Gustav Landauer
Arnold Himmelheber
Gustav Landauer

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Drittes Kapitel

Der junge Prinz versäumte nicht, getreu dem Rate des erfahrenen Freundes, wie er meinte, ins Blaue hinein, frech und schüchtern, seine Fragen ans Schicksal zu stellen. Aber dem Süchtigen wurde eine Antwort, auf die er am wenigsten gefaßt war. –

Wenn man zum südlichen Ende der schönen Bäder- und Künstlerstadt, in der Haus und Garten Arnold Himmelhebers sich befanden, hinausging, so wandelte man auf einer wohlgepflegten Landstraße, die zwischen bewaldeten Hügeln dem anmutigen Laufe eines kleinen Forellenbaches folgte. An einigen Fabriken, Gehöften und kleinen Ansiedlungen vorbeigehend, konnte ein guter Fußgänger in zwei kleinen Stunden das hübsch im Talkessel liegende Dorf Schöneck erreichen. Wenn die Sonne auf den Häusern brannte, vom Kirchturm bis zur niedrigeren Hütte, da prangte alles, und das Dorf schmiegte sich schön in seine Naturumgebung hinein; man durfte aber den erhöhten Standpunkt des still stehenden Betrachters nicht verlassen. Denn im Dorfe selbst herrschte eine liederliche Verwahrlosung; die Straßen fast immer voll Kot, statt Pflastersteinen fand man Mistfetzen, der Verputz der Häuser war vielfach abgebröckelt.

Die Bewohner von Schöneck fielen in zwei getrennte Teile auseinander, es waren da etwa hundert christliche Familien, Bauern, Taglöhner, vereinzelte Handwerker, und vielleicht vierzig jüdische. Außerdem stand gleich beim Eingang ins Dorf noch das Schloß da, aber der Herr Baron mit den Seinen bewohnte es nur noch einige Monate im Jahr und kam überhaupt, abgesehen von seinen Gütern, die er verwalten ließ, und dem großen Respekt vor seinem Titel, den er mit Würde trug, nicht in Betracht; denn alle früheren Rechte, ohne die kleinste Ausnahme waren dem alten Baron, dem verstorbenen Vater des jetzigen, Anno achtundvierzig von der Bevölkerung eigenhändig weggenommen worden. Von diesem Sturm auf das Schloß erzählten vor allem die Juden noch gerne ihren Kindern; diese waren vorwitzig genug, aber achtundvierzig war doch schon zu lange vorbei, als daß sie auf den Gedanken kommen konnten, zu fragen, ob denn die damaligen Juden sich auch an dem Sturme beteiligt hätten. Nun mochte sich dies verhalten, wie es wollte, soviel stand fest daß die Bauern gestürmt hatten, und daß jetzt die Juden so ziemlich an die Stellte des Barons getreten waren. Sie waren zwar allesamt nur Viehhändler, von einigen abgesehen, die für ihre Glaubensgenossen schlachteten, was notwendig, und von ein paar andern, die Güterschlächterei betrieben, was wenigstens vorteilhaft war. Aber trotzdem bildeten sie unzweifelhaft in jeder Beziehung die Aristokratie der Bevölkerung. Kein Wunder, denn wenn auch nur wenige reich waren, im Vergleich zu der ärmlichen Bauernbevölkerung waren sie fast alle wohlhabend, und vor allem verfügten sie eben über bares Geld und waren so ziemlich die einzigen, bei denen der Bauer welches kriegen konnte. Früher, in den schlichteren Zeiten, hatte man das Geld ganz einfach beim Juden geholt und ihm dafür Wucherzinsen gegeben, jetzt ging das nicht mehr, und man verkaufte ihm sein Vieh. Die Juden waren aber nicht nur schlauer und vermögender, sie waren auch gebildeter, fast alle lasen die Zeitung, was bei den Bauern seltener vorkam, und Politik, aus der sich das Landvolk nichts Sonderliches machte, trieben sie ohne Ausnahme, manche sogar mit Leidenschaft. Sonst waren sie eine überaus verrohte und teilweise durch Inzucht verkommene Gesellschaft; aber es gab doch wenigstens immer etwas Neues zu bereden und zu belachen, und es war ein lautes und lärmendes Treiben. Selbstverständlich waren vor allem die weiblichen Familienglieder der Judenschaft vollkommen nach neuester städtischer Mode gekleidet, und zwar recht elegant, während die Bauernmädchen und -frauen die bunten Farben ihrer alten Tracht fast ganz aufgegeben, aber den vielfach häßlichen und entstellenden Schnitt der Gewandung beibehalten hatten. Das war schon ein sehr deutlicher äußerlicher Unterschied der beiden Rassen, und wenn ganz selten ein Besuch aus der Stadt bei einem Bauern abstieg, wunderten sich die Judenkinder Schönecks nicht wenig, daß auch eine Christin wie ein jüdisches Fräulein gekleidet sein könne.

In dieser anmutigen Umgebung wohnte seit nunmehr fast acht Jahren Frau Judith Tilsiter, eigentlich aber schon Zeit ihres Lebens; denn was ihr Geburtsort war, Breitenau, sechs Stunden von da gelegen, und zwar vier Stunden nördlich von der Stadt, so war das ein Judendorf von ganz genau derselben Beschaffenheit, weshalb es schon immer ab und zu vorgekommen war, daß die jungen Leute der beiden Gemeinden miteinander verheiratet wurden. Darum wunderte sich auch kein Mensch, als es mit einem Male hieß, Wolf Tilsiter sei verlobt mit der Tochter des Löb Schammes von Breitenau; denn man wußte sogar, daß er sie kurz vorher auf einem Balle flüchtig kennengelernt hatte, was übrigens durchaus kein Erfordernis war. Höchstens wunderte man sich dann über ihre außerordentliche Jugend und über ihre ganz und gar ungewöhnliche Schönheit; über die erste zu staunen hörte man nach und nach auf, denn sie wurde älter; ihre Schönheit aber wurde von Jahr zu Jahr auffallender und war den Bewohnern, trotzdem in der Tat an hübschen Mädchen und jungen Frauen nie Mangel gewesen war, etwas ganz und gar Unerhörtes. Kein anderes Wort als das eine: »schön« stimmte zu dem Eindruck ihrer Erscheinung und ihrer Züge. Schön blieb sie immer, alles andere galt nur für den Moment, in dem man sie eben sah. Stolz – das war sie meist; finster – sehr häufig; heiter – selten; hingebend – immerhin ab und zu; abstoßend – manches Mal. Wenn etwas ihre Schönheit noch am ehesten hätte bezeichnen können, dann hätte man sie traumhaft nennen müssen; wie ein verträumtes Märchenkind, das noch nicht recht ausgeschlafen hat, war sie damals im Hochzeitswagen von Breitenau nach der Synagoge von Schöneck gefahren, und als ob zwischen ihr und der Welt ein Schleier liege, der ihr alles fern hielt, gleichgültig und trübe machte, erschien sie auch jetzt noch, wenn sie gleich inzwischen mit Auge, Ohr und Nase auf etwelches Häßliche in der Welt gestoßen war. Der Schleier war dem Kinde jählings und grob durchbrochen worden, als habe ein stinkender Bock mit seinen Hörnern dagegen gestoßen, aber vielfach war ihr immer noch das Bild der Welt und ihr eigenes Innere in unbestimmten Nebel gehüllt.

Wie das so gekommen war? Oh, das war ihr nur allzu klar! Nicht viel anders war es ihr ergangen als tausend andern ihrer Geschlechtsgenossinnen, und anfangs hatte sie es auch ungefähr ebenso aufgenommen. Warum hätte sie ihn auch nicht heiraten sollen? Weil er nicht besonders hübsch war und nicht allzu klug und kaum gebildet und mit einem rohen, breiten Lachen behaftet? Aber ihre männliche Umgebung hatte dieselben Tugenden aufzuweisen. Und sie sehnte sich so sehr, hinauszukommen, sie fühlte sich so eingeengt, so hungrig, so unglücklich. Eine flackernde Wildheit brannte und zehrte an dem Kinde. Bald drückte sie sich tagelang scheu und stumm in den Winkeln des Hauses umher, dann war sie wieder ausgelassen lustig und machte sich und den andern ein tolles Vergnügen daraus, einen Bekannten nach dem andern nachzuahmen, Possen und Komödien aufzuführen und an keinem Menschen ein gutes Haar zu lassen. Dann konnte sie schon ein paar Stunden darauf in ihrem Bette einsam schluchzen und weinen; sie kam sich so einfältig vor und so schlecht und so unnütz. Ein heftiges Sehnen war in ihr – wonach? Nach dem Anderssein. Wie aber die Welt draußen beschaffen war, wie es in den fremden Menschen aussehen mochte, davon hatte sie nur eine sehr verworrene Vorstellung. Aber soviel wußte sie, das war nicht das Rechte, das Leben, wie sie und ihre Leute es führten, das war kein Leben, das war so erbärmlich, stimmte so gar nicht zu der reizenden, ausgeglichenen Natur, in der sie wohnten. Es kam ihr so vor, als ob es ganze Menschen irgendwo geben müßte, die einen ebenso reinen und völligen Eindruck machten wie die Tiere des Waldes und die Blumen auf dem Felde.

Glücklich war sie oft stundenlang, wenn sie sich allein, ohne ihre Kameradinnen, im Wald und auf Bergen und Felsen umhertrieb. Da sprang sie und rief dem Echo und lachte hell auf, und sie merkte wohl, daß es ein anderes Lachen war, als wenn sie sich damit vergnügte, den watschelnden Gang oder die lispelnde Sprache eines Judenjünglings nachzuahmen. Aber sie kam nicht oft zu diesem reinen Genuß, denn sie sollte Werktags im Hause arbeiten und Samstags sich nicht von den andern absondern. So mußte sie sich denn heimlich davonschleichen. Und glücklich war sie auch gewesen, seit sie sich mit dem jungen Gänseludwig auf der Wiese befreundet hatte und von ihm in das Wunderland seiner Blumen und Steine und Tiere und seiner Erfindungen eingeführt worden war. Aber von diesem Verkehr mit dem verwahrlosten Christenknaben durfte erst recht keine Seele etwas erfahren, ja es war ihr selbst oft wie eine Sünde, wenn sie an die Stunden dachte, wo sie mit ihm im Grase oder auf Felsen lag. Sie gestand es sich denn auch nicht ein, daß ihr der Gänsejunge lieb geworden war und ein unentbehrlicher Freund ihres Herzens, sie wollte abbrechen mit diesem seltsamen Verkehr, sie war ja doch ein jüdisches Fräulein – und er! Ein Trottel, der nicht einmal lesen und schreiben konnte! – Frau Tilsiter, wenn sie nunmehr zurückdachte, und gerade an diese sonderbare Episode erinnerte sie sich besonders oft, wurde auch jetzt noch rot, wenn manche Szene dieser Wald- und Wiesenheimlichkeit aus dem Leben der Sechzehnjährigen wieder hell vor ihr aufstieg, aber doch war ihr jetzt so, als ob sie sich nicht schämen sollte und als ob der vernachlässigte, dumme Gänseludwig von allen in ihrer Umgebung noch am ehesten der ganze Mensch gewesen wäre, von dem das wilde Mädchen träumte. Das war jetzt – aber damals war ihr dieser Verkehr eine unbegreifliche Verirrung, die nicht in Betracht kam, nicht kommen durfte. Die ganzen Menschen, die mußten draußen sein; die Menschen der großen Städte mit der umfassenden Bildung, mit dem weitreichenden Wissen, mit dem feinen Benehmen, diese Menschen waren in ihrer Phantasie wie mit einem Zauberschein umflossen. Was ihr schließlich so fürchterlich zum Widerwillen geworden war, der Duft des Stalles und des kleinen, gierigen Gelderwerbs bei ihren Eltern, Brüdern, Verwandten und Bekannten, das ewige, unermüdliche Geschwatze ringsherum immer im selben engen, dumpfen Kreise, das haftete jenen fernen Menschen nicht an. Freilich – wie sollte sie herauskommen aus dieser Welt?

Und dann lernte sie den Wolf Tilsiter kennen; auch nur ein Viehhändler und aus Schöneck, aber seine Kleidung, seine Wäsche, selbst seine Krawatte machte auf das unerfahrene Kind den Eindruck, er sei anders als die »Hiesigen«. Er sprach geläufiger, und vor allem: er huldigte ihr galant und doch zurückhaltend, und er hatte ein Stück von der Welt gesehen, und er erzählte von großen Städten, Theater und Konzerten. Er machte auf sie den Eindruck, als ob er besser und gebildeter sei als die jungen Leute, mit denen sie alle Tage beisammen war, und als sie in den nächsten Tagen einen nach dem andern von den Ballbesuchern vornahm und durchhechelte, ließ sie ihn weg, denn er hatte ihr fast imponiert im Vergleich mit den übrigen. Und bald erhob sich allerlei Gemunkel, und unzarte Andeutungen fielen, der Vater bekam und schrieb einige Briefe, und schließlich teilten ihr die Eltern mit, was sie für ein großes unverdientes Glück mache, Wolf Tilsiter wolle sie heiraten. Und es war ihr fast selbst wie ein Glück erschienen. Sie wußte nichts anderes, als daß sie einen Viehhändler nehmen sollte, und er war, dachte sie, jedenfalls besser als die andern. Sie war ein paar Tage sehr erregt, fiel aus dem Lachen ins Weinen, dann kam er, man ließ sie mit ihm allein, die Art, wie er seine Sache vorbrachte, machte einen gewinnenden Eindruck auf sie, ihre Backen brannten sie wie Feuer, und schließlich wußte sie nicht, wie sie an seiner weißen Weste lag und es duldete, daß er sie küßte.

Ein paar Tage darauf aber lag die junge Dame mitten im Wald auf einem hohen, sonnigen Felsenstück und neben ihr der Gänseludwig, ungesehen von der Welt, über die sie hoch erhoben waren und auf die sie hinabsehen konnten. Und dem großen Jungen, der schon fast ein Mann hätte sein sollen, liefen ein paar Tränen die Backen hinunter, Judith aber schluchzte und tat wie verzweifelt. Und dann schlang sie ihre Arme um seinen Hals, er aber war auf einmal sehr ernsthaft geworden, und noch heute klang ihr der feste Ton seiner Stimme in den Ohren, wie er ihr sagte: »Judith, heirate den fremden Mann nicht. Bist du nicht mein? Weißt du das nicht, so wie ich weiß, daß ich dir gehöre? Warte nur, aus mir wird schon noch was.« Da aber war der Dame der ungeheure Abstand ihrer Lebensstellungen zum Bewußtsein gekommen, und glühend vor Zorn und Schmerz hatte sie sich von ihm losgerissen und hatte geschrien: »Was soll aus dir denn werden, du dummer Gänsetrottel? Soll ich warten, bis du in die Luft fliegst in dein Königreich Gagafuia? Oder bis der Kaiser von Polexa sieben Stund hinterm Mondschein dich endlich zum Erben einsetzt? Pfui, wie einfältig du bist! Und wie schlecht ich bin, daß ich dich nur ansehe!« Und dann war sie davongerannt, aber seinen Blick, den letzten, nahm sie noch mit und konnte ihn nicht vergessen, und sie hörte auch, wie er vor sich hinsprach, als ob er es nicht fassen könne: »Oh! oh! Judith! Judith! oh! oh!«

Einige Tage nachher waren die Gänse ihren Hirten und das Dorf einen Esser losgeworden; man vermißte den Gänseludwig, und bald war er im Dorfe vergessen, denn es kümmerte sich eigentlich niemand so recht um den Buben. Jung-Judith aber, die blasse Braut, lag manche Stunde wach in ihrem Bette und ließ den Mondschein in ihren Tränen spiegeln und träumte vom Königssohn aus Gagafula, der bald in strahlender Schönheit herabkomme, um sie heimzuholen in sein Reich. Aber der Gänseludwig, den sie so rauh und stolz von sich gestoßen hatte, blieb verschwunden, und niemals hatte sie wieder etwas von ihm gehört. Und einige Wochen später wurde sie in Schöneck dem Viehhändler Wolf Tilsiter als Ehefrau angetraut.

Das Alter, in dem Judith sich damals befand – sie war eine Siebzehnjährige – bringt auch sonst den Mädchen große und rasche Umwälzungen im seelischen Erleben. Aber ihr war es in den folgenden Wochen, als ob die Welt geborsten wäre und ihre Trümmer auf ihr ungeschütztes Haupt schleuderte, während im innersten Kern der Welt zugleich ein strahlendes Licht aufginge, das sie anzog und blendete. Zuerst barst zu ihrem jähen Entsetzen ihr keuscher Sinn; denn das Dorfkind hatte immer vor den Menschen Respekt gehabt und sich selbst und ihresgleichen stolz für etwas Rechtes gehalten, für ganz etwas anderes als das Getier, dessen Treiben sie nahe genug vor Augen gehabt und das sie verachtet. Der Traum war aus – und sie überlegte sich jetzt, ob nicht der Hahn, der auf dem Misthaufen vor ihrem Elternhause mit dem Hühnervolke sein Wesen trieb und über den sie sich als Kind schon immer geärgert hatte, erst recht erbärmlich und abscheulich wäre, wenn er über seine nackten Beine Hosen gezogen hätte. Wie häßlich doch diese Welt war! Und wie gemein, daß man das, so plötzlich erfahren und erdulden mußte! Was war alle Angst und Beklommenheit ihrer jungfräulichen Zeit gewesen gegen diesen widrigen Alpdruck des Ehelebens, an den sie sich über Nacht gewöhnen sollte!

Und dann – ihr Mann! Es war wohl nur die verlegene Unsicherheit eines Heiratslustigen, der sich auf neuem Boden bewegt, gewesen, die ihm den leichten Schimmer der Feinheit und der Bildung gegeben hatte. Denn kaum nach zwei Tagen, als er seiner Sache sicher war, kannte sie ihn schon auswendig und wußte, daß er genau derselbe war wie die anderen: roh, albern, anmaßend, ohne jeden Schwung, geldgierig und niedrig. Sie war geblieben, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte, nur daß sie kein Mädchen mehr war, sondern ein angekettetes Weib, das zur Ahnung und zum sehnenden Hoffen kein Recht und keinen Mut mehr hatte.

Und doch war zur selben Zeit eine neue, strahlende Welt vor ihr aufgegangen, in die – sie immer und immer mit leidenschaftlicher Begierde hineinzog und von der sie sich zu ihrem ewigen Schmerze wieder so tief getrennt sah. Diese neue Welt war ihr erschienen auf ihrer Hochzeitsreise. Sie war in der Hauptstadt gewesen, und sie hatte Galerien, Theater und Konzerte besucht. Große Kunst hatte zu ihr gesprochen, und vor allem in der Musik hatte sich ihr der moderne Mensch und sein feines Empfindungsleben offenbart. Sie kannte keine Note, auch ihr Gesang zeugte von keinem besonderen Talente, aber die Gabe des Vernehmens besaß sie in hohen Grade. Sie hörte jetzt die längst geahnte Welt, deren Schimmer sie bisher kaum in flüchtigem Morgentraum geschaut hatte. Vor allem die Wagnerschen Klänge übten eine zauberische Wirkung auf sie aus. Etwas in ihr wollte sich hoch in die Lüfte hinaufschwingen, es rang alles in ihr empor, eine schnürende Sehnsucht beängstigte all ihr Inneres, und der jubelnde Schrei wollte mehr als einmal aus ihr herausbrechen: Das bin ich! das bin ich! Dann aber fiel ihr Blick mit unwilligem Schrecken auf den Mann neben ihr, der die Hochzeitsreise auch zugleich zu einigen Geschäften benutzte und von dessen Sinn für Kunst es zeugte, daß er bei den erschütternden Klängen von Siegfrieds Trauermarsch in die Tasche nach einem schmutzigen, abgegriffenen Notizbuche langte und darin blätterte, bis er endlich zu seiner Befriedigung die gesuchte Bemerkung gefunden hatte. Und mit Abscheu mußte sie sich sagen: Das bin ich! das für alle Zukunft!

Und dann war sie nach Hause gekommen, in die neue Heimat, die sie doch wieder in die alte Häßlichkeit versetzte. Stumpfsinn, Roheit und aufdringliche Wesen, wohin sie nur blickte. Aber die neue Welt war ihr auch hierher nachgekommen. Nicht nur, daß ihr die großen Eindrücke der Reise zu einem Bilde verschmolzen waren, das sie gar oft vor Augen hatte; der äußerliche Schliff und die Bildungsnachahmung ihrer neuen Verwandten verschafften ihrem Kopf und ihrem Herzen neue Nahrung, die sie begierig verzehrte. Unter den Hochzeitsgeschenken, die in der neuen Wohnung aufgestapelt waren, befand sich eine stattliche Anzahl mit äußerlicher Pracht eingebundener Bücher, von denen nicht wenige für Judith eine neue Welt der Schönheit und der Größe bedeuteten. Es begann jetzt für sie die Zeit, die fast jeder ursprüngliche Mensch einmal durchmacht, wo sie aus jeder Blume einen Saft zog, der gerade für sie bereitet war, wo sie in jedem Buche, das sie in die Hand nahm, das ausgesprochen fand, was in ihr lag und nach einer Form rang. Die Leidenschaft des Lesens kam über sie, und sie frönte ihr mit einem Genuß, der sich von Woche zu Woche steigerte. Sie hatte ja auch so außerordentlich viel Zeit. Sie hielt sich, soviel es nur möglich war, von den Leuten zurück, unter denen sie auch nicht einen einzigen fand, mit dem sie, wie sie jetzt war, in Berührung treten mochte. Und ihr Mann war wie die anderen Viehhändler fast stets nur von Freitag nachmittag bis Montag zu Hause, im übrigen besorgte er über Land seine Geschäfte. Sie log sich nichts vor und zwang sich in keiner Weise zum Glauben an Liebesgefühle oder zärtliche Regungen irgendwelchen Art, und sie wußte, daß sie ihre freie Woche für sich benutzen mußte, wenn sie nach eigner Lust etwas empfinden und denken wollte. Sie sparte am Wirtschaftsgeld, um sich Bücher zu leihen und zu kaufen, sie versteckte die Bücher vor ihrem Mann und verhehlte ihm ihre Bildung, soweit es ihr möglich war.

Sie hatte noch mehr zu verhehlen als das bißchen Bildung, das ungeordnet in ihr hin- und herwogte. Und nicht bloß vor ihrem Manne und der lieben Nachbarschaft, viel mehr vor sich selber. Kein banges Sehnen war mehr in ihr, nein, glühendes, reifes Begehren. Nicht mehr erschrecktes Abwenden mit gerümpfter Nase und verzogenem Mäulchen, nein, ihr Ekel vor dem Leben, das sie schon so lange jetzt führte, war endlich so mächtig angeschwollen, daß ihre Faust sich zornig ballte, wenn sie beim Vorübergehen am Spiegel flüchtig ihr eigenes Abbild gewahrte.

Sie war keine von den geordneten, nüchternen Frauennaturen, die fähig sind, sich eine Stellung im Leben auch spät noch aus eigener Kraft zu erringen. Sie taugte durchaus zu keinem Beruf, hatte trotz allem Interesse für die Fragen des freien Frauenlebens, über die sie mancherlei gelesen, nie daran gedacht, etwa anzufangen zu studieren und Ärztin zu werden. Sie wußte in keiner Weise, was sie mit sich anfangen sollte, und sie hatte von Stunde zu Stunde und so von Jahr zu Jahr ihr jammervolles Leben mit innerem Stöhnen weitergeschleppt. In seltenen Stunden, wenn sie sich einsam im Walde erging und gewaltige Leidenschaft sie anfallen wollte, hatte sie mitunter angefangen, zornige Worte voll Feuer laut hinauszurufen, und es war ihr so, als ob sich Sätze fügen wollten zu starkem Gedicht oder auch Perioden zu schwungvoller Rede vor versammeltem Volk. Aber die Stimmung kam allzu selten und dann reißend über sie, und bislang hatte weder eine Dichterin noch eine Sprecherin aus ihr werden wollen.

Aber gerade diese altfränkische Hilflosigkeit, diese harrende Unselbständigkeit war nur allzu geeignet, ihrer Verachtung vor sich selber und der Art, wie sie ihr Leben führte oder vielmehr dahingleiten ließ, immer neue Nahrung zu spenden. Sie war also gar nicht fähig, ein eigenes Leben zu führen? Sie verdiente das Los, das Bett Wolf Tilsiters zu teilen? Was jeder Stallknecht und jede Viehmagd konnte, ein freies Leben führen und fortgehen, wenn es ihnen nicht mehr paßte, das war ihr versagt? O ja, sie hatte nicht selten mit dem Gedanken gespielt, irgendeinen, wenn noch so niedrigen Beruf zu ergreifen, um nur Wolf Tilsiters ewiger Nähe zu entrinnen. Und gar oft sagte sie sich mit düsterm Ernste, wenn es selbst zum schlimmsten kommen müßte, daß sie als Straßenläuferin gleich dem ewig wandernden Geld von einer Hand der andern gegeben würde – das Schlimmste wäre es nicht. Elender noch erschien ihr, sich festhalten zu lassen von diesem einen, vor dessen Zärtlichkeit ihr mehr als vor seiner Roheit schauderte. Und dennoch blieb sie und blieb – acht volle Jahre nun schon an der Seite eines Menschen, mit dem sie nichts gemein hatte, nichts. Warum? weil sie Ansprüche ans Leben machte, weil sie fürchtete, das bißchen, was sie von der Welt und ihrer Schönheit genießen konnte, auch noch einzubüßen? O wie so feige und energielos sie sich vorkam. Wenn sie Mut hätte, dann müßte sie rasch und entschieden ein Ende setzen dem alten Leben – das wäre der Anfang des neuen, und das übrige müßte sich finden. Und doch war ihr dann wieder so schwach und elend zumute. Ihre Träume flogen hoch hinauf in die Höhen der freien und stolzen Menschlichkeit – und statt dessen sollte sie hinabgleiten in den Pfuhl, in dem so manche verlorene Existenz haltlos versunken war. Die Sklaverei ihrer Ehe war ihr unerträglich geworden – und doch schauderte sie bang zurück vor den Fährlichkeiten der Freiheit, die ihrer warteten, wenn sie ihre Ketten zerriß.

Was tun? Sie wußte sich keinen Rat; denn sie stand allein. Nirgends in der weiten Welt auch nur ein einziger Mensch, an den sie sich hätte wenden können. Manchmal zuckten ihre Lippen in höhnendem Schmerz, denn ihr fielen wieder die selbstgeschaffenen Wunderträume und Märchen aus der Kinderzeit ein. Da war immer im rechten Augenblick der Retter und Erlöser erschienen, der alles in die besten Wege leitete. Ihr aber wollte nicht der kleinste Zufall über den Weg laufen; vor ihr wie hinter ihr lag dasselbe bleierne, graue Einerlei, und nur in ihrer Seele lebte die Sehnsucht nach dem Abenteuer, mochte es so toll sein, wie es nur konnte, wenn es sie nur einhüllte in einen bunten, flatternden Mantel und sie hinübertrug über alle Berge!

– – – Und wieder einmal fegten die Märzstürme über die Berge, und mit hochgebauschtem Mantel brauste der kecke, göttliche Gelegenheitsmacher, der Lenz, über das Tal herein und brach die starren Bande des Eises und lockerte die Schollen und rief die zarten Keime heraus ans Licht der Sonne. Und Frau Judith Tilsiter stand hochaufgerichtet am offenen Fenster, blickte hinüber auf den Bergabhang, wo die jungen, schlanken Buchen sich ächzend bogen, und ließ ihre heißen, geröteten Wangen von der starken Luft bestreichen. Zum drittenmal sprach sie nun laut vor sich hin, was ihr seit einer Viertelstunde im Kopfe herumging. »Mich kann er haben, jawohl!«

Sie bückte sich, um die Zeitung, die neben ihr auf dem Boden lag, aufzuheben. Und noch einmal überlas sie die drei kleinen Zeilen, die sie erst zum Lächeln gebracht, dann seltsam angelockt hatten, bis mählich all ihr Blut in Aufruhr und der Entschluß in ihr schon nahezu reif war, diesmal endlich einen Schritt in dunkle Ungewißheit zu wagen. Am Tage vorher, dem Montag, kurz vor dem Aufbruch ihres Mannes, hatte sie wieder einmal eine entsetzliche Szene durchmachen müssen, wo sie trotz allem Entschluß, kalt und trocken zu bleiben, schließlich doch nicht mehr sich hatte halten können, wo alles aus ihr herausgesprudelt war, kochend, rasend, bis zu den Worten: »Ich habe dich satt! Satt bis zum Halse hinauf! Lieber alles – alles andere als deine rohen Gemeinheiten voll Knoblauchduft noch länger mit anhören!« Und sie war dann fortgegangen in den Wald hinauf, ohne Abschied. O wie oft schon hatte sie sich gesagt, das sei das Letzte und Äußerste, nun sei es zu Ende, und als der Freitag nachmittag wieder kam, war sie immer noch im Hause, und bis zum Abend hatte Wolf Tilsiter sich wieder mit ihr versöhnt, und am Tage darauf ging er wie alle andern Gemeindeglieder mit seiner Frau am Nachmittag ins Wirtshaus und freute sich, daß ihre stolze Schönheit die übrigen Weiber überstrahlte. Sollte es auch jetzt wieder so kommen? Alles in ihr sträubte sich dagegen, aber was tun, um alles in der Welt, was tun?

Diese Aufregung wirkte noch in ihr nach, als sie heute bei gedankenlosem Durchfliegen der Zeitung die folgende kleine Anzeige gelesen hatte:

Eine Frau
wird gesucht. Briefe postlagernd
Chiffre: 1 – 2 – 3 – Frei.

Und wieder lächelte sie erregt, und es dachte in ihr: ›Dem Mann kann geholfen werden.‹ Vielleicht freilich war das, was hinter diesen unscheinbaren Zeilen steckte, noch viel widriger und häßlicher als die Bande, aus denen sie sich befreien wollte. Aber sie glaubte es nicht, und je länger sie über dieses Gesuch phantasierte, um so sicherer wurde sie. Ihr schien eine freie Heiterkeit aus diesen Worten herauszuwehen, es lag Geist darin und doch wieder eine sonderbare Hilflosigkeit. Und gerade das zog sie so mächtig an. In dieser abscheulich schlechten Welt, so überlegte sie sich, wie kam da dieser Mann dazu, sich scheu hinter eine knappe, harmlose, scheinbar wie eine Heiratsannonce aussehende Anzeige zu verstecken? Aus diesen dürren Worten sprach sie eine verwandte, vereinsamte Seele an, die nach einem sich sehnte und zu allem bereit war. Wahrhaftig, zu dieser Tat hatte ihr feiges Herz gerade Mut genug. Es lockte sie – warum sollte sie nicht im Schatten der Namenlosigkeit ausspähen nach dem, der sie befreien sollte?

Und wieder nahm sie das Blatt, und ihre Lippen lächelten.

»Eine Frau wird gesucht? Mich kann er haben. Frei? Das bin ich. Beinahe – feil!«

Sie grübelte noch eine Weile vor sich hin; und währenddem wanderten ihre Augen auf dem Zeitungsblatt hin und her. Nach ein paar Minuten stutzte sie plötzlich, denn sie bemerkte, daß ihr Blick ganz gedankenlos schon geraume Zeit auf denselben Worten haften geblieben war. »Was ist das? Ach, Kinderei und Unsinn. Es gibt mehr als einen, der so heißt.«

Sie hatte eine Anzeige gelesen, in der Ludwig Prinz mitteilte, daß er sich als praktischer Arzt in der Stadt niedergelassen hatte.

Ludwig Prinz, wahrhaftig, so hatte ihr Gänseludwig geheißen. Daß aber aus ihm etwas Rechtes geworden sein sollte – den Gedanken wies sie rasch weit weg. Und doch – klangen ihr nicht wieder seine zuversichtlichen Worte in dem sicheren Tone ins Ohr: »Aus mir wird schon noch etwas. Wart' auf mich, Judith. Wir zwei gehören zusammen!«

Hätte sie doch warten sollen? Und alles Blut schoß ihr bei dem plötzlichen Einfall in die Wangen, daß ihr faßt die Augen überliefen: Sie suchte nach ihrem Märchenprinzen, der sie befreien sollte? Hatte sie ihn nicht von sich gestoßen, hoch oben auf dem Felsen, ihren Ludwig Prinz, der die Gänse des heimatlichen Dorfes behütete? »Ach, Unsinn!« murmelte sie und griff nach der Feder. Was sollten ihr die Erinnerungen an die Kinderzeit? Aber die Träume wollten sich nicht verscheuchen lassen, und lächelnd, mit halb geschlossenen Augen phantasierte sie weiter. So saß sie sehr lange. Auf einmal zuckte sie zusammen und fuhr mit der Hand über die glatte, reine Stirne. Sie mußte einen Moment geschlafen haben; aber in diesem Augenblick hatte sie mit aufdringlicher Deutlichkeit zweimal hintereinander eine Anzeige gelesen, deren Worte lauteten: »Eine Frau wird gesucht. Ludwig Prinz.«

Ihr armer, geplagter Kopf war heute nicht ganz recht in Ordnung. Was für ein Unsinn das doch war. Sie tauchte die Feder ein. Und mit jähem Entschluß legte sie einen Briefbogen zurecht und schrieb das Datum. Und dann blieb sie noch lange am Schreibtisch sitzen.

– – – Am Abend dieses Tages sagte die Frau des alten Schönecker Dorfschullehrers, der zugleich Postmeister war, während des Sortierens der wenigen Briefe, die sie m Kasten vorgefunden hatte, zu ihrem Mann:

»Guck einmal, Alter, soll denn der da befördert werden? Der hat eine ganz komisch Adresse. Ich glaube, da will dich wieder einer uzen.«

Der Alte nahm die Pfeife aus dem Mund, setzte die Brille auf und las langsam: »1 – 2 – 3 – Frei. Postlagernd. – Ist ganz recht. Das sind jetzt die neumodischen Adressen.«

Die Frau aber meinte wundernd:

»Nein, nein, was man alles erlebt, wenn man alt genug wird!«

Und kopfschüttelnd drückte sie mit derbem Aufschlag den Stempel auf den neumodischen Brief.


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