

Von Zeit zu Zeit stoppte des Nachts die Yacht, und ich vernahm das Geräusch eines kleinen Beibootes, das zu irgendeinem Hafen hinüberfuhr und dann offenbar mit Lebensmitteln wieder zurückkehrte. Dann fuhr das Schiff wieder weiter. Aber man schien keine große Eile zu haben. Es war, wie wenn eine Gesellschaft zu ihrem Vergnügen herumkreuzte. Manchmal, wenn ich auf einen Stuhl stieg, bemerkte ich von der Kabine aus einen Streifen von der Küste, der aber so undeutlich war, daß ich nichts erkennen konnte.

Das dauerte wochenlang. Als ich am Morgen des neunten Tages bemerkt hatte, daß die Verbindungsluke nicht geschlossen war, stieß ich sie auf. Mit einiger Anstrengung glückte es mir, eine Nagelfeile auf dem Toilettentisch der Nebenkabine zu erwischen.

Zwei Wochen später hatte ich mit vieler Geduld die eisernen Stangen meiner Kabine durchfeilt, und ich hätte so entwischen können. Nun bin ich zwar ein guter Schwimmer, aber ich werde rasch müde. Ich mußte also einen Augenblick wählen, wo die Yacht nicht so weit vom Lande entfernt war. Erst vorgestern bemerkte ich die Küste, und ich erkannte gestern abend bei Sonnenuntergang zu meinem Erstaunen die Umrisse des Schlosses Sarzeau mit seinen spitzen Türmen und dem Bergfried. War das das Ziel meiner geheimnisvollen Reise? Die ganze Nacht kreuzten wir auf offener See und ebenso noch am folgenden Tage. Gestern morgen endlich näherte man sich der Küste bis zu einer Entfernung, die ich für meinen Plan für um so günstiger hielt, als wir zwischen Klippen hindurchfuhren, hinter denen ich mich sicher verbergen konnte. Aber als ich gerade fliehen wollte, bemerkte ich, daß die Verbindungsluke, die ich geschlossen zu haben glaubte, sich von selbst wieder geöffnet hatte und gegen die Wand hin und her schlug. Neugierig sah ich in die Nachbarkabine hinein. In Reichweite meines Armes befand sich ein Schrank, den ich öffnen konnte und aus dem ich, mit den Händen tastend, ein Bündel Papiere herauszog.

Es waren Briefe, die Instruktionen für die Banditen enthielten, deren Gefangener ich war. Eine Stunde darauf ließ ich mich ins Meer hinabgleiten und wußte alles: die Gründe meiner Entführung, die dazu angewendeten Mittel, den Zweck, den man damit verfolgte, und die Niederträchtigkeiten, die man seit drei Monaten gegen den Herzog von Sarzeau-Vendôme und seine Tochter ins Werk setzte. Unglücklicherweise war es schon zu spät. Da ich mich, um vom Schiff aus nicht gesehen zu werden, hinter einem Felsen versteckt halten mußte, gelangte ich erst um Mitternacht an die Küste. Ich hatte gerade noch Zeit, eine Fischerhütte aufzusuchen und meine Kleider gegen diese hier umzutauschen. So war es drei Uhr geworden. Als ich hier ankam, erfuhr ich, daß die Hochzeit heute morgen stattgefunden hatte.«

Der alte Edelmann hatte erst kein Wort gesprochen. Seine Augen starrten auf den Fremden, dem er mit wachsender Angst zuhörte.

Unwillkürlich mußte er sich der Worte des Polizeipräfekten erinnern: »Man brockt Ihnen eine Suppe ein, Herr Herzog.« Er sagte mit dumpfer Stimme: »Sprich! ... komm zu Ende.« Der Fremde fuhr fort:

»Ach, alles Weitere ist mit ein paar Worten gesagt. Von seinem Besuche bei mir und den vertraulichen Mitteilungen, die ich so töricht war, ihm zu machen, hatte der Graf Andresy folgende Einzelheiten im Gedächtnis behalten: erstens, daß ich Ihr Neffe sei, daß Sie mich jetzt vermutlich kaum noch erkennen würden, da ich ja Sarzeau als Kind verlassen hatte und unsere Beziehungen sich seitdem auf einen Aufenthalt von nur wenigen Wochen beschränkt hatten, als ich vor fünfzehn Jahren hier um die Hand meiner Kusine Angelika anhielt. Zweitens, daß ich mit meiner Vergangenheit gebrochen hatte und mit der Heimat nicht mehr korrespondierte und schließlich, daß Andresy und ich eine große Ähnlichkeit miteinander hatten, die man durch irgendwelche Mittel leicht noch unterstreichen könnte. Auf diese Punkte bauten sich nun seine Pläne auf. Er dingte meine beiden arabischen Diener, die ihn, sobald ich Algier verlassen hatte, benachrichtigen sollten. Dann kam er unter meinem Namen und mit meinem Äußern nach Paris zurück, führte sich bei Ihnen ein, wurde alle vierzehn Tage eingeladen und lebte unter meinem Namen, der nur eine der vielen falschen Etiketten war, hinter denen er seine wirkliche Persönlichkeit verbarg. Vor drei Monaten begann er nun seinen Angriff durch eine Reihe von Veröffentlichungen in der Presse. Da er fürchtete, daß eine Zeitung in Algier die Rolle, die er in Paris unter meinem Namen spielte, aufdecken könnte, ließ er mich durch meine Diener überfallen und von seinen Komplicen rauben. Brauche ich noch mehr zu erzählen, lieber Onkel?«

Ein nervöses Zittern überlief den Herzog von Sarzeau-Vendôme. Die entsetzliche Wahrheit, der er bis jetzt die Augen verschlossen hatte, erschien ihm in ihrer ganzen Bedeutung. Er faßte die Hände seines Gegenüber und rief verzweifelt:

»Es ist Lupin, nicht wahr?«

»Ja, Onkel!«

»Und ihm habe ich meine Tochter zur Frau gegeben!«

»Ja, Onkel, ihm, der mir meinen Namen Jacques d'Emboise und Ihnen die Tochter gestohlen hat. Angelika ist jetzt die legitime Frau Arsène Lupins, und zwar auf Ihren Befehl. Dieser Brief von ihm hier mag als Beweis dafür dienen. Er hat Ihrem Hause einen Diebesbesuch abgestattet, und zwar gerade, als Sie aus Angst flüchteten und Ihrer Tochter befahlen, einen ihrer Vettern Mussy, d'Emboise oder Caorche zum Gatten zu wählen.«

»Aber warum hat sie gerade den gewählt und nicht einen der beiden anderen?«

»Sie haben ihn ja gewählt, Onkel.«

»Zufällig, weil er der reichste war.«

»Nein, nicht zufällig, sondern auf den hinterlistigen Rat Ihres Dieners Hyazinth.«

Der Herzog fuhr in die Höhe.

»Was, Hyazinth wäre mitschuldig?«

»Nein, nicht der Mitschuldige Arsène Lupins, aber des Mannes, den er für Emboise hält und der ihm versprochen hatte, ihm acht Tage nach der Hochzeit hunderttausend Francs zu zahlen.«

»Ach, der Bandit!«

»Er hat alles erdacht, alles vorausgesehen, Onkel, sogar ein Attentat gegen sich selbst, um den Verdacht von sich abzulenken.«

»Aber in welcher Absicht? Warum alle diese Gemeinheiten?«

»Angelika besitzt elf Millionen, Onkel. Ihr Notar in Paris sollte die Effekten dem falschen Emboise nächste Woche ausliefern, der sie dann zu Gelde machen und verschwinden würde. Heute morgen erst haben Sie ihm ein persönliches Geschenk von fünfhunderttausend Francs in Obligationen gemacht, die er heute abend um neun Uhr außerhalb des Schlosses in der Nähe der großen Eiche einem seiner Komplicen aushändigen wird, der sie morgen früh in Paris verkauft.«

Der Herzog von Sarzeau-Vendôme hatte sich erhoben; er ging mit großen Schritten im Zimmer wütend auf und ab. »Heute abend um neun Uhr«, sagte er. »Na, wir werden ja sehen ... sofort benachrichtige ich die Gendarmerie.«

»Arsène Lupin pfeift auf die Gendarmerie.«

»Wir wollen sofort nach Paris telegraphieren.«

»Ja, aber die fünfhunderttausend Francs! Und dann bedenken Sie den Skandal, Onkel. Ihre Tochter Angelika von Sarzeau-Vendôme ist mit diesem Spitzbuben, diesem Briganten verheiratet! Nein, nein, auf keinen Fall.«

»Aber was tun?«

»Was tun?«

Der Neffe stand auf und ging zu einem Gewehrschrank, in dem verschiedene Waffen standen. Er nahm eine Flinte und legte sie vor dem alten Edelmann auf den Tisch: »Da unten, Onkel, im Wüstengebiet, wenn wir uns einem wilden Tier gegenüber befinden, benachrichtigen wir nicht die Gendarmerie, wir nehmen einfach unseren Karabiner und strecken die Bestie nieder, sonst würde sie uns mit ihren Klauen zermalmen.«

»Was meinst du damit?«

»Nun, ich meine, daß ich mich da unten daran gewöhnt habe, ohne Gendarmerie auszukommen. Das bedeutet eine etwas summarische Justiz, aber es ist ein gutes Mittel. Glauben Sie mir, und in der Lage, in der wir uns heute befinden, ist es sogar das einzige! Sobald das Tier tot ist, werden wir es zusammen irgendwo verscharren.«

»Und Angelika?«

»Wir werden sie nachher davon in Kenntnis setzen.«

»Was soll aus ihr werden?«

»Sie bleibt, was sie gesetzlich ist, meine Frau, die Frau des echten d'Emboise. Morgen verlasse ich Sie und kehre nach Algier zurück. In zwei Monaten ist die Scheidung ausgesprochen.«

Bleich, mit starren Augen und zitternden Knien hörte der Herzog zu. Er murmelte:

»Bist du auch sicher, daß seine Komplicen auf dem Schiff ihm nicht deine Flucht melden werden?«

»Nicht vor morgen.«

»Heute abend um neun Uhr wird Arsène Lupin, um zur großen Eiche zu gelangen, sicher den Weg wählen, der um die alten Wälle herum- und an den Ruinen der Kapelle vorbeiführt. Ich werde mich in den Ruinen versteckt halten.«

»Und ich werde auch da sein«, sagte der Herzog von Sarzeau-Vendôme, indem er sein Jagdgewehr ergriff.

Es war fünf Uhr nachmittags. Der Herzog unterhielt sich noch eine Weile mit seinem Neffen, prüfte die Waffe und lud sie. Als es dann Abend geworden war, führte er ihn über die dunkeln Korridore bis zu seinem Zimmer und versteckte ihn dort in einem Nebenraum.

Der Rest des Nachmittags verging ohne besondere Zwischenfälle. Der Herzog nahm in Gesellschaft Angelikas und seines Schwiegersohnes das Abendessen ein. Er bemühte sich, äußerlich die Ruhe zu bewahren. Von Zeit zu Zeit betrachtete er verstohlen seinen Schwiegersohn und wunderte sich über die Ähnlichkeit, die dieser tatsächlich mit dem echten d'Emboise hatte. Es war derselbe Teint, derselbe Gesichtsschnitt, derselbe Haaransatz, nur der Blick war etwas verschieden, etwas lebhafter, leuchtender. Und dann, bei näherem Zusehen, bemerkte auch der Herzog gewisse Einzelheiten, die ihm bisher nicht aufgefallen waren und die deutlich die Maskerade bewiesen. Nach dem Essen ging man auseinander; die Wanduhr zeigte acht Uhr. Der Herzog begab sich auf sein Zimmer und befreite seinen wirklichen Neffen. Zehn Minuten später, unter dem Schutze der Nacht, schlichen sie sich mit der Flinte in der Hand in die Ruinen.

Angelika hatte inzwischen mit ihrem Gatten das Zimmer aufgesucht, das sie im Erdgeschoß eines Turmes im linken Flügel des Schlosses innehatte. An der Schwelle sagte ihr Gatte:

»Ich gehe noch ein wenig spazieren, Angelika ... wartest du auf mich?«

»Gewiß«, sagte sie.

Er verließ sie und ging in den ersten Stock hinauf, der für ihn reserviert war. Sobald er allein war, verschloß er die Tür, öffnete vorsichtig ein Fenster und lehnte sich hinaus. Am Fuße des Turmes, vierzig Meter unter ihm, sah er einen Schatten. Er pfiff. Ein leichter Pfiff kam als Antwort zurück.

Dann zog er aus einem Schrank eine dicke Ledermappe, die mit Papieren vollgestopft war und die er in einen schwarzen Stoff einwickelte, den er zuband. Darauf setzte er sich an seinen Tisch und schrieb:

»Ich bin zufrieden, daß Du meine Nachricht bekommen hast, denn ich halte es für gefährlich, mit dem großen Effektenpaket das Schloß zu verlassen. Hier sind die Effekten. Mit Deinem Motorrad wirst Du dann mit dem Brüsseler Zuge nach Paris kommen. Dort wirst Du die Werte Z... übergeben, der sie sofort verkaufen soll. A. L.

P. S. Wenn Du an der großen Eiche vorbeikommst, sag den Kameraden, daß ich mich mit ihnen treffen werde. Ich habe ihnen Instruktionen zu geben. Sonst geht alles nach Wunsch. Niemand hat hier den geringsten Verdacht.«

Er band den Brief an das Paket und ließ es an einem Faden aus dem Fenster herab.

»Soweit wären wir«, sagte er. »Ich bin ganz ruhig.«

Einige Minuten noch ging er im Zimmer umher, dann stellte er sich lächelnd vor zwei Bilder von Edelleuten, die an den Wänden hingen.

»Oras de Sarzeau-Vendôme, Marschall von Frankreich ... Der große Condé ... Ich grüße euch, meine Ahnen. Lupin von Sarzeau-Vendôme wird sich eurer würdig zeigen.«

Endlich schien ihm der Moment gekommen. Er ergriff seinen Hut und stieg die Treppe hinab.

Da erschien unten an der Tür ihres Zimmers Angelika und rief ganz verstört:

»Hallo! ... Bitte ... Es wäre besser ...«

Dann verschwand sie, ohne fortzufahren. Ihr Mann wußte nicht, wie er ihr Entsetzen deuten sollte.

Sie ist krank, dachte er, die Ehe bekommt ihr nicht.

Er zündete sich eine Zigarette an und maß dem Vorfall keine Bedeutung bei.

»Arme Angelika! All das endet noch mit einer Scheidung ...«

Draußen war es dunkle Nacht. Der Himmel hing voller Wolken. Die Dienerschaft schloß die Fensterläden. Nirgends mehr brannte Licht, da der Herzog nach dem Essen schlafen zu gehen pflegte.

Als er beim Pförtner vorbeikam und zur Zugbrücke gelangte, sagte er: »Lassen Sie das Tor offen. Ich mache nur noch einen kleinen Spaziergang und komme bald zurück.«

Der Weg der Ronde lag rechts und führte an den Wällen entlang, die einst das Schloß umgeben hatten, bis zu einem verfallenen Tor. Dieser Weg, der um einen Hügel herum und dann an der Seite eines steil abfallenden Tals entlangführte, war linker Hand mit dichten Hecken bewachsen.

Er glaubte ein Geräusch zu hören und blieb stehen. Doch es war nur Rascheln von Blättern. Aber ein Stein rollte den Abhang hinunter und prallte gegen die Felsvorsprünge. Seltsamerweise beunruhigte ihn nichts, und er setzte seinen Weg fort. Die frische Seeluft wehte über die Ebene bis zu ihm herüber. Freudig sog er sich die Lungen voll.

Da bemerkte er im Dunkeln in einiger Entfernung den noch dunkleren Umriß der Kapelle, deren Ruinen den Weg um einige Meter überragten. Regentropfen begannen langsam zu fallen. Er hörte eine Uhr neun schlagen. Er schritt rascher aus. Erst ging es bergab, dann wieder bergauf. Plötzlich blieb er wieder stehen.

Eine Hand hatte seine Hand ergriffen. Er wich zurück, wollte sich losmachen. Aber irgend jemand tauchte hinter einer Baumgruppe auf und eine Stimme sagte:

»Schweigen Sie! ... Kein Wort!«

Er erkannte seine Frau Angelika.

»Was ist denn los?« fragte er.

Sie antwortete so leise, daß er ihre Worte kaum verstand:

»Man lauert Ihnen auf ... dort hinten ... in den Ruinen, mit Gewehren ...«

»Wer?«

»Ruhig! ... Hören Sie doch ...«

Eine Weile standen sie beide unbeweglich, dann sagte sie:

»Sie rühren sich nicht ... vielleicht haben sie uns nicht gehört. Kehren wir um ...«

»Ja, aber ...«

»Folgen Sie mir!«

Der Ton war so gebieterisch, daß er gehorchte, ohne zu fragen. Plötzlich zuckte sie zusammen:

»Wir müssen rennen! ... Sie kommen ... Bestimmt ...«

Tatsächlich hörte man das Geräusch von Schritten.

Sie packte seine Hand und eilte trotz der Finsternis und der Baumwurzeln so schnell und sicher von dannen, daß sie bald die Zugbrücke erreichten.

Sie schob ihren Arm unter seinen Arm. Der Wächter grüßte sie. Sie überquerten den großen Hof, betraten das Schloß, und sie führte ihn bis zum Eckturm, in dem sie beide wohnten.

»Gehen Sie hinein!« sagte sie.

»Zu Ihnen?«

»Ja.«

Zwei Kammerfrauen warteten. Auf das Geheiß ihrer Herrin zogen sie sich in ihre Zimmer im dritten Stock zurück.

Unmittelbar darauf klopfte es an der Tür des Vorzimmers, und eine Stimme rief:

»Angelika!«

»Bist du es, Vater?« fragte sie und beherrschte ihre Erregung.

»Ja, ist dein Mann hier?«

»Wir sind gerade nach Hause gekommen.«

»Sag' ihm doch, ich hätte mit ihm zu sprechen. Er soll zu mir hinunterkommen ... Es ist dringend ...«

»Jawohl, Vater, ich will ihn dir gleich schicken.«

Sie lauschte einige Sekunden, dann ging sie in das Boudoir zurück, in dem sich ihr Mann aufhielt und sagte:

»Ich habe allen Grund, anzunehmen, daß mein Vater sich nicht entfernt hat.«

Er tat, als wolle er gehen.

»Wenn er mich aber zu sprechen wünscht ...«

»Mein Vater ist nicht allein!« sagte sie lebhaft und versperrte ihm den Weg.

»Wer ist denn bei ihm?«

»Sein Neffe Jacques d'Emboise.«

Es entstand ein Schweigen. Er sah sie mit einer gewissen Überraschung an und verstand das Benehmen seiner Frau nicht. Aber ohne dieser Frage nachzugehen, spottete er:

»Ach, der vortreffliche d'Emboise ist da! Dann ist ja alles verraten. Es sei denn, daß ...«

»Mein Vater weiß alles. Ich habe vorhin ein Gespräch zwischen beiden belauscht. Sein Neffe hat Briefe gelesen ... Zuerst wollte ich Sie nicht benachrichtigen ... Dann aber habe ich es für meine Pflicht gehalten ...«

Er sah sie an. Dann aber wurde er von der Seltsamkeit der Situation ergriffen und mußte wieder lachen:

»Wie? Meine Freunde auf dem Schiff verbrennen meine Briefe nicht? Und sie haben ihren Gefangenen entwischen lassen? Diese Dummköpfe! Ach, wenn man nicht alles selbst macht! Meinetwegen, die Geschichte ist ganz lustig! D'Emboise gegen d'Emboise! Wenn man mich aber nun nicht wiedererkennte? Wenn d'Emboise selbst sich mit mir verwechselte?«

Er ging zum Toilettetisch, nahm ein Handtuch, feuchtete es an, nahm Seife, wusch sich das Gesicht, schminkte sich ab und änderte auch seine Haartracht.

»So,« sagte er und stand wieder vor Angelika wie in jener Einbruchsnacht in Paris, »das hätten wir! Jetzt fühle ich mich behaglicher, um mich mit meinem Schwiegervater zu unterhalten.«

»Wohin gehen Sie?« schrie sie und warf sich vor die Tür.

»Zu den Herren, zum Teufel!«

»Ich lasse Sie nicht durch!«

»Warum?«

»Und wenn sie Sie töten?«

»Mich töten?«

»Ja, das wollen sie! Und dann Ihre Leiche irgendwo verscharren ...«

»Meinetwegen,« sagte er, »von ihrem Standpunkt aus haben sie recht! Aber ich werde nicht zu ihnen gehen – sie sollen zu mir kommen ... Diese Tür wird sie nicht daran hindern ... Und Sie auch nicht, meine ich ... Deswegen ist es besser, wenn gleich Schluß gemacht wird.«

»Folgen Sie mir!« befahl Angelika.

Sie nahm die Lampe, ging in ihr Zimmer, schob den Spiegelschrank beiseite, der auf verborgenen Rädern rollte, rückte einen alten Gobelin zurück und sagte:

»Hier ist eine zweite Tür, die lange nicht benützt worden ist. Mein Vater glaubt, der Schlüssel sei verlorengegangen ... Hier ist er. Öffnen Sie. Eine Treppe in der Mauer führt Sie zum Fuße des Turmes. Sie brauchen nur den Riegel einer zweiten Tür zurückzuschieben. Und Sie sind frei.«

Er war starr und begriff mit einem Schlage Angelikas seltsames Benehmen. Vor diesem melancholischen, wenig anmutigen, aber unendlich sanften Gesicht verharrte er einen Augenblick fassungslos, fast verwirrt. Er hatte keine Lust mehr, zu lachen. Er hatte ein Gefühl der Achtung und zugleich der Reue.

»Warum retten Sie mich?« flüsterte er.

»Sie sind mein Gatte.«

Er widersprach:

»Aber nein ... aber nein ... Ich habe dieses Anrecht gestohlen. Vor dem Gesetz ist diese Ehe bestimmt nichtig.«

»Mein Vater wünscht keinen Skandal«, sagte sie.

»Eben darum,« entgegnete er lebhaft, »eben darum habe ich all das getan und Ihren Vetter d'Emboise hier in die Nähe schaffen lassen. Wenn ich verschwunden bin, ist er Ihr Gatte. Und nur ihn haben Sie vor der Welt geheiratet.«

»Nein! Sie habe ich vor der Kirche geheiratet!«

»Die Kirche! Die Kirche! Mit der kann man sich schon einigen! Man wird die Ehe für nichtig erklären.«

»Unter welchem möglichen Vorwande?«

Er schwieg und dachte über diese für ihn so bedeutungslosen und lächerlichen, für sie aber so ernsten Dinge nach. Dann wiederholte er mehrmals:

»Fürchterlich ... Fürchterlich! ... Daran hätte ich vorher denken sollen!«

Plötzlich jedoch kam ihm ein Gedanke, und er rief:

»Ich hab's! Ich stehe ausgezeichnet mit einer der maßgebenden Persönlichkeiten im Vatikan. Der Papst tut, was ich will ... Ich werde eine Audienz durchsetzen, und ich zweifle nicht daran, daß der Heilige Vater, von meinen flehentlichen Bitten erweicht ...«

Sein Plan war so komisch, seine Freude so naiv, daß Angelika lächeln mußte und ihm sagte:

»Vor Gott bin ich Ihre Frau.«

Sie sah ihn mit einem Blick an, in dem weder Verachtung noch Feindseligkeit lag, nicht einmal Zorn, und er begriff, daß sie in ihm nicht den Banditen und Übeltäter sah, sondern daß sie nur an den Mann dachte, der ihr Gatte war und dem der Priester sie bis zum letzten Atemzuge angetraut hatte.

Er ging einen Schritt auf sie zu und beobachtete sie noch eindringlicher. Zuerst senkte sie nicht die Augen. Aber sie errötete. Und niemals hatte er ein rührenderes Antlitz gesehen, das so viel Scham und so viel Würde ausgedrückt hatte. Und er sagte ihr wie am ersten Abend in Paris:

»Oh, Ihre Augen! ... Ihre ruhigen und schönen Augen ... Ihre schönen Augen! ...«

Sie senkte den Kopf und stammelte:

»Gehen Sie! ... Gehen Sie! ...«

An ihrer Verwirrung erkannte er plötzlich, daß dunklere Gefühle sie beherrschten, als sie selbst zu erkennen vermochte. Erschien er nicht dieser Altjungferseele, deren romantische Phantasie, deren unerfüllte Träume und deren altmodische Lektüre er kannte, in dieser ungewöhnlichen Minute und durch die außerordentlichen Begleitumstände ihrer Begegnungen als etwas Besonderes, als ein Held à la Lord Byron, als der romantische und ritterliche Bandit? Eines Abends war er trotz aller Hindernisse als berühmter, bereits von der Legende verklärter Abenteurer bei ihr eingedrungen und hatte ihr den Ehering an den Finger gesteckt! Eine mystische und leidenschaftliche Verlobung, wie man sie nur zu Zeiten der Romantiker kannte ...

Gerührt, voller Mitleid war er nahe daran, einem gewissen Überschwange nachzugeben und zu rufen:

Gehen wir! Fliehen wir! ... Sie sind meine Frau! ... Meine Gefährtin! ... Teilen Sie meine Gefahren, meine Leiden und meine Freuden! Ein seltsames und starkes, ein prächtiges, herrliches Dasein erwartet Sie! ...

Aber Angelikas Augen sahen ihn an; sie waren so rein und so stolz, daß er errötete.

Nein, das war keine Frau, zu der man so sprechen durfte! Er flüsterte:

»Ich bitte Sie um Verzeihung ... Ich habe viele schlechte Handlungen begangen, aber keine, deren Erinnerung für mich so bitter sein wird. Ich bin ein Lump. Ich habe Ihr Leben ruiniert!«

»Nein,« sagte sie sanft, »Sie haben mir vielmehr meine wahre Bestimmung gezeigt.«

Fast hätte er sie etwas gefragt. Aber sie hatte bereits die Tür geöffnet und zeigte ihm den Weg. Zwischen ihnen war kein Wort mehr möglich. Wortlos verneigte er sich sehr tief vor ihr; dann ging er hinaus.

Einen Monat später nahm Angelika von Sarzeau-Vendôme, Prinzessin von Bourbon-Condé, Arsène Lupins legitime Gattin, den Schleier und trat unter dem Namen Maria-Augusta in ein Dominikanerkloster ein.

Am Tage der Zeremonie erhielt die Oberin des Klosters einen schweren versiegelten Umschlag und einen Brief ...

Der Brief enthielt folgende Worte: »Für die Armen der Schwester Maria-Augusta.«

Im Umschlage lagen fünfhundert Tausend-Francs-Scheine.


 << zurück weiter >>