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Achilles und Helena

Helena. Wo bin ich? Verlaßt mich nicht, ihr Himmlischen, ihr beiden, die mich hergeleitet. War es ein Traum? Fremdling, du scheinst gedankenvoll; kannst du mir Antwort geben? Warum so schweigsam? Ich bitte, ich beschwöre dich, rede.

Achilles. Weder dein Fuß noch ein Maultier haben dich hierhergetragen. Ob in der Stunde, da der Schlaf flieht, oder in welcher Stunde des Morgens, das weiß ich nicht, o Helena! Aber Aphrodite und Thetis, meinen Bitten geneigt, haben dich, des bist du dir bewußt, in die Einsamkeit geführt. Auch mir haben sie den Weg gezeigt, damit ich den Stolz Spartas, das Wunder der Erde, schauen könnte und – wie schwillt mir das Herz, wie schmerzt es bei dem Gedanken – die Urheberin unendlichen Leides für Hellas.

Helena. Fremdling! Wohl mögen Göttinnen oder Götter dich führen; denn du bist wahrlich einer, dessen sie sich rühmen können. Herrlich ist deine Gestalt, deine Stimme, dein Wesen; aber wenn du ein Erdgeborener bist, wer bist du?

Achilles. Achilles steht vor dir, o Helena, der Sohn des Peleus. Zittre nicht, erbleiche nicht, beuge nicht deine Knie, o Helena!

Helena. Verschone mich, du Gottgeborener! du geliebter und einziger Sohn der silberfüßigen Thetis! Chryseïs und Briseïs sollten dein Herz gezähmt und gesättigt haben. Schleppe nicht auch mich in Gefangenschaft. Leid habe ich wahrlich über Hellas gebracht; aber Leid ist auch mein Teil gewesen und wird es immer bleiben.

Achilles. Tochter des Zeus! Was redest du! Chryseïs, das Kind des greisen Priesters, der dem Apollon hier im Lande Opfer bringt, ist durchs Los einem anderen zugefallen, einem frechen, unwürdigen Manne, der unserem Volke mehr Unheil gebracht hat als du. Sein ist die Schuld, daß Hunde und Geier den Tapfern umkreisen, der ohne Wunden dahinsank. Briseïs freilich ist mein, die liebliche, folgsame Briseïs. Er möchte sie mir entreißen, schnöde und ungerecht, stolz und niedrig zugleich. Aber, ihr Götter, wo ist das Land, da der Wolf es gewagt hätte, dem Löwen ungestraft das Zicklein zu rauben, das er sich erbeutet hat? Sprich nicht von dir und Gefangenschaft. Könnte ein Sterblicher sich mit solchem Frevel beladen? Hat es nie auf diesen Höhen gedonnert? Sieht Zeus, der Weitblickende, die ganze Erde und nur den Ida nicht? Wacht er über allen Geschöpfen und nur über seinen eigenen nicht? Capaneus und Typhöneus haben ihn nicht so gekränkt, wie ihn der Elende kränken würde, der sich erkühnte, die goldenen Haare der Helena mit rohem Griffe zu entweihen. Und immer noch zitterst du? unschlüssig und voll Mißtrauen?

Helena. Ich muß zittern, mehr und mehr.

Achilles. Nimm meine Hand: Habe Vertrauen; laß dich trösten.

Helena. Darf ich sie nehmen? Darf ich sie halten? Ich bin getröstet.

Achilles. Der Ort um uns her, wie der Himmel so still und ruhevoll, gibt dir Frieden, und wie sollte er nicht. Du wendest dich, ihn zu betrachten? Vielleicht kennst du ihn nicht.

Helena. Wahrlich, nein; denn seit ich hier im Lande bin, habe ich die Mauern der Stadt nicht verlassen.

Achilles. So schaue um dich und ängstige dich nicht mehr. Lieblich ist die Höhe, umgeben von Ginster und Myrte, beschattet von frischblättrigen Buchen und dunklen, breitästigen Pinien; lieblich das kurze zarte Gras, das sich unter dem Käfer neigt, der sich darauf niederläßt oder daran hinaufklimmt. Das leuchtende Grün ist mit dem Grau des Lawendels gepaart, mit dunkeläugigen Zistusröschen, mit lichtem Schaumkraut und kleinen Büscheln von Steinnelken, die regellos hier und dort eingestreut sind.

Helena. Wunderbar! Woher kennst du alle die Pflanzen bei Namen?

Achilles. Die lehrte mich Chiron, wenn er für seine kranken Brüder Kräuter sammelte und ich an seiner Seite ging. All diese lehrte er mich und wohl zwanzig mehr; denn erstaunlich war seine Weisheit und unendlich sein Wissen; und ich war stolz, von ihm zu lernen. Ach sieh! Sieh diese kleinen gelben Mohnblumen; sie scheinen nur aufgeblüht zu sein, um alles Sonnenlicht aufzufangen, das in ihre Kelche fällt; sie scheinen in ihrer Fröhlichkeit nach der Leier zu rufen, daß ihre Saiten zu ihren Tanzversuchen erklingen.

Helena. Kindisch! für einen, der einen Speer über der Schulter trägt, dessen bloßer Schatten ein Schrecknis ist: scheint er doch einen Riß durch die ganze Flur zu ziehen.

Achilles. Es ist nicht immer ein Zeichen von Torheit, wenn man spricht und denkt wie ein Kind; es kann schwere Sorgen verscheuchen, wo alle Weisheit versagt. Was grübelst du, Helena?

Helena. Ich präge mir die Namen der Pflanzen ein. Einige, glaube ich, habe ich schon gehört, aber ich hatte sie ganz vergessen. Mein Gedächtnis wird mir jetzt besser gehorchen.

Achilles. Besser jetzt? inmitten des Kriegs und Getümmels?

Helena. Ich glaube es gewiß, denn sagtest du nicht, Chiron habe sie dich gelehrt?

Achilles. Er sang mir zur Leier die Geschicke des Narciß und des Hyacinthos, die uns von den schönen Horen, den Göttinnen mit den lautlosen, nimmermüden Füßen, regelmäßig wie der Sterne Lauf zurückgebracht werden. Viele von den Bäumen und helläugigen Blumen haben einst gelebt und geredet und sind über die Erde gewandelt wie wir. Erinnerungen mögen sie noch haben, aber Sorgen haben sie keine mehr.

Helena. Ach! dann haben sie auch keine Erinnerungen; dann sehen sie nur ihre eigene Schönheit.

Achilles. Helena! du wirst bleich und senkst das Haupt.

Helena. Der Duft der Blätter oder die hohe Luft oder anderes noch macht mich schwindlig. Könnte es der Wind sein, der mir in den Ohren tönt?

Achilles. Es weht kein Wind.

Helena. Ich möchte, es wehte ein wenig.

Achilles. Setze dich nieder, o Helena!

Helena. Die Schwachen sind folgsam; die Müden dürfen ruhen, auch in der Gegenwart der Mächtigen.

Achilles. Auf dem Fleck, wo wir jetzt ruhen, so sagten mir die, die uns hierhergeführt, wurde das verhängnisvolle Schönheitsurteil gefällt. Eine von den beiden lächelte. Die andere, der ich pflichttreu zumeist in Liebe zugetan, sah ängstlich drein und weinte ein paar Tränen.

Helena. Doch war sie der Besiegten keine.

Achilles. Göttinnen wetteiferten um den Schönheitspreis; Helena war ferne.

Helena. Verhängnisvoll war die Entscheidung des Schiedsrichters! Aber konnte nicht der ehrwürdige Peleus, nicht Pyrrhus, das schöne hilflose Kind, dich von diesem traurigen, traurigen Kriege fernhalten, o Achilles?

Achilles. Weder Verehrung noch Freundschaft für das Haus des Atreus hat mich in den Kampf gegen Troja getrieben. Ich hasse und verabscheue beide Brüder; aber da ist ein anderer Mann, der mir noch mehr verhaßt. Laß uns seinen Namen nicht nennen. Der Tapfere, dem der Herd so heilig ist wie der Tempel, wird niemals die Gebote der Gastfreundschaft verletzen. Er wird das Geld nicht fortschleppen, das er im Hause findet; er wird das purpurne Linnen nicht aufraffen, das man für Feste webte, um es aus der Truhe ins dunkle Schiff zu tragen, zusammen mit dem Weibe, dessen Obhut ihm anvertraut ist, und das am Altar der Hausgötter sitzt und den fernen Gatten zurückerwartet. Es war kein Verdienst von Menelaos, dich zu lieben; es war ein Verbrechen von dem andern – ich will nicht sagen, dich zu lieben; denn selbst Priamus oder Nestor könnten in Liebe zu dir entbrennen – aber die Liebe zu gestehen und nach dem Geständnis zu handeln.

Helena. Menelaos liebte mich, das ist wohl wahr, als Aphrodite uns den Paris ins Haus sandte. Es wäre sehr unrecht gewesen, Menelaos mein Gelübde zu brechen; aber Aphrodite trieb mich bei Tag und bei Nacht und sagte mir, wenn sie ihr Gelübde dem Paris bräche, das wäre unsühnbar. Sie sagte dem Paris dasselbe, zur nämlichen Stunde und ebenso oft. Er erzählte es mir jeden Morgen; seine Träume glichen den meinen. Zuletzt –

Achilles. Das letzte ist noch nicht gekommen. Helena, bei den Unsterblichen! Wenn ich ihm je in der Schlacht begegne, dann durchbohre ich ihn mit diesem Speer.

Helena. Ich bitte dich, tue es nicht. Aphrodite würde zürnen und würde dir nimmer vergeben.

Achilles. Das ist nicht so gewiß; sie vergibt gar schnell. Sie ist launisch wie Iris; wen sie heute begünstigt, den läßt sie morgen fallen.

Helena. So mag sie auch mich fallen lassen.

Achilles. Es wachen noch andere Gottheiten über dir, o Helena. Deine beiden tapferen Brüder sind zu den Unsterblichen erhöht und fehlen nie bei ihren Festen.

Helena. Sie könnten mich beschützen, wenn sie lebten, und sie würden es tun. Oh, hättest du sie doch sehen können!

Achilles. Sie waren Genossen meines Vaters an den Ufern des Phasis. Sie waren seine Gäste, ehe sie zu dreien auszogen, um den Eber im Dickicht von Kalydon zu jagen. Auch dort hat die Schönheit eines Weibes viele Sorgen über tapfere Männer gebracht, viele Tränen den Müttern gekostet.

Helena. Entsetzliche Geschöpfe! – Die Eber meine ich. So hast du sie also damals gesehen, meine Brüder? Ja, sicherlich.

Achilles. Ich habe sie nicht gesehen, so glühend ich es mir immer gewünscht. Ich hätte so gern von ihnen gelernt, so gern mich in männlichen Künsten und Tugenden mit ihnen geübt. Aber mein Vater, der mein Ungestüm fürchtete, schickte mich fort. Wahrsager hatten mir Unglück von einem Pfeile verkündet, und manche Pfeile konnten in dem Dickicht auf mich lauern.

Helena. Ich möchte, du hättest sie gesehen, und wäre es nur einmal gewesen. Drei solche Geschwister beisammen wird die Sonne nicht wieder bescheinen. Oh, meine herrlichen Brüder! Wie sie mich auf den Händen trugen! Wie sie mich liebten! Wie oft sollte ich ihre Pferde besteigen, ihre Speere werfen! Aber sie konnten mich nur das Schwimmen lehren; und als ich es recht gelernt hatte, da war ich ängstlicher als zuvor. Gern ließ ich mich loben, nur wegen des Schwimmens nicht. Glückliche, glückliche Stunden! wie schnell vergangen! Verläßt das Glück den Menschen immer, ehe die Schönheit ihn verläßt? Wenn es denn gehen muß, so könnte es noch die kurze Frist verweilen. Ach, geliebter Kastor! und noch heißer geliebter Pollux! Wie oft werde ich eurer und meiner gedenken, wie wir an den Ufern des Eurotas spielten. Tapfere, edle Knaben! Sie waren so groß, so schrecklich und beinahe so schön wie du. Zürne nicht! Erröte nicht für mich!

Achilles. Helena! Helena! Du Weib des Menelaos! Eine verwundbare Stelle, so sagt man, habe mir meine Mutter gelassen, und nun endlich kenne ich sie, diese Stelle. Leb wohl!

Helena. Oh, verlaß mich nicht! Ich bitte dich flehentlich, laß mich nicht allein! Diese Einöde ist furchtbar; hier muß es wilde Tiere geben, hier müssen Faune und Satyrn leben; und Cybele, die Türme und Zinnen auf dem Haupte trägt, die Aphrodite haßt und verabscheut, die alle von ihr Geliebten verfolgt, deren Priester so grausam sind, daß sie sich selbst mißhandeln.

Achilles. Die Göttinnen, die dich in einer Wolke hergetragen, werden dich auch in einer Wolke in die Stadt zurücktragen, sicher und ungesehen, wie sie versprachen. Nochmals, o Tochter des Zeus und der Leda, lebe wohl!


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