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V.

In seinen immer wiederkehrenden Problemen und Charakteren bildet das Drama Ibsens gleichsam eine Familie, deren einzelne Glieder man leicht an ihren verwandten Zügen erkennt. Den Dichter haben stets nur solche Probleme beschäftigt, die eine fundamentale und typische Bedeutung für die Menschheit haben, als wie Liebe, Ehe, Mutterschaft, endlich das Problem des Kindes in dem natürlichen Gegensatz der Lebensanschauungen des Vaters und des Sohnes. Aber schon der Begriff »Problem« wirkt bei Ibsen störend, wie im Grunde bei jedem realistischen Dichter. So sehr seine Menschen sich in die Grundfragen des Daseins versenken, sie sind doch nicht von der Abstraktion eines Problems aus angeschaut, vielmehr wurzelt das Problematische durchaus im Charakter und persönlichen Erleben des Menschen. Anders gesagt, der Dichter kennt keine Probleme, die am Menschenschicksal bewiesen werden, sondern der dargestellte Konflikt knüpft an durchaus individuell geartete Menschen an. Die Psychologie des Dichters lehrt uns, daß ein Konflikt niemals typische und absolute Bedeutung hat für den Menschen, der ihn erlebt. Vielmehr ist seine seelische Wirkung und seine Lösung abhängig von der eigentümlichen Veranlagung des Individuums. Somit erscheint der Konflikt zwischen Wollen und Vollbringen, Ideal und Leben, der das durchgehende Grundmotiv der Dramatik Ibsens bildet, jedesmal in einer ganz neuen und persönlichen Gestaltung. Ja, wir haben vordem zu zeigen versucht, wie gewisse Probleme, der Wahrheitsbegriff etwa, in der Entwicklung des Dichters dank einer immer realeren Erkenntnis des Menschlichen eine völlig veränderte Auffassung erfährt. Das Streben nach Wahrheit verkehrt sich bei kleinen Naturen, die außer stande sind, das wahre Gesicht der Welt zu sehen und seinen Anblick zu ertragen, in die Sehnsucht nach einer starken Lebenslüge, und der wachsende Skeptizismus des Dichters sieht das Tragische in dem Geschicke seiner letzten Helden eben darin, daß sie bei aller Aufrichtigkeit und Unbarmherzigkeit der Lebensführung dem notwendigen Lebensirrtum nicht entgehen können.

Wenn nun die Probleme niemals eine reine und klare Lösung erfahren – man spricht von dem großen Fragezeichen am Schlusse des Ibsen'schen Dramas – so ist der Grund ebenfalls in ihrer individuellen Menschlichkeit zu suchen. Der Charakter löst das Problem nur in sofern, als er es erlebt. Ibsen hat ja nicht die philosophische Lösung der Welträtsel im Auge, ihm kommt es ausschließlich darauf an, Konflikte in die Seele des Menschen zu bannen, die ihn zur völligen Enthüllung seines Inneren zwingen. Andererseits ist er bestrebt, dem Problem seinen ursprünglichen metaphysischen Charakter zu belassen, den Menschen in Verbindung mit dem All zu setzen, sein individuelles Streben in dem Gedanken des Weltgeists aufzulösen. Und ich meine diese Wiedervereinigung des Menschen mit seinem Ursprung ist auch eine Lösung des Problems, wenngleich nicht im rationalistischen Sinne.

Nicht nur die Probleme und Konflikte kehren wieder, auch die menschlichen Typen. Ja sie tragen eine noch sichtbarere spezifische Prägung. Im Epilog des Dichters spricht Rubek, daß etwas »Verdächtiges, etwas Verstecktes, etwas Heimlich-Unsichtbares« in seinen Porträtbüsten stecke. Das Gleiche gilt von seinen eigenen Gestalten. Sie lassen in ihrer seelischen Kompliziertheit nur selten eine grade und scharfe Wesenslinie erkennen, sie tragen tausend Möglichkeiten in sich, die sich ihrem Charakter unbewußt mitgeteilt haben. Wir empfinden sie dennoch als volle Menschen, weil das Vielfältige und Verschlungene ihres Wesens jedesmal durch einen dominierenden Zug des Strebens und Fühlens zusammengehalten wird, weil sie im Erleben zu einer gewissen Einheitlichkeit des Charakters gelangen, die ihnen im Grunde nicht eigentümlich ist.

Gleichwohl lassen sich im Drama Ibsens drei ganz bestimmte Klassen von Menschen unterscheiden: die heroisch-tragischen Naturen, die von der symbolischen Bedeutung des Daseins erfüllt, ihr Leben daran setzen um ihrer Bestimmung gerecht zu werden: Ein Brand, Solneß, Borkman, Rubek, eine Hjördis, Nora, Helene Alving, Hilde Wangel und Ella Bentheim. Sie verschmähen die feile Lebensklugheit sich den nivellierenden Gesetzen des Daseins anzupassen. Ihnen ist das Ideal Stern und Leiter ihres Daseins. Sie sind durchdrungen von der tiefen Sehnsucht, von dem festen Glauben an das Schöne und Wunderbare. Erfahren in sich Wandlung um Wandlung, Enttäuschung um Enttäuschung, um in erneuter Hoffnung wieder aufzuleben. »Ueberfahren werden wir allesamt einmal im Leben«, meint John Gabriel Borkman. »Dann muß man eben wieder aufstehn und tun, als ob nichts geschehen wäre.« Glücklich können diese Naturen nicht werden, die im selbstgewissen Egoismus zu jedem Opfer bereit sind, das ihre Persönlichkeit nicht antastet. Denn das Glück wohnt nur bei den Selbstgenügsamen, bei den Stillzufriedenen, die sich in den Niederungen des Lebens angesiedelt haben.

So ein genügsamer tätig-froher Mensch ist der Ingenieur Borgheim (»Klein Eyolf«), der da ausruft: »O du große, schöne Welt, und das Glück Wegebauer zu sein!« Und auch Erhard Borkman und Frau Wilton, Ulfheim und Frau Maja sind Menschen, die das Leben lieben, weil sie nichts begehren als was es ihnen erfüllen kann. Ein verwandter Kreis hat sich zu einer Resignation durchgekämpft, die überhaupt keine Ansprüche mehr ans Leben stellt. Altruistische Naturen mit stark sozialen Gefühlen, Menschen des Mit-Leids und der Mit-Freude. Die Freundin Noras, eine Martha Bernick, Tante Jule (»Hedda Gabler«). Der Dichter schildert sie ohne jede Karrikatur und Verspottung, aber er läßt uns ahnen, daß sie nicht von seinem Fleisch und Blut sind. Es sind vielleicht die einzig » wahren« Menschen, die Ibsen gezeichnet hat, schlicht, fromm, einfältig im Herzen und in der Seele.

Einen dritten Kreis bilden die Schiffbrüchigen. Menschen, die mit vollen Segeln auf das Meer des Lebens hinausfuhren, untergingen in seinen Stürmen, sich mühsam emporkämpfend und mit Verlust ihrer Ideale das nackte Leben gerettet haben. Sie nieten die Trümmer notdürftig zusammen und stecken wohl auch ein paar Fähnlein auf, um sich in den Selbstbetrug einzuwiegen, als führen sie noch auf einem stolzen Schiffe. Die »Wildente« ist ganz auf diesen Typus gestellt. Jeder dieser Menschen hat eine Vergangenheit, die ihn innerlich gebrochen hat. Eben hierher gehört der Krogstadt der »Nora«, Mortensgard aus »Rosmersholm«, ein Foldal aus »John Gabriel Borkman«. Ironische Lichter spielen über diese Gestalten. Die Ethik des Dichters empört sich gegen diesen feigen Verzicht auf die Bestimmung des Menschen, gegen diese sittlich Bresthaften, die des Daseins Schönheit und Größe schänden.

Das persönliche Streben des Dichters spiegelt sich in seinen Helden wieder. Die anderen Menschen dienen nur dazu, das Weltbild zu vervollständigen und die ungeheure Ueberlegenheit des Ausnahmemenschen gegenüber dem Durchschnitt erkennen zu lassen. Dem Dramatiker ist das Wesentliche, kämpfende Menschen in ihrem natürlichen Dualismus aufzuzeigen. Und diese innere Gegensätzlichkeit des Wollens und Fühlens gipfelt in der Einheit der Bestimmung, die der Mensch als Vertreter des Weltgeistes zu erfüllen strebt.

Sinnlich aber kann man diesen neutralen Gedanken, der den Helden Ibsens beseelt, nur so veranschaulichen, daß man ihn als Keim in des Menschen Seele versenkt und ihn allmählich aufschwellen läßt zur triumphierenden Herrschaft über das zerrissene Chaos seiner Gefühle. Allmählich werden die vielen Stimmen zu einem Machtgesang. Wir haben den Eindruck von Menschen, die wie verschmachtend in einem Labyrinth umherirren, bis sie endlich die Stimme des Erlösers zu der eigentlichen und einzigen Erfüllung ihres Daseins ruft.

Es findet also eine Erweckung des Menschen statt, der sich nach langem Schlafwandel auf seine Lebensaufgabe besinnt, in dämmernder Ungewißheit den Uebergang zu neuem Sehen und Fühlen alt bestehender Verhältnisse erfährt, um, von den Schatten des Todes umwittert, endlich die reine Klarheit seines ursprünglichen Wesens wiederzugewinnen. Und jetzt ist der Mensch reif für das große entsühnende Opferfest, das alle Schuld des Lebens von ihm abtut und ihm die Wiedervereinigung mit dem All bescheert.

Indes kehren wir von diesem lichten Endblick in die Sphäre der Schwüle und Dumpfheit zurück, die für den Stimmungsgehalt des Ibsen'schen Dramas so ungemein charakteristisch ist. Wir sehen Menschen vor uns, die unter einem unheimlichen Drange nach Selbsterkenntnis in rastlosem Grübeln danach ringen, sich ihrer Empfindungen rein gedanklich bewußt zu werden. Jedes tiefe und echte Gefühl besteht in einer Art Rauschzustand, in einer wohltätigen und erlösenden Vorherrschaft der Triebe über die grausam nachprüfende Vernunft. Der große seelische Prozeß im Menschen Ibsens ist die Gedankenwerdung des Gefühls. Und da sich Gedanke und Empfindung niemals völlig verstehen, so zersplittert sich das Gefühl durch die unaufhörliche Selbstanalyse in jene Atome des Empfindens, die uns Szene um Szene unserer Dichtung enthüllt.

» Leben heißt dunkler Gewalten
Spuk bekämpfen in sich;
Dichten – Gerichtstag halten
Ueber sein eigenes Ich.«

So gewinnt, objektiv angesehen, das Leben allmählich die Oberhand über die dunklen Gewalten, in die es den Menschen verstrickt hat, und vom Individuum aus gesehen, gelangt der Held zur Erkenntnis und zum Urteil seiner selbst. Dieser Prozeß der Selbstanalyse, die unter einem stark ausgeprägten Verantwortlichkeitsgefühl das Für und Wider der Anklage und Verteidigung mit fast überreicher Dialektik wiedergibt, vollzieht sich in allen wesentlichen Menschen des Dichters. Man hat das Drama Ibsens als einen »letzten Akt« bezeichnet mit einem bis auf den Abschluß fertigen Drama als Vorgeschichte. Tatsächlich geht ein unendlicher Monolog in der Seele des Helden voran, eben dieses unablässige Fragen und Antworten auf ein entscheidendes Problem des Daseins. Ein an sich geringfügiges Geheimnis bringt diesen langwierigen Prozeß, in dem die Empfindungen und Ideen sich immer mehr von der realen Umwelt befreien und dem Unendlichen zustreben, zur tragischen Lösung. In dieser außerordentlichen Vertiefung des Seelischen besteht die eigentümliche Potenzierung des Ibsen'schen Menschen, der in sich eine Reihe gleichgearteter Individuen vereinigt. Eine so geartete Natur » lebt« nicht im naiven Sinne, sie erlebt unablässig. In diesen Seelen ist einmal etwas gesprungen, und erst der Tod hebt den klaffenden Riß des Gemüts wieder auf. Man begreift, ein wie starker Hebel der dramatischen Spannung diese fortwährende quälende Unruhe ist, wie suggestiv die nervöse Erregung, die jede Miene und jede Bewegung verrät, auf den Menschen unserer Tage wirken muß, wie hier eine Dichtung entstand, die befähigt war, seelische Stimmungen mit wunderbarer Treue festzuhalten.

Auch die Handlung des Dramas gehorcht nur seelischen Gesetzen. Ein Bekenntnis, eine Person, ein Ereignis treten erst in Erscheinung, wenn die Seele im stande ist, ihre Bedeutung völlig zu erfassen. Die raffiniert einfache Technik des Dichters erklärt sich ausschließlich aus der Psychologie seiner Menschen. Und ebenso sein Stil. Wie Ebbe und Flut lösen sich Gleichgültiges und Spannendes ab. Der jeweiligen Stimmung der Hauptpersonen entspricht das eigentümliche der Szene. Um alle Schichten, die den Kern der Persönlichkeit umlagern, abzutragen, dazu bedarf es unendlicher Verlockungen, seltsamer psychologischer Kunstgriffe, aufwühlender Ereignisse. Und um andererseits die objektive Wahrheit der dargestellten Verhältnisse zu offenbaren, bedarf es einer immer neuen subjektiven Beleuchtung dieser Zustände. Ein und dasselbe Geschehnis taucht wiederholt auf in der jedesmal veränderten Auffassung der verschiedenen Personen des Dramas, und erst ein Querschnitt durch ihre persönlichen Anschauungen enthüllt uns die reale Welt.

Die Kompliziertheit des Seelenlebens verlangt eine unvergleichliche Intimität der Sprache und Haltung. Während der Stil des historischen und mythologischen Dramas kernige geistesklare Sätze erheischt, die der Einfachheit und Gradheit des Fühlens entsprechen, – man denke an die »Nordische Heerfahrt« und die »Kronprätendenten«, so tritt jetzt die Sprache als zögernde und noch unfertige Gefühlsvermittlerin auf. Zackig, gebrochen, nervös, ein unmittelbarer Widerhall des Stichworts. Eine Sprache, die andeutet, verschweigt, herausfordert …,

*

Am Schluß dieser Blätter fühlt man, wie rätselvoll uns das Werk des Dichters noch geblieben ist. Aber es ist vielleicht gelungen, das Elementare und Wesentliche seiner Kunst und seines Innenlebens zu offenbaren. An anderer Stelle habe ich jüngst zu zeigen versucht, welche einzigartige Bedeutung Ibsen für die Entwicklung der modernen Literatur besitzt. Hans Landsberg, die moderne Literatur. Berlin 1904, E. Simion Nchf. Zugleich, daß die gegenwärtige, freilich noch völlig unklare Entwicklung des Dramas anscheinend abseits seines Weges geht. Wir stehen dem Leben freier und froher gegenüber, durchdrungen von seinen realen, unveräußerlichen Werten. Und in dieser Anschauung sind wir vielfach zu Zweiflern geworden an dem lehrenden Skeptizismus des Dichters. Gleichwohl braucht Ibsen so wenig wie sein Baumeister Solneß die Jugend zu scheuen, die an seine Pforten klopft. Wir danken ihm Unendliches.


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