Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der gute Ruf

Als Annie noch zu Haus bei ihrem Vater war, rief man sie Anna. Ihr Vater war Kanzleirat. Er besaß alle Eigenheiten des kleinen Beamten, und seine ins Krankhafte gesteigerte Pedanterie bewirkte, daß sein Leben mit der Exaktheit eines Uhrwerks ablief. Daran hatte sich Marta, sein Weib, gewöhnt. Sie wußte ja schließlich auch, als sie ihm zwanzigjährig aus freiem Willen zu dem Altar folgte, wes Geistes Kind er war. Anders war das mit Anna, die sich, als sie neun Monate später zur Welt kam, einer fertigen Situation gegenüber sah. Vielleicht, daß sie sich sonst ein anderes Elternpaar ausgesucht hätte. Jedenfalls lief dies neue Rad nicht mit derselben Genauigkeit, wie das Marias und des Kanzleirats. Gab es Arbeit, so stand es still; ein anderes Mal wieder lief es in einem Tempo, daß Emma und dem Kanzleirat Hören und Sehen verging; bis es eines Tages einfach auf und davonraste.

Kanzleirats wußten zwar, wo es geblieben war, aber sie gaben sich keine Mühe, es aufzuhalten und zurückzuholen. Sie fanden sich mit dem Verluste ab, so gut und schlecht es eben ging; Marta litt mehr darunter als ihr Mann, der auch als Mensch noch Beamter war.

Anna – nun ja, das war weiter nicht verwunderlich. Sie nähte, solange sie noch bei den Eltern war, ohne viel zu denken, für drei Mark dreißig und freie Kost vom frühen Morgen bis spät in den Abend Wäsche und Kleider für die adligen Damen, deren Väter und Männer Vorgesetzte des Kanzleirats waren. Bis sie eines Abends einer dieser Herren, ein junger Baron, bei dessen Eltern sie den Tag über genäht hatte, nach Hause geleitete und ihr das Unrationelle dieser Lebensführung so überzeugend klarlegte, daß sie am nächsten Morgen die Arbeit nicht wieder aufnahm.

Und das war, wie sich bald herausstellte, im Gegensatz zu ähnlichen Fällen, ausnahmsweis keine Dummheit. In dem Kreis, in den ihr Freund sie führte, entdeckte man ihre Stimme. Und deren Ausbildung ergab, daß sie ein starkes, ungewöhnliches Talent war. Mit ihrem Können wuchs ihr Ehrgeiz. Bald stand sie auf der Bühne und ihre Erfolge versprachen eine große Zukunft.

Für den Kanzleirat aber blieb sie das gefallene Mädchen, die durch eigene Schuld auf eine abschüssige Bahn geratene Tochter. Und kein Weltruhm vermochte daran etwas zu ändern.

Annies verschiedentliche Versuche, eine Verständigung mit ihrer Familie herbeizuführen, scheiterten an den unannehmbaren Bedingungen, die der Vater stellte: Verzicht auf die Bühne, Aufgabe des Barons, Rückkehr in die Familie und in die Schneiderstube. Und zum Überfluß: die Ehe mit ihrem Vetter, einem unfertigen Menschen, der irgendwo in der Lehre war.

Diese Forderungen kehrten bei jedem Annäherungsversuch, den Annie machte, wieder, so daß sie schließlich resignierte und die Trennung von den Eltern als endgültig betrachtete.

Nur an Geburtstagen und am Heiligabend brach wohl noch das kindliche Gefühl durch, und dann sehnte sich Annie nach Haus zu den Ihren, deren Bild in ihrem Innern längst verrückt war und die ganz anders in ihr fortlebten, als sie in Wirklichkeit waren. An solchen Tagen bedurfte es des großen Takts und der liebevollen Rücksicht von seiten des Barons, um sie zur Ruhe und Vernunft zu bringen.

Es war der zehnte Geburtstag heute, den Annie ohne ihre Familie feierte. In ihrer Wohnung duftete es von Blumen, die Verehrer und Verehrerinnen ihrer Kunst gesandt hatten und die von ihr mit viel Geschmack in die einzelnen Räume verteilt waren.

Im Salon war der Baron mit dem Aufbau des Riesengeburtstagstisches beschäftigt. Der Diener und die Zofe halfen ihm. Sie wickelten ihm die Pakete aus und reichten ihm die Geschenke, die er mit großer Sorgfalt auf dem Tisch verteilte. Die feinsten Seifen, Puder und Parfums umrahmten ein Stück Plüsch, auf dem eine Brosche und ein Armband mit Smaragden lag. Links lagen Kleidungsstücke, Handschuhe, Wäsche und Hüte, rechts feinste Schreibpapiere, Bücher und Klavierauszüge.

Man sah: diese Geschenke waren nicht willkürlich zusammengetragen; an jedem Stück hing ein guter Wunsch und ein liebevolles Gedenken. Eine ganze Stunde dauerte der Aufbau. Dann ging der Baron ins Nebenzimmer und nahm Annie, die bei der Morgenschokolade saß, bei der Hand und führte sie in den Salon.

»Du verwöhnst mich von Jahr zu Jahr mehr!« sagte sie, als sie die Fülle der Geschenke sah, legte zärtlich den Arm um seinen Hals und dankte ihm.

»Das kommt daher, daß meine Liebe von Jahr zu Jahr größer wird,« erwiderte der Baron und legte Annie einen kostbaren venezianischen Schal um.

»Wie viel Geschmack du hast!« rief Annie, und der Baron fragte:

»Gefällt er dir?«

»Ich werde ihn morgen als Carmen in der Oper tragen,« sagte sie zärtlich, »und an dich denken und nur für dich singen, du guter Mann.«

Ehe sie eins der Geschenke aufnahm, wühlte sie unter den Briefen und Telegrammen, die in der Mitte des Tisches lagen, warf flüchtig einen Blick auf die Adressen, nahm einen Brief auf, rief: »Von den Eltern!« – öffnete ihn hastig und las:

 

Liebe Annie

Wie in jedem Jahre, so will der brave Vater und ich auch diesmal für einen Tag den Kummer, den Du uns bereitest, vergessen und Dir zu Deinem Geburtstage, den wir uns auch einmal anders gedacht haben und wohl auch anders verdient hätten, unsere besten Wünsche senden.

Da wir Dich nun fünf Jahre lang nicht gesehen haben und Du zudem noch morgen fünfundzwanzig wirst, was im Leben eines rechtschaffenen Menschen immerhin einen Abschnitt bedeutet, so wollen wir ein übriges tun und auf ein viertel Stündchen mit herankommen. Denn schließlich bist Du ja doch trotz allem, was vorgefallen ist, nun mal unser Kind. Um es dem braven Vater zu erleichtern, wird Grete und die Familie von Onkel Emil uns begleiten. – Daß der brave Vater Kanzleirat wurde, habe ich Dir wohl schon mitgeteilt. Es stand jetzt im Amtsblatt. Denke Dir, wie Du jetzt dastehen könntest! Sei umarmt von Deiner betrübten

Mutter.« »

 

Annie, die in ihrer Freude die Nadelstiche, die man ihr versetzte, kaum empfand, warf sich dem Baron an den Hals und rief:

»Denk' dir, die Eltern kommen!«

Und der Baron, der Annies Sehnsucht nach einer Verständigung mit der Familie, kannte, küßte sie auf die Stirn und sagte:

»Wie ich dir diese Freude gönne!«

Annie sah ihn gütig an.

»Ich weiß es!« sagte sie. »Und das macht mich so glücklich.«

»Wann werden sie kommen?« fragte der Baron.

»Gegen Abend, denke ich.«

»Du wirst ihnen einen feierlichen Empfang bereiten.«

Annie dachte nach.

»Meinst du?« fragte sie.

»Aber natürlich! Ein gutes Diner und ein guter Wein ist die beste Brücke, um Menschen, die sich verloren haben, wieder zusammenzuführen.«

Annie nickte:

»Du hast recht!« sagte sie. »Ich entsinne mich, sie aßen alle immer so gern.«

»Siehst du!«

»Aber was wird dann mit dir?«

»Ich zeige Takt und bleibe unsichtbar.«

»An meinem Geburtstag soll ich ohne dich sein?«

»Wenn dir das schwer fällt, Annie; es liegt in deiner Hand, es zu ändern.«

»Wie meinst du das?«

»Weißt du es wirklich nicht?« – Und da Annie ihn groß ansah, so fuhr er fort: »Indem du endlich den Widerstand aufgibst und meine Frau wirst.«

»Dietrich, du weißt …«

»Wenn nicht aus Liebe zu mir, dann tu's aus Liebe zu denen da!« unterbrach er sie und wies auf den Brief von Annies Eltern.

»Werde ich dadurch mehr wert?«

»Für mich nicht, das weißt du, aber für die Welt.«

»Danach frage ich nicht,« wehrte sie ab.

»Aber die Eltern fragen danach.«

»Eine Künstlerin, die es mit ihrer Kunst ernst nimmt, paßt nicht für die Ehe.«

»Das alte Lied.«

»Ihre Kunst muß ihr das Höchste sein. – Für eine Frau, die heiratet, aber soll es der Mann sein. Entweder also es leidet die Kunst oder die Ehe. In der Regel beides. Und du weißt, daß ich nichts mehr hasse als alles Halbe.«

»Also wirst du nie meinen Wunsch erfüllen und meine Frau werden?«

»Doch. Aber ich fürchte, wenn ich will, wirst du nicht mehr wollen.«

»Annie, das glaubst du ja selbst nicht.«

»Doch! doch!«

»Ja, was heißt denn das?«

»Daß ich erst dann bereit sein werde, wenn ich fühle, daß es in der Kunst mit mir bergab geht und ich aus freiem Willen auf sie Verzicht leiste.«

»Und wann, glaubst du, wird das sein?«

»Wenn ich alt und häßlich bin. Aber bis es dahin kommt, wirst du längst bei einer Andern glücklich sein.«

Der Baron hob die Hand zum Schwure: »Nie …« begann er; aber Annie fiel ihm in den Arm

»Laß das!« bat sie ihn. »Ich will, daß du frei bist und bleibst.«

»Annie!« sagte er zärtlich. Sie legte ihre Arme auf seine Schultern und sah ihm in die Augen:

»Du bist ein Kind!« sagte sie. »Und vor allem: du bist verliebt.«

»Ja!« beteuerte er – »das bin ich!«

»Und bist daher blind. Du siehst nicht, daß ich jetzt schon älter bin als du; daß ich mich in meinem Berufe aufreibe und in ein paar Jahren verbraucht sein werde. Und dann wird der Tag kommen, an dem du es mir dankst: daß ich dich nicht an mich gebunden habe.«

»Nie!« beteuerte der Baron.

Annie lenkte ab. Sie wandte sich an den Tisch, auf dem die Geschenke lagen:

»Nein, wie undankbar bin ich!« rief sie. »Statt daß ich mich mit meinen Geschenken freue und mich bei dir bedanke, quäle ich mich mit so dummen Dingen. – Was sind das alles für herrliche Sachen!« – Sie nahm ein Stück nach dem andern auf und bewunderte es. Dann nahm sie den Baron bei der Hand und dankte ihm.

»Und noch viele, viele so glückliche Jahre mit dir, das ist das Höchste, was ich mir wünschen kann.«

»Bis an mein Lebensende!« beteuerte der Baron und schloß sie in die Arme. – »Und nun bereite alles vor, damit deine Familie mit dir zufrieden ist.«

»Und du?« fragte Annie.

»Ich komme am Abend zurück, dann bleibt uns noch immer Zeit, zu feiern.«

Er nahm Abschied und ging. Annie sah ihm vom Fenster aus nach und winkte ihm zu. Dann läutete sie und ließ die Kochfrau kommen.

»Also, Frau Stein,« sagte sie in freudiger Erregung, »hören Sie, ich bekomme Besuch! Ganz ungewöhnlichen Besuch! Da müssen wir uns ganz besonders anstrengen und zeigen, was wir können.«

»An mir soll's nicht fehlen. Sie brauchen nur zu bestimmen, gnädiges Fräulein.«

»Also, da ist zunächst Papa!« begann sie übermütig und mehr zu sich. »O wie despektierlich!« verbesserte sie sich. »Der Herr Kanzleirat natürlich! – Ja, was aß er denn nur immer gleich besonders gern? – Richtig! Gänsebraten war sein Leibgericht. Zweimal im Jahr gab's ihn. Zu Mutters Geburtstag und am ersten Weihnachtsfeiertag. Sechs Monate Zeit hatte man, sich von einem zum andern Mal darauf zu freuen. Und die Vorfreude war nicht das schlechteste daran: Denn wenn's endlich so weit war und zur Teilung kam – was glauben Sie, so eine Gans läßt sich zwar viel gefallen, aber acht Tage lang eine vierköpfige Familie zu ernähren, das wird am Ende auch einer Gans zu viel. Und was man dann am Wochenende vor sich auf dem Teller hatte, das sah man kaum noch mit dem bloßen Auge. Aber mit Andacht aß man's und hatte ein stolzes und glückliches Gefühl dabei.«

Die Kochfrau sah erstaunt zu Annie auf, die sich in ihrer großen Freude zum ersten Male heute decouvrierte.

»Und die Mutter,« fuhr Annie freudig fort: – »Was war gleich mit der Mutter? Wenn ich nicht irre, schwärmte sie für frische Gemüse! Daß man auch nie daran dachte, ihr so etwas ins Haus zu schicken! Sie hätte ja garnicht zu wissen brauchen, von wo es kommt! Wo ich doch wußte, daß sie es liebt – und es sich nicht leisten kann.«

Die Kochfrau nickte und schlug junge Artischockenböden und grüne Spargelspitzen vor.

»Das wär so was!« erwiderte Annie. »So was hat sie nicht alle Tage. – Na, und dann vor allem etwas Besonderes für das Süßmaul, die kleine Schwester. – Klein?« überlegte sie. »Sie war es damals! Es sind zehn Jahre her. Heut ist sie sechzehn. Aber für Süßigkeit schwärmt sie gewiß noch immer.«

»Anzunehmen,« sagte die Kochfrau. »Also Halbgefrorenes mit Schokoladensauce.«

Und Annie, die im Geiste sah, wie Schwester Gretel sich alle zehn Finger leckte, klatschte in die Hände und rief:

»Großartig, das machen wir! Und für die Tante Ida?«

Die Kochfrau empfahl als Vorspeise Helgoländer Hummer, und Annie akzeptierte. Ein spritziger Saarwein, Bordeaux und Champagner wurden bestimmt, und die Kochfrau begab sich mit dem vollbeschriebenen Zettel in die Küche.

Annie aber lief den ganzen Tag über in gehobener Stimmung umher.

Nebenan deckten der schneeweiße Kammerdiener und die junge Kammerzofe die Tafel.

»Das scheint ja heut ein ganz besonders vornehmer Besuch zu sein,« sagte der Alte, als er die Champagnergläser auf dem Tisch verteilte.

»Wieso? warum? weshalb?« fragte die Zofe.

»Na, in der Küche unten da geht's ja her, als wenn's sich um ein Hochzeitsessen handle.«

»Am Ende …« meinte die Zofe. »Wer kann's wissen? Alles schon mal dagewesen.«

»Sie meinen doch nicht etwa, daß aus dem gnädigen Fräulein eine …«

Die Zofe nickte schelmisch und sagte:

»Gewiß! Das mein' ich, daß aus unserem gnädigen Fräulein eine Freifrau von Lützelau wird.«

»Nie im Leben!« erwiderte der Alte.

»Und weshalb nicht?« fragte die Zofe.

»Das will ich Ihnen sagen. Weil das eine Mesalliance wäre.«

»Für wen?«

»Dumme Frage! Natürlich für den Baron.«

»Veraltet! Das war einmal! Heute entscheidet die Tüchtigkeit.«

»Sein Geschlecht ist sechshundert Jahre alt.«

»Dann hat es eine Verjüngung dringend nötig.«

»Es gibt auch junge Komtessen.«

»Dumme Gänse sind nichts für den Baron …«

»Komtessen sind doch keine Gänse!« sagte der Alte entsetzt.

»Der Baron braucht eine gescheite Frau, die was leistet und mit ihm umzugehen versteht.«

»Die Hohen und Freien Herren von Lützelau würden sich in ihren Erbbegräbnissen umdrehen.«

»Sie werden sich wieder zurückdrehen, wenn's ihnen unbequem wird.«

»Oh! oh! oh!« rief der Alte entsetzt, fand aber, da es draußen läutete, keine Gelegenheit mehr, eine Lanze für die in Gott ruhenden Hohen und Freien Herren von Lützelau zu brechen.

Er öffnete die Tür und vor ihm, an dessen geistigem Auge eben noch die lange Ahnenreihe Derer von Lützelau vorbeidefilierte, stand – die Familie Weiße. Vornan der Kanzleirat in zugeknöpftem, altmodischem Gehrock, von dem man auf das Alter seines Trägers schließen konnte. Er hielt einen Zylinder in der Hand und trug auf der starken Nase eine Brille, die, so oft er den Kopf bewegte, ruckartig nach vorn rückte. Da blieb sie in einer Rinne, die sich im Laufe der Jahre immer schärfer markierte, liegen, bis er sie mit einer kurzen Bewegung wieder in die Höhe schob.

Neben ihm stand Frau Kanzleirat in einem abgeschabten Seidenkleid; schlank, verwelkt, ein kleines Hütchen auf dem gescheitelten Haar. Und dahinter Onkel Emil und Tante Ida, denen man ansah, daß sie nicht, wie die beiden andern, innerlich beteiligt, sondern nur als Zuschauer interessiert waren. Seitwärts am Treppengeländer lehnte Schwester Grete, der Backfisch, mit einem dicken, blonden Mozartzopf und zwei leuchtenden blauen Augen, in denen die erste große Sehnsucht des erwachten Lebens stand. Und dahinter, alle überragend, Vetter Otto, mit dreister Vivatsnase, den Hut tief im Genick, in einem karierten Sakko, schreiender Schaufensterware, die den herausfordernden Eindruck seines Trägers noch erhöhte.

Theo, der alte Diener, stand verblüfft der Gruppe gegenüber.

»Verzeihen Sie,« sagte der Kanzleirat: »Sind wir hier richtig?«

»Das kommt drauf an, zu wem Sie wollen.«

Und er sah sich die sechs Menschen nochmals genau an und meinte: »Vermutlich nicht. Hier wohnt Freiherr von und zu Lützelau.«

»Da haben wir's! Man muß sich ja schämen,« rief die Tante.

»Aber da steht doch,« meinte die Frau Kanzleirat schüchtern und wies auf ein kleines Schild, das unter dem »v. Lützelau« hing und auf dem »Annie Brune« stand.

»So eine Schande!« rief die Tante, und ehe der Diener noch sagte:

»Die Dame wohnt auch hier,« platzte Gretel heraus:

»Na eben! Wegen dieses Barons ist doch der ganze Skandal.«

»Schweig!« befahl der Kanzleirat, und die Tante ergänzte:

»Was weißt denn du?«

»Ja, ist denn mein Brief nicht angekommen?« fragte die Frau Kanzleirätin.

»Es sind viel Briefe angekommen,« erwiderte der Diener. – »Aber die Gnädige pflegt mich nicht in ihre Korrespondenz einzuweihen.«

Grete strahlte. Die Gnädige, das war ihre Schwester, und dieser befrackte alte Herr war ihr Diener. Sie fühlte schon jetzt, daß die traumhaften Vorstellungen, die sie sich seit Jahren von ihrer berühmten Schwester Annie machte, der Wirklichkeit entsprachen.

»Na, dann können wir ja wieder gehen,« meinte der Onkel. Aber Tante Ida widersprach:

»Wenn man schon einmal da ist, dann kann man ihr auch wenigstens guten Tag sagen.«

»Bitte!« sagte der Diener und ließ die Gesellschaft eintreten. Er führte sie durch die Halle, die sie, staunend über die Pracht der Perser und Gobelins, wortlos durchschritten. Dann öffnete er eine Tür, verbeugte sich gewohnheitsgemäß und sagte: »Bitte!«

Sie traten in das Herrenzimmer, ein Meisterwerk des Architekten Oscar Kauffmann. Erst sperrten sie Mund und Augen weit auf und sagten garnichts. Dann brach als Erster Vetter Fritz das Schweigen und sagte bewundernd:

»Donnerkiel! Das nenn' ich Karrière!«

Die andern erschraken, und Tante Ida wandte sich zu ihrem Sohn und sagte:

»Dummer Junge! Was verstehst denn du?«

Aber ihr gerötetes Gesicht und die flimmernden Augen, die gierig von einem Gegenstand zum andern irrten, verrieten, daß sie zum mindesten das Erstaunen ihres Sohnes teilte. Und auch ihr Mann, der bewundernd vor einem Likörschrank stand, dessen Besitz seit Jahren seine unausgesprochene und, wie er wußte, unerfüllbare Sehnsucht war, platzte heraus und sagte:

»Schön hat sie's hier, das muß man sagen.«

Die Frau Kanzleirat fuhr sich mit der Hand über die Augen und sagte wie im Traum: »Hier wohnt mein Kind!«

»Ich würde mich hier nicht wohl fühlen,« log die Tante, und Otto meinte:

»Jeder fühlt sich da wohl, wo er hingehört.«

»Sieh bloß, Vater!« rief Grete – »da ist ja solch Sessel, für den du seit fünf Jahren sparst!«

»Und gleich ein halbes Dutzend,« ergänzte Otto.

»Wir kommen auch ohne den Sessel aus,« sagte der Kanzleirat.

»Vielleicht läßt sie euch billig einen ab,« meinte Otto, worauf die Tante erklärte: »Ihr werdet euch doch nichts von ihr schenken lassen!« – Und da das, wie's schien, keinen Eindruck machte, setzte sie hinzu: »Wo man doch weiß, von wo das Geld kommt.«

»Not scheint sie jedenfalls nicht zu leiden,« meinte der Onkel, und die Mutter, die ängstlich nur immer den Kanzleirat ansah, sagte:

»Gott, sie verdient ja viel.«

»So viel nicht!« erwiderte die Tante spitz und wies auf eine Prütschersche Standuhr aus Thujaholz, die auf einem kostbaren Schrank, einem Meisterstück englischer Renaissance, stand.

Der Kanzleirat schob den Kopf vor, rückte die Brille auf die Nasenrinne, zog dann seine Uhr heraus und sagte:

»Natürlich! Dacht' ich's mir doch! Volle fünfzehn Minuten geht die Uhr nach.«

»Wer nicht arbeitet, hat nichts zu versäumen,« meinte die Tante.

Doch Frau Weiße widersprach:

»Sie hat auch ihre Proben,« sagte sie – »und schließlich spielt und singt sie nicht zu ihrem Vergnügen.«

»Gewiß nicht,« erwiderte die Tante spitz. – »Man sieht ja, was sie davon hat.«

Der Kanzleirat schob den Kopf wieder zurück, und rückte die Brille wieder an die alte Stelle.

»Donnerkiel!« rief Vetter Otto, nahm eine Kiste auf und hielt sie sich unter die Nase: »Eine Opernsängerin, die Zigarren raucht!«

»Entsetzlich!« rief Tante Ida und klappte ihm den Deckel vor der Nase zu.

Grete achtete nicht mehr auf das, was die andern taten. Seit Jahren hatte sie sich diesen Augenblick herbeigesehnt.

Nun war er da! Sie stand wie vor einem Wunder vor all dem Glanz und sah mit pochendem Herzen zur Tür, durch die der alte Diener gegangen war, um Annie zu rufen.

Über der Tür hing ein Bild, Reigen tanzende Mädchen von Ludwig v. Hofmann. Die Vollständigkeit ihrer Kleidung ließ zu wünschen übrig.

»Großer Gott!« rief die Tante.

»Was ist?« fragten alle.

Die Tante wies auf das Bild, stürzte auf Grete zu und rief:

»Schließ die Augen!«

Vetter Otto zog die Schulter hoch und sagte:

»Lächerlich!«

»Ich finde auch,« meinte der Onkel, »wenn sie schon einmal mit ist.«

»Schamlos,« ereiferte sich die Tante, »daß du so etwas sehen mußt.«

Grete sah sie verständnislos an.

»Ich find' nichts dabei!« sagte sie arglos.

»Da hörst du's!« rief die Tante entsetzt und wandte sich an den Kanzleirat. »Wenn ihr nicht acht auf sie gebt, erlebt ihr mit ihr dasselbe Unglück! Denkt nur, wenn sie wird, wie eure Anna!«

»Himmlisch wär' das!« platzte Grete heraus.

»Allmächtiger!« rief Tante Ida und hielt sich an ihrem Manne fest.

»Du wirst uns das nicht antun!« sagte die Mutter, legte den Arm um ihr Kind und zog es an sich.

Der Kanzleirat hob drohend die Hand und sagte zu Grete:

»Du kommst in eine Korrektionsanstalt.«

»Soll ich das Kind auch verlieren?« jammerte Frau Weiße.

»Was an dem Bild schon groß dran ist,« meinte Otto.

»Lümmel!« drohte sein Vater.

»Wenn es eurer Meinung nach schon durchaus nötig war,« meinte die Tante nicht eben freundlich – »daß wir hierhergingen, wie konntet ihr es dann fertig bringen, das Kind mitzunehmen?«

»Gott, man wußte ja nicht …«, sagte die Mutter und sah ängstlich zu dem Kanzleirat.

»Ich hätt's euch sagen können, wie's bei einer solchen Frau aussieht,« erwiderte die Tante.

»Schließlich will eine Mutter doch auch ihr Kind einmal wiedersehen,« sagte die Frau Kanzleirat, und der Onkel gab das zu und sagte:

»Gewiß, aber es brauchte nicht hier zu sein.«

»Wo denn?«

»Ihr hättet sie zu euch kommen lassen können ..

»Nein!« unterbrach ihn der Kanzleirat. »Über meine Schwelle niemals.«

»Das ist es ja!« sagte seine Frau traurig.

»Na,« meinte die Tante, »das bleibt sich doch wohl gleich.«

»Das ist ein großer Unterschied, liebe Ida,« dozierte der Alte.

Die Tante zog die Schultern hoch.

»Hier kann ich kommen und gehen, wann ich will.« Er zog wieder die Uhr. »Übrigens, es ist 6 Uhr 18. Du weißt, liebe Marta,« wandte er sich an seine Frau, »ich hatte zwanzig Minuten für diesen Besuch in Anschlag gebracht. Acht Minuten sind bereits vorbei.«

»Ich begreife auch gar nicht …«, sagte seine Frau und schaute beklommen zur Tür.

»Ich bitte dich, wir werden nicht der einzige Besuch sein,« hetzte die Tante. »So eine Dame vom Theater empfängt ja wohl den ganzen Tag über.«

»Von mir hat sie das jedenfalls nicht,« sagte der Kanzleirat. »Ich habe sie von klein an zur Pünktlichkeit erzogen.«

»Leider hast du mit deiner Erziehung keinen Erfolg gehabt,« sagte die Tante. »Im übrigen, das liegt im Blut.«

»In meinem nicht!« erklärte der Kanzleirat.

»Man hätte ja auch nicht gerade den Geburtstag zu wählen brauchen,« meinte der Onkel.

»Nun schließlich steht man ihr als Familie doch wohl näher als irgendein x-beliebiger Baron,« erwiderte die Tante.

Onkel Emil und sein Sohn standen vor den Havannas.

»Was meinst du?« fragte Otto. »Ob man …?«

Der verzog das Gesicht, das sagte: »Ich möcht' schon,« und sah zu seiner Frau.

»Nein!« rief die, »ihr rührt hier nichts an!«

»Wozu ist man eigentlich hierhergegangen,« sagte die Tante.

»Darüber,« erwiderte Frau Weiße, »denke ich, haben wir uns genügend ausgesprochen.«

»Seit drei Jahren redet ihr ja über nichts anderes,« sagte Otto.

»Ich war aus Prinzip von Anfang an dagegen,« erklärte der Kanzleirat. »Mit Menschen, die nicht Ordnung halten und in Reih und Glied bleiben können, will ich nichts zu tun haben.«

»Wie ihr diesen Besuch überhaupt dem Kinde gegenüber verantworten wollt, bleibt mir unverständlich,« sagte die Tante mit einem Hinweis auf Grete, die staunend und bewundernd vor einer Apollostatue stand.

»Mach die Augen zu!« rief die Mutter, nahm Grete beim Arm und zog sie von der Statue weg.

»Was ihr das schon groß schadet!« sagte Otto, und Grete griente, verzog das Gesicht und meinte:

»Als ob ich das überhaupt nicht längst wüßte!«

»Da hast du's!« rief die Tante entsetzt.

»Mir scheint auch, wir tun besser, zu gehen,« erklärte der Onkel, nachdem er sich an einer Vrieslaenderschen Aphrodite gründlich sattgesehen hatte.

Der Kanzleirat zog die Uhr und sagte:

»Nein! Alles muß seine Ordnung haben! Es fehlen noch vier Minuten an halb.«

In diesem Augenblick ging die Tür und Annie rauschte ins Zimmer.

Da ist sie! stand in den erstaunten Gesichtern aller. Aber niemand sprach es aus. Nur Vetter Otto konnte sich nicht beherrschen und sagte:

»Donnerkiel!«

Die Tante machte ein spinöses Gesicht und trat ein paar Schritte zurück. Der Onkel ließ seine Augen wohlgefällig auf seiner Nichte Annie ruhen. Schwester Grete strahlte über das ganze Gesicht. Der Kanzleirat stand wie eine Kerze. Seine Frau war bewegt, nicht übermäßig; aber sie zitterte doch in den Knien und empfand, als sie die schöne, elegante Tochter sah, so etwas wie Mutterstolz, wußte aber nicht, ob sie das mit Rücksicht auf die andern zum Ausdruck bringen durfte.

Annie überlegte nicht viel. Sie stürzte freudig auf Frau Weiße zu, warf sich ihr an den Hals und rief glücklich:

»Mutter!«

Die hätte die Umarmung gern zärtlich erwidert. Aber sie traute sich nicht. Sie hob behutsam die Arme, wagte aber nicht, sie auf Annies Schultern zu legen.

»Hast du es also doch übers Herz gebracht!« sagte Annie zärtlich und küßte und streichelte ihre Mutter, in der schließlich das Gefühl über die Rücksicht siegte. Sie lehnte ihren Kopf an Annies Schultern, schluchzte laut und sagte ein über das andere Mal:

»Mein Kind! Du bist ja doch mein Kind!«

Grete sperrte die Augen immer weiter auf, trat näher an die Beiden heran und bewunderte ihre Schwester. Aber die Tante nahm sie am Arm und zog sie zurück.

»Laß sie doch,« sagte Otto, »so was sieht sie nicht alle Tage.«

»Gottlob!« erwiderte die Tante.

Der Kanzleirat, der darauf eingestellt war, daß Annie ihn, das Familienhaupt, als Ersten begrüßen würde und sich bereits zu Hause für diesen Fall ein paar Worte zurechtgelegt hatte, dachte, als sich Annie, ohne auf ihn zu achten, instinktiv der Mutter in die Arme warf:

»Sie ist noch dieselbe. Ihr fehlt jeder Sinn für Ordnung.«

Als sich Annie jetzt aber zu dem Vater wandte, ihm beide Hände entgegenstreckte und in einem Ton, der echt und herzlich war, sagte:

»Wie freue ich mich, Vater! Und wie danke ich dir!« da blieb ihm nichts anderes übrig, als einzuschlagen. Eckig hob er die Arme und ließ sich die steifen, trockenen Hände von seiner Tochter schütteln.

»Wir wollten nur gratulieren,« sagte er.

»Und wollen durchaus nicht weiter stören,« sagte die Tante nicht eben liebenswürdig.

»Aber, Tante! Ihr stört doch nicht!« erwiderte Annie treuherzig. »Daß ihr gekommen seid, das ist das schönste Geburtstagsgeschenk!«

»Du wirst andere Geschenke gewohnt sein,« sagte die Tante.

»Gewiß Ich bin wieder von allen Seiten reich bedacht worden. Aber kein Geschenk macht mir die Freude, wie daß ihr hier seid.«

»Wir kommen auch nicht mit leeren Händen,« sagte die Mutter, und jetzt trat Grete, die die Tante noch immer mit ihrem breiten Rücken verdeckte, vor und machte einen Knix.

»Gretl!« rief Annie, und die Freude trieb ihr die Tränen in die Augen. »Mein Gretl!« – Aber als sie auf sie zulief und die Arme nach ihr ausstreckte, trat die Tante dazwischen und sagte:

»Wir wollen es doch nicht übertreiben.«

Aber ehe Annie vor Staunen noch ein Wort erwidern konnte, hatte Grete die Tante schon beiseite geschoben und sich ihrer Schwester an den Hals geworfen:

»Du bist ja so schön!« rief sie. »Noch viel schöner als ich dich mir vorgestellt habe!«

Die Tante rang verzweifelt die Hände und machte der Mutter Zeichen, die beiden Schwestern zu trennen. Der Kanzleirat sah mit ernster Miene auf seine beiden Töchter, der Onkel hatte die Hände in den Taschen und schüttelte den Kopf. Otto, der Neffe, schnüffelte voller Interesse im Nebenzimmer, aus dem, nach seinem Gesicht zu urteilen, ungeahnte Wohlgerüche zu kommen schienen.

Die Tante empörte sich immer mehr.

»So laß sie doch!« sagte Frau Weiße.

»Eine nette Mutter!« rief Tante Ida.

Annie überschüttete ihre Schwester mit Zärtlichkeiten. In ihrer Freude drückte sie sie immer wieder an sich.

»So laß dich doch anschauen, Liebling,« sagte sie und maß sie mit liebevollen Blicken. »So ein Knirps warst du, als ich dich das letzte Mal gesehen habe. Und nun bist du eine richtige Dame.«

»Wenn sie nur eine anständige Frau wird,« meinte die Tante.

»Aber gewiß, das wird sie werden!« erwiderte Annie, die in ihrer Freude ganz arglos war und den Affront garnicht merkte.

»Dafür werden wir schon sorgen, nicht wahr, mein Herz.«

»Das dürfte wohl Sache der Eltern sein,« sagte die Tante.

»Natürlich!« erwiderte Annie und sah zu ihrer Mutter, die alles andere als ein frohes Gesicht machte.

»Habt ihr gar Kummer mit ihr?« fragte Annie.

»Mit ihr? Nein!« sagte die Mutter, und die Tante, der dies noch nicht deutlich genug schien, ergänzte:

»Das wäre auch schrecklich, wenn zwei in einer Familie …«

Annie verstand.

»Ach so,« sagte sie, und für einen Augenblick verschwand die Freude aus ihrem Gesicht. »Also ihr seht darin noch immer ein Unglück!«

»Ja!« sagte die Tante, und Vater und Onkel nickten mit dem Kopf.

»Ich nicht!« rief Otto, und Gretl nahm Annies Hand, drückte sie und sagte:

»Ich auch nicht.«

»Da seht ihr, was ihr angerichtet habt!« sagte die Tante vorwurfsvoll zu Kanzleirats.

Annie drückte die Schwester wieder an sich und streckte Otto die Hand hin:

»Richtig! Vetter Otto! Das ist nett, daß auch du an deine Kusine gedacht hast!«

Otto setzte eine vornehme Miene auf, schlug die Hacken zusammen, beugte sich zu Annie herab und küßte ihr die Hand.

»Oh, wie gute Manieren!« sagte Annie freundlich.

Der Kanzleirat schob den Kopf nach vorn, so daß die Brille auf die Rinne rückte, die Tante schalt:

»Sieh doch den Lümmel!« und der Onkel bekam einen roten Kopf und sagte:

»Wo der Flaps das wohl her hat?«

»Laß ihn doch,« sagte die Frau Kanzleirat, worauf die Tante sie anfuhr:

»Ich bitte dich, misch dich nicht in unsere Erziehung.« – Und mit einem Blick auf die beiden Töchter: »Das ist nicht grade eine Empfehlung.«

Die Frau Kanzleirat hatte aus ihrer Tasche ein kleines Paket gezogen, das sie ziemlich verlegen ihrer Tochter reichte.

»Eine Kleinigkeit,« sagte sie. »Die Arbeit daran ist von Grete.«

»Nein! Ein Geschenk!« rief Annie freudig. »Aber das war doch wirklich nicht nötig!«

»Wie meinst du das?« fragte der Kanzleirat, und die Tante sagte:

»Das wüßte ich auch gern.«

»Nun, ich meine, daß ihr euch meinetwegen Ausgaben macht.«

»Sei ohne Sorge!« erwiderte der Kanzleirat. »Bei uns hat alles seine Ordnung.«

»Wenn wir auch nicht in solchem Luxus leben,« sagte der Onkel, »so sind wir darum noch lange keine Pfennigfuchser.«

»Und wissen, was sich gehört,« ergänzte die Tante, die jetzt ebenfalls ein kleines Paket aus der Tasche zog.

»Aber, so war das ja gar nicht gemeint!« versicherte Annie, während sie das Papier löste und eine Hülle aus weißem Leinen darunter hervorzog. »Ich freue mich ja sehr!«

Gretl und die Mutter strahlten.

»Du scheinst nicht recht zu wissen, was du damit anfangen sollst,« sagte die Tante, da Annie das Geschenk von allen Seiten besah und ratlos schien.

»Wenn ich ehrlich sein soll: Nein! Die Arbeit ist reizend. Aber vielleicht sagt ihr mir, als was es gedacht ist.«

»Das ist eine Serviettenhülle!« erklärte die Mutter.

Annies Gesicht wurde nicht klüger.

»Was tut man damit?« fragte sie verlegen. »Damit es auch seine richtige Verwendung findet.«

»Man hebt seine Serviette drin auf,« erläuterte Gretl. »Das ist doch hübscher und sauberer, als wenn sie die ganze Woche offen in einem Ringe liegt.«

Da mußte Annie laut lachen.

»Ach so!« sagte sie. »Ich verstehe! Ja, freilich, bei uns da gibt's alle Tage reine Servietten.«

Sie hatte es kaum ausgesprochen, da tat es ihr auch leid. Die Reue kam zu spät.

Zwar: Der Kanzleirat schüttelte nur den Kopf, Gretl staunte und Otto rief:

»Donnerkiel!«

Aber die Tante warf die Arme hoch, rang die Hände und rief:

»Entsetzlich!«

Die Mutter wurde bleich und meinte:

»So eine Verschwendung!«

Und der Onkel bekam wieder einen roten Kopf und schalt:

»Das scheint mir ja eine nette Wirtschaft hier zu sein!«

»Vielleicht hilft das!« sagte die Tante und steckte Annie das kleine Paket in die Hand, für das die nur mit einer kurzen Kopfbewegung dankte.

»Willst du nicht wenigstens nachsehen, was das ist?« fragte der Onkel.

Annie war verwirrt.

»Ach so,« sagte sie. »Natürlich,« öffnete und hielt ein kleines ledernes Notizbuch in der Hand. »Sehr hübsch! – wirklich! – Ich danke!« – Sie gab der Tante die Hand.

»Falls du nicht wissen solltest,« erwiderte die – »Es steht drauf. Aber du hältst es ja verkehrt.«

Annie wandte das Buch um und las verlegen: »Haushaltungsbuch.«

»Das heißt,« sagte die Mutter, »falls du mit deinem alten etwa noch nicht fertig bist, führst du es erst zu Ende, ehe du das neue anfängst.«

»Das ist doch selbstverständlich,« meinte der Kanzleirat. »Sie kann doch nicht mitten im Quartal ein neues Haushaltungsbuch beginnen.«

»Mir scheint, hier ist alles möglich,« sagte die Tante.

»Das wäre ja einfach gegen jede Ordnung,« erwiderte der Kanzleirat erregt.

»Sie wird's schon machen,« vermittelte die Mutter, aber der Onkel sagte:

»Sie sieht mir gar nicht darnach aus.«

»Wenn ich ehrlich sein soll,« sagte Annie – »so muß ich gestehen, daß ich von der Existenz eines solchen Buches bis heute nichts gewußt habe.«

»Wie? Was?« fragte der Kanzleirat und schob seinen Kopf nach vorn. Diesmal so scharf, daß die Brille mit einem mächtigen Ruck in die Rinne flog.

»Das ist ja nicht möglich!« rief die Tante und der Onkel triumphierte und sagte:

»Seht ihr!«

»Um so ein Buch zu führen, dazu fehlt mir Zeit und Geduld.«

»Ja, wie kannst du denn da wissen, was du verausgabst?« fragte die Mutter, die jetzt das Entsetzen der andern teilte.

»Wenn's alle ist, ist's eben alle!« erwiderte Annie.

Dem Kanzleirat wurde es schwarz vor den Augen. Die Mutter nahm seine Hand und hielt sie fest. Der Tante blieb die Luft weg; sie schnappte wie ein Fisch, den man aus dem Wasser nimmt. Sie fand keine Worte und sagte nur immer:

»Höh! Höh!«

Und als Annie weiter sagte:

»Dadurch, daß man's notiert, reicht's auch nicht länger,« da rückte der Onkel sich zurecht, wandte den Kopf zu den andern und sagte:

»Kommt!«

»Das scheint mir auch das richtige!« japste die Tante. Der Kanzleirat nickte mit dem Kopf, mehrmals hintereinander und so bestimmt, daß seine Frau nicht zu widersprechen wagte, Otto und Gretl verzogen das Gesicht.

»Wie? Ihr wollt doch nicht etwa jetzt schon gehen?« rief Annie entsetzt.

»Doch!« sagte die Tante.

»Ich bliebe gern noch,« meinte die Schwester.

»Und ihr?« wandte sich Annie an die Eltern.

Der Kanzleirat zog die Uhr und sagte:

»Die Zeit ist um.«

»Wir haben dich ja nun gesehen,« sagte die Mutter freundlich – »und uns überzeugt, daß es dir gut geht.«

»Und daß du keine Not leidest,« ergänzte die Tante.

Aber Annie ließ sich so nicht abspeisen.

»An euren Ansichten kann ich nichts ändern,« sagte sie. »Ihr habt euch einmal eure Meinung gebildet und haltet daran fest. Damit muß ich mich abfinden. Wenn ihr euch aber nach fünf Jahren endlich einmal entschlossen habt, mich aufzusuchen, dann dürft ihr auch nicht nach fünf Minuten wieder fortlaufen. Dazu kommt ihr denn wirklich zu selten. Und auf keinen Fall lasse ich euch fort, ohne daß ihr bei mir gegessen habt.«

Der Onkel stutzte; Otto, dem das Wasser im Munde zusammenlief, stand schnüffelnd an der Tür, Gretl, das eben noch mit Tränen gekämpft hatte, machte wieder ein freundliches Gesicht. Der Kanzleirat, der schon ein paar Schritte zur Flurtür hin gemacht hatte, blieb, das rechte Bein nach vorn gestreckt, stehen. Die Mutter überlegte und sagte leise zu ihrem Mann:

»Was meinst du?«

Aber die Tante sah Annie schief an und sagte:

»Kommt! Wir können uns auch zu Hause satt essen.«

Sie sah nicht, wie Annie durch die offenstehende Tür ein Zeichen gab. Erst als Otto aus voller Kehle rief:

»Donnerkiel!«

wandte sie sich um und sah, wie der Diener und die Zofe einen pompös gedeckten, mit Blumen geschmückten, mit Weinen besetzten Tisch ins Zimmer trug. Eine Schüssel mit Riesenhummern und der Duft köstlicher Salate verriet, daß es nicht nur ein reizvolles Bild, sondern Wirklichkeit war.

Da verlor als erster der Onkel die Contenance und schnalzte laut mit der Zunge.

»Sieh nur, Mama!« rief Gretl entzückt. »Gibt es denn so etwas?«

Und Otto dachte, das werden wir gleich haben. Er befühlte recht unsanft die Hummerbäuche und stellte fest, daß es keine Attrappen waren.

Annie nutzte klug die Verblüffung.

»Ich habe jedem sein Leibgericht kochen lassen!« sagte sie, »dir, Papa, eine junge Gans.« –

Der Kopf des Kanzleirats schnellte in die Höh; er ließ die Hand seiner Frau los und setzte als Zeichen, daß er kapitulierte, das rechte Bein wieder zurück.

»Du, Onkel, bekommst deinen geliebten Burgunder.«

»Oh,« sagte der und spitzte den Mund wie ein guter Kenner.

»Dir, Mama, grüne Spargelspitzen und junge Artischockenböden«

»Aber Kind,« sagte die Mutter – »zu der Jahreszeit! Was das kostet!«

»Dir Gretl …«

»Doch nicht gar Halbgefrornes mit Schokoladensauce?« fragte sie in höchster Erregung.

»Erraten!« erwiderte Annie. »Und zwar eine Riesenportion!«

»Himmlisch!« rief Gretl – »Und da wolltet ihr gehen.«

»Und für dich, liebste Tante, habe ich nicht ohne Mühe einen kleinen Korb ganz besonders schöner …«

Annie machte eine Pause. Und zwar nicht aus Zufall.

Die Tante zitterte, sperrte den Mund auf und sagte:

»Ga …«

»Ja!« fuhr Annie fort. »Gartenerdbeeren besorgt.«

»Setzen wir uns!« kommandierte die Tante und sprach damit die alle erlösenden Worte.

Der Diener goß ein. Die Zofe reichte die Schüssel.

»Auf euer Wohl« sagte Annie.

Sie stießen an und tranken.

Dann fuhren sie sich mit den Händen über den Mund nickten sich zu, sagten:

»Gut!«

steckten sich die Servietten hinter die Hälse, beugten sich über die Teller, fielen mit Messern und Gabeln über die Hummern her, hatten für nichts anderes mehr Sinn als für Essen und Trinken und begleiteten jede neue Schüssel, der sie schon, wenn der Diener mit ihr noch in der Tür stand, neugierig die Hälse entgegenstreckten, mit einem lebhaften:

»Ha!«

Eine Zeitlang hörte man nichts als durch die Tätigkeit des Essens und das damit verbundene Wohlgefühl hervorgerufene Geräusche.

Während Annie, die selbst kaum aß und die andern zum Essen anregte, daran ihre Freude hatte, empörte sich in dem alten Diener das in Jahrzehnten entwickelte Gefühl für Takt und gute Manieren.

»Einmal«, sagte er zu der Kammerzofe, die das seltene Schauspiel von der heiteren Seite nahm und sich königlich amüsierte, – »will ich mich ja erniedrigen. Wenn der Verkehr hier zur Gewohnheit wird, kündige ich.«

»Ist es Ihnen so schmerzlich, an die Gewohnheiten Ihrer Kinderstube erinnert zu werden?« fragte die Zofe.

»Wir sind im vierten Gliede herrschaftliche Kammerdiener!« erwiderte der Alte gekränkt.

»Sehr entwicklungsfähig scheint Ihr Geschlecht demnach nicht zu sein,« spottete die Zofe.

»In meiner Familie hat schon der Urgroßvater den Fisch mit zwei Gabeln gegessen.«

»Denken Sie an! Und Sie, sein Urenkel, müssen Leute bedienen, die die Kartoffeln mit dem Messer schneiden!« –

Die Wangen waren bereits vom Wein gerötet, da sagte der Kanzleirat:

»Ich kann mir nicht helfen, aber so einer Gans gegenüber fühle ich mich wie ein ganz andrer Mensch!«

»Die ist aber auch nicht von schlechten Eltern,« sagte Otto. Und der Onkel meinte:

»So ein Burgunder ist das einzige auf der Welt, wofür ich Frau und Kind im Stiche lassen könnte.«

»Ich muß auch sagen,« erwiderte die Tante – »ich weiß zwar nicht, ob das von der Gans oder von dem Burgunder kommt – jedenfalls, ich sehe jetzt alles ganz anders.«

Während sich anfangs die wenigen Worte, die man bei Tische sprach, nur um das Essen drehten, fing man jetzt, angeregt vom Weine, an, auch von andern Dingen zu reden. Ja, der Onkel stand nach dem ersten Glase Sekt sogar auf, zog die Serviette heraus, kaute schnell zu Ende, wischte sich den Mund und hielt eine Rede:

»Liebe Nichte! Je mehr – up – ich trinke … ä, ich wollte natürlich sagen, je mehr ich darüber nachdenke, um so klarer wird mir – wird es mir, – up – daß wir uns die ganzen Jahre über eigentlich – up – recht dumm dir gegenüber benommen haben.«

»Bravo!« rief Otto, und auch die andern nickten mit den Köpfen.

»Ich glaube, – up – daß wir nach den heute hier genommenen, ä gewonnenen, zu Kopfe, ä … ich meine – up – zu Herzen gehenden Eindrücken, – up …«

»Bravo!« rief Otto, und die Tante meinte:

»Ganz meine Ansicht!«

»... daß wir nach alledem – up – gradezu stolz sein müssen …«

»Das finde ich auch,« sagte die Tante, und die Mutter nahm gerührt die Hand des Kanzleirats, der grade das Messer in den Mund schob, nickte ihm zu und sagte:

»Wie schön er spricht!«

»Stolz sein müssen,« wiederholte der Onkel vom Beifall angeregt – »eine Künstlerin von solchem Range, deren – up – wahren Wert« – und seine Augen ruhten abermals voll Liebe auf den vollen Schüsseln – »wir erst heute – up – so richtig kennen lernen, in – up – der Familie zu haben.«

»Bravo! bravo!« riefen jetzt alle.

»Deshalb wollen wir von – up – heute ab dies Haus als eine Familien – up – Stätte betrachten, an der wir uns – up – regelmäßig und häufig versammeln. In diesem Sinne erheben wir – up – unsere Gläser und rufen: hoch die große Künstlerin Annie, dreimal hoch!«

Laut stimmten alle in dieses Hoch ein; Gretl war mit ihrem vollen Teller an den Flügel gestürzt und spielte die Melodie. Die Frau Kanzleirat schluchzte vor Rührung und sah bewundernd zu ihrer Tochter auf, Otto und der Onkel gröhlten in tiefem Baß, die Tante hatte sich in den Stuhl zurückgelehnt und sang, mit dem Körper wippend, das volle Sektglas in der Hand, dessen Inhalt jedesmal, wenn sie sich nach vorn beugte, überschwappte und durch die durchbrochene Bluse auf die vollen Brüste lief, der Kanzleirat schwang eine Gänsekeule und gab den Takt an. Annie, erfreut und belustigt, rief mehrmals:

»Danke! danke!«

und gab dem aufs höchste empörten Diener immer wieder das Zeichen, die Gläser vollzuschenken.

Als das Hoch verklungen war, sagte die Frau Kanzleirat gerührt:

»Wie schön!«

Die Tante, deren Glas jetzt leer war, wippte noch immer, Otto und sein Vater stießen an und umarmten sich, der Kanzleirat schlug noch immer den Takt mit der Keule und fragte:

»Was singen wir jetzt?«

»Heil dir …«, schlug der Onkel vor – Die Tante sagte:

»Unsinn!«

Die Frau Kanzleirat, der noch immer die Tränen liefen, wandte sich zu Gretl und sagte zärtlich:

»Spiel nur, mein Kind. Wir singen dann schon.«

Und Gretl trat auf das Pedal, drückte die Tasten und spielte:

»Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
»daß ich so traurig bin.«

Die Tränen der Frau Kanzleirat überstürzten sich. Auch die Tante fing jetzt an zu heulen. Und selbst die Augen der drei Männer, die falsch und mit Gefühl sangen, standen voll Tränen.

Nach dem letzten Vers sagte die Frau Kanzleirat:

»Was für ein schönes Lied.«

Und die Tante ergänzte:

»Und was für ein schöner Abend.«

Gretl war von dem Flügel aufgestanden und wieder an den Tisch getreten.

»Wie nett du spielst,« sagte Annie und küßte sie auf die Stirn.

Die Frau Kanzleirat stieß ihren Mann an und sagte gerührt:

»Sieh nur unsere Kinder.«

»Kannst du sonst noch etwas?« fragte Annie.

»Ja,« erwiderte Gretl, und die Mutter sagte:

»Sag ein Gedicht auf.«

»Welches?« fragte Gretl.

»Das du am besten kannst.«

Gretl überlegte, stellte sich dann in die Mitte des Zimmers und deklamierte:

Der Segen der Mutter
von Paul Altheer.

Die Mutter spricht zum Töchterlein:
Nun zieh mit Gott hinaus ins Weite
Die Englein geben dir's Geleite.
Sie werden deine Hüter sein.

Der Onkel räusperte sich.

Sei brav in jedem kleinsten Schritt
und nimm auf allen deinen Wegen
die Herzenswünsche und den Segen
der treu besorgten Mutter mit.

Tante und Onkel nickten mit den Köpfen.

Die Welt ist voller Mißgeschick.
Der Weg der Redlichkeit ist schwierig.
Die Untreu wartet beutegierig
auf einen schwachen Augenblick.

Auch der Kanzleirat wurde jetzt ernst.

Des Leichtsinns lachend Angesicht
umlockt dich, um dich zu betören. –
Und wenn die jungen Männer schwören,
So glaube ihren Eiden nicht.

»Ausgezeichnet!« sagte der Onkel und die Tante meinte: »Das sollte sich jedes Mädchen hinter die Ohren schreiben.«

Die Tugend kargt mit ihrem Lohn.
Und trocknes Brot ist hart und bitter.
Das Laster beut dir Gold und Flitter.
Und eh du nachgibst, hat's dich schon.

Jetzt sahen alle zu Annie, die verlegen zur Erde sah.

Oh, weiche diesem Reichtum aus
und denk der Schmerzen und der Tränen
der Lieben, die dich tapfer wähnen.
Oh, denke an dein Vaterhaus.

Eisiges Schweigen folgte dem Vortrag.

Der Onkel knöpfte seinen Rock bis oben hin zu. Die Tante legte ostentativ Messer und Gabel hin, schob den Teller fort und rückte den Stuhl ab. Die Frau Kanzleirat nahm Gretl bei der Hand und zog sie zu sich. Ihr Mann kniff den Mund zusammen und sah alle der Reihe nach an. Dann flitzte er wie eine Signalstange plötzlich in die Höhe, stand kerzengrade, zog die Uhr und sagte:

»Wir haben uns versäumt.«

Wie auf ein Zeichen standen jetzt auch die andern. – Nur Otto saß – und die Tante sagte:

»Es ist Zeit. Wir wollen gehn.«

»Kommt!« sagte der Onkel.

»Ja, was bedeutet das?« fragte Annie.

Gretl und Otto verzogen das Gesicht.

»Ich will nicht!« wehrte sich Grete.

Aber Mutter und Tante nahmen sie bei der Hand.

»Schäm' dich!« sagte der Onkel. Grete sah ihn an und fragte:

»Warum?«

»So eilt doch nicht so!« bat Annie und suchte sie zu halten. »Die Stimmung wird ja wieder kommen.«

Strafende Blicke des Onkels trafen sie, und die Tante sagte:

»O nein!«

Der Kanzleirat nahm seine Frau unter den Arm, trat an Annie heran, gab ihr die Hand und sagte kalt:

»Adieu!«

Die Frau Kanzleirat schluchzte und brachte kein Wort heraus.

Annie schüttelte den Kopf und sagte:

»Ist denn das möglich?«

»O ja!« sagte die Tante und ging ohne ein Wort des Abschieds hinter Kanzleirats zur Tür. Da wandte sie sich um und rief:

»Otto!«

Der trank schnell noch sein Glas, dann das seines Vaters aus und rief:

»Ich komme!«

Der Onkel, der einen roten Kopf hatte, nickte Annie zu und sagte:

»Adjes!«

Gretl ging als letzte; sie blieb vor Annie stehen, warf sich ihr in die Arme und schluchzte laut.

Annie drückte sie an sich und war gerührt. Die Tante kam zurück und rief auf den Flur hinaus:

»So eine Mutter!«

Die Frau Kanzleirat erschien.

»Da hast du's!« sagte die Tante und wies auf die beiden. Sie nahmen Gretl beim Arm und zogen sie gewaltsam hinaus. An der Tür nickten die Schwestern sich noch einmal zu.

Auf Annie hatte das Wiedersehen stark gewirkt. Sie stand jetzt in Gedanken. Wie ein Traum erschien ihr das Ganze. Und so sehr sie sich mühte, sich in diese fremde Welt hineinzudenken – die Gefühle und Gedanken dieser Menschen blieben ihr unverständlich.

Da hörte sie leise die Tür gehn, die zu dem hintern Ausgang führte. Sie trat erst einen Schritt zurück und verbarg sich dann hinter einem Schirm. In der Tür stand Otto. Er sah sich um, eilte dann auf die Tafel zu, trank hastig alle Gläser aus und steckte sich ein paar Hummerbäuche in die Taschen. Dann verschwand er schnell.

Annie, die erst ihren Augen nicht traute, dann aber nur zu deutlich sah, was vorging, lachte laut auf.

»Der arme Junge!« dachte sie und wollte eben wieder hervortreten, als sich leise die Klinke der Flurtür senkte.

Die Tür glitt ins Zimmer und auf den Zehen schlich die Tante über das Parkett. Sie überzeugte sich, daß sie allein war, raffte dann schnell zusammen, was sie fassen konnte: Zigarren, Zigaretten, Weine, und reichte sie dem Onkel, der auf der Schwelle stand, ihr die Sachen abnahm und hastig alles unter seinem Rock verbarg.

Annie stieg der Ekel auf. Sie überlegte, ob sie aus ihrem Versteck hervortreten und diesen Heuchlern in die Arme fallen sollte. Sie schämte sich, ließ sie gewähren und riß, als sie wieder draußen waren, weit alle Fenster auf.

Dann erschrak sie plötzlich. Ihr kam ein Gedanke! Wenn der zur Wahrheit wurde! Daß auch die Eltern jetzt kamen; sich wie der Onkel und die Tante hereinschlichen und vom Tisch das Essen stahlen. Was tat sie dann? – Großer Gott, der Gedanke war furchtbar. Sie stand und horchte; und sobald sie ein Geräusch hörte, war sie überzeugt: das sind sie!

Es waren wohl zehn Minuten vergangen, da läutete es.

Sie sah nach der Uhr. Es war halb zehn. Wer kam jetzt? Der Baron hatte die Schlüssel.

Das Mädchen meldete:

»Die alte Dame.«

»Welche?« fragte Annie.

»Die von vorhin.«

»Was will sie?«

»Das gnädige Fräulein sprechen.«

»Wie ist sie hereingekommen?«

Das Mädchen sah sie erstaunt an.

»Wie sie hereingekommen ist?« wiederholte Annie erregt. »Hat sie geklingelt?«

»Selbstredend.«

»Wissen Sie das genau?«

»Aber ja! ich hätte ja sonst nicht geöffnet!«

»Gott sei Dank!« rief Annie und atmete auf. »Lassen Sie sie herein!«

Und ins Zimmer trat die alte Mutter. Freundlich und ohne Scheu trat sie auf Annie zu und reichte ihr die Hand.

»Da bin ich schon wieder!«

»Recht so, Mutter.«

»Es tat mir so weh, daß wir dich heute kränken mußten. Wo ich doch fühlte, wie gut du es meintest.«

»So, Mutter, hast du das gefühlt?« fragte Annie freudig.

Die Alte nickte.

»Und bist doch mit den andern gegangen.«

»Wenn's sich um mich gehandelt hätte, ich wär geblieben. Aber du weißt ja nicht, wie schlecht die Menschen sind.«

»O doch! Das weiß ich!« erwiderte Annie.

»Und darum, siehst du, müssen wir auf unser Gretl und ihren Ruf bedacht sein. Denn jede ist eben nicht so eine große Künstlerin wie du.«

»Du meinst, daß der Onkel und die Tante Gretls Ruf schädigen könnten?«

»Ja!« erwiderte die Alte. »Deshalb dürfen wir nicht bleiben. Das verstehst du doch?«

Annie kniff die Lippen zusammen.

»Ich beginne zu begreifen,« sagte sie.

»Der Onkel und die Tante, die nehmen's nun mal so übertrieben genau.«

»Ich weiß.«

»Und da du doch mit dem Baron – wenn du verheiratet wärst – aber so …«

»Gewiß! es ist recht gut, daß der Onkel und die Tante über Gretls Tugend wachen,« erwiderte Annie, und die Alte merkte nicht, wie der Ekel in ihr aufstieg.

»Aber ich bin darum doch deine Mutter.«

»Gewiß, das bist du.«

»Und habe dich lieb.«

»Und, um mir das zu sagen, kamst du nochmal?« fragte sie und nahm die Mutter bei den Händen.

»Ja!«

»Wie lieb von dir!«

»Das heißt,« sagte die Alte zögernd – »es hat noch einen andern Grund.«

Annie stutzte.

»Du weißt, wir sind kleine Beamte und leben in bescheidenen Verhältnissen.«

»Gewiß, das weiß ich,« erwiderte Annie.

»Siehst du, so eine Gans, du lieber Gott, in den jetzigen Zeiten, wie können wir daran denken, und jemals so etwas zu leisten.«

Annie nickte.

»Und der Vater, gewiß, er hat seine Eigenarten, aber im Grunde, da ist er doch ein guter Mensch.«

»Das ist er gewiß,« bestätigte Annie.

»Und siehst du, Gänsebraten, das war ja immer seine Schwäche – oder Leidenschaft – oder wie du es nun nennst.«

»Darum eben habe ich sie ihm vorgesetzt.«

»Gewiß, das war gut und lieb von dir. Aber wie das nun alles so kam, den richtigen Genuß hat er jedenfalls nicht davon gehabt.«

»Das tut mir aber leid.«

»Ich würde ja gewiß nichts sagen. Aber schon auf dem Wege nach Hause, da merkte ich, daß ihn was drückte.«

»Ist es ihm nicht bekommen?« fragte Annie besorgt.

»Das schon. Aber sieh mal, wenn man sich Jahre lang nach einer Gans gesehnt hat und schließlich geht einem der Wunsch in Erfüllung und man sitzt davor und hat das erste Stück eben im Magen …«

Annie begann zu begreifen.

»Ah so!« sagte sie.

»Und da er in so gedrückter Stimmung war, fragte ich ihn, was ihm denn fehle.«

»Ja, und?« fragte Annie. »Was gab er zur Antwort?«

»Er stierte schwermütig vor sich hin und sagte traurig: ›Die Gans hätte man wenigstens noch zu Ende, essen können.‹ Da packte mich das Mitleid und ich sagte mir: du kehrst um und gehst sie holen.«

Annie lachte.

»Das war eine gute Idee,« sagte sie. »Aber da hättest du früher kommen müssen.«

Die Mutter verstand sie nicht und Annie fuhr fort:

»Die Gans ist nämlich auf rätselhafte Weise verschwunden.«

»Verschwunden?« fragte die Alte.

»Ja! Und zwar, während ich im Zimmer war.«

»Wie ist das möglich?«

»Ich hätte das auch nicht für möglich gehalten. Aber weißt du, im Grunde, da ist es ganz lustig, und eigentlich freut es mich. Es hat mir so die letzten Zweifel genommen.«

Das Gesicht der Alten wurde nicht klüger.

»Aber das tut nichts,« sagte Annie. »Wenn die Gans auch weg ist. Wir werden schon in der Küche noch etwas finden.«

Sie rief die Kochfrau und trug ihr auf:

»Nehmen Sie einen von den kleinen Körben, die unten in der Kammer stehn, tun Sie eine Gans, ein Paar Hühner, schöne junge Gemüse und ein paar Flaschen guten Rotwein hinein und sagen Sie Franz, er soll es der Dame in ihre Wohnung bringen.«

Die Alte schlug vor Glück die Hände zusammen und sagte:

»Nein, du bist ein Kind!«

»Und einen schönen Gruß an den Vater und bestell ihm, daß er von jetzt ab jede Woche so einen Korb erhält.«

»Ist das wahr?« rief die Alte. »Nein, so ein Glück, ein solches Kind zu haben!«

»Und den lieben Onkel und die liebe Tante ladet ihr dann dazu, und wenn es euch schmeckt, dann denkt ihr an mich und trinkt auf mein Wohl.«

»Das tun wir ganz gewiß.«

»Und was die Hauptsache ist, Gretls guter Ruf kommt nicht in Gefahr.«

Die Alte zog eben gerührt das Taschentuch hervor, als draußen die Tür ging. Annie horchte auf, dann sagte sie:

»Einen Augenblick, Mama,« und verschwand.

Man hörte – und auch die Alte, die die Ohren spitzte, hörte es – wie sie mit dem Baron sprach und ihn bat, einen Augenblick im Herrenzimmer zu warten. Dann kam sie in den Salon zurück.

»So, da bin ich wieder,« sagte sie.

»Ich störe?« fragte die Alte.

»Aber nein! Durchaus nicht.«

»Du hast Besuch?«

»Es ist nichts.«

Die Alte trat nahe an die Tochter heran und sagte heimlich

»Weißt du?«

»Ja?«

»Gesehen hätt' ich ihn gern einmal.«

»Wen?« fragte Annie.

»Na, du weißt schon.«

»Den Baron?«

Die Alte nickte.

»Nicht möglich!« rief Annie erstaunt, und die Alte sagte:

»Da du doch nun mal mit ihm zusammenlebst.«

»Du willst also wirklich, daß ich ihn dir bringe?«

»Es erfährt ja niemand.«

»Aus Neugier also?«

»Der Vater wüßte auch gern, wie er ausschaut.«

Annie schüttelte den Kopf und sagte:

»Nein! Das ist mir zu dumm! Ich lebe in meiner Welt. Lebt ihr in eurer.«

»Und der Korb?« fragte die Alte ängstlich.

»Wird euch jeden Sonnabend gebracht.«

Das Gesicht der Alten erhellte sich wieder. Der Diener erschien gekränkt mit dem Korbe. Annie reichte der Mutter die Hand und geleitete sie zur Tür.

Dann lief sie ins Herrenzimmer, warf sich dem Baron an den Hals.

»Du zitterst ja,« sagte er und sah, daß sie Tränen in den Augen hatte.

»Hast du mich lieb?« fragte sie zärtlich.

»Sehr!« gab er zur Antwort, nahm ihren Kopf zwischen seine Hände, sah sie an und fragte:

»Aber was ist dir?«

Sie schmiegte sich fest an ihn und sagte:

»Nichts. – Wenn du mich nur lieb hast.«


 << zurück weiter >>