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II.

Die Weltanschauung jedes dramatischen Dichters wird beherrscht von dem Gesetze der Ausgleichung. Schwebt ihm die Abbildung des Weltprozesses in dem Rahmen einer gedrängten Fabel vor, in der Handlung und Menschen das Walten des Weltgeistes symbolisch darstellen, so muß er darauf bedacht sein, einen Ausgleich der Kräfte herbeizuführen, weil nur so das Leben über den Tod des Helden hinaus in seiner ruhigen Gesetzmäßigkeit fortbesteht. Vorzüglich bei Shakespeare als dem wahrhaft tragischen Genie hat man das deutliche Gefühl, daß das Leben in dem dargestellten Schauspiel einen fiebrischen Prozeß durchläuft, der es unter Aufopferung der Helden der Tragödie zu seiner ursprünglichen Natur und Gesundheit zurückführt. Und eben in diesem Vernichtungsprozeß der Individuen, die im Gefühl ihrer Kraft über ihre eigentliche Sphäre hinausgehen, wird die Harmonie des Weltganzen aufgezeigt; sie vermag über den Ansturm genialer Naturen nach schwerem Kampfe zu triumphieren.

Emerson betitelt einen seiner glänzendsten Essays »Ausgleichung«. Hierin führt er aus, daß ein unvermeidlicher Dualismus die Natur beherrsche. Jede Erscheinung, jedes Ding, jeden Menschen zu einer Hälfte mache, die einer Ergänzung bedarf: »Jedes Uebermaß bedingt einen Mangel; jeder Mangel einen ausgleichenden Vorzug. Jedes Süße hat sein Bitteres, jedes Bittere sein Süßes, jedes Böse sein Gutes. Jede Gabe, die uns Genuß bereitet, bringt ein dementsprechendes Leid, wenn sie mißbraucht wird. Sie steht, sozusagen, für ihre Mäßigung mit ihrem Leben ein …,« So trägt jede Tat Lohn und Vergeltung in sich. Um an eine dauernde Gerechtigkeit der Welt zu glauben – das Wort nicht im trivialen Sinne verstanden – brauchen wir also weder ein antikes Fatum noch die Dogmen der christlichen Weltordnung anzunehmen. Unsere durchaus individualistische Weltanschauung sieht ein innerstes Lebensgesetz darin, daß der Mensch wollend oder unbewußt Träger und Urheber eines bestimmten Schicksals ist, dem er nicht entgehen kann, ohne die Wurzeln seiner Existenz zu untergraben. Man kann seinem Schicksal ausweichen, aber man geht damit des Hochgefühls, Charakter und Persönlichkeit zu besitzen verlustig.

Ibsen's Weltanschauung ist ganz von diesem Gesetz der Ausgleichung erfüllt. Muß nicht Brand die Erfüllung seiner Lebensaufgabe, die im wesentlichen darin besteht, seine Ideale heroisch im eigenen Dasein zu betätigen, mit dem Verzicht auf hohe und reine Güter des Lebens, auf Mutter, Weib und Kind bezahlen, um schließlich seine Mission als einen Irrtum zu erkennen? Und dieses vergeltende Naturgesetz erhebt seine Stimme immer auf's neue in den Werken des Dichters. Solneß spricht es am klarsten aus: »Es ist entsetzlich, der bloße Gedanke –! …, Daß ich für das alles fortwährend Ersatz leisten muß. Dafür bezahlen muß. Nicht mit Geld. Aber mit Menschenglück. Und nicht mit meinem Glück allein. Auch mit dem Glück anderer.« Es ist ein Lieblingsmotiv des Dichters, daß der Mann seinem ungemessenen Streben das eigentliche Lebensglück, die Liebe zu dem wahlverwandten Weib, zum Opfer bringt.

So entsagt Hakon, der Kronprätendent seiner Geliebten, da er König wird. So läßt sich Ullmers durch die goldenen Berge Ritas verlocken. So leistet Borkmann freiwillig auf Ella Rentheim Verzicht. So opfert der Bildhauer Rubeck fein Lebensglück dem Schöpfertriebe des Künstlers. In dem tragischen Schicksal dieser Menschen offenbart sich immer auf's neue das Gesetz der Ausgleichung, das allein Harmonie und Erhaltung der Welt verbürgt. » Wollen heißt Wollen müssen« so lautet ein tiefsinniges, ständig wiederkehrendes Wort des Dichters. Des Menschen Wille ist sein Höchstes. In ihm offenbart sich der eigentliche Charakter, und zugleich verhilft der Wille allein zur Vollendung der Persönlichkeit. Den wahren Individualisten und Egoisten ist also nicht die Erreichung des Zieles das Wesentliche, vielmehr dient die selbstgewählte Lebensaufgabe dazu, sein Wollen in ständige Erregung zu setzen, seine geistige und seelische Entwicklung herbeizuführen.

Dieses rastlose, unersättliche Wollen, das in dumpfem Trotz gegen die feindlichen Lebensmächte ankämpft, endet jedesmal mit dem Untergange des Helden. Der hochgespannte Wille des Einzelnen muß notwendigerweise mit dem Weltwillen als dem allgemeinen Streben der Natur zusammentreffen, und dieser Weltwille sucht das individuelle Streben zu vernichten, um sich selbst zu behaupten. Zur Erfüllung seines Zieles bestärkt dieser als Wille des Universums zu denkende Weltgeist das Individuum in seinem eigentümlichen Streben und führt es eben dadurch zum Untergange.

Anders gesagt: Der Wille des Einzelnen, der in seinem wachsenden Machttrieb die notwendige Harmonie der Welt bedroht, findet in sich seinen Feind und Zerstörer, einer Flamme vergleichbar, die zurückschlagend ihren Ursprungsort verzehrt. Gerade die einseitige Befruchtung des Willens läßt die anderen Lebenstriebe verkümmern, und vor der Empörung der lange verhaltenen seelischen Triebe bricht der Wille mit einem letzten Aufgebot seiner Kraft zusammen.

Diesen Gegensatz des kosmischen und individuellen Willens spricht der Magier und Mystiker Maximos, der Freund des Kaisers Julian, klarer aus als es an anderen Orten geschieht: »Als sich das Chaos in der wüsten, entsetzlichen Oede wand, und Jahve noch allein war, an dem Tage, da er, den alten jüdischen Schriften zufolge, seine Hand ausstreckte und schied zwischen Licht und Finsternis, zwischen Wasser und Land, an dem Tage stand der große schaffende Gott auf der Höhe seiner Macht. – Aber mit dem Menschen erstand der Wille auf Erden. Und die Menschen und die Tiere und die Bäume und die Pflanzen schufen ihresgleichen nach ewigen Gesetzen; und nach ewigen Gesetzen ziehen alle Sterne im Himmelsraum. Hat Jehovah bereut? Die alten Sagen aller Völker wissen zu erzählen von einem bereuenden Schöpfer. – Das Gesetz der Erhaltung hat er in die Schöpfung gelegt. Zu spät, um zu bereuen! Das Erschaffene will sich erhalten und es wird erhalten«. Und es erhält sich auf Kosten des Individuums, das dieser Naturkraft vergebens den eigenen Willen aufzuprägen strebt.

Bis hierher ist diese Weltanschauung hoffnungslos pessimistisch, das Lebenswerk des Menschen, das an die Betätigung seines Willens geknüpft ist, muß scheitern, weil das Individuum nur ein Spielball in der Hand der höheren Mächte ist. »In Arkadien« geboren sind wir alle, heißt es bei Schopenhauer, »d. h. wir treten in die Welt voll Ansprüche auf Glück und Genuß und hegen die törichte Hoffnung, solche durchzusetzen. In der Regel jedoch kommt bald das Schicksal, packt uns unsanft und belehrt uns, daß nichts unser ist, sondern alles sein, indem es ein unbestrittenes Recht hat, nicht nur auf allen unseren Besitz und Erwerb und auf Weib und Kind, sondern sogar auf Arm und Bein, Auge und Ohr, ja auf die Nase mitten im Gesicht. Jedenfalls aber kommt nach einiger Zeit die Einsicht, daß Glück und Genuß eine Fata Morgana sind, welche nur aus der Ferne sichtbar, verschwindet, wenn man herangekommen ist.«

Tatsächlich berührt sich Ibsens Weltanschauung sehr nahe mit diesem romantischen Pessimismus, der die geistige Atmosphäre seiner Jugend- und Mannesjahre bildete. Das Dasein als ein Trugbild gefaßt, durch das der Weltwille in seinem für uns unerkennbaren Zielen das Streben des Individuums narrt und den Menschen vernichtet. Natürlich liegt das tragische Schicksal des Menschen nicht in äußerlichen Verhältnissen begründet. Es wird herbeigeführt durch die Leidenschaftlichkeit seiner stärksten und besten Triebe. So gehen Ibsens Helden zumeist an ihrer wachsenden Vereinsamung zu Grunde, als welche den tragischen Gipfel in der Entwicklung des genialen Menschen bildet, an der Unfähigkeit des Dasein ganz auf sich selbst gestellt, ganz in der Frohne des eigenen Schaffens zu ertragen, kurzum an ihrer Sehnsucht nach Liebe. Es ist durchaus symbolisch zu verstehen, wenn dem Helden am Schlusse seines Lebens das Weib seiner Jugend erscheint und ihm durch seine Liebe Befreiung und Untergang bringt.

Und worin liegt das versöhnende Element dieses pessimistischen Weltbegreifens? Der Weltwille ist nicht nur der natürliche Gegner des individuellen Strebens, er ist zugleich das höhere Prinzip, in das dieses Streben mündet. Von der Bürde des rastlos tätigen Willens bedrückt, sehnt sich der Mensch nach Befreiung, nach der Wiedervereinigung mit dem All. Hebbel hat das tiefsinnige Wort geprägt: »Jeder Charakter ist ein Irrtum.« Ist es, weil das Individuum niemals die Fähigkeit erhält, sein ganzes Wollen rastlos in ein ganzes Können umzusetzen. Durch seinen Drang sich von der Allgemeinheit abzulösen, gerät der Charakter notwendigerweise in Konflikt mit dem Weltgesetz. Und er verspürt am Ende seines Weges, in der Stunde, da er die Ahnung seines notwendigen Irrtums empfängt, eine tiefe unstillbare Sehnsucht nach Erlösung, nach dem Aufgehen im All:

Im Grenzenlosen sich zu finden
Wird gern der Einzelne verschwinden,
Da löst sich aller Ueberdruß;
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,
Statt läst'gem Fordern, strengem Sollen
Sich aufzugeben ist Genuß.

*

Weltseele, komm uns zu durchdringen!

Dieses Moment der »Erlösung« spielt eine bedeutsame Rolle in dem durchaus religiösen Lebenswerk unseres Dichters. Wie in aller bedeutenden Kunst der Erlösungsgedanke der Haupttrieb für den Schaffenden und Genießenden ist. Kunst erlöst den Schöpfer von der Uebermacht seiner persönlichen Triebe; Kunst erlöst den Empfangenden, indem sie ihm das im Weltgetriebe verlorene Gefühl von der Reine und Klarheit des Daseins wiedergibt.

» Was ist Seligkeit?« heißt es in »Kaiser und Galiläer.« » Wiedervereinigung mit dem Ursprung«. Der Tod bedeutet also nach dieser Auffassung nicht den willkürlichen Abschluß des Lebens. Vielmehr seine eigentliche Krönung, den höchsten Lohn der Standhaftigkeit des Charakters. Die einzige Möglichkeit einer Versöhnung zwischen Ideal und Leben. Das Dasein selbst gestattet eine solche Aussöhnung der beiden feindlichen Mächte, zwischen dem eingeborenen Triebe des Individuums und der grausamen Realität des Lebens, nur auf Kosten des Charakters. Ein Weg, den das Individuum nicht gehen darf, will es sich nicht selbst vernichten. »Das Leben ohne Ideale zu leben, das ist das große Geheimnis des Handelns und Siegens, das ist die Summe aller Weltweisheit.« (Rosmersholm.)

Somit ist alle Hoffnung des in seinem Charakter beharrenden Individuums gleichsam auf das Jenseits gerichtet, so gewiß Ibsen nicht an ein Jenseits im christlichen Sinne glaubt. Sie beruht auf dem Gefühl der Unzerstörbarkeit des Charakters. Ist das persönliche, das ganz individuelle Ideal seiner ganzen Natur nach unerfüllbar, da es im Momente der Erfüllung den Charakter des Ideals verliert und zur tatsächlichen Umwelt des Menschen herabsinkt, so ist es andererseits unsterblich, unantastbar, ewig. Es findet seine Erfüllung im Unendlichen, in einer nur gedachten Fortsetzung des Lebens. Unter kommenden Menschen.

Für das Verständnis Ibsens ist Klarheit über diese Grundzüge seiner echt romantischen Weltanschauung unerläßlich. Danach kann das Leben selbst nicht der Zweck des Daseins sein, nur etwas was über das Leben hinausweist in die Sphäre künftiger Generationen. So bricht Brand in die Worte aus:

Herz bleib' treu dem höchsten Richter,
Sieger werden nur Verzichter.
Erst verlornes wird Erworbnes; –
Ewig lebt Dir nur Gestorbnes!

Und derselbe Priester, der den Idealismus Ibsens am klarsten vertritt, vernimmt den Chor der Unsichtbaren, die ihm das vernichtende Gesetz des Weltwillens entgegenrufen:

Nimmer wirst Du Mensch (Gott) ihm gleichen,
Denn aus Staub bist Du gemacht;
Magst ausharren oder weichen,
Immer stürzt Dein Pfad in Nacht.

Er aber entgegnet: Offen blieb der Sehnsucht Pfad.

*

Während die Weltanschauung des Dichters die Geisteswelt darstellt, in deren Bann seine Menschen stehen, ohne ihre Gesetze zu erkennen und zu begreifen, weil ja nur der irrende Mensch, nie der sehende, einer tragischen Verkörperung fähig ist, so sind sie hingegen ganz bewußt von seiner Ethik erfüllt. Als das Gesetz der praktischen Lebensführung bildet sie das Gewissen seiner Helden.

Somit repräsentiert die Weltanschauung das Denken des Dichters, das freilich nirgends in der philosophischen Abstraktion des reinen Verstandes erscheint, vielmehr durchaus verwoben ist mit dem Gefühl des Unendlichen, und mit denjenigen Erfahrungen, die eine dauernde Betrachtung des typischen Lebensprozesses einträgt. Hingegen seine Ethik sich durchaus auf die moralischen Gesetze bezieht, denen die Gesamtheit und das Individuum unterworfen sind.

Ibsen's Ethik ist sehr entschieden individualistisch. Ibsen's Moral ist energischer Immoralismus.

Alle moralischen Gesetze, alle sittlichen Normen des Handelns sind dadurch entstanden, daß religiöse Genies die bisherigen sittlichen Anschauungen als morsch und brüchig erkannten, als unfähig auf das Individuum erweckend zu wirken. So ist Christus der größte Immoralist gewesen, weil er die Summe seines Lebens darauf verwandte, das Abgestorbene, Zeugungsunfähige der in Formeln und Dogmen erstarrten Religiosität seiner Zeit aufzuzeigen und für alles Tote neue ungeheure Lebenswerte einzusetzen. Und diese ethischen Werte, die gegenüber der Antike eine so großartige Vertiefung des Denkens und Fühlens anbahnten, daß wir ein soziales sittliches Empfinden in der Masse eigentlich erst nach dem Siege des Christentums verspüren, sie waren nicht minder lebenskräftig, wenn sie, im Hinblick auf die elende soziale Lage der Menge, die Abkehr von irdischen Gütern und weltlichem Genießen geboten, den Blick ganz auf die paradiesischen Gefilde des Jenseits gerichtet.

Die moderne Religionsentwicklung geht bekanntlich darauf aus, das Bild Christi seiner Göttlichkeit zu entkleiden, es in ein edles Menschentum zu hüllen. Der rationalistische Geist dieser Geschichtsauffassung vergißt, daß Christi Göttlichkeit so gut ein religiöses, in seiner Zeit wurzelndes Symbol ist wie die jungfräuliche Mutterschaft Mariä nichts anderes denn eine Verkörperung der Seelensehnsucht nach dem einzig Hohen und Wunderbaren. Für die Epoche Christi ist der Glaube an den Gottessohn schlechthin der Glaube an das Göttliche, der sich in keiner anderen Form realisieren läßt. Seither hat der wachsende Individualismus, das entwickelte menschliche Bewußtsein, die immer stärkere Eroberung des Diesseits in den modernen Menschen das Bedürfnis geschaffen, eben jenes Göttliche aus fernen, überweltlichen Regionen in's Irdische, Erdenwirkliche zu retten, in der eigenen Brust die Welt erhabener Empfindungen zu erwecken, die man ehedem einem überirdischen Wesen in Schauer und Ehrfurcht entgegentrug. Die allmähliche Verweltlichung des Christentums bedeutet eine Umwandlung des religiösen Gefühls in's Persönliche und Individuelle. Um lebenskräftig zu sein, muß jede Religion die wesentlichen sittlichen Gewalten im Menschen aufrufen: sie muß erwecken.

Der Individualismus tut nichts anderes. Er verwirft die Allgemeinheit sittlicher Forderungen, die vor der wachsenden Differenzierung menschlicher Verhältnisse und Strebungen nicht mehr standhalten, ja er gibt diesen abstrakten sittlichen Idealen Schuld an der inneren religiösen Gleichgiltigkeit der Menge. Er betrachtet es somit als seine Aufgabe, das Gewissen im Menschen wachzurufen und ihn zur bewußten Stählung seiner sittlichen Kräfte zu veranlassen. Dieser Egoismus (oder Individualismus) meint somit, daß nur dadurch eine Vervollkommnung des Menschengeschlechts eintreten kann, daß jeder das will, was er nach seiner innersten Veranlagung wollen muß. Strebt die Gesamtheit Idealen zu, die für die große Mehrzahl keinen Lebenswert besitzen, so können diese Ideale nicht erzieherisch wirken. Hingegen das egoistische Ideal, das dem tätigen Streben des Einzelnen vorschwebt, selbst wenn es unsittlich ist (etwa das Ideal des Verbrechers) in der Uebermacht des Sittlich-Guten seinen Ueberwinder und Vernichter finden muß.

Gerade die Entwicklung Ibsens, dessen Ethik hier schon in ihren Grundzügen beleuchtet wurde, zeigt uns wie sehr auch das individualistische Ideal utopisch ist. Dieser sittliche Anarchismus, der allen Gleichheitsformen, die auf eine Unterbindung und Vergewaltigung des Persönlichen abzielen – Staat, Kirche, Gesellschaft, Familie – feind ist, setzt eine moralische Spannkraft voraus, die tatsächlich nur bei den Wenigsten vorhanden ist. Die großen sozialen Religionen verdanken ihre ungeheure Wirkung dem typischen und allgemeinen Charakter ihrer Ideale, die den Einzelnen gleichsam zu nichts verpflichten. Hingegen der Individualismus als Religion der Allgemeinheit darum unmöglich ist, weil er notwendigerweise ins Unsittliche und Schrankenlose ausarten müßte. Die Kräfte, auf deren Erweckung er hinstrebt, sind in der Masse einfach gar nicht vorhanden; und wer könnte sich ein Maß sittlichen Wollens erwerben, das er nicht im Grunde von Anfang an besitzt?

Nun erkennt der Individualismus allmählich, daß die überwältigende Mehrzahl der Menschen durch die unmittelbare Not des Lebens so stark in Anspruch genommen ist, daß sie nicht zu jener Freiheit des Geistes gelangt, die die Grundlage jeder selbständigen Religion und Ethik bildet. Es gäbe keine Kirchen, wenn jedem der Sinn des Göttlichen gegenwärtig wäre. Es gäbe keine Festtage, wenn er das Heilige deutlich in sich selbst verspürte. Und diese Erkenntnis lähmt dem ursprünglichen Optimismus des Individualisten die Schwingen. Ibsens »Brand« ist, wie wir sehen werden, die Tragödie eines Propheten des Individualismus, der an dieser Welterkenntnis zu Grunde geht.

*

Nachdem das Christentum eine zeitlang die völlige Alleinherrschaft über das sittliche Leben der Völker besessen hatte, bringt die Renaissance die abgestorbene Welt der Antike zu neuem Blühen. Lebensfreudigkeit tritt an Stelle der Askese, die Kunst ersetzt mit ihrem Farben- und Formenrausch die Erlösungswerte der Religion, die nur noch äußerlich betrieben wird. Der nackte Lebenshunger, der die lange Entbehrenden erfaßt hat, bricht mit jener unbezähmbaren Triebkraft hervor, die die Renaissance so groß und zugleich so unsittlich macht. Allmählich dämpft sich dieses vulkanische Feuer, und der Gedanke einer Verschmelzung der christlichen Welt mit der Antike gewinnt Raum und Gestalt. Im wesentlichen ist es ein Kampf zwischen Religion und Kunst, die sich in beiden Welten symbolisieren. Die Romantik, zu beiden Zentren gleichmäßig hingezogen, bemüht sich, sie zu versöhnen. Die Idee des dritten Reiches taucht auf, das den Sinnen und dem Geiste gleichermaßen gerecht wird. So tönt es geheimnisvoll aus Immermanns Mysterium »Merlin«:

Ein Gleichnis aber

Setz' ich hiermit; wer Ohren hat, der höre.
Drei sind es, welche zeugen. Zwei erschienen,
Der Ein' im Leben, und im Tod der Zweite,
Der Dritte ward verheißen. Ob er da ist,
Fragt eurer Herzen Klopfen! – des bedrückten
Demüt'gen Jammers Zeiten sind vergangen;
Hinfüro will er sein mit frohen Wangen,
Und sich entzücken unter den Entzückten.

Die Idee des dritten Reichs steht im Mittelpunkt des Schauspiels » Kaiser und Galiläer«. »Es gibt drei Reiche«, sagt der Mystiker und Neophyt Maximos, der in Kaiser Julian den Glauben erweckt, er sei der erlösende Messias: »Zuerst jenes Reich, das auf dem Baum der Erkenntnis gegründet ward; dann jenes, das auf dem Baum des Kreuzes gegründet ward. Das dritte ist das Reich des großen Geheimnisses, das Reich, das auf dem Baum der Erkenntnis und des Kreuzes zusammen gegründet werden soll, weil es sie beide zugleich haßt und liebt, und weil es seine lebendigen Quellen in Adams Garten und unter Golgatha hat.« Dieses dritte Reich ist mit der Wiedergeburt des Menschen verknüpft, der in sich selbst die verlorene Gottähnlichkeit wiederfindet. Er hört fortan auf, seine Triebe als sündhaft zu hassen. Seine Natur hat den höchsten Adel der Sittlichkeit empfangen. – So weit die moderne Dichtung überhaupt philosophischen Gehalt besitzt, hat sie diesen Gedanken des neuen Menschen immer aufs neue dargestellt. Um ihn kreist unablässig die von messianischen Hoffnungen trächtige Gedankenwelt Zarathustra-Nietzsches. Und auch Dehmel träumt von dem dritten Reich, in dem das Weib den Mann von den Qualen der Entsagung erlöst und den alten Paradiesesfluch zu Schanden macht.

Einen Vorklang dieser Idee des dritten Reichs finden wir bereits in Ibsens »Brand«. Während der Held seine Gemeinde aus einem unpersönlichen Christentum zu erlösen strebt und ihnen das Heil freierer, selbstgegebener Gesetze predigt, vertritt die halbtolle Gerd das rohe Heidentum, den blinden Naturgeist, der die Läuterung sittlicher Gefühle noch nicht erfahren hat.

Bereits in der sozialen, auf das Wohl der Masse gerichteten Ethik Ibsens entdecken wir somit nahe Beziehungen zum Christentum, so oft er gegen die Kirche als seine praktische Verkörperung eifert. Auch die individuelle Ethik des Dichters, die in den Vordergrund tritt, sobald er die Unmöglichkeit einsieht, den stumpfen Geist der Masse höheren Zielen entgegenzuführen, berührt sich in entscheidenden Punkten mit den christlichen Lehren. Freilich bekämpft sein Immoralismus jene kollektiven Ideale, an denen das Christentum so reich ist. Das Ideal der Nächstenliebe, der Entsagung, der Aufopferung. Bereits Schopenhauer führt aus, daß Nächstenliebe, christliche Gesinnung, Freiheit, Wahrheit Ideale sind, die nur Bedeutung für sozial veranlagte Menschen haben. Diese verwirft der moderne Individualismus, soweit sie bloß von der traditionellen Sittlichkeitsanschauung eingegeben sind und nicht in der eigensten Natur des Menschen ruhen. Bei Hebbel lesen wir die Worte, die Ibsens individualistische Ethik in großartiger Kürze zusammenfassen. »Schüttle alles ab, was Dich in Deiner Entwicklung hemmet, und wenn's auch ein Mensch wäre, der Dich liebt, denn was Dich vernichtet, kann keinen anderen fördern.« Unsere Persönlichkeit ist das einzig sichere Gesetz, das wir in den Nebeln und Irrtümern des Daseins erkennen. Ihr nachzuleben und uns mehr und mehr gegenüber den Angriffen der Vorwelt, die auf eine Nivellierung des in uns liegenden Charakters ausgeht, zu behaupten, das sei unser wesentliches moralisches Gesetz. So ist dem individuellen Menschen niemand verhaßter als der Idealist von reinem Wasser, der nach »Freiheit, Wahrheit und Sittlichkeit« strebt. So ist ihm niemand teurer, als wer seine Freiheit, seine Wahrheit, seine Sittlichkeit zu erhalten sucht. Ganz willkürlich hat man aus beliebigen Citaten Ibsen zum Vernichter alles Idealen gemacht. Nichts ist verkehrter. Ibsen meint einzig und allein, daß für gewisse Naturen die Lüge ganz denselben Lebenswert besitzt wie für andere die Wahrheit.

Die sozial veranlagten Menschen haben sich abstrakte Ideale geschaffen: Gott, Glaube, Moral, die eine freie und bequeme Anwendung gestatten. Solche Ideale sind notwendig, weil der soziale Mensch außer stande ist, aus sich selbst heraus die Ziele einer wahrhaft sittlichen Lebensführung zu entwickeln. Dazu gehört der Schöpfertrieb groß veranlagter Naturen. Hingegen das individualistische Ideal nicht außerhalb des Lebens, gleichsam frei in der Luft schwebend existieren kann. Es will erlebt sein und fordert eben darum immer neue Opfer. Und keineswegs findet diese Opferpflicht ihren Lohn in der endlichen Erfüllung des Ideals, das seiner ganzen Natur nach unerfüllbar ist. Der Lebenswert des individualistischen Ideals liegt im Streben, in jener unaufhaltsamen Umwandlung und Entwicklung, in der ständigen Befruchtung aller sittlichen Kräfte, für die das vorgestellte Ideal die eigentliche Triebfeder bildet.

Vor allem mag nur ein ganz persönliches Ideal den Willen des Menschen in Erregung zu setzen, ihm einen Sinn und ein Ziel zu geben:

Wille, Wille ist von nöten!
Der wird retten oder töten.
Wille ganz in allen Dingen,
Im Erhabenen, im Geringen. (Brand.)

Ibsens ganze Ethik ist ausschließlich aus seinem Willensbegriff zu erklären. Er läßt uns nirgends im Zweifel darüber, daß der Wille für ihn das Höchste im Menschen ist. Nicht-Können schändet nicht, denn es liegt in der menschlichen Natur begriffen, wenn der Wille, den ihr ein Dämon eingegeben hat, immer wieder an der Unzulänglichkeit der Mittel scheitert, wohl aber ist Nicht-Wollen die schwerste Schuld, die der Mensch auf sich nimmt.

»Wer weiß, wen einst Verdammnis trifft?!
Doch steht in ewiger Flammenschrift:
Nur dem, der treu, wird Licht zum Lohne,
Kein Feilschen schafft des Lebens Krone,
Du darfst der Prüfung Feuer nicht fliehen,
Denk' nicht, daß Du's mit Angstschweiß stillst,
Daß Du nicht kannst, wird Dir verziehen,
Doch nimmermehr, daß Du nicht willst

Ibsen's spätere Dramen sind ausnahmslos Tragödien des »gebrochenen Willens.« Das geniale Individuum hat die schwersten Hemmungen und Widerstände seines Willens siegreich überwunden, da offenbart sich, daß dieses unbegrenzte Wollen der Seele Gewalt angetan hat. Das vom Willen betrogene Gefühl bricht durch und lähmt das Streben des Individuums. In ihm erwacht das Gewissen. Metaphysisch angesehen, ist es der Weltwille, der das Wollen des Einzelnen in seine Schranken zurückweist, wie es die Erhaltung der Welt erfordert. Konkret angeschaut, findet der Wille seinen schlimmsten Widersacher in der Unfähigkeit des Individuums, seine ganze Kraft unter Aufopferung jedes Genusses allein auf das Streben zu konzentrieren. Die selbstgewählte Einsamkeit wird ihm unerträglich. Ihn erfüllt die Sehnsucht nach dem Besitz der Welt, nach Liebe, Weib und Kind, nach allen lebendigen Schätzen des Daseins, die er ehedem seinem unersättlichen Willenstriebe zur Macht, zur Erkenntnis, zum Schaffen geopfert hat. Nicht anders ist des Baumeisters Solneß Klage zu verstehen, daß er, bei lebendigem Leibe an eine Tote gekettet, ein einsam-freudeloses Leben führen müsse. Nicht anders Rubeks erschütterndes Bekenntnis, ein Leben in Sonnenschein und Schönheit sei unvergleichlich wertvoller als das unablässige Opfer des künstlerischen Schaffens. Aus solchen Worten spricht nur die augenblickliche Reue über ein verfehltes Leben, in ihnen äußert sich nur die tiefe seelische Empörung über den verlorenen Genuß des Daseins. Noch einmal seiner Jugend wiedergegeben, würde der so beschaffene Mensch dasselbe Leben noch einmal erneuern, denn wie Ibsen es ausdrückt: » Wollen heißt Wollen müssen

Dieses ethische Ideal ist ein ausschließlich männliches und führt das Individuum notwendigerweise in Konflikt mit dem gegensätzlichen Streben des Weibes nach unmittelbarem Genuß des Lebens. Wir verstehen nunmehr, warum der Held des Ibsen'schen Dramas das Weib in seinen tiefsten Gefühlen und Strebungen verletzen, ja vernichten muß, in seiner Liebe, die ganz auf den Besitz des Mannes ausgeht wie in seiner Mutterschaft. Aber nicht nur seine geniale Einseitigkeit verstrickt den Menschen, der sich seiner Lebensaufgabe wahrhaft bewußt ist, in Schuld und Irrtum. Seit seiner Geburt haftet ihm der Makel einer von altersher vererbten Schuld an:

»Endlose Schuld, wohin ich schau! –
So wirr, so bunt verschlingen sich
Des Schicksals Fäden, Stich um Stich
So stecken Sünd und Frucht der Sünde
Sich an im trübsten aller Bünde.« (Brand).

Die augustinische Idee der Erbsünde ist unserem Dichter, der, immer wieder von der Einzelexistenz des Individuums absehend, die inneren Zusammenhänge menschlicher Schicksale zu ergründen sucht, keineswegs fremd.

*

In einem Briefe Ibsen's heißt es: …, » Die Hauptsache ist, wahr und treu in seinem Verhalten zu bleiben. Es kommt nicht darauf an, dies oder jenes zu wollen, sondern darauf, das zu wollen, was man unbedingt wollen muß, weil man ist, wer man ist und nicht anders kann. Alles übrige führt nur in die Lüge hinein.« Hier faßt er noch einmal das Wesentliche seiner Ethik zusammen. » Sei getreu bis in den Tod und ich werde Dir die Krone des Lebens geben

Diese Treue gegen sich selbst wird den Untergang des Individuums herbeiführen; eben darin besteht ja der hohe Preis, den es der Welt für das Geschenk seiner Eigenart zu zahlen hat. Aber liegt nicht in dieser selbstgewollten Vernichtung der höchste Triumph des menschlichen Willens, der große sittliche Kern seiner Kraft! In ihr spricht sich eine wahrhaft heroisch-tragische Lebensanschauung aus. Glück und Genuß ist von jeher das Ideal der Masse gewesen, und das Gespenst jenseitiger Schrecken und Strafen war nötig, um in ihr das Gefühl der sittlichen Verantwortlichkeit des Menschen zu erwecken und aufrecht zu erhalten. Der ethische Individualismus weiß das Gefühl der Verantwortlichkeit aus jener wahren Sittlichkeit zu erzeugen, die die naturwahren Instinkte in den Dienst der Lebensaufgabe stellt, sie damit läuternd und veredelnd. Für den energischen Willensmenschen Ibsens ist das Gewissen als das Gefühl der Verantwortlichkeit die gefährliche Klippe, an der sein welteroberndes Streben schließlich zerschellt. » Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele.« Um dieses Bibelwort dreht sich die gesamte Dramatik Ibsens. Nur muß man begreifen, daß die ethischen Werte, die die Helden unseres Dichters sachlich mit dem Christentum gemein haben, aus einer gänzlich gegensätzlichen Lebensanschauung fließen. Auch das aristokratische Individuum, das den Adel der Menschheit in sich zu verkörpern strebt, muß schließlich die Gleichberechtigung anderer Menschen, deren Lebensglück sein Streben vernichtet, anerkennen. Nur fühlt ein so gearteter Mensch, daß er selbst das schwerste Opfer bringt, um seinen eingeborenen Idealen genug zu tun, und daher leitet er das sittliche Recht ab, auch andere auf demselben Altar zu opfern. Und wenn diese Ideale schließlich vom Widerstand der stumpfen Welt besiegt werden, so hält ihn das Gefühl aufrecht, daß ein großes Wollen seinen Lebenswert in sich trägt, daß er die Prüfung bestand, die das Schicksal seinem Charakter auferlegt hat. Das Streben ist alles, das Ziel ist nichts. Nur die Sehnsucht macht den Menschen groß, niemals die Erfüllung. Wie kleinere Naturen sich daran begeistern, ihr Leben einer allgemeinen Sache zum Opfer bringen, so empfindet das geniale Individuum, daß durch die Vernichtung seiner Existenz der Sieg seines Strebens gesichert ist, das, vom irdischen Wahn befreit, in die Unsterblichkeit eingeht. Dieses Gefühl gibt ihm jenen Wollustschauder des Todes, der in seinen letzten Werken ausklingt in die Worte und Gefühle: »Ich bin frei! Ich bin frei! Ich bin frei.«

*

Wie die ganze geistige Entwicklung Ibsens vom philosophischen Idealismus ausgeht, welcher mit bestimmten Forderungen an die Menschheit herantritt, hernach mehr und mehr zur Anerkennung der realen Mächte des Lebens gelangt und endlich der tatsächlichen Welt eine ideale und metaphysische gegenüber stellt, die der Natur seiner Helden entspricht, so wächst auch seine starre und lebensfremde Ethik erst allmählich in's Leben hinein, sättigt sich mit den Anschauungen und Gefühlen der wirklichen Lebenssphäre und erfährt hier ihre notwendige Korrektur.

» Brand« und sein Gegenbild » Peer Gynt« bezeichnen die erste Phase seiner Moral. Ihr Repräsentant ist ein starrer trotziger Prophet jenes doktrinären Individualismus, der es unternimmt, die Menschen nach seinem Bilde umzuschmieden, eine Natur von äußerster Energie des Wollens und Handelns, eingeschworen auf die starren Gesetzesworte, die er der kleinmütigen Menschheit immer aufs neue zuruft: Alles oder Nichts. Die schroffe Einseitigkeit des Dichters, der völlig mit der Welt gebrochen hat und doch das Ideal des Weltverbesserers in sich fühlt, hat sich hier auf den Helden restlos übertragen. Brand ist ein Einsamer, und mit der Menschheit verbindet ihn eigentlich nur die selbstlose Liebe seines Weibes. Der ethische Rigorismus, mit dem er unbekümmert um die Gesetze und Pflichten, die das Leben selbst dem Menschen auferlegt, an seinen moralischen Dogmen festhält, der starre Eigensinn, mit dem er das Leben zwingen will sich seinem Ideale anzupassen, hat etwas Unnatürliches, ja Unmenschliches. Ihm fehlt die Liebe, und so vermag er nicht die Menschen in ihren Fehlern und Schwächen menschlich zu begreifen. Das zweite dramatische Epos » Peer Gynt« ist eine Karrikatur des Individualismus. Der Held, ein Mensch ohne jeden sittlichen Kern, nichts an sich, alles in seiner Vorstellung. Während Brand den wahrhaft ethischen Trieb in sich spürt, zur Wesenheit des Menschen vorzudringen und blutenden Herzens alles aufgibt, was seine Entwicklung hemmt, ist der Phrasenheld Peer Gynt bereit, um eines augenblicklichen Vorteils willen in jede Maske und Verkleidung zu schlüpfen. Er ist toll mit den Tollen, Affe mit den Affen, Scheich, Negerhändler, Kaiser im Irrenhaus. Er ist alles und doch nichts:

»Die ganze Kunst, das Glück zu zwingen,
Die Kunst, den Mut der Tat zu haben,
Ist die, wahlfreien Laufs zu traben
Durch dieses Lebens tausend Schlingen, –
Zu wissen, daß zu keinen Tagen
Des Streites letzten Tag man schreibt,
Zu wissen, daß stets offen bleibt
Ein Brücklein, Dich zurück zu tragen.«

So ist Gynt der Durchschnittsmensch, der ganz gewöhnliche Philister, der mit der Einbildung seiner Größe sich und die Welt betrügt. Hingegen Brand's hoher religiöser Idealismus das unmögliche Wagnis unternimmt das eigne Ich und die Menschheit durch den freiwilligen Verzicht auf die realen Güter des Lebens in's Göttliche zu steigern und so die letzte Freiheit des Wollens zu erobern. Im Grunde ist Brand's schroffe Unversöhnlichkeit ganz ebenso eine Karrikatur des wahren Individualismus wie sein Antipode Peer Gynt. Der eine ist durchaus unsittlich, der andere repräsentiert den übertriebenen Moralismus. Beides sind idealistische Typen, keine Menschen, wie sie das Drama des Lebens entwickelt.

Wie sehr sich nun Ibsen's eigene Anschauungsweise durch die stärkere Berührung und Erkenntnis des Lebens wandelt, sobald er einmal die tatsächlichen menschlichen Verhältnisse zum Gegenstande seiner Darstellung macht, zeigt uns das Drama, das den Schlußstein seiner Familienstücke bildet: » Die Wildente«. Hier finden wir Brand, den ethischen Rigoristen, der Leben vernichtet um seiner Lebensaufgabe Genüge zu tun, als Gregers Werle wieder, und Hjalmar Ekdal ist offenbar nichts anderes als ein bürgerlicher Peer Gynt. Hiermit sind wir indessen seiner ethischen Entwicklung vorausgeeilt. Vor »Brand« und Peer Gynt abgefaßt, bildet die » Komödie der Liebe« (1860) die Ouverture seiner gesellschaftskritischen Dramen, die mit den Stützen der Gesellschaft (1877) beginnen und sich über » Nora«, » Gespenster«, » Volksfeind« hinaus bis zur » Wildente« (1884) erstrecken.

In dieser Epoche nimmt er den Kampf gegen die gesellschaftlichen, religiösen, politischen Ideale der Zeit auf, die er als eitel Lüge, Maske und Halbheit brandmarkt. Der Ehe aus Interesse und Konvention, deren Unsittlichkeit er in krasser Tragik mit außerordentlicher Schärfe zeichnet, stellt er das Ideal der wahren Gemeinschaft zwischen Mann und Weib gegenüber. Die zeitgenössische Religion karrikiert er in ihren Vertretern, die sich samt und sonders als glaubensstarke Dummköpfe erweisen und verficht die Ideale einer freieren Lebensführung, die auf die eingeborene Sittlichkeit des Individuums gegründet ist. Seine politischen Anschauungen spricht der »Volksfeind« mit derselben tendenziösen Nüchternheit ungemein deutlich aus. Es ist nicht wenig bezeichnend, daß sich der aristokratische Individualismus, zu dem sich der »Volksfeind« Stockmann im Gegensatz zu seiner recht plebejischen Natur hindurchringt, in Ibsens Briefen und Reden fast mit den Ausdrücken des Dramas wiederkehrt. So heißt es in einer Ansprache am 14. Juni 1885: »Es muß ein adliges Element in unser Staatsleben, in unsere Regierung, in unsere Volksvertretung und in unsere Presse kommen.

Ich denke natürlich nicht an den Adel der Geburt und auch nicht an den Geldadel, nicht an den Adel der Wissenschaft und nicht einmal an den Adel des Genies oder der Begabung. Sondern ich denke an den Adel des Charakters, an den Adel des Willens und der Gesinnung. Der allein ist es, der uns frei machen kann. Dieser Adel, der, wie ich hoffe, unserem Volke verliehen wird, er wird uns von zwei Seiten kommen. Er wird uns aus zwei Gruppen kommen, die unter dem Druck der Partei noch nicht einen Schaden erlitten haben, der nicht wieder gut zu machen wäre. Er wird uns kommen von unseren Frauen und von unseren Arbeitern.«

Solche Worte machen es unserem Staunen begreiflich, daß man Ibsen eine zeitlang für den Sozialismus und die Emanzipation des Weibes in Anspruch nehmen konnte. Tatsächlich lagen die Dinge so, daß der Dichter von der Nutzbarmachung bisher brach liegender sittlicher Kräfte einen entscheidenden Vorstoß für die notwendige Revolutionierung des Menschengeistes erhoffte. Er sah ganz richtig, daß das politische Getriebe ahnungslos an den tieferen sittlichen Aufgaben vorbeigeht und sich nach innen wie nach außen hin auf eine rein materielle Betätigung beschränkt. Daß es sich bei allen Maßregeln der hohen gesetzgebenden Körperschaften nur um den Ausgleich von Klasseninteressen, um den Schutz der Wohlanständigkeit, um Wehrfähigkeit und Repräsentation handelt, und daß das Pathos der politischen Kämpfe im komischen Gegensatz zu ihrer menschlich-sittlichen Bedeutung steht. In diesem Sinne schreibt Ibsen an Georg Brandes unter dem Eindruck des deutsch-französischen Krieges: »All das, wovon wir bis zum heutigen Tage leben, sind ja doch nur die Brosamen vom Revolutionstisch des vorigen Jahrhunderts, und diese Kost ist nun lange genug wiedergekäut worden. Die Begriffe verlangen nach einem neuen Inhalt und einer neuen Erklärung. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind nicht mehr dieselben Dinge, die sie in den Tagen der seligen Guillotine waren …, Die Menschen wollen nur Sonderrevolutionen, nur Revolutionen im Aeußerlichen, im Politischen. Aber das sind lauter Lappalien. Um was es sich handelt, ist eine Revolution des Menschengeistes.« Anders gesagt, Staat und Politik dienen ausschließlich der Gemeinschaft, hemmen damit die freie Persönlichkeit, als welche sie überall auf gesetzlich normierte Sitten stoßt, die die Entfaltung ihrer Kraft unmöglich machen. Nun beruht aber aller Kulturfortschritt allein auf der Leistung des selbständigen Individuums. Alle Entwicklung der Masse ist nur scheinbar, ist rein auf die sozialen Verhältnisse beschränkt, erstreckt sich nicht auf sittliches Fühlen, auf geistigen Besitz. Ibsen erwartet sich Großes für die sittliche Emanzipation der Menschheit von der Beseitigung des Staates: »Der Staat muß fort«, heißt es 1871. »Die Revolution will ich mitmachen. Man untergrabe den Staatsbegriff, man stelle Freiwilligkeit und geistige Verwandtschaft als das einzige Entscheidende für eine Vereinigung auf – das ist der Beginn zu einer Freiheit, die etwas taugt. Eine Umänderung der Regierungsform ist nichts anderes als ein Kramen im Detail. Etwas mehr oder etwas weniger – Erbärmlichkeit alles miteinander! …, Der Staat wurzelt in der Zeit, er wird in der Zeit gipfeln. Größere Sachen als er werden fallen. Jegliche Regierungsform wird fallen. Weder die Moralbegriffe, noch die Kunstformen haben eine Ewigkeit vor sich«.

Diese Phrasen haben in ihrem jugendlichen Enthusiasmus etwas Bestechendes. Nur sind politische Ideale um so törichter, je mehr sie sich von der gegebenen Wirklichkeit der Zustände entfernen. Hier, bei Ibsen, sind sie ganz utopisch. Noch verkennt der Dichter den durchgehenden Dualismus der menschlichen Natur, die in soziale und individuelle Charaktere zerfällt, in Heerdenmenschen und Eigene. Ibsen, der Erzieher, glaubt an die erlösende und befruchtende Kraft großer Ideen. Und sein Glaube währt lange. Erst das Schicksal des Johannes Rosmer auf Rosmersholm, der diese Ideale auf ihre Lebenskraft versucht, bringt die grausame Enttäuschung.

Mit Rosmersholm (1886) verschwindet das soziale Element aus der Dichtung Ibsen's. Seine Probleme empfangen ein rein individualistisches Gepräge. Fortan verspüren wir in seinen Werken eine rein innerliche von aller Tendenz befreite Tragik, die ganz im persönlichen Erleben der Menschen, in ihren durchaus individuellen Konflikten beruht. Wir werden sehen, wie dieser Individualismus, der aus der Befreiung der Menschen von gesellschaftlichen Schranken hervorgeht, in's Reich der Mystik mündet, in jene geheimnisvolle Sphäre des Unbewußten und Unerklärlichen, das sich am Eingang und Abschluß des Menschen erhebt.


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