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III.

Henrik Ibsens Entwicklung bietet das einzigartige Bild eines Dichters, der sein Größtes erst im Alter schafft, da die Kraft der meisten Poeten schon bedenklich abnimmt. Weder seine Jugendpoesie, der man heute eine durchaus übertriebene Bedeutung beimißt, noch seine Mannesdichtung hat die eigenartige Kunst hervorgebracht, die wir heute mit dem Bilde Ibsens verbinden. Der starre, unversöhnliche, jeder Konzession abholde Mann hat erst in langsamer Selbsterziehung seinen Frieden mit der Welt gemacht, bis er zu jener Synthese von Welt und Persönlichkeit gelangt, die aus seinen großen Werken ausstrahlt. Wir sehen die Totalität jedes Künstlers in einer ganz bestimmten Physiognomie, in einem idealen Porträt, das den Geist seines Schaffens in derjenigen Stufe der Entwicklung, in der er zu einem gewissen Gleichgewicht der Kräfte gelangt ist, zusammenfaßt. Einen Novalis oder Hölderlin können wir uns, unbekümmert um ihr wirkliches Alter, gar nicht anders denn als Jüngling vorstellen. Kleist sehen wir als den werdenden Mann, Hebbel als den gewordenen. Somit entspricht jede Dichtung wie alle Kunst überhaupt einer ganz bestimmten Altersstufe. Also ist von Ibsen eigentlich alles gesagt, wenn wir betonen, daß die Krone seines Schaffens erst in die fünfziger und sechziger Jahre seines Lebens fällt. Ende der siebziger Jahre, mehr als fünfzig Jahre alt, findet er die Heimat seiner Begabung in dem gesellschaftskritischen Drama, um von hier, aus einer sozialen Sphäre in einer ganz natürlichen Entwicklung zum Individualitätsdrama großen Stils aufzusteigen. 1877: » Die Stützen der Gesellschaft«. 1886: » Rosmersholm«, an der Grenzscheide zwischen sozialem und Individualitätsdrama stehend, das Werk des achtundfünfzigjährigen. 1892: » Baumeister Solneß«, an den die letzte Epoche seiner Entwicklung knüpft. Alles, was dem vorausgeht, ist Vorgeschichte im Sinne seiner Dramen, die beim Eintritt in die Handlung jedesmal eine lange seelische Entwicklung der Hauptcharaktere voraussetzen. Natürlich gibt es in dieser Vorgeschichte des Dichters und Menschen Thäler und Höhen. Wir gewahren bisweilen einen sichtbaren Zusammenschluß seiner Kräfte; bedeutende Werke treten dann ans Licht: 1857 die » Nordische Heerfahrt« (»die Helden auf Helgoland«), 1863 die geistesverwandten, ganz großen » Kronprätendenten«. Nur hier haben wir selbsteigene, durchaus objektive Kunstwerke, die sich von der Seele des Dichters losreißen, wie das Kind vom Mutterschoße. Alles andere ist unserer Auffassung nach entweder nur Epigonendichtung im Dienste der herrschenden dramatischen Geschmacksdichtung abgefaßt, wie seine romantischen Dramen (»Fest auf Solhaug« etc.), oder es ist wie seine dramatischen Gedichte » Brand«, » Peer Gynt«, » Kaiser und Galiläer« aus dem Bedürfnis hervorgegangen, durch Erkenntnis der persönlichen sittlichen Energie und durch Darstellung des irrtümlichen, nicht im Charakter beruhenden Strebens zu einer gewissen Selbstkorrektur zu gelangen. Auch später liebt es der Dichter, ein und dasselbe Thema doppelt und zwar in gegensätzlicher Betrachtung darzustellen. Man vergleiche den optimistischen » Volksfeind« mit dem pessimistischen Rosmerdrama, oder Rebecca West (Rosmersholm) mit Hedda Gabler, die den gleichen Typus des freigewordenen Weibes repräsentieren. Nur findet hier eine innige Verschmelzung zwischen Welt und Mensch statt, die den älteren dramatischen Gedichten mit dem eigensinnigen Weltentrotz ihrer Helden noch abgeht.

Somit sind wir berechtigt, das Schaffen des Jünglings und auch das des gereiften Mannes nur als Vorstufe einer gewissen Alterskunst, in dem wir den wahren Ibsen endlich entdecken, anzusehen. Die Skepsis und Resignation dieser Dichtung, die alle Lichtgedanken in ein ideales Zukunftsreich verlegt, ist wurzelhaft und durchaus organisch. Es sind Gedichte eines Entsagenden, der mit ungebrochener Männlichkeit immer wieder den Kampf mit der Welt aufnimmt. Ibsen beginnt recht eigentlich da, wo die Entwicklung aller großen Dichter, die Goethes etwa, abbricht, in der Gefühlssphäre heroischer Einsamkeit, tragischer Sehnsucht …,

Aus dem reichen Lebenswerk Ibsens gehört Vieles nur seiner Zeit und seinem Volke an und ist für unsere anders fühlende und denkende Epoche bereits gegenstandslos geworden. Hinzu kommt, daß der Dichter, wie er selbst einmal betont, seine persönlichen Lebensverhältnisse niemals zum Gegenstand seiner Dichtung gemacht hat, so daß man seine Biographie äußerst kurz zusammenfassen kann.

Ibsen wird am 20. März 1828 in der kleinen norwegischen Küstenstadt Skien geboren. Seine Mutter Maria Cornelia Altenburg ist deutscher, der Vater Knud Ibsen, der zu den Honoratioren der Stadt gehört, ist dänischer Abkunft. In den ersten Kinderjahren Henriks falliert das Elternhaus, die Familie ist auf ein kleines Landgut beschränkt, zieht dann wieder nach Skien zurück, wo der Junge die Realschule besucht, seine Zeichenkunst ausbildet, der Religion und Geschichte ein besonderes, für seinen Entwicklungsgang ziemlich charakteristisches Interesse entgegenbringt. Bezeichnend für die geistige Frühreife und die ursprüngliche pessimistische Anlage des Knaben, dem von seinen Biographen Hang zur Einsamkeit und zur Grübelei nachgesagt wird, ist ein Aufsatz des Vierzehnjährigen, der in dem Traumbild einer gewaltigen Totenstadt das Schattenhafte und Vergängliche alles Irdischen darstellt. Sechs Jahre hernach entdecken wir in seinen Jugendschriften eine Studie, die für den bedeutendsten Charakterzug des reifenden Menschen Zeugnis ablegt: Von der Wichtigkeit der Selbsterkenntnis (Werke I, 258). »Unter allen Zweigen des Denkens ist die Untersuchung von der Beschaffenheit unseres eigenen Wesens vielleicht die Aufgabe, wozu die größte Aufmerksamkeit und Unparteilichkeit erforderlich sind, um zu dem Ziel aller Forschung zu gelangen: nämlich zur Wahrheit. Die Selbsterkenntnis setzt die genaueste Einsicht in unser Selbst, in unsere Neigungen und Handlungen voraus, und erst die Resultate einer solchen Beobachtung ermöglichen dem Menschen, zu einer klaren und richtigen Erkenntnis seiner Charakterbeschaffenheit zu gelangen.« Der junge Mensch, der diese Zeilen schrieb, ahnte natürlich nicht, daß sich später die psychologische Tragik seiner Charaktere auf das Erlebnis ihrer Selbsterkenntnis stützen würde, auf das herbe Gefühl sein innerstes Wesen nicht erkannt und sich damit in unendlichen Irrtum verstrickt zu haben. –

Inzwischen hatte Ibsen seine Vaterstadt verlassen, um rasch einen Lebensunterhalt zu gewinnen. Der Traum, ein Maler zu werden, muß vor der Realität seiner bedrängten Verhältnisse verfliegen. Sechzehnjährig geht er als Apothekerlehrling nach Grimstadt, einem Nest von 800 Einwohnern, in dem er fünf Jahre verbleibt. In seinem 21. Lebensjahr, im Winter 1848 auf 1849 also, entstand hier sein » Catilina«. Daneben, wie uns das Vorwort des Dramas erzählt, Freiheitsgedichte, die dem Aufruhr der Zeit entsprachen und entsprangen. Das Römerdrama schuf er durch Sallust angeregt. Es ist eine Frucht seiner Vorbereitung zur Reifeprüfung, die ihm den Weg zu dem freieren und höheren Beruf des Mediziners ebnen sollte, ihn gleichzeitig aus der drückenden Enge des Krähwinkels Grimstadt erlösend.

Künstlerisch angesehen ist dieser » Catilina« ohne jede Bedeutung. Es ist das typische Jugendstück des idealistischen Jünglings, der in einem poetischen Exercitium seinen Drang nach Freiheit und Größe entladet. Die bombastische Phrase übertönt jedes reine menschliche Gefühl, der Hang zum Geheimnisvollen, Fürchterlichen, Spukhaften, schlechthin Theatralischen läßt nirgends eine tragische Stimmung aufkommen. Catilina ist so gut eine Karrikatur wie die beiden, halb symbolischen Frauen, die seiner zwiespältigen Seele als guter und böser Engel zur Seite stehen, die sanfte, hingebende Aurelia und die Mänade Furia. Für den Stil der Dichtung nur ein charakteristisches Beispiel aus dem Eingangs-Monolog des Helden:

»Verachte Dich, Du stolzer Catilina,
Verachte Dich, Du nicht gemeiner Mensch,
Den doch trotz aller Gaben eins nur lockt:
Genuß, Genuß und abermals Genuß.«

Natürlich lehnt das Christiania-Theater das Stück ab. Ein begeisterter Freund bezahlt den Druck, der das Licht des Verfassers nicht heller leuchten läßt. Wie immer findet sich ein Literarhistoriker, der sich anerkennend über das Drama ausspricht, das nach einem Absatz von dreißig Exemplaren in die Presse zurückwandert.

1850 finden wir unseren Dichter in Christiania wieder. Die berühmte Studentenfabrik Heltbergs, eine Art »Presse«, hatte ihm dort den letzten Examensschliff gegeben. Er scheint alsdann kein regelmäßiges Studium ergriffen zu haben, dem typischen Freiheitstriebe des Künstlers folgend, der aus den geistigen Disziplinen nur das in sich aufnimmt, was seiner persönlichen Neigung frommt. Sicher hatte das gärende Großstadtleben Christianias, das den Mittelpunkt der künstlerischen und politischen Kämpfe des Landes bildete, für den jungen Ibsen etwas Berauschendes. Gerade seine zähe, stetige Natur, die in der Enge und Ruhe des Kleinstadtlebens Raum zur geduldigen Entwicklung fand, läßt sich eine zeitlang hinreißen von dem blendenden, ungestümen Idealismus einer neuen Zeit, die in politischer und geistiger Hinsicht auf die Schaffung einer nationalen Kultur ausging. Bislang hatte Norwegen geistig im Schlepptau Dänemarks gestanden, dessen Untertan es seit Ende des 14. Säculums mehr als vierhundert Jahre gewesen war. Und im weiteren Sinne war es auf die geistige Kultur des Auslandes, vornehmlich Deutschlands und Frankreichs angewiesen. Es existierte weder eine eigene Schriftsprache noch eine selbständige Literatur. Es sei vorausgenommen, daß die spätere Blüte der Künste in den skandinavischen Ländern, seine geistige und sittliche Vormacht gegenüber dem übrigen Europa, die noch heute anhält, dem langen Brachliegen des heimatlichen Bodens zu danken ist. Dort war noch nicht jene geistige Erschöpfung zu verspüren, der der Materialismus seinen unaufhaltsamen Siegeszug durch das übrige Europa verdankt. Das Seelische stand dort noch im Vordergrund, metaphysische Bedürfnisse fanden in der eingeborenen mystischen Veranlagung des Volkes ihre stete Nahrung. Der europäische Feminismus, der sich aus der romantischen Epoche herleitet, hatte hier die Lebenswerte noch nicht auf das Niveau des Praktischen und Vernünftigen herabgezogen. Hier konnte sich also die Hoffnung einer sozialen, in der Geistessphäre des Volkes wurzelnden Kunst erheben, die Björnson als sein genialer Repräsentant späterhin verwirklicht hat.

Wenn diese Kunst das nationale Element so stark betonte, so folgte sie damit nur der allgemeinen europäischen Geistesströmung. Der Humanismus des 18. Jahrhunderts ist ganz und gar weltbürgerlich gesinnt. Hingegen unsere Zeit das Ideal eines volklichen Individualismus, eine Art geistigen und künstlerischen Chauvinismus entwickelt.

Bis zu seinem freiwilligen Exil im Jahre 1864 steht Ibsen ganz im Banne der hier skizzierten nationalen Strömung. Seine lyrischen Gedichte – Reflexionspoesie und Balladen ohne sonderliche Originalität – weisen in Stoff und Darstellung eine stark lokale Färbung auf, die wir hier nicht auf ihre Vorbilder untersuchen können. Seine besten lyrischen Gedichte finden sich in seinen Dramen – ähnlich wie bei Schiller – und späterhin hat er sein lyrisches Gefühl ganz in den Stimmungsgehalt seiner Dramatik übertragen, Gedichte des Schweigens statt des beredten Ausdrucks geschaffen. Seine Dramatik, die erst in der »Nordischen Heerfahrt« (1857) zu persönlichem Gehalt und Stil gelangt, ist bis dahin durchaus abhängig von der Poesie eines Henrik Hertz und Oehlenschläger, deren kränklicher Idealismus einst auch in Deutschland viel goutiert wurde. Henrik Hertz ist bekannt durch sein lyrisches Drama »König Renés Tochter« (1845). Die Heldin der sentimentalisch-pathetischen Handlung ist blind und wird durch die Liebe im Verein mit ärztlicher Kunst geheilt. Adam Oehlenschläger wird im ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts bei uns viel gelesen und oft aufgeführt. Wohl am bekanntesten sind sein »Aladdin« und »Corregio«. Literarhistorisch interessiert er wegen seiner Beziehungen zu Hebbel, der seine geringe dichterische Potenz genau erkannte. Sie ist opernhaft, lyrisch, theatralisch, niemals dramatisch in dem Sinne, daß Charakter und Handlung sich als lebendige und selbständige Gebilde verschmelzen.

Aus der Inhaltlosigkeit seiner Produktion in den fünfziger Jahren dürfen wir schließen, daß Ibsen alle seine Kräfte darauf verwandte, die Ideen der Zeit, ihre literarische Produktion, ihren künstlerischen Geschmack in sich aufzunehmen. In der gemeinhin wichtigsten Epoche der männlichen Entwicklung bietet sein Leben ein nur äußerliches bewegtes, farbenreiches Bild. Die geistige Ernte sollte er erst viel später halten, da er den Weg wieder zu sich selbst zurückgefunden hatte. Er gründet mit Botten-Hansen und Vinje den »Mann« (später »Andhrimmer«) eine politische Wochenschrift mit individualistisch radikaler Tendenz, die dreiviertel Jahr besteht. Er zeigt sich als lyrischer Dichter, politischer Satiriker, Tagesschriftsteller, Kritiker und weiß sich durch die Energie und Schroffheit seiner Angriffe einen gewissen Namen in der literarischen Welt zu machen. So beruft man ihn 1851 nach Bergen zur künstlerischen Leitung einer von dem Geiger Ole Bull gegründeten national-norwegischen Bühne, die das Uebergewicht des dänischen Theaters zerstören sollte.

In Bergen bleibt er fünf Jahre (Ende 1851-1857). Seine geistige Tätigkeit, die sich vorher stark zersplitterte, ist nunmehr ausschließlich und ganz bewußt auf die Eroberung der Bühne gerichtet, die ihn nur unter großen Kämpfen und unter entschiedener Zurücksetzung des künstlerischen Elements mit dem » Fest auf Solhaug« (1856 aufgeführt) gelingt. Auf einer Studienreise durch Dänemark und Deutschland (1852) sammelt er theatralische Eindrücke, macht sich mit der dramatischen Produktion Deutschlands vertraut, Ibsen dürfte damals auch Hebbels Werke kennen gelernt haben, zumal Hettners bedeutendes Buch »Das moderne Drama« besonders auf diesen Dichter hinweist. die damals theatralisch in Gutzkow, künstlerisch in Hebbel und Grillparzer gipfelte. Das Repertoir der Bergener Bühne wird durch Holberg, Oehlenschläger, Shakespeare, Victor Hugo und Scribe bestimmt. Wenn man Scribe als den technischen Lehrmeister Ibsens hingestellt hat, ohne zu begreifen, daß eine ganz im Seelischen wurzelnde Handlung andere künstlerische Formen erfordert als das rein bühnliche Intriguenstück, so kann man für diese frühere Epoche seiner Produktion mit viel größerem Recht auf das Vorbild Victor Hugos hinweisen, dessen hitzige Unnatur und wilde Theatralik sich etwa in » Frau Inger auf Oestrot« sehr deutlich wiederspiegelt.

In diesem Bergener Lustrum entsteht » das Hünengrab«, über das kein Wort zu verlieren ist, die » Johannisnacht« (1853, verloren) » Frau Inger auf Oestrot« (1854) » das Fest auf Solhaug« (1855) und » Olaf Liljekrans« (1856). In seiner Totalität besitzt keines dieser Werke irgend welche Bedeutung, und der norwegische Kritiker, der nach der Aufführung der »Komödie der Liebe«, die im wesentlichen noch die gleiche Geisteswelt offenbart, die Worte hinschrieb: »Ibsen besitzt nicht, was man Genialität nennt; er ist ein Talent, und dieses neigt sehr nach der technischen und kunstmäßigen Richtung« – ist durchaus nicht im Unrecht.

» Frau Inger auf Oestrot« ist ein historisches Intriguenstück, im Norwegen des sechzehnten Jahrhunderts spielend, zu einer Zeit also, da das Land eben an Dänemark gefallen war und im Streben nach politischer Selbständigkeit in schwere Wirren geriet. Die Fabel, die die tatsächliche Historie übrigens ganz außer Acht läßt, ist wirr und unverständlich. Unser Dichter ist bestrebt, den Zuschauer über die materielle Grundlage der Handlung so lange als möglich im Unklaren zu lassen, und das gelingt ihm – bis über den Schluß hinaus.

Das Drama strotzt von Unwahrscheinlichkeiten, Unmöglichkeiten, äußerlichen Mißverständnissen, Ueberraschungen, Zufällen, so daß ein wahrhaft tragisches Gefühl nicht aufkommen kann. Was hilft es, daß ihn ein bedeutendes Problem bewegte, der Gedanke, daß eine große Aufgabe, die die Lebensinstinkte des Menschen verletzt, zu seinem tragischen Untergange führen muß? (Akt IV: »Wehe dem, der eine große Tat zu vollbringen hat!«) Frau Inger, ein in der Anlage großartiges Weib, vernichtet das Glück ihrer Töchter, wird schuldig an dem Untergang ihres unehelichen Sohnes und zum Verräter an ihrem Vaterland, weil Weib und Mutter in ihr unfähig sind, einer Idee das Leben mit seinen köstlichen Werten zu opfern. Wie viel großartiger hatte Hebbel ein ähnliches Thema in der »Judith« dargestellt, wo die Heldin den sittlichen Kern ihres Daseins der großen Tat, der Ermordung des Holofernes opfert! Bei Ibsen hingegen zerfließt alles im Nebel einer dunklen und willkürlichen Handlung, die mit allerhand romanhaften und romantischen Zügen ausgestattet ist.

» Das Fest auf Solhaug« (1855) spielt in der Sagenzeit Norwegens, die durch die romantisch-patriotische Tagesströmung wieder in den Vordergrund des Interesses trat. Das melodramatische Opus, das die unglückliche Liebe eines Weibes zu einem fahrenden Sänger und blondgelockten Jüngling behandelt, ist Mädchenpoesie gebrochener Herzen und nassen Jammers, untermischt mit grob theatralischen Gift- und Mordszenen. Man atmet auf, da Gudmund Alfson seine Base Signe freit und die Herrin auf Solhaug den Eintritt ins Kloster beschließt, hier eine Stilprobe für den lyrisch-monologischen Charakter des Stücks:

Signe:
Und wär mir selber ein König hold
Und böte mir Seide und rotes Gold,
Wie ließ ich ihm gerne das Seine.
Ich hab' mich doch selber, was frag' ich danach,
Und den Sommer, die Sonne, den rauschenden Bach
Und Dich und die Vögel im Haine etc. (1. Akt)

Es ist sehr wohlfeil, in diesem Epigonentum den Keim der späteren Dramen Ibsens zu entdecken, die auf eine individuelle Sittlichkeit ausgehen und zeigen wie die Sünde gegen den reinen Liebesinstinkt mit dem Verluste der Seeligkeit gebüßt wird. Hat uns nicht gerade Ibsen von der komischen Ohnmacht dieser papiernen Poesie, die schlechthin karrikaturistisch wirkt, befreit? Sie anerkennen, heißt sein Lebenswerk vernichten.

» Olaf Liljekrans« (1856) steht auf der gleichen Stufe. Es ist die oberflächlich dramatisierte altdänische Ballade vom Ritter Olaf, der auf seiner Brautfahrt den verführerischen Elfen zum Opfer fällt. (Herders »Stimmen der Völker«: »Erlkönigs Tochter«) Olaf hat Haus und Braut verlassen, betört von der Bergelfe, die sich schließlich als Spielmannstochter offenbart und mit glückhafter Umbiegung des notwendig tragischen Schlusses sein Weib wird. Hinwieder die Braut dem richtigen Gatten, den sie aus Stolz und Eitelkeit verschmäht hat, zugeführt wird. Wieder zeigt sich der Hang zur Intrigue, zu groben Mißverständnissen und nackten Zufällen, zum Trivialen und Sentimentalen im Geschmack der breiten Bettelsuppen. Darüber hinaus ist das Melodrama langweilig, langweilig, langweilig. Man verspürt so recht, daß wir es hier mit einer absterbenden Kunstart zu tun haben, die nirgends ein unmittelbares Erleben, ein wahres Ergriffensein aufkommen läßt.

Das Stück, mit dem wir von der belanglosen Poeterei des Dichters Abschied nehmen, verdankt seine Entstehung der Beschäftigung mit den altgermanischen Heldenliedern und der Volkspoesie überhaupt. Ueber die Kämpevise und ihre Bedeutung für die Kunstpoesie. Werke I, 297 ff. Ibsen studiert damals Landstadts Sammlung »Norwegische Volkslieder«. Nur wagte er noch nicht den entscheidenden Schritt, dieser Dichtung die Form und den Gehalt zu geben, die ihrem innersten Wesen entsprachen. »Die Stimmungen, in denen ich mich damals befand, vertragen sich besser mit der literarischen Romantik des Mittelalters als mit den Tatsachen der Sagen, besser mit der Versform als mit dem Prosastil, besser mit dem sprachmusikalischen Element des Heldenbildes als mit dem charakterisierenden der Sage.«

Tatsächlich geht ihm der wahre Charakter der Sage erst zwei Jahre später auf. Hatte er bisher unausgesetzt in Abhängigkeit von Oehlenschläger geschaffen, der die herbe Tragik altmodischer Stoffe in süßliche Romantik umschrieb (»Axel und Valborg«), so entdeckt er jetzt, in dem bedeutsamen Aufsatz »Ueber die Kämpevise« das Gesetz ihres Charakters und Stils: »Die Saga«, so heißt es jetzt, »ist ein großes, kaltes, abgeschlossenes und verschlossenes Epos, in ihrem innersten Wesen objektiv und aller Lyrik fremd. Und in diesem kalten epischen Licht steht die Sagazeit vor uns, in dieser strahlenden plastischen Schönheit ziehen ihre Gestalten an uns vorüber. So und nicht anders muß die Sagazeit von uns aufgefaßt werden.« Diese neue Auffassung spiegelt sich in der »Nordischen Heerfahrt« wieder.

Ibsen gelangt dichterisch mit der » Nordischen Heerfahrt« zu einem gewissen Abschluß, hier und in den » Kronprätendenten« bildete er einen Stil aus, den er später, im Sinne unseres Gefühlslebens differenziert, auf moderne Menschen und Zustände überträgt. Nunmehr aber, da er zum Bewußtsein eines poetischen Könnens gekommen ist, macht seine Persönlichkeit eine Reihe neuer Forderungen geltend. Wir sahen bisher einen Dichter, der im großen und ganzen mit der Welt eins ist, so gern er ihr seine Ueberlegenheit zu erkennen gibt. Der Mann Henrik Ibsen findet den Weg zu seinem Selbst, zu seiner Einsamkeit, und alle die Lebenswerte, die er bisher der Welt verdankt, sucht er durch tiefere Erkenntnis des eigentlichen Lebensprozesses, durch eine immer stärkere Einkehr in sich selbst, zu ersetzen. Die künstlerischen Daten dieser Entwicklung sind vornehmlich » Brand« » Peer Gynt«, » Kaiser und Galiläer«, » Die Komödie der Liebe«. Von den persönlichen Lebensereignissen ist noch kurz zu sprechen.

Die » Nordische Heerfahrt« begleitet seine Uebersiedlung nach Christiania, wo er von 1857-1862 das national-norwegische Theater in Christiania leitete, der Nachfolger Björnsons, der ihn wiederum in Bergen ablöste. In diese selbe Zeit (1858) fällt seine Verheiratung mit Susanne Thoresen, der Tochter eines Bergener Pfarrers und der beliebten Erzählerin Magdalene Thoresen. Auf die »Nordische Heerfahrt« folgt »Die Komödie der Liebe« (1862), die dem Dichter den Groll und Haß der sittlich tief empörten Bürgerschaft Christianias einträgt. Seine literarische Existenz ist ernstlich in Frage gestellt. Der verfehmte Dichter hat mit schweren materiellen Sorgen zu kämpfen, zumal sein Theater sich genötigt sieht, seine Pforten zu schließen. Eine Staatsunterstützung, die ihm nach schweren Kämpfen zugebilligt wird, ermöglicht ihm die Komposition der »Kronprätendenten«. Ein neuerliches Stipendium, das er 1864 erhält, gibt ihm die Mittel in die Hand, seinem Vaterlande für lange, lange Zeit Valet zu sagen. Fast dreißig Jahre verlebt er im Auslande. Und zwar bis 1868 in Rom. Hernach bis 1875 in Dresden. Dann mit geringen Unterbrechungen in München. Erst 1891 kehrt er für immer in seine Heimat zurück.

Durch » Brand« (1866) und » Peer Gynt« (1867), noch heute die beiden populärsten Dichtungen des norwegischen Schrifttums, wird Ibsen mit einem Schlage berühmt und zugleich aller materiellen Sorgen durch eine Staatspension enthoben. Fortan ist von seinem Leben nur Anekdotisches zu berichten. Aeußerlich nimmt es einen geruhigen, alltäglichen Verlauf. Von seinen inneren Kämpfen, von seiner rastlosen, seelischen und geistigen Entwicklung ist seine Dichtung das lebendigste Zeugnis.

Es erscheint müßig zu untersuchen, ob Ibsen auch in seiner Heimat der große europäische Dichter geworden wäre. Sind wir heute wieder geneigt dem Milieu einen geringeren Einfluß zuzusprechen, so war andererseits das geistige Leben damals nicht so universal und kosmopolitisch geartet wie heute. Und wenn es Ibsen solange in Deutschland hielt, so muß er den Boden unseres Landes als für seine Entwicklung günstig empfunden haben. In jedem Falle entsprang aus dieser dauernden örtlichen Entfernung seine Fähigkeit, die Verhältnisse und Menschen seines Vaterlandes so zu objektivieren, daß sie, den Erdgeruch wahrend, sich in ihren sittlichen und geistigen Anschauungen wie in ihrem Gefühlsleben aufs stärkste mit uns berühren.

*

Den Lebensgang des Dichters vorausnehmend hatten wir ihn bei der » Nordischen Heerfahrt« als dem Marksteine seiner Jugendpoesie verlassen. Er war zu einer objektiven Auffassung der Sagen gelangt, zu einer überzeugenden Darstellung ihres Stiles und Charakters.

Wie das Beispiel Hebbels und Richard Wagner's beweist, offenbart die moderne Dichtung einen ganz bestimmten Hang vom historischen zum mythologischen Drama überzugehen. Einfach, weil das historische Gemälde doch immer nur vorübergehende Wandlungen des Menschengeistes versinnbildlicht und somit dem Drange des Dichters, den Kern der Strebungen und Gefühle zu erfassen, keineswegs genügt. Im historischen Drama ist das Streben des Helden auf bestimmte Ziele gerichtet, und es ist nicht eben leicht, ja für unsere Anschauungsweise vielleicht ganz unmöglich, den symbolischen Gehalt der Ereignisse, die objektive Genialität des machtbedürftigen Individuums zu erfassen und darzustellen. Um deutlicher zu werden, sage ich, daß Napoleon als Held einer Tragödie doch immer der Sieger von Jena und Austerlitz, der Besiegte von Leipzig und Waterloo geblieben ist und somit der höheren typischen Bedeutung mangelt. Hebbel, der den Napoleon-Stoff als zu prosaisch ablehnt, hat nie, auch nicht in der »Agnes Bernauer« ein historisches Drama geschrieben. Seine Werke sind wie Grillparzers »Libussa«, wie Ludwigs »Maccabäer« historisch-mythologisch. In den mythologischen Denkmälern nämlich, der Odyssee, dem Fabelgebiet des antiken Dramas, den Nibelungen hat das Historische einen dichterischen Progreß erfahren, der seinen Inhalt beschränkt und seinen Sinn erweitert. Es ist ersichtlich, daß dem individuellen Schaffen des Dichters hier viel glücklicher vorgearbeitet ist, als in der eigentlichen Geschichte. Hier kann er wirklich die große Linie der Menschheitsentwicklung rückläufig verfolgen. Während in der Geschichte die sozialen Bindungen, die das Individuum erfährt, nur ausgetauscht und abgelöst werden, tritt hier das einfach Menschliche der Leidenschaften und Empfindungen ganz in den Vordergrund …,

Hebbel hält sich in seinem Nibelungenzyklus (1855 bis 1862) an die eigentliche Nibelungensage, Ibsen an die Völsungasage. Ueber die Völsungasage: Edzardi, Alldeutsche und altnordische Heldensagen III 1880. – Volger, Ibsens Drama »Nordische Heerfahrt« und die altnordischen Sagen. Altenburg 1904. Bei Hebbel beansprucht, von den Verschiedenheiten des Vorbildes ganz abgesehen, der Schicksalsfluch, der sich an den Besitz des unseligen Hortes knüpft, den Vorrang, bei Ibsen das ethische Motiv, daß jeder Charakter sich mit seiner Lebensführung sein Urteil selbst spricht.

Sigurd der Starke hat auf einer Fahrt nach Island, die er gemeinsam mit seinem Waffenbruder Gunnar (Gunther) unternimmt, in Hjördis (Brunhild), der Pflegetochter Oernulfs von den Fjorden, das wahlverwandte Weib gefunden, an dessen Seite er den hohen Traum seiner Jugend, dereinst als König über Norwegen zu herrschen, bewahren und erfüllen könnte. Aus Freundschaft für Gunnar und aus Furcht verschmäht zu werden, leistet er auf das geliebte Weib, die schweigend gleiche Gefühle im Herzen hegt, Verzicht, vollbringt für den Waffenbruder die gebotene Mannestat, die Erlegung des Bären, und erwählt statt ihrer Oernulfs rechte Tochter, die holde liebreizende Dagny. Soweit die Vorgeschichte des Dramas. Was nun folgt: der Rachezug des Vaters, der für die entführten Töchter Sühne fordert, die scheinbare Versöhnung mit den Kindern, der tragische Verlust seines letzten Sohnes, der dem haßgeborenen Ränkespiel der Hjördis zum Opfer fällt, das alles hat nur die Bedeutung einer gewaltigen Tathandlung, die der seelischen Entwicklung parallel läuft. Hier nämlich entdeckt Ibsen zuerst das große künstlerische Geheimnis, äußeres und inneres Geschehen, den Körper und die Seele des Dramas, gleichmäßig auszubauen. Die äußere Handlung nun ist nicht immer glücklich durchgeführt. In dem Tode Thorolfs, der als Sühne für die vermeintliche Ermordung des Sprossen Gunnars fällt, lebt ein Rest früherer Mißverständnisse und Zufälle fort. In den bedeutenden Szenen aber, die sich um Hjördis und Sigurd gruppieren, offenbart sich bereits die charakteristische Kunst Ibsens, seine Menschen selbst die Gesetze ihres Handelns, nach denen sie bisher unbewußt verfuhren, entdecken zu lassen. Hjördis, das walkürenhafte Mannweib, das durch Sigurd die höchste Wonne der Liebe erfahren hat und sich nun an Gunnars Seite in tatenloser Unlust verzehrt, ist keine haßerfüllte Megäre. In ihr brennt das Feuer ungestillter Sehnsucht nach dem Helden, der sie erlöst; unbewußt ist sie erfüllt von dem dunklen Gefühl eines grenzenlosen Betruges, der sie um den einzigen Gewinn ihres Lebens gebracht hat. Sigurds Freundschaftsdienst gegen Gunnar hat das Liebesleben in ihr gemordet: »Ich ward heimatlos in der Welt von dem Tage an, da Du eine andere zum Weibe nahmst. Ein Unrecht hast Du damals begangen. Alle guten Gaben kann der Mann seinem treuerprobten Freunde geben – alles, nur nicht das Weib, das er liebt! Denn tut er das, so zerreißt er das heimliche Gespinnst der Norne, und zwei Leben sind verspielt. Eine untrügliche Stimme in mir sagt, daß ich geschaffen ward, damit mein starker Sinn Dich erhebe und trage in schweren Zeiten, und daß Du geboren wardst, damit ich in einem Manne alles fände, was ich für groß und herrlich halte. Denn das weiß ich, Sigurd, hätten wir zwei zusammengehalten – Du wärest der Berühmteste und ich wäre der Glücklichste unter den Menschen geworden.« Wohl ergreift Sigurd, nun er seinen Irrtum erkannt, der Trieb, das Verlorene aufs neue zu gewinnen. Aber er weiß den Lockungen des geliebten Weibes zu widerstehen. Er fühlt, ein solcher Verrat an seinem Weibe und seinem Freunde würde den Inhalt seines Lebens auslöschen und ihm auf ewig das Mal der Schande aufprägen. Um sich vor der eigenen Leidenschaft wie vor Hjördis zu retten, fordert er ihren Gemahl zum Zweikampf, wissend, daß sie dem Mörder des Gatten nicht angehören darf. Vor der Entscheidung aber fällt Sigurd durch den Pfeilschuß der Hjördis. Die Liebe bringt ihm, wie so manchem der späteren Helden Ibsens leiblichen Tod und die Auferstehung des Geistes  …,

Niemals wieder hat Ibsen seine ethische Anschauung über die Gemeinschaft zwischen Mann und Weib mit gleicher Deutlichkeit ausgesprochen. Die Liebe ist ihm das höchste Sittengesetz, die denkbar stärkste Verbindung zweier Menschen, nicht nur, weil sie den Lebenstrieb stärker behauptet denn jede andere Verbindung, sondern weil sie dem Menschen zugleich die größten Opfer auferlegt, ihn zur Selbstlosigkeit des Strebens erzieht und damit seine Persönlichkeit von allen egoistischen Schlacken befreit. In der Liebe verbindet sich eine Zweiheit, die sich gegenseitig ergänzt, zu einem Streben. Ibsen hat niemals gezögert, das Streben des Mannes als das bevorrechtigte anzuerkennen, ihn als denjenigen hinzustellen, der das höhere Prinzip im Leben vertritt. Er ist in dieser Hinsicht mißverstanden worden, weil er in einer bestimmten Epoche seines Schaffens den wahren sittlichen Adel auf Kosten des Mannes seinen Frauen aufgeprägt hatte und so den Eindruck ihrer absoluten Ueberlegenheit erzeugte. Schon in »Frau Inger auf Oestrot« heißt es: »Eine Frau ist das Mächtigste auf Erden, und in ihrer Hand liegt es, den Mann dahin zu leiten, wo Gott ihn haben will.« Nur vergesse man nicht, daß es sich hier durchweg um Gebilde handelt, die das Menschenideal des Mannes versinnbildlichen. Eine Schwanhild (»Komödie der Liebe«), eine Hjördis, Ella Rentheim, Irene sind ideale Typen, die die Sehnsucht des Mannes nach einem wahlverwandten, seiner Liebe werten Weibe hervorgerufen hat. Wo immer das Streben des Weibes nicht in der Liebe aufgeht, die ihm das männliche Verstehen des Lebens offenbart, wo es vielmehr in mißverstandenem Freiheitsdrangs selbständig wird im Sinne der modernen Emanzipation, da muß das Weib diese Verachtung der Liebe und des Gattungstriebes mit dem Verluste seiner inneren Existenz, mit dem Absterben seiner seelischen Kräfte bezahlen. Hedda Gabler, in der das Persönlichkeitsbedürfnis den Liebestrieb gewaltsam zerstört, ist das klassische Beispiel dieser Lebensanschauung. Persönlichkeit kann eben nur das Ideal des Mannes sein, dem die Natur eine dem Weibe fremde Fähigkeit mitgab, seine Eigenschaften in seinem Schaffen zu objektivieren und in ähnlicher Weise dem Leben als einem zeitweilig fremden Organismus gegenüberzustehen, hingegen das Weib alle seine Forderungen und wünsche nur dadurch erfüllen kann, daß es mit dem Dasein, dem es zu innerst angehört, unlöslich verschmilzt …,

Die Hjördis der »Nordischen Heerfahrt« ist oft in ihrer Wesensart mit Hedda Gabler verglichen worden. Das ist nur für ihre äußere Erscheinung richtig. In Wahrheit steht sie hoch über diesem »dämonischen Weibe« mit dem »Persönlichkeitstrick«, weil sie sich bis zum letzten Augenblick ihre Liebesfähigkeit bewahrt, weil sie die Kraft hat, den Mann zu töten, dem sie im Leben nicht angehören kann. Hedda Gabler ist das Opfer ihrer Selbstsucht, Hjördis bietet das Schauspiel einer großartigen Läuterung, indem sie ihr eingebornes Schicksal überwindet und verachtet.

Die späteren Dramen Ibsens wirken fortgesetzt suggestiv, indem sie seelische Spannungen erzeugen und auslösen. Diese Dichtung wirkt mehr durch die großartige Herbheit des Vorwurfs und der Charaktere, die, noch wenig differenziert, sich in einem gemeinsamen Gefühlskreis zusammenschließen. Die moderne Seele ist in der Darstellung unseres Dichters so verfeinert, so vielspaltig, daß immer nur bestimmte Teile ihres Organismus hervortreten. Hier erscheint sie noch in ihrer Totalität. Jeder dieser Menschen, ein Gunnar, ein Sigurd, Oernulf, eine Hjördis oder Dagny hat einen unverfälschten, gradlinigen Charakter. Sie sind schlechthin naiv.

Dieselbe Art der Charakterzeichnung; die gleiche Großheit der Anschauung in den » Kronprätendenten«, die 1863 in sechs Wochen niedergeschrieben eine fünfjährige geistige Arbeit abschließen. Ursprünglich heißt das Drama unpoetisch, aber bezeichnend: Das Königsmaterial. Ganz im Freskostil gehalten, ist es vielleicht des Dichters großartigste Schöpfung.

Nie ist Ibsen positiver gewesen. Nie hat er dem Skrupel- und Zweifelgeiste gegenüber die Kraft des unerschütterlichen Glaubens an sich selbst, an seiner Lebensaufgabe gleich energisch behauptet. Einzig Hakon hat das robuste Gewissen, die geniale Sicherheit des Handelns, die seinen späteren Helden abgeht. In diesem Sohne des Glücks will das Schuldgefühl, das den Grübler zu Boden drückt, nicht aufkommen. Und unser Drama strahlt eine Lichtfreudigkeit aus, ein Gefühl der Kraft und Schönheit und Erhebung, das uns späterhin nur als ein romantisches Reich fernster Seligkeit gezeigt wird. Die einsamen Helden seiner letzten Epoche sind von Todessehnsucht erfüllt, ein Solneß, Borkmann, Rubek. Hakon Hakonsson aber ist ein Priester des Lebens.

Die Fabel des Dramas, das in der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts spielt, schöpft Ibsen ziemlich getreu aus der zeitgenössischen Chronik des Sturla-Thordson.

In dem uneinigen, von Parteien zerrissenen Norwegen sind Hakon Hakonsson und Skule Bardson die beiden Hauptbewerber um den Königstron. Hakon ist schon als Kind von den »Birkebeinern« zum König gewählt worden; Jarl Skule, Hakons Oheim, von den »Wolfsbälgen« unterstützt, hat faktisch lange Jahre für ihn die Herrschaft im Lande geführt, aber sein unersättlicher Ehrgeiz schmachtet nach dem Titel des Königs. Der alternde Mann hat manche Königswahl erlebt, immer stand er dem Trone um Haaresbreite nahe, immer mußte er vor einem glücklicheren Rivalen zurückstehen. Jetzt scheint für seinen verzehrenden Ehrgeiz die Stunde der Erfüllung gekommen, und Hakon, dessen Mutter den Zweifel seiner echten Geburt durch die Eisenprobe erstrickt, der Jüngling Hakon, der sein Königsrecht auf der Stirne trägt, wird Herrscher des Landes. Er erweist sich würdig der Wahl, indem er die Mutter aus seiner Nähe entfernt, auf das Weib seiner Liebe verzichtet, denen entsagend, die ihm allzu teuer sind. Er überläßt Jarl Skule das Königssiegel und nimmt seine Tochter zum Weibe. Alles das in Hinblick auf den großen Gedanken, der seine Seele erfüllt und ihm in der Stunde der Not die traumhafte Sicherheit des Handelns, die unerschütterliche Hoffnung auf den endlichen Sieg verleiht: Norwegen war ein Reich, es soll ein einiges Volk werden. Die Stämme stehen bewaffnet in Bruderhaß gegeneinander. »Sie sollen hinfort Eins sein und alle sollen's wissen bei sich selber und fühlen, daß sie Eins sind. Das ist die Aufgabe, die Gott auf meine Schultern gelegt hat; das ist das Werk, das Norwegens König jetzt vollbringen muß«. Das ist Hakons Königsgedanke. Er erscheint Jarl Skule märchenhaft, unglaublich, aber schon frißt der Neid an seiner Seele, daß er diesen Gedanken, dem Volke durch das Gefühl der Einheit seine letzte Weihe zu geben, nicht selber denken konnte. In Bischof Nikolas, der es nicht vertragen kann, daß sein ganz der Zerstörung geweihtes Lebenswerk durch das übermächtige Genie eines Einzigen vernichtet, daß der tötende Zweifel in lebenspendenden Glaubensmut verwandelt werden soll, tritt der Versucher an ihn heran. Führt ihn, wie Satan mit Christus getan hat, auf einen hohen Berg und zeigt ihm alle Herrlichkeit der Welt. Der Baglerbischof macht den Zweifel an Hakons königlicher Geburt im Herzen Skules rege, indem er ihm von einer Kindesunterschiebung erzählt, und er weiß die Ungewißheit über seinen eigenen Tod hinaus dadurch zu erhalten, daß er das Zeugnis des Mannes, der allein um die Wahrheit weiß, vernichtet. Skules gereizte Seele gerät von neuem in Aufruhr. Ein Zwist mit dem König, der ihm arglos die Hälfte des Reichs überlassen hat, gibt ihm den Anlaß zur Empörung. Scheinbar begünstigt ihn das Glück der Waffen. In einer entscheidenden Schlacht besiegt er das Heer Hakons. Er ist König. Aber gerade jetzt, da er am Ziele seiner höchsten Wünsche ist, gewinnt das alte Mißtrauen von neuem über ihn Gewalt. In ihm regt sich das Gewissen. Ist er im stande, Hakons großen Königsgedanken, der ihn nicht mehr losläßt, ihm als das einzige Ziel seines Wirkens erscheint, sich zu eigen und zur Wahrheit zu machen? Ihn verlangt nach einem Menschen, der, fest an ihn glaubend, den nagenden Zweifel an seinen wahrhaften Königsberuf für immer zum Schweigen bringt. Das Schicksal schenkt ihm diesen Menschen, bescheert ihm den lange entbehrten Sohn, die Frucht seiner ersten Liebe zu Ingebjörg, aber er weiß auch mit diesem Geschenk des Himmels nichts anzufangen. Er vergiftet die jugendreine Seele des Sohnes mit einer großen Lüge, indem er ihm Hakons Königsgedanken als seinen eigenen in die Seele impft und so die unselige Tat der Kirchenschändung heraufbeschwört. Inzwischen hat sich Hakon von seiner Niederlage erholt. Seine Birkebeiner gewinnen die Oberhand. Jarl Skule soll sterben, da findet er in der letzten Stunde den Weg zu seiner inneren Befreiung. Er bietet sich selbst dem Tode, um dem König, dem Gemahl seines Kindes, die doppeltschwere, doch unabwendliche Tat zu ersparen. Endlich kann Hakon mit freien Händen an sein Königswerk gehen.

In diesem großartigen Charaktergemälde ist das Fremdartige des Vorwurfs ausgezeichnet überwunden, ja es ist der Beweis geführt, daß ein historisches Drama möglich ist ohne das Liebesmotiv als Haupthebel der Handlung. Der Gefühlskreis des Weibes tritt hier ersichtlich in den Hintergrund. Seine Rolle ist auf wenige, ergreifend schöne Szenen beschränkt. Ingjebörg, die dem Jugendgeliebten Jarl Skule, der ihr die Treue brach, nach langen Trennungsjahren seinen Sohn zuführt. Margarete, Hakons Weib, beugt sich stumm dem unabwendlichen Todesurteil, das ihr Gemahl über den Vater ausspricht. Diese letztere kurze Szene ist meisterhaft in der Prägnanz, mit der ein verhaltenes unendliches Liebesgefühl sich schweigend ausspricht:

Hakon. Ja Margarete, als König hab' ich Deinen Vater zum Tode verurteilt.

Margarete. So hat er sich gewiß schwerer vergangen, als da er den Königsnamen sich beilegte.

Hakon. Das tat er – und findest Du nun, daß wir uns trennen müssen, so laß es geschehen.

Margarete,( näher und kraftvoll.) Nie können wir uns trennen! Ich bin Dein Weib, nichts andres auf der Welt als Dein Weib.

Hakon. Bist Du stark genug? Hörtest und verstandest Du alles? Ich habe Deinen Vater gerichtet.

Margarete. Ich hörte und verstand alles. Du hast meinen Vater gerichtet.

Hakon. Und Du verlangst nicht zu wissen, was sein Verbrechen war.

Margarete. Es genügt, wenn Du es kennst.

Hakon. Aber ich hab' ihn zum Tode verurteilt!

Margarete. ( Kniet vor dem König nieder und küßt ihm die Hand). Mein Gemahl und hoher Herr, Du richtest gerecht!

*

Selbstverständlich ist das Zurücktreten des Weibes durch den Stoff geboten. Zu seinen Strebungen, Gefühlen, seinem geistigen Horizont ist das Drama ganz männlich. Das Thema wird durch das Bibelwort charakterisiert: Viele sind berufen, wenige sind auserwählt. Und der extreme Individualismus des Dichters gibt ihm eine noch schärfere Prägung: Nur einer ist auserwählt! König kann nur der sein, dem das Königliche im Blute liegt. Ob er seine edle Abstammung beweisen kann, ob er tatsächlich ein Sprosse des Königshauses ist, das ist vollkommen gleichgültig. Hakon glaubt an sein Königtum und dieser Glaube macht ihn unüberwindlich. Aber er setzt zugleich sein Leben ein, um den Königsgedanken, der in ihm lebt, zu verwirklichen. Hakon offenbart sich als der wahre König, weil er sich frei weiß von allen Herrschgelüsten, von allem rein persönlichen Gebrauch seiner Macht. Die Sache ist ihm nichts, der Gedanke alles. Da Jarl Skule in seinem unersättlichen Ehrgeiz vorschlägt, das Reich mit ihm zu teilen, entgegnete er: »Ihr wähnt, es sei die Stimme des Herrn, die Euch zum Königstrone empordrängt, – Ihr seht nicht, daß es eitel Hoffahrt ist. Was lockt Euch denn! Der güldene Kronreif, der Purpurmantel mit Hermelin verbrämt, das Recht, drei Stufen höher zu sitzen als die andern, – o jämmerlich, jämmerlich! Bestände darin das Königtum, ich würf' es Euch hin, wie man einem Bettler ein Almosen in den Hut wirft …, Nennt mir ein einziges Königswerk, das Ihr vollbracht habt in all den Jahren, da Ihr das Reich für mich verwaltetet! Waren die Bagler oder Ribbunger je mächtiger als damals? Ihr waret der reife Mann, aber das Land wurde von aufrührerischen Horden verheert; – habt Ihr eine einzige niedergeworfen? Ich war jung und unerfahren, als ich das Steuer des Reichs übernahm, – seht her, – alles fiel mir zu Füßen, als ich König ward – es gibt keine Bagler, keine Ribbunger mehr.« Und nun schlägt er den Gegner zu Boden mit der Offenbarung seines Königsgedankens.

»Die Tat eines Menschen ist seine Seele«, sagt Bischof Nikolaus, die Tat als der Inbegriff seiner Lebensaufgabe. »Der Schlüssel zu jedem Menschen ist der leitende Gedanke, der ihn beherrscht.« (Emerson) Ein Gedanke, der nichts anderes ist, als die Objektivierung einer großen Persönlichkeit wie Hakons Königsgedanke, eine solche Idee ist derartig mit der Persönlichkeit, die sie vertritt, verbunden, daß eine unrechtmäßige Aneignung unmöglich wird. Der wahre Individualismus macht keine Proselyten, weil seine Geistesanschauung unmittelbar aus dem Charakter hervorgeht. Er sucht seine Ideen zu leben, nicht sie anderen Menschen mitzuteilen, welche sie notwendig mißverstehen müssen, weil ihre Naturanlage Fremdartiges hineinträgt. Das Problem, ob es möglich ist, eine Lebensaufgabe einem anderen Individuum zu übertragen, hat Ibsen sein Lebelang nicht losgelassen. In »Brand« finden wir es wieder, in »Kaiser und Galiläer«. Es taucht in den »Gespenstern« auf und erhält in »John Gabriel Borkman« seine schärfste Prägung. Der Dichter beantwortet die Frage mit einem immer entschiedeneren Nein.

»Es kann einer fallen für das Lebenswerk eines anderen«, heißt es in der bedeutsamen Unterredung Jarl Skules mit dem Skalden, »aber weiter leben kann er nur für sein eigenes«. Dabei ist Hakon nicht der einzig mögliche Typus des genialen Tatmenschen. Ist er ein Held des Glaubens und der Freude, so gibt es andere, die durch den Zweifel oder das Leid, Kraft und Adel ihrer Persönlichkeit empfangen. Aber, wie es geheimnisvoll heißt, »dann muß der Zweifler stark und gesund sein«. Er darf nicht an »seinem eigenen Zweifel zweifeln.«

Hakon ist ein schöpferischer Geist, ein Glücklicher, der trächtig von dem Geist der Zeit die schwankende Masse nach seinem Willen lenkt, der zugleich der Wille der Zeit ist. Jarl Skule aber ist ein unfruchtbarer Geist, und er kann Großes schaffen nur im Dienste eines Höheren. Gott gab ihm eine unbändige Seele, schwellte sein Herz mit unersättlichem Ehrgeiz, aber sein hochgespannter Wille zerbricht an seiner inneren Ohnmacht. Dem Idealisten Hakon ist der materialistische Geist Jarl Skules entgegengesetzt, der alle Macht und Herrlichkeit nur um der Herrlichkeit und Macht willen erstrebt. Aufs Haupt geschlagen und flüchtig irrend läßt Hakon sein Kind dennoch zum König salben. Mit allen Zeichen der Macht bekleidet, zweifelt Skule an seinem Königtum. Er braucht die Huldigung vor dem Schrein des heiligen Olaf, er begehrt nach einem Sohne, er strebt nach alledem, was dem glücklicheren Nebenbuhler ohne Mühe und Opfer in den Schooß fällt. Mit einem liebenden Weibe beglückt, schändet er seine Liebe durch Treulosigkeit; mit der Krone begabt, vergeht er sich gegen das Gesetz des Herrschers; da ihm ein Sohn wird, sündigt er an seiner Vaterschaft. So fällt dieses »Stiefkind Gottes« in Schuld und Verstrickung, und sein Dasein zerrinnt nutzlos im Sande der Zeit.

Jarl Skule, in seiner Zwiespältigkeit ungleich interessanter als Hakon, ist eine »problematische Natur«, ein Halber, der mit ungleichen Waffen gegen die elementare Kraft einer ganzen Persönlichkeit kämpft. Aber das eigentliche Gegenbild Hakons, der große Geist der Verneinung, der sich aus dem Neidgefühl des eigenen Unvermögens gegen das Reich des Lichts und der Kraft, das Reich Hakons, empört, ist der Bischof Nikolas.

In Hakon, Skule und Bischof Nikolas sind ganz bewußt drei Stufen des Mannes aufgestellt, aus deren Verschiedenheit sich das Charakterdrama entwickelt. Hakon, das ursprüngliche, glaubensstarke Genie; Skule, ein reich begabter Mensch, dessen Streben nicht Schritt hält mit der Kraft der Erfüllung, Nikolas, der gänzliche unfruchtbare, den die brennende Scham über seine grenzenlose Ohnmacht zum Feind und Verderber der Menschheit gemacht hat. Das Schicksal hat ihn mit einer unbändigen Seele begabt, mit einem gewaltigen Willen zur Macht, aber es versagte ihm die Kraft der Erfüllung. Von Tatendrang beseelt, stellt er sich in das Gewühl der Schlachten und entdeckt seine Feigheit. Von Liebesgier erfaßt, will er Frauen brünstig umschließen, und entdeckt seine Unmännlichkeit. So wird er denn Priester, »König oder Priester muß der Mann sein, der über alle Macht gebieten will.« Im Anfang streiten gute und böse Mächte in seiner Seele, bis daß er jenseits von Gut und Böse steht und einzig das Recht des Charakters anerkennt. Hat ihn der Himmel zum Halbmanne geschändet, so will er sich auflehnen gegen das an ihm begangene Unrecht. Er ist gewillt, ein Bösewicht zu sein. »Ich habe nichts verbrochen«, ruft er aus; »an mir wurde das Unrecht verübt, ich bin der Kläger.« Fortan geht sein einziges Streben darauf aus, jede Tat in ihrem Keime zu ersticken, alles Große in seinem Werdegange zu hemmen. Ein geniales Werkzeug der Zerstörung, hat dieser feine Diplomat überall seine Hände im Spiel, wo versöhnende Gemeinsamkeit der politischen Zerrissenheit, dem zwecklos-feindlichen Kräftespiel Einhalt gebietet und reiferen menschlichen Zuständen die Wege ebnet. Dieser Satan hat das Gewissen soweit in sich zum Schweigen gebracht, daß er sich geradezu als Herrscher fühlt im Reiche der Verneinung und jedes Zerstörungswerk, das ihm gelingt, mit höhnischem Triumph begleitet.

Genial in seinem Vernichtungstriebe will er, dem Sterben nahe, sein Lebenswerk durch eine Tat krönen, die fortzeugend Böses wirkt. Er will die Seele der beiden mächtigen Widersacher mit Zwiespalt und Unruhe erfüllen, und so das große Einigungswerk König Hakons hintertreiben. Dieser Kirchenfürst, der mit allen sittlichen Werten gebrochen hat und in zügelloser Bosheit ausschließlich seinem Hasse gehorcht, will ein seelisches Perpetuum mobile schaffen, indem er den Stachel eines unlöslichen Zweifels tief in die Brust der beiden Nebenbuhler einsenkt. Jarl Skule soll durch die Beseitigung des Briefdokuments für immer zweifeln an Hakons echter Königsgeburt, und Hakon soll eben damit den festesten Halt seines Willens, den unerschütterlichen Glauben an sich selbst verlieren. Und tatsächlich gelingt ihm sein teuflischer Anschlag bei Skule, den er zum Abfall und zur Empörung reizt. Aber dem Lichtgotte selbst, der sich in Hakon symbolisiert, kann die Finsternis auf die Dauer nichts anhaben. Sein Wille bleibt siegreich, sein Glaube an sich selbst ist unzerstörbar.

Seit Shakespeares Richard III. haben wir keine Gestalt von ähnlicher Großheit im Unsittlichen. Bischof Nikolas ist eine Renaissancefigur, nur denkbar in einer Epoche, die auch den satanischen Zielen zur vollen Entwicklung verhalf, die dem Verbrecher auf dem Throne und dem Kirchenstuhle den Adel einer großartigen Persönlichkeit verlieh. Auch das schlechthin Unsittliche verliert den Makel des Gemeinen, wenn es auf einer individuellen Weltanschauung beruht und die vergiftete Quelle eines königlichen Strebens wird. Alsdann sehen wir in dem großen Verbrecher nur mehr ein Werkzeug jener heilsamen widersätzlichen Kräfte, die im Schooße der Schöpfung ruhend das Gute befördern, indem sie es befehden.

Durch Bischof Nikolas wächst das historische Drama der »Kronprätendenten« ins Symbolische und Weltbedeutende. Nicht zufällig ist deshalb dieser Gestalt der ganze dritte Akt gewidmet, in dem die satanische Kraft des Sterbenden eine letzte und schwerste Sünde verübt und zugleich mit vollendeter Ironie alle Heilsmittel der Kirche zu ihrer Vergebung benutzt. Bischof Nikolas, der als Kreuzesbruder dem flüchtigen König Skule begegnet, ist symbolisch zu verstehen als der große Versucher, der den Menschen in der entscheidenden Stunde seines Lebens von dem dornigen Pfade, den sein Selbst ihm vorschreibt, ablenkt, ihm alle Reiche der Welt und alle Herrlichkeit verheißt, so er das eigentümliche Streben seines Charakters vergißt und vor den fremden Idolen anbetend niederfällt. Um zu seinem Ziele zu gelangen, zerrüttet er den Lebensnerv des Charakters, den Willen, durch das fressende Gift des Zweifels. Die feindlichen Mächte der eigenen Persönlichkeit, die sich gegen das natürliche Gesetz der Lebensbejahung und Daseinsfreude aufbäumen – »Leben,« sagt Spinoza, »heißt Lebensfreudigkeit empfinden« – sind hier in einem einzigen Heros zusammengefaßt, der, ein Abgesandter Lucifers, den Kampf mit dem Schöpfungsgedanken selbst aufnimmt. Wie Hakons Beispiel beweist, kann der tötende Zweifel niemals Wurzel fassen in dem Menschen, der mit einem großen Wollen auch die Kraft des Könnens besitzt. Wohl aber stellt er sich ein, sobald das Individuum im schrankenlosen Egoismus über die natürlichen Grenzen seiner Begabung hinausgeht wie Jarl Skule es tut. Du kannst kraft der Unzerstörbarkeit des Charakters nur König sein, niemals kannst Du König werden.

Und wie der Einzelne sich zerstört aus dem Streben, höher geartete Individuen, deren Zeugungskraft er nicht besitzt, blindlings nachzuahmen, so vernichtet sich ein Volk, wenn es in seiner Eitelkeit und Selbstzufriedenheit die natürliche Ueberlegenheit des Genies mißachtet und somit den Sinn für die Ideale des Lebens, die das Genie allein verkörpert, völlig einbüßt. So sind die mahnenden Geißelworte, die der Dichter dem Baglerbischof in den Mund legt, in Wahrheit an das Vaterland gerichtet:

»Beugt sich in Nordlands Männern der Sinn,
Willenlos taumelnd, er weiß nicht wohin; –
Herrscht in dem Herzen die Selbstsucht, die blinde,
Schwach wie das schwankende Rohr in dem Winde; –
Können sie einzig sich darüber einigen,
Jegliche Größe zu stürzen und steinigen; –
Stoßen die Ehre sie über die Schwelle,
Während das Banner der Schändlichkeit flammt:
Dann ist der Baglerbischof zur Stelle, –
Bischof Nikolas wartet sein Amt!«

Vom Geiste der Gegenwart wurde dieses Drama dadurch befruchtet, daß Ibsen damals, am Vorabend des deutsch-dänischen Krieges, energisch, ja mit glühendem Eifer für den Zusammenschluß der drei blutsverwandten skandinavischen Reiche eintrat. Das war sein Königsgedanke. Aber auch ein persönliches Erleben spiegelt sich in den »Kronprätendenten« wieder. Ibsen befreit sich mit seinem Werk von dem nagenden Zweifel an seinem Dichterberuf. Sein Volk hatte Björnson, dem Dichter der Heimatsnovelle »Synnöve Solbakken« begeistert zugejubelt, er selbst blieb noch unbekannt und unberühmt. Mißgestimmt, zerrissen, empört geht er Ostern 1864 für lange Jahre in ein freiwilliges Exil.

*

Von » Brand« und » Peer Gynt« soll hier noch einmal in anderem Zusammenhange die Rede sein. »Brand« ist ein ungemein subjektives Drama; in dem Helden spiegelt sich der starre unversöhnliche Geist des Dichters, der rücksichtslos gegen Wankelmut und Kleinheit, gegen die Schwächen des Allzumenschlichen zu Felde zieht und den Königsgedanken hegt, im Menschen von neuem das Bewußtsein göttlicher Abstammung aufzurichten. Brand ist wie Ibsen selbst ein trotziger Wanderer, der auf einsamer Bergesfahrt immer höher und höher steigt, von der unstillbaren Sehnsucht seines Ideals geleitet. Auf dem Gipfel aber gewahrt er plötzlich, daß ihn auch der letzte seiner Begleiter verlassen hat, und erst der Tod erlöst den gänzlich Einsamen von dem Rätsel seiner Bestimmung. Sterbend gewahrt er, daß er das Menschliche zu hart und eng gefaßt hat, daß er den Irrtum beging, für die tausendfältigen Grade und Formen des Menschentums das eine und einzige Ideal der Charakterstärke und Persönlichkeit zu prägen. Der Abschluß des Dramas, von dem aus es erst möglich ist, den Werdegang des Ganzen zu erfassen, ist keineswegs so schwierig, wie es die Erklärer Wort haben wollen. Sterbend erlebt Brand das Gesetz der Umwandlung. Ihm erschließt sich das Geheimnis der Liebe, das versöhnende Begreifen menschlicher Schwächen, die er bis dahin unbarmherzig verdammt hatte.

Im Gesetz erfriert die Seele, –
Ohne Licht kein Blühn auf Erden!
Galt's bislang, die Tafeln werden
Gottgegebener Befehle –
Will ich nun, ein Mensch, zu meinen
Brüdern in die Sonne treten.
Sie besiegt mich. Ich kann weinen,
Ich kann knieen, – ich kann beten!

Das Schlußwort: »Gott ist deus caritatis« hat einen leicht verständlichen Doppelsinn. Gott ist barmherzig, wird Brand erlösen um seines heißen Strebens willen, dem kein Opfer zu groß war. Und, so will es ferner besagen, Gott ist barmherzig, deshalb hat Brand ihn mißverstanden, da er die strenge selbstlose Pflichterfüllung als das einzige menschliche Gesetz ansah. Bereits früher bemerkt ja der Doktor zu dem fanatischen Eiferer des rücksichtslosen Strebens nach innerer Vollendung:

»Ja, deines Willens quantum satis
Steht reich gebucht an seiner Statt;
Doch, Pfarr, dein conto caritatis,
Das ist ein weiß, jungfräulich Blatt.« Deines Willens quantum satis = Dein hochgespannter Wille. Dein conto caritatis = Das Conto Barmherzigkeit.

Brand ist mit einem Uebermaß an Charakter begabt. Gleich Björnsons Pfarrer Sang (»Ueber unsere Kraft«) fehlt ihm der Sinn für das Alltägliche und Zuständliche im Menschen. Von der Höhe seines Ideals betrachtet, müssen ihm die religiösen Einrichtungen und sittlichen Gesetze, denen die Menschen gehorchen, als kleinlich und elend erscheinen. Er vergißt, daß es von jeher das natürliche Schicksal großer Ideen ist, durch das Gesetz der Anpassung eine starke Vergröberung, eine breite Annäherung an das gemeine Maß der Dinge zu erfahren. Ein eifervoller Prophet des starren und strengen Gesetzes, das die versöhnende Liebe nicht kennt, will er von einem Kompromiß nichts wissen. Für ihn heißt es ganz im Sinne der damaligen extremen individualistischen Ethik eines Kierkegaard: Entweder – Oder. Alles oder Nichts. Und was ist sein Alles? Der Mensch soll nicht länger im Trott des bisherigen Glaubens leben, der in der Kirche Idealen huldigt, die er im Leben täglich verleugnet. Er will Ideal und Leben vereinen, und das kann nur geschehen, wenn der Mensch seine gemeine Selbstsucht vergißt und den feilen Genuß dem rastlosen Streben nach Erfüllung seiner inneren Bestimmung hintansetzt. Nur ein Pfad führt zu diesem höchsten Ziele, das Göttliche im Menschen rein zu bewahren: Die ständige Läuterung und Veredelung des Willens. Der unbeugsame Wille wird auch das Leiden freudig als eine stärkende Prüfung des Charakters begrüßen. Man erinnere sich des bedeutenden Gesprächs zwischen König Skule und dem Skalden, der bekennt, erst durch das Leid die Gabe der Dichtkunst empfangen zu haben. Es liegt etwas unleugbar Großartiges in dieser Weltanschauung Brands. Ihr liegt das Bedürfnis zu Grunde, das menschliche Tun und Treiben in seiner höheren Bedeutung zu erfassen. Nur vergißt er, daß es nur bevorzugten Geistern möglich ist, das Symbolische des Daseins zum Grundstein ihrer Lebensführung zu machen, sodaß gleichsam jede Tat und jedes Erlebnis neben seiner faktischen Bedeutung eine allgemeine und ideale erhält. In der Einseitigkeit und dem Eigensinn seines Strebens, das ausschließlich von dem Gesetz der Aufgabe und Bestimmung des Daseins beherrscht wird, liegen die Wurzeln seiner Kraft und zugleich seine menschliche Schwäche. Solch ein Prophet kann das Volk wohl einmal zu großem Wollen aufrütteln, aber nicht vermag er, ihm das nur dem echten Charakter eigentümliche Vermögen der Beharrung zu verleihen. Somit kann das Genie keinen größeren Irrtum begehen, als wenn es die Masse, der es zur Erfüllung seiner Lebenstat bedarf, zum Mitwisser seiner Pläne macht. Der wahrhaft geniale Prophet einer neuen Religion, die dem Menschen den Gottesodem der Persönlichkeit und freien Selbstbestimmung einhauchen will, wird der Masse das Wunder zeigen, das seine übernatürliche Kraft vollzogen hat, statt ihr den Glauben an das Wunderbare zu predigen. Das Volk hat nur Sinn für das Endliche des Strebens, für die Gewißheit eines sicheren Lohnes, der seiner harrt, für die nackte Tatsächlichkeit der Erscheinungen. Seine Unfähigkeit, das Ideal in seiner abstrakten Wesenheit zu begreifen, vollbringt ja hier die plötzliche Wendung in dem Schicksal des scheinbar triumphierenden Priesters. Die Menge fühlt sich verraten und verkauft, da Brand dem unendlichen Streben nach Persönlichkeit einen endlosen Kampf ohne jeden tatsächlichen Gewinn in Aussicht stellt:

»Wie lang der Streit währt, fragt Ihr mich.
Nun, bis an Eures Lebens Ende,
Bis jedes Opfer Ihr gebracht,
Von jedem Pakt Euch freigemacht,
Bis Euer Wille Euch die Wende
Jedweder Flucht ward angesichts
Der Forderung: Alles oder nichts!
Was Euch entrissen wird? Nun wohl!
Jedwedes üppige Faulheitsbette,
Jedwede goldne Sklavenkette,
Jedweder Halbheit hohl Idol!
Und der Gewinn? Des Willens Reinheit,
Des Glaubens Kraft, des Geistes Einheit, –
Ein Opfermut, der, furchtgestählt,
Mit Jubel selbst das Schwerste wählt, –
Um jede Stirn die Dornenkrone, –
Seht, das wird Euch zuletzt zum Lohne!«

Der harte und schroffe Geist des Helden hat sich auf die Dichtung übertragen, die mehr im Gedanklichen und Konstruktiven als in plastischer Anschauung wurzelt und in ihrer unversöhnlichen Herbheit oft einen geradezu peinigenden Eindruck macht. Man denke an die Brutalität, mit der Agnes, die einzige Lichtgestalt der Dichtung, gezwungen wird ihr letztes Andenken an das tote Kind einem überstarren Prinzip zu opfern. Um wie viel näher steht uns doch ein Faust, der aus titanischem Wollen allmählich so in's Menschliche hineinwächst, daß er in der praktischen Lebensbetätigung vollen Ersatz findet für das Ungeheure und Unendliche seines früheren Strebens! Und so wäre auch der ethische Wert unserer Dichtung ein höherer, wenn der Dichter des »Brand« es vermocht hätte zu zeigen, daß rein menschliche Zustände wie Ehe und Vaterschaft eigene sittliche Gesetze in sich tragen, die auch der Freieste nicht verachten darf. Ibsen läßt seine späteren Helden, einen Solneß oder Allmers (»Klein Eyolf«) zur Anerkennung dieser selbständigen Rechte unserer Umwelt gelangen, hier hat er mit einer dem skandinavischen Geiste eigenen Unversöhnlichkeit (Strindberg!) einen Charakter direkt auf die Spitze getrieben, so daß er schließlich als konstruiert erscheint.

Brand, der Priester, der sein kirchliches Kleid abgeworfen hat, zieht aus, um den Leichtsinn, den Stumpfsinn, den Wahnsinn, der ihm – sehr schematisch – in dem jungen Liebespaare Einar-Agnes, in dem Bauer und dem Weibe, die nach dem Priester rufen, in der halbtollen Gerd in den Weg tritt, zu bekämpfen, und die Betörten aus geistigem und seelischem Elend zu erlösen. In Agnes wird ihm eine Helferin, aber gerade das Eheglück stellt ihn vor die schwersten Prüfungen. Nachdem er seiner Mutter, die sich lebend von ihrem Besitz nicht trennen will, die himmlische Gnade versagt hat, opfert er dem Idol seiner Lebensaufgabe Weib und Kind, die er nur mit Aufgabe seines gefährlichen Postens dem Dasein erhalten könnte. Sein Opfermut reißt die Menge fort und er scheint seinem Ziele nahe. Der Bau der großen Kirche mag ihm noch gelingen als etwas Faßliches, für das sich die Menge begeistern kann. Die Weltkirche, die freie Geister zum Glauben an ein drittes Reich, das heidnische und christliche Anschauung, Sinnenwelt und Geistestum versöhnt, vereinen soll, zerfällt und begräbt im Zusammenbruch ihren Schöpfer. Der Vogt als der eingeborene Philister, der den Geist der Masse in sich trägt, triumphiert; mit ihm Propst und Küster und Schulmeister, die Repräsentanten der staatlichen Moral und Gesetze, die Vertreter eben jener freisinnigen Humanität und Toleranz, die einem versunkenen Geschlecht dereinst als das große Freiheitsideal erschienen.

Brand steht der Gedankenwelt Nietzsches ziemlich nahe. In Beiden lebt die Idee, daß das jetzige Geschlecht sich freiwillig opfern muß, um so die Brücke zum neuen Menschen, zum Uebermenschen, der wahrhaft das Ebenbild Gottes ist, zu bilden. In Ibsens letzten Dramen wird die Wahlverwandtschaft mit der Geisteswelt Nietzsches noch deutlicher sichtbar. Und doch muß man an der totalen Verschiedenheit des Temperaments und des symbolischen Lebensalters in beiden Naturen festhalten. Nietzsche ein schwärmender Jüngling, dionysischen Geistes voll, von Zukunftshoffnung trächtig, der Dichter unter den Philosophen. Ibsen, der skeptische Mann, der seine Ideale im Leben untergehen läßt, um sie in ein freieres Reich zu retten, ein apollinischer Geist, der Philosoph unter den Dichtern.

*

Ibsens Dramen sind komplementär. Ein und dasselbe Problem erscheint gewöhnlich zweimal in gegensätzlicher und ergänzender Darstellung. Auf » Brand« folgt » Peer Gynt«. Auf die Tragödie des extremen Individualismus das Satyrspiel der vollkommenen Charakterlosigkeit. Dabei ist »Peer Gynt« künstlerisch wertvoller, von der Weitschweifigkeit und der Wiederholungssucht, die es mit »Brand« teilt, einmal abgesehen. Die Figuren sind nicht mehr blos blasse Typen mit halb allegorischer und tendenziöser Tendenz, vielmehr wesenhafter, phantasievoller, nuancenreicher. In »Brand« drängt alles zur trockenen Wahrheit, in »Peer Gynt« zur phantastischen Lüge, kein Wunder, daß hier der schöpferischen Kraft des Dichters ein größerer Spielraum erwächst.

Andererseits entbehrt » Peer Gynt« in seiner sehr freien Komposition durchaus der Einheitlichkeit. Mit dem vierten Akt beginnt eine ganz neue Handlung, die den kosmopolitischen Gynt zum Helden hat, während der erste poetisch weit überlegene Teil mit dem Tode seiner Mutter und der Weltreise Peer's abschließt. Der zweite Teil mit seinen internationalen Typen, schwerfälligen Symbolen und Allegorien ist farblos, maniriert und erklügelt. Das nationale Drama, das viele Elemente der Volkssagen und Märchen aufgesogen hat, ist uns Deutschen nicht in allen Teilen verständlich, so daß wir uns auf das Wesentliche der Dichtung und des Helden beschränken müssen.

» Peer Gynt« ist die personifizierte Charakterlosigkeit, das strikte Gegenbild eines »Brand«. Entscheidend ist jener Monolog des Schlußaktes, wohl die Keimszene des ganzen Dramas, (IV, 363 ff), da Peer Gynt mit einem Rückblick auf seine Schicksalswandlungen sich selbst als eine Zwiebel erkennt, die aus lauter Schalen ohne Kern besteht. Weil nun unser Held ganz Schale ohne Kern ist, so vermag er in seiner grenzenlosen Anpassungsfähigkeit sich in jede Rolle zu finden, die ihm das Spiel des Lebens zuteilt. Soweit er überhaupt ein Streben besitzt, geht es nur darauf aus, das Nächste, Beste zu erfassen. Ihn beseelt kein Drang nach innerer Erkenntnis, kein Trieb den feindlichen Mächten des Lebens alles das abzuringen, was für die persönliche Existenz des Charakters erforderlich ist. Der Keim jeder eigenartigen Entwicklung besteht offenbar in dem Trieb nach Individuation, in dem Streben geistige und seelische Güter, die charakterbildend wirken, für sich allein zu besitzen und somit der Masse wie jeder Gemeinschaft überhaupt als selbständiges Individuum gegenüber zu stehen. Wenn Brand diesen Trieb in zu hohem Maße besitzt, so daß er schließlich an seiner Einsamkeit zu Grunde geht, so ist er in Gynt völlig verkümmert. Gynt macht niemals den Versuch im Kampf gegen die herkömmlichen Sitten und Meinungen, gegen den Instinkt der Masse, den der »große Krumme« vertritt, zum Selbstgefühl eigenen Wollens und Könnens zu gelangen. Gynt ist der schlechthin unpersönliche Mensch, der jedem Konflikt dadurch die Spitze bricht, daß er, wie es der Krumme befiehlt, den Kampf aufgibt, noch ehe er begonnen hat. Wo der tapfere Lebensstreiter, vom persönlichen Willen geleitet, den Knoten zerhaut oder mitten durch die Feinde bricht, sucht und findet seine Geschmeidigkeit einen Ausweg.

Gynt repräsentiert also den Geist der Masse, den Durchschnittsmenschen comme il faut, den Philister ohne andere geistige und seelische Bedürfnisse als den gemeinen Lebenstrieb. Somit ohne Produktivität. Otto Weininger hat in seiner eindringenden Studie über »Peer Gynt«, den er als Kunstwerk wohl zu hoch einschätzt, die allgemein menschliche, nicht nur spezifisch norwegische Bedeutung dieser Satire auf das willenlose Spießertum mit Recht hervorgehoben.

Nun ist, rein dichterisch angesehen, ein Typus ohne jede Individualität für die Darstellung unbrauchbar. Und so hat Peer Gynt einen Charakter, nur nicht im ethischen Sinne. Er hat den Charakter seiner Phantasie, die eine törichte Erziehung auf Kosten aller anderen Eigenschaften ungemein lebhaft ausgebildet hat. Fühllos erträgt Gynt jeden Schicksalsschlag, jeden Umschwung seiner Lebenslage, weil alles das ja nur den äußeren Menschen berührt und der Welt idealer Phantasien, in der er wahrhaft heimisch ist, gar nichts anhaben kann. Frau Aase, seine Mutter, hat ihn von Kindheit an mit Märchen und phantastischen Erzählungen genährt, um ihn und sich selbst über die traurige Wirklichkeit elender häuslicher Verhältnisse zu erheben. In diese Welt der Lüge und des Scheins hat sich Gynt allmählich so eingelebt, daß er sie als wirklich hinnimmt, wie Kinder oft Traum und Einbildung für Wahrheit halten; und geht darauf aus sein Streben diese schöne Welt des Scheins tatsächlich zu erleben. In ihm vollzieht sich also nicht die Entwicklung zum Jüngling und zum Mann, er bleibt auch als Greis ein selbstgefälliges, spielerisches Kind, das sein Kaisertum unter Trollen und Elfen sucht, in fernen Ländern und unter fremden Menschen, nur nicht in sich selbst. Gynt besitzt so wenig wie ein Kind das Gefühl der Verantwortlichkeit für seine Taten. Und doch ist es eben dieses Gefühl der Verantwortlichkeit, das moralische Gesetz in uns, das den Pfeiler des wahrhaft sittlichen Handelns bildet, und uns erst recht eigentlich zum Menschen macht. Gynt hingegen greift blind nach allem, was ihm schön und begehrenswert erscheint.

Er verführt die Braut eines andern, er heiratet die Trollprinzessin und verscherzt damit sein eigentliches Lebensglück, das ihm in der stillen und tiefen Solvejg begegnet. Er könnte sie erobern, wenn er der widrigen Verhältnisse, in die ihn sein Leichtsinn geführt hat, Herr würde. Aber er verschmäht den Kampf und geht so seiner Seligkeit verlustig. In seinem Lebensbuch gibt es weder Verlust noch Gewinn, alles Erleben zieht eindrucksvoll an ihm vorüber. In Solvejg schlummert das bessere Ich Peer Gynts, das erst in seiner Todesstunde erwacht. Sie hat nicht den abenteuernden wüsten Gesellen geliebt, sondern einen Gynt, dem das Leben Eigenschaften und Kräfte gab, um seine Bestimmung im Weltgetriebe zu erfüllen. So ist Solvejg, die dem sterbenden Gynt aufs neue begegnet und ihm das Rätsel seines Lebens löst, nicht nur seine Geliebte, sie ist zugleich seine Mutter, in deren Schooß er zurückkehrt. Sein Vater aber ist Gott. »Er, der ihm um der Mutter willen vergiebt.« Der Mensch hat, das besagt der tiefsinnige Schluß, seelische und geistige Eltern außer den leiblichen, und seine Bestimmung ist es, sie in seiner Entwicklung aufzufinden. Und was antwortet der Knopfgießer, der dem Menschen, welcher den Sinn seines Lebens nicht erkannt hat, die Bürde des Daseins von neuem auferlegt, auf Peer Gynts Klage, er habe niemals erfahren, was der Meister der Welt mit ihm gewollt habe? »Das soll man ahnen

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Julian der Abtrünnige, Held der weitschichtigen und ziemlich unübersehbaren Tragödie » Kaiser und Galiläer« steht zwischen Brand und Peer Gynt mitten inne. Ein großes Wollen in der Brust eines Schwärmers, der von der Glut seines Strebens verzehrt wird, ein Königsgedanke in der Seele eines geistig Unselbständigen. Wie Jarl Skule fehlt Kaiser Julian das Beste: der Glaube an sich selbst. Julian der Revolutionär, der sich gegen das Christentum empört, das unter seinem Oheim und Vorgänger Konstantinos um die Mitte des vierten Jahrhunderts eben zur Alleinherrschaft im römischen Reiche gelangt war, ist im Grunde eine schwache, sehr empfängliche, romantisch-schwärmende Natur. Ueber den historischen Julian vergleiche Carl Semisch, Julian der Abtrünnige 1862; ausführlicher Naville Julien l'Apostat et sa philosophie du polythéisme, Paris 1877. – Ibsen hat zu seinem Werke sehr gründliche Quellenstudien gemacht, die sich im wesentlichen auf die eigenen Schriften des Kaisers, auf die zeitgenössischen Charakteristiken Libanius, des Ammianus Marcellinus und (vom christlich-polemischen Standpunkte) des Kirchenrats Gregor von Nazianz, endlich auf des Maximus Leben von Eunapius stützen. Der Dichter hat sich, nicht zum Vorteil des Werkes, sehr treu an die Vorlagen gehalten. Eine schreckensvolle Kindheit, in der ihm das Christentum in dürren Glaubensformeln aufgezwungen wurde, ohne ihm seine menschliche Gestalt zu offenbaren, hat in ihm die Sehnsucht nach antiker Schönheit und Heldengröße wachgerufen. Von brennendem Ehrgeiz und maßloser Eitelkeit erfüllt, ein Nachahmer, dem es an der wahren Schöpferkraft gebricht, berauscht er sich an den großen Vorbildern der Antike, einem Alexander, Cato, Marc Aurel, die er als Universalgenie in ihrem Geiste und in ihren Taten übertreffen will. Und ein Werk soll den höchsten Triumph des begabten, ewig unbefriedigten Schwärmers bilden, eine Tat soll ihm zur Unsterblichkeit verhelfen. Eingefangen von den geheimnisvollen Lehren der Neuplatoniker, verführt von dem Mystagogen Maximos, der halb Prophet halb Betrüger ist, will er das Reich des Fleisches und des Geistes einen, indem er die versunkene Welt der Antike aufs neue heraufbeschwört, den alten Kultus und die alten Gebräuche wieder einführt, die christliche Askese dem strahlenden Sonnengotte und der entfesselten Lebenslust des Dionysos opfert. Wohl stehen die Tempel wieder auf, aber der beseelende Geist ist auf immer aus ihnen entwichen. Julian muß es erleben, daß sein romantisches Ideal einer Weltverjüngung durch das widerliche Bild der Wirklichkeit in den Schmutz gezogen wird, aber er faßt nach dem Mißlingen seiner Pläne nur einen immer wachsenden Haß gegen den Galiläer, er wird nur immer eigensinniger und verstockter in der Erfüllung seines Strebens. Immer tiefer gerät er in die Wirrnis dunkler Schicksalsmächte, die seinen Geist betäuben; halb im Wahnsinn verbrennt er auf dem Kriegszuge gegen die Perser die rettende Flotte, und in den lodernden Gluten meint er die wunderbare Erfüllung seiner Sehnsucht zu sehen: »Auf dem rot flammenden Scheiterhaufen brennt der gekreuzigte Galiläer zu Asche! Und der irdische Kaiser verbrennt mit dem Galiläer! Aber aus der Asche empor steigt – jenem Wundervogel gleich – der Gott der Erde und des Geistes Kaiser in Einem, in Einem, in Einem

Er erlebt die zweite große Enttäuschung seines Lebens, nachdem er vorher das eine Weib, das ihm zu seinem Erlösungswerke verhelfen sollte, als eine Dirne erfunden hat. Wieder ist er einem Betrüger zum Opfer gefallen. Und seine Todesstunde offenbart ihm, daß sein ganzes Streben gleichermaßen ein gauklerisches Trugbild war: »O Sonne, Sonne, warum betrogst Du mich?«

In den »Kronprätendenten« heißt es: »Der glücklichste Mann ist der größte Mann. Der glücklichste vollbringt die größten Taten, – er, den die Forderungen der Zeit wie Flammen packen: sie erzeugen in ihm Gedanken, die er selbst nicht faßt, weisen ihm den Weg, dessen Ziel er selbst nicht kennt, den er aber wandelt und wandeln muß, bis er den Jubelschrei des Volkes hört – und mit weit aufgerissenen Augen sieht er sich um und erkennt voll Verwunderung, daß er ein großes Werk vollbracht hat.« Kaiser Julian ist das Gegenbild Hakons. Er strebt dem Geiste der Zeit entgegen und unternimmt das hoffnungslose Wagnis, eine versunkene Kultur, deren Lebenstrieb erloschen ist, starrsinnig wieder aufzubauen. Käme dieser Thronforderer im eigenen Namen, wäre seine Persönlichkeit der Blutzeuge seiner Forderungen, sein Werk müßte gelingen oder doch in die reine Tragik menschlichen Unvermögens ausklingen. Aber seine Ideen und Ideale sind heimatslos, denn sie wurzeln nicht in einer starken, selbstbewußten Persönlichkeit. Aus Träumen kann niemals Leben erstehen, vielmehr muß das lebendige Erfassen der persönlichen Bestimmung in dem Menschen die tiefe Sehnsucht nach dem Hohen gebären, zu dem der geläuterte Wille allmählich emporwächst.

Ibsen hat die seltsame Krise in der Geschichte des Christentums so individuell behandelt, daß das Typische, der Kampf zweier weltbedeutenden Prinzipien, entschieden zu kurz kommt. Zur dichterischen Behandlung des Julian-Problems: Schiller trägt sich mit diesem Stoff. Vgl. auch Goethe an Schiller, 18. März 1801: »Wir stehen gegen die neuere Kunst wie Julian gegen das Christentum, nur daß wir ein bischen klarer sind wie er.« – Neuerdings haben Dahn und Mereschkowski Julians Geschichte in kulturhistorischen Romanen dargestellt. Grabbe zeigt sich dieser wesentlichen Aufgabe in seinen Hohenstaufendramen, die den Kampf zwischen Kaisertum und Kirche darstellen, in ganz anderem Maße gewachsen. Offenbar verlangt der Konflikt zwischen Kaiserreich und Christentum auf seiten des weltlichen Prinzips einen ganz anderen Repräsentanten wie den Schwärmer Julian, dessen Erliegen im Grunde nichts beweist für den Sieg des christlichen Gedankens.

Das Drama »Kaiser und Galiläer« entstand 1871 bis 1873, nachdem der Dichter sich bereits sieben Jahre vorher mit dem Stoffe getragen hatte. Es steht am Abschluß einer langen Entwicklung, in dem der Philosoph den Künstler zu verdrängen scheint. Erst die Anschauung concreter Konflikte erlöst ihn von dem schweren Banne der Reflexion und läßt jene lange Reihe gesellschaftlicher und individualistischer Dramen erstehen, die uns den » eigentlichen Ibsen« erschließen.


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