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Ibsen ca. 1898. Quelle:commons.wikimedia.org

I.

Allem künstlerischen Schaffen liegt der Trieb zu Grunde das Wesentliche der Menschen und Zustände, befreit von ihrer zufälligen und augenblicklichen Erscheinung zu erfassen und darzustellen. Dieses natürliche Ideal erreicht aber nur der Künstler, der das Menschliche in sich zu der gleichen Höhe ausbildet wie die spezifische Fähigkeit der Darstellung. Es ist ersichtlich, daß ein tieferes Verständnis der sittlichen Probleme und Konflikte, die dem Leben seinen innersten Gehalt verleihen, nur einem überlegenen Geist möglich ist, der durch die seelischen Zustände, die er darstellt, selbst hindurchgegangen ist und eben dadurch das unendlich verzweigte Getriebe tausendfältiger Daseinsformen, die ganze Summe und Skala der Gefühle, Stimmungen, Leidenschaften erinnernd in sich trägt und beherrscht.

Die gesamte nachklassische Poesie ist arm an solchen selbständigen, in eigner Welterkenntnis wurzelnden Geistern und zwar vornehmlich deshalb, weil die nachfolgende romantische Dichtung ihre Schöpfungen auf dem schönen Schein der Dinge aufbaute, sie aus einer bereits stilisierten Kunstwelt hervorgehen ließ, statt von neuem zu dem Naturkern der Lebenserscheinungen vorzudringen und ihr Sein zu offenbaren. Dadurch erhielt die Dichtung jenen spielerischen, farblosen, schemenhaften Charakter, der ihr bis tief hinein in die siebziger Jahre des verflossenen Jahrhunderts anhaftet. Poetische Poesie, keine Dichtung, die aus den Quellen des Lebens aufsteigt und uns in ihrer Empfindungswelt unmittelbar berührt. Mit der Nichtigkeit dieser Produktion, die eine geschicktere ausländische Technik, vornehmlich der Franzosen, durch den Reiz größerer Beweglichkeit zu übertrumpfen wußte, erlosch zugleich die Aufnahmefähigkeit des Publikums, versagten seine poetischen Organe.

Inzwischen war eine neue Generation herangewachsen, die von der Kunst Charakter forderte, nicht mehr nur Schönheit und Anmut. In deutschen Landen war kein Dichter vorhanden, der diese zeitgemäße Aufgabe auf sich nehmen konnte. Kleist hatte noch gar keinen Einfluß ausgeübt, Hebbel war noch nicht durchgedrungen. Ueberdies verlangen solche Revolutionen das Eingreifen eines lebendig-tätigen Geistes. Und man richtete seine Blicke auf das Ausland. Hier interessierte Zola's brutaler Realismus, der den Kampf gegen die Sittlichkeitspose seiner Landsleute energisch aufnimmt, fand man Berührungspunkte mit Tolstoi, der das religiöse Gewissen der Menschheit schärfte und, ein zweiter Rousseau, die Rückkehr zur Natur predigte, endlich mit Björnson, dem Fanatiker für Wahrheit und Recht. Indes jede dieser Persönlichkeiten war national begrenzt in ihrer Anschauungswelt, in ihren Idealen, in ihrer Kunst. Und ferner war jede dieser Persönlichkeiten mehr sozial als individuell veranlagt, dem Geiste der Masse entsprechend, nicht für die Erweckung und Erziehung des Einzelnen geschaffen. Somit für eine wahrhaft persönliche Kunst bedeutungslos.

Erst in Henrik Ibsen erstand der Prophet des europäischen Geistes, der Schöpfer der ersehnten individuellen und zugleich modernen Dichtung.

Ibsen hat uns den Weg rückläufig zu Hebbel erschlossen, der ihn an Klarheit und Größe überragt, dafür aber unserem Zeitbewußtsein unendlich ferner steht. Ibsen hat uns durch den Ernst und die Tiefe seiner Werke für immer davon überzeugt, daß die Aufgabe des Dichters nicht letzthin im Künstlerischen gipfelt, sondern auf eine geistige Bewältigung des Daseins ausgeht. »Was ist denn eigentlich Dichten?« heißt es in einer seiner Reden. »Spät erst bin ich dahinter gekommen, daß Dichten im wesentlichen Sehen ist, doch wohlgemerkt ein Sehen solcher Art, daß der Empfangende das Gesehene sich so aneignet, wie der Dichter es sieht. Aber so kann man sehen und so kann man empfangen nur das Erlebte. Und das Erleben ist's, worin das Geheimnis der Dichtung unserer Zeit liegt. Alles, was ich in den letzten zehn Jahren gedichtet habe, das habe ich geistig erlebt. Was hab' ich denn nun eigentlich erlebt und im Gedicht gestaltet? Das Gebiet ist groß gewesen. Teils hab' ich das gestaltet, was blitzhaft und nur in meinen besten Stunden sich lebendig in mir geregt hat, als etwas Großes, Schönes. Ich habe das gestaltet, was sozusagen höher gestanden hat, als mein tägliches Ich, und habe es darum gestaltet, um es festzuhalten mir gegenüber und in mir selbst.« (I. 454.)

Der lebensvolle Idealismus, der sich in diesem Bekenntnis wie in der Totalität seines Werkes ausspricht, wurde von den Zeitgenossen nicht erkannt. Als Ibsen durch seine gesellschaftskritischen Dramen (»Stützen der Gesellschaft« usw.) zu europäischer Berühmtheit gelangte, sah man in ihm einzig und allein den Dichter des Naturalismus. Nicht zuletzt weil der deutsche Naturalismus der achtziger Jahre mannhaft und, wie wir heute meinen, mißverständlich für ihn eingetreten war. 1887, da die »Gespenster« in einer Matinee des Berliner Residenztheaters aufgeführt (9. Januar 1887), dem Genius des Dichters in wilden litterarischen Kämpfen Bahn gebrochen hatten, läßt Brahm seine schale für die Tagesauffassung ungemein charakteristische Ibsen-Schrift erscheinen. In dem Tagebuch Stauffer-Bern's lesen wir unter'm 7. Februar 1887: »Gestern war Premiere im Ostend-Theater, » Der Volksfeind« von Ibsen, ein ganz eigentümliches Drama, modern bis zur Poesielosigkeit; aber nach meinem Dafürhalten trotzdem oder gerade deswegen eine hervorragende Arbeit.« Kein Mensch von der Gesellschaft sei zugegen gewesen, nur Schriftsteller und Künstler, »Musiker natürlich nur Wagnerianer.«

Schon vierzehn Jahre früher hatte der feinsinnige Strodtmann versucht, Ibsen's Dichtung in Deutschland einzuführen. »Einen direkten Gegensatz zu Björnstjerne Björnson bildet Henrik Ibsen, eine edle, aristokratisch angelegte, stark pessimistische Dichternatur. Er greift in seinen polemischen Dramen nicht bloß einzelne Schäden und Auswüchse des politischen, religiösen und gesellschaftlichen Lebens an, sondern die ganze Basis des letzteren erscheint ihm als verderbt, unwahr und hassenswert. In dieser Hinsicht – aber freilich nur in dieser – hat er eine unleugbare Verwandtschaft mit den Tendenzen, welche in der Mitte der dreißiger Jahre bei uns die Männer des jungen Deutschlands verkündeten; im übrigen ist er ihnen an sittlicher Energie und echt künstlerischem Streben weit überlegen. Er teilt im allgemeinen nicht allein die Richtung Welhavens, Welhaven und Wergeland sind die beiden Vorläufer Ibsen's und Björnson's im Kampf um eine nationale Poesie. Wergeland, ein glühender Patriot und mäßiger Dichter, Welhaven, der pessimistische Satiriker seines Volkes. sondern auch dessen Schicksal. Wie dieser sich wiederholt vor dem Hasse und der Verfolgungssucht seiner Landsleute nach Kopenhagen flüchtete, lebt auch Ibsen heut seit Jahren in einem halb freiwilligen, halb gezwungenen Exil, und wenn er jemals nach Norwegen zurückkehrt, wird ohne Zweifel sofort der heftigste Kampf zwischen den Intelligenten unter seiner und der ungebildeten Masse unter Björnsons Führung entbrennen.« (»Das geistige Leben in Dänemark« 1873.)

Die deutsche Rezeption Ibsens, die sich nach dem Kampfe um die »Gespenster« ziemlich rasch vollzieht, zumal das Verbot seiner Dramen sich nicht lange aufrecht erhalten konnte, bildet ein Kapitel für sich. Natürlich sträubt sich der gute deutsche Idealismus mit allen Kräften gegen den fremden Eindringling. Wildenbruch richtet sein »Heiliges Lachen«, Heyse das Drama »Wahrheit?« gegen ihn. Allerdings ist Ibsen, der in den romanischen Ländern und in England Anläßlich der Aufführung von Hedda Gabler in London schrieb der berühmte Robert Buchanan: »Was absoluten sich immer gleich bleibenden Blödsinn, was innerliche Gemeinheit und Gewöhnlichkeit, was vordringliche Trivialität betrifft, kann sich kein Kolportageroman mit »Hedda Gabler« messen«. Ueber die Unfähigkeit der deutschen Kritik vergleiche man die Zusammenstellung in Philipp Stein, Ibsen 1901. absolut kein Verständnis fand, bei uns nur mit seinen satirischen Gesellschaftsdramen vollwichtig durchgedrungen, mit Werken also, die in seinem Oeuvre keineswegs einen hervorragenden Platz einnehmen. »Hedda Gabler« oder »Klein Eyolf« etwa haben auch bei den Gebildeten nur befremdetes Kopfschütteln und feilen Spott hervorgerufen. Man gewöhnte sich daran Ibsen als einen symbolistisch-mystischen Magus des Nordens anzusehen und entschuldigte die letzten Werke förmlich mit dem hohen Alter des Dichters. Wir stehen auf einem durchaus gegensätzlichen Standpunkte. Dank seiner ständigen geistigen und künstlerischen Entwicklung gibt erst das Schaffen seiner letzten Einsamkeit, seines extremen Individualismus, der sehr begreiflich in das Reich des Mystischen, das das Individuum erlöst, einmünden muß, den Schlüssel für sein Verständnis; wie jeder Künstler von dem Gipfel seiner Kunst aus angeschaut sein will.

Gleichwohl sind es auch im wesentlichen die gesellschaftskritischen Dramen, die auf das Gros der modernen Dramatik von Einfluß waren. Sudermann hat ihn mehr als einmal in dieser Sphäre nachzuahmen versucht. Man weiß, mit welchem Erfolge! Lernte man von Ibsen Menschen menschlicher sehen, sie in der Ausladung ihrer Charakternuancen intimer und sensitiver begreifen, die Probleme stärker in die innere Handlung einwurzeln, so hat man ihm doch im Großen und Ganzen nur seine Technik, seine materiellen Stoffe, sonderlich aber seine dämonischen Frauen abgeguckt. Nur Hauptmann verstand es die Gefühlswelt »Rosmersholms« freilich nicht seinen geistigen Gehalt in den »Einsamen Menschen« ins Deutsche zu übertragen.

Ueber die Epoche des blinden Ibsenismus sind wir gottlob schon hinaus, ja wir haben Ibsens romantisch-pessimistische Lebensanschauung heute soweit überwunden, daß wir sie als etwas Abgeschlossenes kritisch bewerten können. Wir haben den Weg gefunden zu einer erdhaften Lebensbejahung, zu einem mutigen Glauben an die Unzerstörbarkeit des Charakters, der im Stande ist, sich die Welt, in der er leben kann, aus eigener Kraft zu erschaffen. Indes wir verdanken diese ethische Entwicklung nicht zuletzt dem Schaffen unseres Dichters, dessen Seelentragödie uns das Gefühl persönlicher Lebenswerte erschlossen hat. Wenn Ibsen selbst bekennt, daß er sich durch die Darstellung der lebensfeindlichen Mächte in seinem Wesen wie von einem Dämon befreite, so hat uns seine Dichtung durch die Erkenntnis der im Weltgetriebe wirksamen Kräfte zu freieren und reineren Sphären erhoben. Dieser unablässig nach Erkenntnis ringende Geist ist uns als Mensch wie als Dichter ein Ideal geworden, dem wir nachzuleben suchen, ein Befreier und ein Erwecker. »Gesang ist es eines Einsamen in die Ferne und Weite, damit er anderen, Gleichgestimmten, höre und antworte.« (Goethe).


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