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Ein Herr mit grauem Schnurrbart, in kastanienbraunem Überzieher und mit einem breitkrempigen Hut auf dem Kopf trat bei mir ein:
»Ich habe Ihr Telegramm erhalten. Hier bin ich. Sie wünschen?«
Hätte ich nicht Arsène Lupin erwartet, so hätte ich ihn sicherlich nicht wiedererkannt, wie er da als alter pensionierter Militär vor mir stand.
»Was es gibt? Na, nichts Besonderes, aber immerhin ein merkwürdiges Zusammentreffen. Und da Sie gern geheimnisvolle Geschichten ersinnen und bisweilen auch entwirren ...«
»Nun?«
»Haben Sie es sehr eilig?«
»Außerordentlich, und wenn Sie nichts Besonderes für mich haben, möchte ich nicht gern gestört werden ... Also bitte, schießen Sie los.«
»Wie Sie wünschen. Werfen Sie gefälligst einen Blick auf das kleine Gemälde, das ich neulich in einem verstaubten Trödlerladen gekauft habe. Ich erwarb es wegen seines Empirerahmens, denn das Bild selbst ist abscheulich.«
»In der Tat, abscheulich!« sagte Lupin, »aber der dargestellte Gegenstand selbst hat immerhin einigen Reiz. Dieses Stückchen alter Hof mit der runden griechischen Säulenhalle, der Sonnenuhr, dem Bassin, dem verfallenen Brunnen, das Renaissancedach, die steinernen Stufen, die steinerne Bank ... das alles wirkt recht malerisch.«
»Ein authentisches Bild aus der Zeit«, erwiderte ich. »Die Leinwand, ob nun gut oder schlecht, ist nie aus ihrem Empirerahmen genommen worden. Übrigens steht auch das Datum darauf ... da, links unten die roten Ziffern fünfzehn – vier – zwei, die offenbar bedeuten sollen: fünfzehnten April achtzehnhundertzwei.«
»Tatsächlich ... aber Sie sprachen von einem merkwürdigen Zusammentreffen, und bis jetzt sehe ich nicht recht ...«
Ich holte aus einer Ecke ein Fernrohr herbei, das ich am offenen Fenster auf sein Stativ stellte und auf das gleichfalls geöffnete Fenster eines mir gegenüberliegenden Hauses richtete. Dann bat ich Lupin, hineinzusehen.
Er bückte sich. Die um diese Zeit schräg fallende Sonne erhellte das Zimmer, worin man sehr einfache Akazienmöbel bemerkte, ein größeres Bett und ein kleineres Kinderbett, das mit baumwollenen Gardinen verhängt war.
»Ah,« sagte Lupin plötzlich, »ah, da hängt ja dasselbe Bild.«
»Genau dasselbe ... und das Datum; Sie sehen doch das Datum mit roten Ziffern: fünfzehn – vier – zwei?«
»Ja, ich sehe ... Und wer wohnt in diesem Zimmer?«
»Eine Dame ... oder vielmehr eine Arbeiterin, denn sie muß arbeiten, um zu leben ... Sie macht Näharbeiten, die sie und ihr Kind zur Not ernähren.«
»Wie heißt sie?«
»Louise d'Ernemont ... Soviel ich erfahren habe, ist sie die Urenkelin eines Generalpächters, der unter der Schreckensherrschaft guillotiniert wurde. Und zwar an demselben Tage wie André Chénier. Dieser Ernemont galt nach Memoiren der Zeit für sehr reich.«
Er hob den Kopf und fragte mich: »Die Geschichte ist interessant; warum haben Sie solange gezögert, Sie mir zu erzählen?«
»Weil heute der fünfzehnte April ist.«
»Nun?«
»Nun, weil ich seit gestern durch Hausmeistergeschwätz weiß, daß der fünfzehnte April eine wichtige Rolle im Leben Louise d'Ernemonts spielt.«
»Tatsächlich?«
»Ganz gegen ihre Gewohnheit verläßt diese Frau, die sonst Tag für Tag ihre regelmäßige Arbeitseinteilung hat, jedes Jahr am fünfzehnten April gegen zehn Uhr mit der Kleinen das Haus und kehrt erst bei Einbruch der Nacht zurück. Sie werden zugeben, daß dieses Datum, das ich da auf einem alten Bilde finde, das auch auf einem anderen gleichartigen Bilde steht und das den jährlichen Ausgang der Nachfahrin des Generalpächters d'Ernemont regelt ...«
»Sonderbar ... Sie haben recht. Und man weiß nicht, wohin sie geht?«
»Man weiß es nicht. Sie hat sich niemand anvertraut, spricht überhaupt nur wenig.«
»Und Ihre Erkundigungen stimmen?«
»Vollständig. Bitte, da ist der Beweis dafür.«
Drüben wurde eine Tür geöffnet. Ein kleines Mädchen von sieben oder acht Jahren trat ins Zimmer und ging zum Fenster. Hinter ihr wurde eine ziemlich große, noch junge Dame von sanftem, melancholischem Aussehen sichtbar. Beide waren zum Ausgehen bereit, trugen einfache Kleidung, in der sich aber bei der Mutter ein gewisses Bestreben nach Eleganz verriet.
»Da sehen Sie,« flüsterte ich, »sie wollen ausgehen.«
Tatsächlich nahm gleich darauf die Mutter das Kind bei der Hand, und beide verließen das Zimmer.
Lupin setzte seinen Hut auf.
»Kommen Sie mit?«
Ich war zu neugierig, um nein zu sagen, ich ging also mit Lupin hinunter.
Als wir auf die Straße kamen, bemerkten wir, wie meine Nachbarin in einen Bäckerladen trat. Sie kaufte zwei kleine Brote, die sie in ein Körbchen tat, das die Tochter trug und das noch andere Vorräte zu enthalten schien. Dann gingen sie die äußeren Boulevards entlang bis zur Place de l'Etoile.
Lupin schritt nachdenklich neben mir her und war ersichtlich mit den Dingen beschäftigt, die ich ihm erzählt hatte. Von Zeit zu Zeit ließ er ein abgerissenes Wort fallen, das mir bewies, daß ihn das Rätsel ebenso beschäftigte wie mich.
Louise d'Ernemont war inzwischen links in die Rue Raynouard eingebogen, in jene alte friedliche Straße, wo einst Franklin und Balzac gelebt hatten und in der alte Häuser mit einsamen Gärten liegen. Am Fuße des Hügels, der sie beherrscht, fließt die Seine. Kleinere Gäßchen führen zum Flusse hinab.
Eine dieser schmalen, holprigen, verlassenen Gäßchen wählte meine Nachbarin. Gleich am Anfang stand rechts ein Haus, dessen Front nach der Rue Raynouard liegt und weiterhin an eine bemooste Mauer stößt, die ungewöhnlich hoch ist und von Strebepfeilern gestützt wird. Diese Mauer ist oben ganz und gar mit Flaschenscherben gespickt.
In der Mitte hat die Mauer ein niedriges Rundbogentor, vor dem Louise d'Ernemont stehenblieb; sie schloß mit einem riesigen Schlüssel auf. Mutter und Tochter traten ein.
»Jedenfalls«, sagte Lupin, »hat sie nichts zu verbergen, denn sie hat sich nicht ein einziges Mal umgedreht.«
Kaum hatte er diesen Satz beendet, als ein Geräusch von Schritten hinter uns hörbar wurde. Es waren zwei alte Bettelleute, Mann und Frau, schmutzig, schäbig, ganz in Lumpen gehüllt. Sie gingen vorüber, ohne uns zu beachten. Der Mann zog einen ähnlichen Schlüssel wie der meiner Nachbarin aus der Tasche und steckte ihn ins Schloß. Die Tür schlug hinter ihnen zu.
Und gleich darauf hielt am Ende der Straße ein Automobil. Lupin zog mich etwa fünfzig Meter beiseite. Wir verbargen uns in einer Nische. Wir sahen eine junge, sehr elegante Dame mit vielem Schmuck und einem kleinen Hund unter dem Arm aussteigen. Ihre Augen waren zu schwarz, ihre Lippen zu rot und ihre Haare zu blond. Vor dem Tor: das gleiche mit dem Schlüssel ... Das Fräulein mit dem kleinen Hund verschwand.
»Das beginnt ja recht amüsant zu werden«, sagte Lupin. »In welchen Beziehungen können diese Leute da wohl zueinander stehen?«
Nacheinander kamen zwei ältere, magere, elend aussehende Damen, die wie Schwestern aussahen. Darauf erschien ein Kammerdiener, sodann ein Infanteriekorporal, darauf ein dicker Herr in schmutziger und geflickter Jacke, sodann eine Arbeiterfamilie, Vater, Mutter und vier Kinder, alle sechs sahen bleich und krank aus wie Leute, die nicht satt zu essen haben; und jeder der Ankömmlinge hatte einen Korb oder ein Netz mit Lebensmitteln.
»Das ist ja ein Picknick!« rief ich.
»Die Sache wird immer seltsamer,« meinte Lupin, »und ich habe keine Ruhe, bevor ich weiß, was hinter dieser Mauer vorgeht.«
Sie zu überklettern war unmöglich. Außerdem bemerkten wir auch, daß die Mauer sowohl unten an der Straße als auch oben an zwei Häuser stieß, von denen kein Fenster auf den von ihnen eingefriedeten Platz hinausging.
Vergebens erwogen wir einen Feldzugsplan, als plötzlich die kleine Tür sich wieder öffnete und eines der Arbeiterkinder herauskam.
Der Junge lief eiligst nach der Rue Raynouard; einige Minuten darauf kam er mit zwei Flaschen Wasser zurück, die er auf die Erde stellte, um den großen Schlüssel aus der Tasche zu ziehen.
Lupin war bereits von meiner Seite fort und ging gemütlich an der Mauer entlang wie ein harmloser Spaziergänger. Kaum hatte das Kind hinter sich die Tür zugemacht, so stürzte Lupin auf die Tür zu und steckte die Spitze seines Taschenmessers vor das Schloß. Da dieses infolgedessen nicht einschnappte, genügte nachher ein kleiner Ruck, um die Tür zu öffnen.
»Da wären wir!« sagte Lupin. Er steckte vorsichtig den Kopf durch den Türspalt und ging dann zu meiner großen Überraschung ganz hinein. Ich folgte seinem Beispiel und konnte feststellen, daß etwa zehn Meter hinter der Mauer ein Gebüsch aus Lorbeerbäumen stand, das uns gestattete, ungesehen weiter vorzudringen.
Lupin trat mitten in das Gebüsch hinein. Ich folgte ihm und bog wie er die Zweige der Äste auseinander. Da bot sich unseren Augen ein so seltsames Schauspiel, daß ich nicht umhin konnte, einen Ausruf der Verwunderung auszustoßen, während Lupin zwischen den Zähnen murmelte:
»Tausend noch eins, ist das aber drollig!«
Wir hatten in dem engen Raum, der zwischen den beiden fensterlosen Häusern lag, dieselbe Örtlichkeit vor uns, die das von mir bei einem Althändler gekaufte Bild zeigte.
Dieselbe Örtlichkeit: Im Hintergrunde an einer Mauer dieselbe griechische Rotunde mit dem Säulengang. In der Mitte umgaben dieselben Steinbänke einen Kreis mit vier Stufen, die zu einem mit Moos bewachsenen und mit Fliesen ausgelegten Bassin hinabführten.
Links stand derselbe mit einem Dach aus Schmiedeeisen bedeckte Brunnen, und ganz in seiner Nähe wies die Sonnenuhr den pfeilförmigen Zeiger mit dem marmornen Zifferblatt auf.
Dieselbe Örtlichkeit! Und was die Seltsamkeit des Schauspiels noch erhöhte, war für mich das Datum des 15. April, das in der Ecke des Bildes stand, denn an jenem Tage war wirklich der 15. April! Sechzehn bis achtzehn an Alter, Lebenslage und Benehmen so ganz verschiedene Personen hatten diesen 15. April gewählt, um sich in einem verlorenen Winkel von Paris zu versammeln.
Als wir sie in einzelnen Gruppen auf den Bänken und Stufen sitzen sahen, aßen sie gerade. Nicht weit von meiner Nachbarin und ihrer Tochter verzehrten die Arbeiterfamilie und das Bettlerpaar ihre Vorräte, während sich der Kammerdiener, der Herr in der schmutzigen Jacke, der Infanteriekorporal und die beiden mageren Schwestern an ihren Schinkenscheiben, ihren Sardinenbüchsen und ihrem Käse zu schaffen machten.
Es war halb zwei. Der Bettler und der dicke Herr zogen ihre Pfeifen heraus. Die Männer rauchten nahe der Rotunde, und die Frauen gingen zu ihnen. Übrigens schienen diese Leute sich alle untereinander zu kennen.
Sie waren ziemlich weit von uns entfernt, so daß wir ihre Worte nicht hören konnten. Immerhin mußte die Unterhaltung ziemlich lebhaft sein. Das Fräulein mit dem kleinen Hunde besonders erzählte, von Zuhörern umgeben, ein langes und breites und machte dabei Bewegungen, die den kleinen Hund zu einem wütenden Gebell reizten. Plötzlich aber entstand eine Bewegung unter ihnen. Zornige Rufe ertönten, und alle, Männer wie Frauen, eilten durcheinander zum Brunnen.
Einer der Arbeiterjungen tauchte daraus hervor, mit seinem Gürtel an dem eisernen Haken eines Strickes hängend, und die drei anderen Jungen zogen ihn in die Höhe, indem sie die Kurbel des Brunnens drehten.
Da stürzte sich der Korporal auf den Jungen, und bald darauf packten ihn auch der Kammerdiener und der dicke Herr, während das Bettlerpaar und die mageren Schwestern sich mit der Arbeiterfamilie prügelten. In wenigen Sekunden war das Kind bis aufs Hemd ausgezogen. Der Kammerdiener lief mit seinen Kleidern davon, der Korporal hinterdrein; er entriß ihm die Hose, die dem Korporal wieder von einer der mageren Schwestern weggenommen wurde.
»Sind sie verrückt?« rief ich ganz verblüfft.
»Nein doch, nein«, sagte Lupin.
»Was dann? Verstehen Sie etwas davon?«
Schließlich gelang es Louise d'Ernemont, die sofort zu vermitteln versucht hatte, den Streit zu schlichten; man setzte sich wieder hin, aber bei all diesen erregten Menschen schien plötzlich eine Reaktion Platz gegriffen zu haben; sie waren unbeweglich und schweigsam geworden und saßen da wie erschöpft.
Geraume Zeit verging. Ungeduldig und von Hunger geplagt ging ich bis zur Rue Raynouard zurück und kaufte einigen Mundvorrat, den wir miteinander teilten, indem wir dabei die Schauspieler der unbegreiflichen Komödie, die sich vor unseren Augen abspielte, weiter beobachteten. Von Minute zu Minute schienen sie immer trauriger zu werden, sahen recht mutlos aus und versanken mit gekrümmten Rücken in tiefes Nachdenken.
»Die wollen wohl dort schlafen gehen?« sagte ich gelangweilt.
Doch gegen fünf Uhr zog der dicke Herr mit der schmutzigen Jacke seine Taschenuhr heraus; man folgte seinem Beispiel, und alle, mit der Uhr in der Hand, schienen ängstlich auf ein Ereignis zu warten, das für sie von außerordentlicher Bedeutung sein mußte. Das Ereignis trat nicht ein, denn nach weiteren fünfzehn bis zwanzig Minuten machte der dicke Herr eine Bewegung der Verzweiflung, erhob sich und setzte seinen Hut auf.
Nun wurde ein Wehklagen laut.
Die beiden mageren Schwestern und die Arbeiterfrau fielen auf die Knie und machten das Zeichen des Kreuzes. Das Fräulein mit dem kleinen Hund und die Bettlerin umarmten sich schluchzend, und Louise d'Ernemont drückte ihre Tochter mit schmerzlicher Bewegung ans Herz.
»Gehen wir«, sagte Lupin.
»Glauben Sie, daß die Sitzung beendet ist?«
»Ja, wir können uns drücken.«
Das gelang uns ohne Hindernis. Oben in der Rue Raynouard bog Lupin links ein; er ließ mich stehen und trat in das erste Haus.
Nachdem er sich einige Augenblicke mit dem Hausmeister unterhalten hatte, kam er wieder zurück, und wir nahmen ein Automobil.
»Turiner Straße vierunddreißig«, sagte er zum Chauffeur.
In der Nummer 34 dieser Straße befand sich im Erdgeschoß das Büro eines Notars. Alsbald wurden wir in das Sprechzimmer des Notars Valandier, eines schon bejahrten freundlichen, leutseligen Herrn, geführt. Lupin stellte sich unter dem Namen eines pensionierten Kapitäns Jeanniot vor. Er wollte sich ein Haus nach seinem Geschmack bauen lassen, und man hätte ihm von diesem Grundstück in der Rue Raynouard gesprochen.
»Ja, aber dieses Grundstück ist nicht verkäuflich«, meinte Valandier.
»Man hatte mir doch gesagt ...«
»Nein, nein!« Der Notar erhob sich und nahm aus einem Schrank einen Gegenstand, den er uns zeigte. Mir wurde ganz wirr zumute. Es war dasselbe Bild, das ich gekauft hatte, dasselbe Bild auch, das sich bei Louise d'Ernemont befand.
»Es handelt sich um das Grundstück, das auf dieser Leinwand dargestellt ist, um den sogenannten d'Ernemont-Platz?«
»Ganz recht.«
Der Notar fuhr fort: »Dieser Platz bildete einen Teil eines großen Gartens, der dem unter der Schreckensherrschaft hingerichteten Generalpächter d'Ernemont gehörte. Alles, was verkäuflich war, verkauften die Erben für geringes Geld. Aber dieses letzte Grundstück ist übriggeblieben und wird nun wohl auch Gemeinbesitz bleiben ... es sei denn, daß ...«
»... es sei denn, daß?« fragte Lupin.
»Oh, das ist eine ganze, übrigens ziemlich merkwürdige Geschichte, in deren umfangreichen Akten zu blättern mir mitunter großen Spaß macht.«
»Ist es indiskret? ...«
»Durchaus nicht«, meinte Valandier, der im Gegenteil beglückt schien, seine Erzählung an den Mann bringen zu können. Und ohne sich lange bitten zu lassen, begann er:
»Bald zu Anfang der Revolution verschloß Agrippa d'Ernemont unter dem Vorwand, seine in Genf lebende Frau und Tochter aufzusuchen, sein Hotel im Faubourg St. Germain, verabschiedete sein Dienstpersonal und ließ sich mit seinem Sohne Charles in einem kleinen Hause zu Passy nieder, wo ihn niemand außer einer ergebenen alten Magd kannte. Dort hielt er sich drei Monate lang verborgen und konnte auch hoffen, daß sein Versteck nicht entdeckt werden würde. Da stürzte eines Tages nach dem Essen die Magd aufgeregt ins Zimmer. Sie hatte am Ende der Straße eine bewaffnete Patrouille bemerkt, die auf das Haus zukam. D'Ernemont verschwand in dem Augenblick, als die Männer eintraten, durch die Tür, die nach dem Garten hinausging, indem er noch rasch seinem Sohne zurief:
›Halt sie auf, nur fünf Minuten!‹
Wollte er entfliehen? Fand er die Ausgänge des Gartens besetzt? Sieben oder acht Minuten später kam er wieder zurück, antwortete ruhig auf die Fragen der Leute und folgte ihnen dann ohne Widerstand. Sein Sohn Charles, obgleich erst achtzehnjährig, wurde ebenfalls abgeführt.«
»Das ereignete sich wann?« fragte Lupin.
»Am sechsundzwanzigsten Germinal im Jahre zwei, das heißt am ...«
Valandier unterbrach sich, blickte auf einen Kalender, der an der Wand hing, und rief:
»Aber das ist ja genau der heutige Tag! Wir schreiben heute den fünfzehnten April, den Jahrestag der Verhaftung des Generalpächters.«
»Merkwürdiges Zusammentreffen,« sagte Lupin, »und diese Verhaftung hatte zweifellos zur damaligen Zeit ernste Folgen?«
»Oh, sehr ernste«, sagte lächelnd der Notar. »Drei Monate später, Anfang Thermidor, bestieg der Generalpächter das Schafott. Man vergaß seinen Sohn im Gefängnis, und seine Güter wurden konfisziert.«
»Ein ungeheurer Besitz, nicht wahr?« meinte Lupin.
»Und hier gerade werden die Dinge kompliziert. Also diese unermeßlichen Reichtümer blieben unauffindbar. Man stellte fest, daß das Haus im Faubourg St. Germain vor der Revolution an einen Engländer verkauft worden war, ebenso alle Schlösser und Ländereien in der Provinz, ebenso alle Schmuckgegenstände sowie die übrigen Werte und Sammlungen des Generalpächters. Der Konvent und später das Direktorium ordneten genaue Feststellungen an; sie führten zu keinem Resultat.«
»Aber es blieb doch zum mindesten das Haus in Passy?« sagte Lupin.
»Das Haus in Passy wurde für geringen Preis von dem Delegierten der Gemeinde, dem Bürger Broquet, der d'Ernemont verhaftet hatte, gekauft. Der Bürger Broquet schloß sich dort ein, verbarrikadierte die Türen und befestigte die Mauern. Sobald nun Charles d'Ernemont wieder in Freiheit gesetzt wurde, erschien er dort, wurde aber mit Flintenschüssen empfangen. Charles strengte nun einen Prozeß an, verlor ihn aber. Danach bot er dem neuen Eigentümer große Summen. Der Bürger Broquet jedoch ließ nicht mit sich reden. Er hatte das Haus gekauft, er behielt es und würde es bis zu seinem Tode behalten haben, wenn Charles nicht die Unterstützung Bonapartes gefunden hätte. Am zwölften Februar achtzehnhundertdrei verließ endlich der Bürger Broquet die Räume. Aber die Freude Charles' war nun so groß und sein Gehirn war von allen diesen Leiden derart in Mitleidenschaft gezogen worden, daß er, bevor er die Schwelle des endlich zurückerlangten Hauses betrat, ja sogar noch ehe er das Tor öffnete, zu tanzen und zu singen begann. Er war verrückt geworden.«
»Verdammt!« murmelte Lupin, »und was wurde aus ihm?«
»Da seine Mutter und seine Schwester Pauline (die sich in Genf mit ihrem Vetter verheiratet hatte) beide gestorben waren, übernahm die alte Dienerin seine Pflege, und sie lebten zusammen in dem Hause zu Passy. Jahre vergingen ohne besondere Ereignisse. Aber plötzlich, im Jahre achtzehnhundertzwölf, gab es eine große Überraschung. Auf ihrem Totenbette machte die alte Dienerin in Gegenwart zweier Zeugen seltsame Enthüllungen. Sie bekundete, daß der Generalpächter bei Ausbruch der Revolution in sein Haus zu Passy Säcke mit Gold und Silber gebracht hätte und daß diese Säcke einige Tage vor seiner Verhaftung verschwunden wären. Nach früheren Mitteilungen Charles d'Ernemonts seien die Schätze von seinem Vater im Garten zwischen der Rotunde, der Sonnenuhr und dem Brunnen vergraben worden. Zum Beweise dessen zeigte sie drei Bilder oder vielmehr (denn sie waren ja noch nicht eingerahmt) drei Leinwandstücke, die der Generalpächter während seiner Gefangenschaft gemalt und ihr mit der Weisung ausgehändigt hätte, sie seiner Frau, seinem Sohne und seiner Tochter zu übergeben. Charles d'Ernemont und die alte Dienerin hätten Stillschweigen darüber gewahrt, dann seien der Prozeß und der Wahnsinnsausbruch des Sohnes dazwischen gekommen, und so wären die Schätze an Ort und Stelle liegengeblieben.«
»Und da sind sie noch«, lächelte Lupin.
»Und werden immer dort bleiben«, rief Valandier, »Wofern nämlich der Bürger Broquet, der offenbar Lunte gerochen hatte, sie nicht gehoben hat. Das ist im übrigen wenig wahrscheinlich, denn der Bürger Broquet starb im Elend.«
»Und dann?«
»Dann suchte man nach. Die Kinder Paulinens, ihre Schwestern, alle kamen aus Genf herbei. Man erfuhr, daß Charles heimlich geheiratet und Söhne hinterlassen habe. Alle diese Erben machten sich nun ans Werk.«
»Und Charles?«
»Charles lebte völlig zurückgezogen. Er verließ sein Zimmer nicht mehr.«
»Niemals?«
»Doch, und das ist das merkwürdige, das geradezu rätselhafte an der Begebenheit. Einmal im Jahre begab sich Charles d'Ernemont in einem lichten Augenblicke hinab in den Garten, schlug genau denselben Weg ein wie sein Vater, ging durch den Garten und setzte sich bald auf die Stufen der Rotunde, die Sie hier abgebildet sehen, bald auf den Rand dieses Brunnens. Um fünf Uhr siebenundzwanzig Minuten erhob er sich, und bis zu seinem im Jahre 1820 erfolgten Tode unterließ er in keinem Jahre diese unverständliche Wanderung. Heute nun war wieder der 15. April, der hundertjährige Gedenktag der Verhaftung.«
Valandier lächelte nicht mehr; er stand selbst unter dem Banne dieser seltsamen Geschichte, die er uns erzählte.
Nach kurzer Überlegung fragte Lupin: »Und nach Charles' Tode?«
»Seit jener Zeit,« entgegnete der Notar mit einer gewissen Feierlichkeit, »seit nahezu hundert Jahren, nehmen die Erben des Charles und der Pauline d'Ernemont die Wanderung am 15. April wieder auf. In den ersten Jahren fanden sorgfältige Nachgrabungen statt. Nicht ein Zoll des Gartens, der nicht untersucht, nicht eine Scholle Erde, die nicht um und umgegraben worden wäre. Jetzt ist es damit aus. Man sucht kaum noch nach. Von Zeit zu Zeit nur hebt man einen Stein aus oder forscht im Brunnen nach. Aber sie setzen sich auf die Stufen der Rotunde, ganz wie der arme Narr, und wie er harren sie der Dinge, die da kommen sollen. Und sehen Sie wohl, es ist ein geradezu trauriges Schicksal. Seit hundert Jahren haben alle Nachfahren, Väter und Söhne ... wie soll ich sagen? ... gewissermaßen die Spannkraft des Lebens verloren; sie haben keinen Mut mehr, keine Initiative – – sie warten. Sie warten auf den 15. April, und wenn der 15. April gekommen ist, so warten sie, daß ein Wunder geschehe. Über alle ist schließlich das Unglück gekommen. Meine Vorgänger und ich haben nacheinander für sie erst das Haus verkauft, um dafür ein anderes einträglicheres zu erbauen; darauf Parzellen des Gartens und wieder Parzellen. Aber sie würden lieber sterben, als dieses letzte Stückchen da zu veräußern. Darüber sind sie sich alle einig, sowohl Louise d'Ernemont, die direkte Erbin Paulines, wie die Bettler, die Arbeiter, der Kammerdiener, die Zirkustänzerin usw. usw.«
Wiederum trat eine Pause ein, und dann sagte Lupin:
»Welches ist nun Ihre Meinung, Herr Valandier?«
»Meine Meinung ist, daß überhaupt nichts da ist. Welchen Glauben soll man denn gerade einer altersschwachen Dienerin beimessen? Welche Wichtigkeit dem Geschwätz eines Narren? Und glauben Sie nicht auch, daß, wenn der Generalpächter sein Vermögen flüssig gemacht hätte, man dieses Vermögen irgendwo hätte finden müssen? Auf einem so engen Raum wie diesem da kann man ein Stück Papier, ein Geschmeide, aber nicht ganze Schätze verbergen.«
»Und die Bilder?«
»Ja freilich, die Bilder ...! Aber sind denn die nun ein hinreichender Beweis?«
Lupin beugte sich über das Bild, das der Notar aus dem Schrank geholt hatte. Nachdem er es lange betrachtet hatte, sagte er: »Sie haben von drei Bildern gesprochen?«
»Ja, dieses eine hier wurde meinem Vorgänger von Charles' Erben übergeben. Louise d'Ernemont besitzt ein zweites. Was aus dem dritten geworden ist, weiß ich nicht.«
Lupin sah mich an und fragte weiter:
»Und jedes der Bilder trug dasselbe Datum?«
»Ja, und zwar hatte es Charles d'Ernemont darauf geschrieben, der die Bilder kurz vor seinem Tode einrahmen ließ ... Dasselbe Datum 15–4–2, nämlich der 15. April, im Jahre zwei nach dem Revolutionskalender, was nach heutiger Zeitrechnung dem April 1794 entspricht, wo die Verhaftung stattfand.«
»Ah, ausgezeichnet!« sagte Lupin. »Die Zahl zwei bedeutet ...« Er unterbrach sich, dachte einige Augenblicke nach und fuhr dann fort:
»Noch eine Frage, wenn Sie gestatten? Hat niemand dieses Rätsel zu lösen versucht?«
Valandier hob die Arme in die Höhe. »Was meinen Sie wohl!« rief er. »Die Sache wurde geradezu zur Plage für das Büro des Notars. Von 1829 bis 1843 wurde einer meiner Vorgänger Turbon von den Erben achtzehnmal nach Passy gerufen, wo Betrüger, Kartenleger, Hellseher versprochen hatten, die Schätze des Generalpächters zu entdecken. Endlich wurde folgende Anordnung getroffen: Jede fremde Person, die Nachforschungen anstellen wollte, mußte im voraus eine gewisse Summe deponieren.«
»Was für eine Summe?«
»Fünftausend Francs. Hätte man Erfolg, so sollte ein Drittel der Schätze dem Betreffenden zufallen. Blieb der Erfolg aus, so verfiel das Depot zugunsten der Erben. In dieser Hinsicht bin ich ganz ruhig.«
»Hier sind die fünftausend Francs.«
Der Notar sprang in die Höhe.
»Was? Sie wollen ...?«
»Hier sind,« wiederholte Lupin, indem er fünf Scheine aus seiner Tasche zog und sie in aller Ruhe auf den Tisch legte, »hier sind die fünftausend Francs. Bitte wollen Sie so freundlich sein und mir eine Quittung geben und ferner alle Erben d'Ernemonts für den 15. April nächsten Jahres nach Passy berufen.«
Der Notar konnte sich kaum fassen. Ich selbst, obwohl an Lupins Theatercoups gewöhnt, war höchlichst erstaunt.
»Ist das Ihr Ernst?« stammelte Valandier.
»Mein voller Ernst.«
»Nun, ich habe Sie jedenfalls über meine Meinung nicht im unklaren gelassen. AH diese unwahrscheinlichen Geschichten beruhen auf keiner wirklichen Grundlage.«
»Ich bin anderer Meinung«, erklärte Lupin.
Der Notar sah ihn an, wie man jemand ansieht, mit dem es im Oberstübchen nicht ganz richtig ist. Endlich entschloß er sich, nahm die Feder zur Hand und entwarf auf Stempelpapier einen Kontrakt, worin er des Depots des pensionierten Kapitäns Jeanniot Erwähnung tat und ihm ein Drittel der Summe zusicherte, die dieser entdecken würde.
»Sie können sich ja die Sache noch acht Tage überlegen«, sagte der Advokat. »Ich werde die Familie d'Ernemont erst nach Verlauf von acht Tagen benachrichtigen, um die eitlen Hoffnungen dieser armen Leute nicht unnütz zu beleben.«
»Sie können sie heute schon benachrichtigen, Herr Valandier. Dann werden die Leute ein hoffnungsfreudigeres Jahr verleben.«
Man verabschiedete sich. Kaum auf der Straße, rief ich: »Sie wissen also etwas?«
»Ich?« antwortete Lupin. »Gar nichts ... und das gerade macht mir Spaß ...«
»Aber seit hundert Jahren sucht man bereits!«
»Es handelt sich weniger darum, zu suchen als zu überlegen. Nun, ich habe ja dreihundertfünfundsechzig Tage Zeit zum überlegen. Das ist ein bißchen zuviel, und ich laufe Gefahr, die ganze Geschichte, so interessant sie auch sein mag, zu vergessen. Sie werden, lieber Freund, so freundlich sein, mich daran zu erinnern, nicht wahr?«
Ich habe ihn zu wiederholten Malen während der folgenden Monate daran erinnert, ohne daß er der Sache übrigens besondere Bedeutung beizumessen schien. Dann hatte ich lange Zeit keine Gelegenheit, ihn zu sehen. Erst später erfuhr ich von einer Reise, die er nach Armenien gemacht hatte und von dem erbitterten Kampf, den er gegen den roten Sultan führte und der schließlich mit der Vernichtung des Despoten endete.
Dennoch schrieb ich ihm an die Adresse, die er mir gegeben hatte, und ich konnte ihm auf diese Weise gewisse Fingerzeige geben, die ich von allen Seiten bezüglich meiner Nachbarin Louise d'Ernemont erhalten hatte, von ihrer Liebe, die sie vor einigen Jahren für einen jungen, sehr reichen Mann hegte, der sie auch wieder liebte, den aber seine Familie gezwungen hatte, sie zu verlassen; von der Verzweiflung der jungen Frau und von dem Mute, mit dem sie für ihre Tochter den Kampf ums Dasein aufnahm.
Lupin antwortete auf keinen meiner Briefe. Hatte er sie überhaupt empfangen? Der kritische Zeitpunkt kam immer näher, und ich legte mir die Frage vor, ob seine zahlreichen Unternehmungen ihn nicht daran hindern würden, zur rechten Zeit an Ort und Stelle zu sein.
So kam endlich der Morgen des 15. Aprils heran. Ich hatte bereits mein Frühstück genommen, und Lupin war immer noch nicht da. Um ein Viertel ein Uhr fuhr ich nach Passy. Alsbald bemerkte ich in dem Gäßchen die vier Jungen des Arbeiters, die vor der Haustür standen. Von ihnen aufmerksam gemacht, kam Valandier mir entgegen.
»Nun, und der Kapitän Jeanniot!« rief er.
»Er ist nicht hier?«
»Nein, Sie können sich aber denken, daß ich ihn mit Ungeduld erwarte.«
Die Gruppen der Erben umdrängten den Notar. All diese Gesichter, die ich sofort wieder erkannte, hatten nicht mehr den düsteren, mutlosen Gesichtsausdruck vom vergangenen Jahre.
»Sie hoffen,« sagte Valandier zu mir, »und das ist meine Schuld. Was wollen Sie? Ihr Freund hat auf mich einen derartigen Eindruck gemacht, daß ich vor den braven Leuten ein Vertrauen äußerte, das ich ... selbst nicht habe. Er ist doch ein drolliger Typ, dieser Kapitän Jeanniot ...«
Er fragte mich aus, und ich gab ihm über den Kapitän ein bißchen phantastische Auskünfte, denen die Erben aufmerksam lauschten.
Louise d'Ernemont murmelte:
»Und wenn er nun nicht kommt?«
»Dann werden wir wenigstens fünftausend Francs unter uns zu verteilen haben«, sagte der Bettler.
Trotzdem hatten die Worte Louise d'Ernemonts ziemlich abkühlend gewirkt. Die Gesichter verdüsterten sich, und ich merkte, wie eine gewisse angstvolle Stimmung über allen lag. Um einhalb zwei Uhr setzten die beiden mageren Schwestern, einer Ohnmacht nahe, sich nieder. Der dicke Herr mit der schmutzigen Jacke bekam plötzlich einen Zorn gegen den Notar.
»Jawohl, Herr Valandier, Sie sind verantwortlich ... Sie hätten den Kapitän herbringen müssen, ob er wollte oder nicht ...! So ein Flausenmacher!«
Er blickte mich bösartig an, der Kammerdiener ließ auch deutliche Beleidigungen gegen mich laut werden. Endlich riefen die Jungen am Haustor: »Da kommt einer! ... Ein Motorrad!«
Das Geräusch des Motors wurde immer lauter. Ein Mann auf einem Motorrad rasselte mit Lebensgefahr die kleine Gasse herunter. Vor dem Haustor bremste er und sprang von der Maschine.
Unter der Staubschicht, die ihn über und über bedeckte, konnte man bemerken, daß seine dunkelblaue Kleidung, seine Hose mit der Bügelfalte nicht einem Touristen angehörten, ebensowenig der Filzhut und die eleganten Schuhe.
»Aber das ist ja nicht der Kapitän Jeanniot!« rief der Notar, der ihn nicht erkannte.
»Doch«, meinte Lupin und reichte uns die Hand. »Das ist der Kaptän Jeanniot, nur habe ich mir meinen Schnurrbart stutzen lassen ... Herr Valandier. Hier ist die Quittung, die Sie unterzeichnet haben.«
Er packte einen der Jungen beim Arm und sagte: »Lauf zum Wagenhalteplatz und laß ein Auto bis zur Rue Raynouard vorfahren. Tummle dich, ich habe um einviertel drei Uhr eine wichtige Besprechung.«
Man protestierte lebhaft. Kapitän Jeanniot zog seine Uhr.
»Ja, wie denn? Es ist ja erst zwölf Minuten vor zwei Uhr, ich habe also noch volle fünfzehn Minuten Zeit. Herr Gott, wie bin ich müde! Und was für einen Hunger ich habe!«
Der Korporal reichte ihm sofort sein Brot, in das Lupin gierig hineinbiß. Dann setzte er sich hin und sagte:
»Sie werden mich entschuldigen, der Marseiller Expreßzug entgleiste zwischen Dijon und La Roche; es gab ein Dutzend Tote und Verwundete, um die ich mich kümmern mußte. Da fand ich im Packwagen dieses Motorrad ... Herr Valandier, Sie werden so freundlich sein und es dem Eigentümer wieder zustellen. Ein Zettel mit dem Namen hängt an der Lenkstange ... Ah, da bist du ja schon zurück, Junge! Ist das Auto da? Ecke Rue Raynouard? Bravo ...«
Er sah auf seine Uhr.
»Oh ha, keine Zeit zu verlieren.«
Ich betrachtete ihn mit brennender Neugierde. Aber wie groß mußte erst die Erregung der d'Ernemontschen Erben sein. Die hatten zwar zum Kapitän Jeanniot nicht das Vertrauen, das ich zu Lupin besaß, aber auf ihren Gesichtern lag doch Blässe und angstvolle Spannung.
Langsam wandte sich Kapitän Jeanniot nach links und ging auf die Sonnenuhr zu. Den Ständer dieser Sonnenuhr bildete der mächtige Torso eines Mannes. Dieser trug auf seinen Schultern eine Marmortafel, deren Oberfläche von der Zeit derart mitgenommen war, daß man kaum noch die darauf eingegrabenen Stundenzahlen lesen konnte. Darüber befand sich ein Amor mit ausgebreiteten Flügeln, der einen Pfeil als Zeiger hielt.
Der Kapitän neigte sich etwa eine Minute lang über die Tafel. Dann verlangte er:
»Ein Messer bitte.«
Von irgendwoher schlug es zwei Uhr. In demselben Augenblick fiel auf die von der Sonne erleuchtete Scheibe der Schatten des Pfeiles, und zwar genau an einem Risse im Marmor entlang, der mitten durch die Scheibe ging.
Der Kapitän nahm das Messer, öffnete es und begann mit der Spitze vorsichtig ein Gemengsel von Erde und Staub abzukratzen, das den schmalen Riß ausfüllte.
Plötzlich, etwa zehn Zentimeter vom Rande entfernt, hielt er inne, wie wenn sein Messer auf einen Widerstand gestoßen wäre, steckte dann die Zeigefinger in den Riß und zog einen kleinen Gegenstand heraus, den er zwischen seinen Handflächen hin und her rieb und dann dem Notar zeigte.
»Da, Herr Valandier, das ist immerhin etwas.«
Es war ein ungeheurer Diamant von der Größe einer Nuß und wunderbar geschnitten.
Der Kapitän machte sich von neuem ans Werk. Alsbald hielt er wiederum inne. Ein zweiter Diamant, schön und leuchtend wie der erste, kam zum Vorschein, und dann ein dritter und ein vierter.
Eine Minute darauf, und indem er immer in dem Ritz von einem Ende bis zum anderen entlangfuhr, wobei er aber nicht tiefer als etwa anderthalb bis zwei Zentimeter eindrang, hatte der Kapitän achtzehn Diamanten von derselben Größe herausgezogen.
Während dieser Minute war um die Sonnenuhr herum kein Schrei zu hören, keine Bewegung zu sehen; eine Art Erstarrung hatte die Erben erfaßt, dann murmelte der dicke Herr. »Donnerwetter noch eins! Donnerwetter noch eins!«
Und der Korporal stöhnte: »Oh, Kapitän ... Kapitän ...«
Die beiden Schwestern fielen in Ohnmacht. Das Fräulein mit dem Hunde fiel auf die Knie und betete, während der Diener, wie ein Betrunkener wankend, sich den Kopf mit beiden Händen hielt und Louise d'Ernemont weinte.
Als die Ruhe wiederhergestellt war und man dem Kapitän Jeanniot danken wollte, bemerkte man, daß er verschwunden war.
Erst einige Jahre darauf bot sich mir Gelegenheit, Lupin über die Geschichte zu befragen. Er war gerade mitteilsamer Laune und antwortete:
»Die Sache mit den achtzehn Diamanten? Mein Gott, wenn ich bedenke, daß vier oder fünf Generationen anderer Sterblicher nach der Lösung gesucht haben und daß die Diamanten nur unter ein wenig Staub dalagen ...!«
»Aber wie haben Sie das erraten?«
»Ich habe nichts erraten. Ich habe nachgedacht. Ja, habe ich denn überhaupt auch nur zu denken brauchen? Von Anfang an war mir die Tatsache aufgefallen, daß das ganze Abenteuer sozusagen im Zeichen einer Hauptfrage, nämlich im Zeichen der Zeit, stand. Als Charles d'Ernemont noch bei Vernunft war, schrieb er ein Datum auf die drei Bilder, später, bei geistiger Umnachtung führte ihn ein kleiner Lichtblick jedes Jahr mitten in den alten Garten, und derselbe Lichtblick ließ ihn jedes Jahr in ein und demselben Augenblick den Garten wieder verlassen, nämlich um fünf Uhr siebenundzwanzig Minuten.
Was regelte denn nun derart den gestörten Mechanismus dieses Gehirns? Welch höhere Kraft setzte den armen Verrückten in Bewegung? Ohne Zweifel die instinktive Wahrnehmung der Zeit, die auf den Bildern des Generalpächters durch die Sonnenuhr verkörpert wurde. Es war die jährliche Umdrehung der Erde um die Sonne, die zu einem bestimmten Datum Charles d'Ernemont in den kleinen Garten von Passy führte. Und die tägliche Umdrehung der Erde um sich selbst führte ihn zu bestimmter Stunde wieder hinaus, nämlich vermutlich zu der Stunde, wo die Sonne durch gewisse Hindernisse, die heute nicht mehr vorhanden sind, den Garten zu Passy nicht mehr bestrahlte. Für alles das war nun die Sonnenuhr das Symbol, und darum erfaßte ich sofort, wo man suchen müßte.«
»Aber wie haben Sie denn die Zeit, in der Sie Untersuchungen anstellen mußten, feststellen können?«
»Ganz einfach an Hand der Bilder. Ein Mensch, der zu der Zeit Charles d'Ernemonts lebte, hätte sicherlich folgende Inschrift gewählt: ›26 Germinal, zweites Jahr‹, oder auch ›15. April 1794‹, aber keinesfalls ›15. April zweites Jahr‹. Ich wundere mich, daß niemand darauf gekommen ist.«
»Die Zahl zwei also bedeutete zwei Uhr.«
»Offenbar, und das beruht höchstwahrscheinlich auf folgendem Vorkommnis:
Der Generalpächter legte sein Vermögen in guten Gold- und Silbermünzen an. Dann kaufte er aus übergroßer Vorsicht mit diesem Golde und Silber achtzehn wunderbare Diamanten. Als er von der Patrouille überrascht wurde, flüchtete er in den Garten. Wo nun die Diamanten vergraben? Seine Blicke fielen zufällig auf die Sonnenuhr. Es war zwei Uhr. Der Schatten des Pfeiles fiel zu der Zeit längs der Richtung des Risses im Marmor. Er gehorchte dem Zeichen des Schattens, steckte die achtzehn Diamanten in den mit Staub angefüllten Riß und ergab sich dann ruhig den Soldaten.«
»Aber der Schatten des Pfeiles fällt alle Tage um zwei Uhr mit dem Riß im Marmor zusammen und nicht bloß am 15. April.«
»Sie vergessen, lieber Freund, daß es sich um einen Verrückten handelte, der nur das Datum des 15. April im Kopfe behielt.«
»Mag sein; nun wäre es Ihnen doch aber ein leichtes gewesen, von dem Augenblicke an, wo Sie das Rätsel gelöst hatten, den Raum zu betreten und die Diamanten fortzunehmen!«
»Sehr leicht, und ich hätte auch nicht einen Augenblick gezögert, wenn ich es mit anderen Leuten zu tun gehabt hätte. Aber diese armen Unglücklichen taten mir leid, und zudem kennen Sie ja diesen Idioten, den Lupin. Ich habe nun einmal die fixe Idee, gelegentlich als Wohltäter aufzutreten und meine Mitmenschen zu verblüffen. In solcher Laune könnte ich alle möglichen Dummheiten begehen.«
»Na!« rief ich, »diese Dummheit ist nicht so groß. Sechs schöne Diamanten sind auch keine Kleinigkeit, und soviel müßten Ihnen ja die Erben d'Ernemonts nach dem Abkommen geben.«
Lupin sah mich an und brach plötzlich in lautes Lachen aus: »Ah, Sie wissen noch nicht? Das ist nämlich eine nette Geschichte .... Denken Sie sich die Freude der Erben d'Ernemont! Am nächsten Tage nämlich, mein Lieber, waren sie alle die Todfeinde des Kapitäns Jeanniot! Am nächsten Tage organisierten die beiden mageren Schwestern und der dicke Herr den Widerstand. Der Kontrakt?
Ohne Wert! Denn es war ja leicht zu beweisen, daß es überhaupt keinen Kapitän Jeanniot gab. Woher kommt auf einmal dieser Abenteuerer? Dem werden wir es anstreichen!«
»Auch Louise d'Ernemont?«
»Nein, Louise d'Ernemont widersetzte sich solcher Gemeinheit, doch was konnte sie allein ausrichten? Übrigens, da sie nun wieder reich geworden war, fand sie sich wieder mit ihrem Verlobten zusammen. Ich habe nichts mehr von ihr gehört.«
»Und weiter?«
»Ja, mein lieber Freund, ich war regelrecht in die Falle gegangen und vollständig machtlos. Wohl oder übel mußte ich mit ihnen verhandeln und mich für mein Teil mit einem bescheidenen Diamanten begnügen, dem allerkleinsten und unansehnlichsten. Ja, ja, man soll sich nur für seine Nächsten kein Bein ausreißen!«
Dann murmelte Lupin zwischen den Zähnen:
»Ja, die Dankbarkeit! Lächerliche Phrase! Zum Glück bleibt uns anständigen Leuten wenigstens das tröstende Bewußtsein, unsere Pflicht getan zu haben!«