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Mystik

I.

Sammatti heißt ein Teil des nördlichen Nylands. Es ist eine schöne, aber arme Gegend, denn ihr Boden besteht aus hartem Sand, auf dem die Ernte nur mager ausfällt. Dort, am Strande des Valkjärvisees, steht eine Kate, Paikkari genannt. In dieser Kate wohnte zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts ein armer Mann mit seiner Frau und seinen sieben Kindern, fünf Jungen und zwei Mädchen.

Die Kate war klein, aber der Kätner und seine Frau waren tüchtige, fleißige Leute, die das Hungern für unnötig hielten, solange sie arbeiten konnten. Der Kätner konnte ein wenig schneidern, und als seine Söhne groß genug waren, um bei der Arbeit daheim mitzuhelfen, wanderte er im Winter auf die Höfe und nähte Kleider.

Bei der Kate, ein Stück von deren Treppe entfernt, stand eine hohe Kiefer, Iso Mänty genannt. An ihrem Stamme hinaufzuklettern war den Jungen ihre größte Lust; wer am höchsten klettern konnte, galt für einen Mann. Eines Tages trat der Schneider aus dem Hause und entdeckte vier seiner Jungen auf der Kiefer. Die drei ältesten stießen sich voller Ausgelassenheit auf den höchsten Ästen des Baumes mit den Ellbogen, Elias aber, sein vierter Sohn, saß weiter unten auf einem Aste und las.

»Nun, Elias,« sagte der Vater, »willst du nicht auch versuchen, höher hinaufzuklettern? Was tust du denn da?«

»Ich lerne den Katechismus,« erwiderte der Junge.

»Ei der Tausend!« rief der Vater scherzend. »Du gehst ja doch erst ins sechste Jahr. Komm herunter, dann zeig ich dir, wie man ein Wams zusammenheftet.«

Elias stieg vom Baum herunter und lernte das Zusammenheften eines Wamses; aber als dies geschehen war, kletterte er mit seinem Buch wieder auf die Kiefer; und mit sechs Jahren konnte er den ganzen Katechismus auswendig. Der Pfarrer und alle Nachbarn wunderten sich bei der Prüfung höchlich darüber.

»Vater Kätner,« sagte der Pfarrer, »diesen Jungen solltet Ihr in die Schule schicken.«

»Hab' kein Geld dazu,« entgegnete der Vater.

Doch wie das so geht, als die Nachbarn gar nicht aufhörten, sich über die große Gelehrsamkeit des Jungen zu verwundern, packten die Eltern einen Sack Getreide, eine Büchse Butter und eine Dose gesalzene Fische zusammen und schickten Elias nach Ekenäs in die Schule. Nun wurde aber in Sammatti nur Finnisch gesprochen, und in der Schule von Ekenäs wurde der Unterricht ausschließlich in schwedischer Sprache erteilt. Das war eine schwierige Sache, aber es mußte gehen, und es ging. Es dauerte nicht lange, bis der Junge den Katechismus auch Schwedisch auswendig konnte. Aber nach ein paar Jahren gab es daheim weder Brot noch Butter noch gesalzene Fische mehr, die ihm die Eltern hätten schicken können, und so mußte Elias die Schule wieder aufgeben.

»Werde du Schneider, mein lieber Junge, und geh mit mir!« sagte der Vater.

Der kleine Elias seufzte, denn die Bücher gingen ihm nun einmal über alles; aber er war demütig, gehorsam und gelehrig, und so begleitete er den Vater auf die Bauernhöfe, saß aus dem Tisch wie andere Schneider auch, nähte und heftete, bis ihm die Finger weh taten. Bisweilen hatte er wohl auch ein Buch in der Tasche und schlich sich mit ihm davon, um zu lesen, früh am Morgen und spät am Abend. Kerzen hatte er in der dunkeln Jahreszeit keine, aber man kann ja auch bei einem Kienspan lernen.

»Elias wird ein tüchtiger Schneider,« sagte der Vater vergnügt. »Ja ja, es ist auch eine gewisse Kunst, ordentliche Knopflöcher zu machen und die Knöpfe so fest anzunähen, daß sie nicht jedesmal von der Jacke abspringen, wenn man sich satt gegessen hat.«

Aber als der Schneider wieder einmal eine solche kleine Rede hielt, fing der Junge an zu weinen.

»Warum weinst du denn?« fragte der Vater.

Da gestand der Junge, daß er lieber lernen, als Kleider zusammenheften würde.

»Ich werde mit dem Pfarrer sprechen,« tröstete ihn der Vater.

Der Pfarrer sagte: »Schickt ihn nach Åbo in die Schule! Da kann er mehr lernen als in Ekenäs.«

Der Vater überlegte sich die Sache, denn was der Pfarrer sagt, das muß wohl überlegt werden, und nachdem er dann noch mit den Nachbarn beratschlagt und von ihnen etwas Unterstützung bekommen hatte, wurde der Junge in die Åboer Schule geschickt.

»Nun, was hast du gelernt?« fragte der Rektor.

»Alles mögliche,« antwortete der Junge auf Finnisch; denn er hatte das bißchen Schwedisch, das er in Ekenäs gelernt hatte, schon wieder vergessen. Und als der Rektor ihn zu verhören anfing, antwortete er wieder auf Finnisch.

»Nein, das wird keinesfalls gehen,« sagte der Rektor. »Wie willst du denn in der Schule mitkommen, wenn du nur Finnisch kannst? Geh nur wieder heim! Ich kann dich nicht in die Schule aufnehmen.«

Das war um jene Zeit, wo in sämtlichen Schulen des Landes der Unterricht Schwedisch und Lateinisch erteilt wurde, Finnisch hingegen konnte man nur das Abc und den Katechismus lernen. Der Junge aus Sammatti hätte unbedingt wieder heimgehen und Schneider werden müssen, wenn sich die andern Lehrer der Schule nicht seiner erbarmt und bei dem Rektor ein gutes Wort für ihn eingelegt hätten. Hierauf wurde ihm erlaubt, in der untersten Klasse anzufangen und mit seinen Kameraden Schwedisch und Lateinisch zu lernen. Dazu gehörte viel Fleiß und Geduld, aber nach und nach gelang es ihm doch, und dann arbeitete er sich durch drei Schulklassen hindurch.

Doch nun waren alle Mittel in der armen Kate erschöpft, und Elias mußte abermals mit dem Ränzel auf dem Rücken heimwandern, um nicht mehr in die Schule zurückzukehren. Wieder wurde er Schneider und begleitete seinen Vater auf die Bauernhöfe; aber er war jetzt schon ein großer Junge, der bald sehr geschickt in seinem Handwerk war und Wämser und Jacken allein nähen konnte wie ein richtiger Geselle.

An einem Sonntag begegnete Elias dem Pfarrer, der eben aus der Kirche kam, und dieser fragte ihn, wie es mit seinen Studien gehe. Der Junge mußte gestehen, daß er jetzt Schere, Nähnadel und Bügeleisen studiere.

»Was soll das heißen?« rief der Pfarrer. »Sag' deinem Vater, du sollest von jetzt an jeden Sonntagnachmittag zu mir kommen, dann will ich Lateinisch mit dir lernen.«

Der Vater willigte ein, und nun ging der Junge jeden Sonntagnachmittag, wo er nicht zu schneidern brauchte, zum Pfarrer und lernte Lateinisch. Unter der Woche aber stand er eine Stunde früher auf und ging eine Stunde später zu Bett. Diese Stunden wurden zum Lernen der Aufgaben verwendet.

Und siehe, nach zwei Jahren sagte der Pfarrer zu ihm: »Jetzt kannst du nach Borga gehen und Gymnasiast werden.«

Und wirklich! Der Junge ging nach Borga, lernte und hungerte. Vater und Mutter konnten ihm nichts anderes schicken, als ein Stück eigengewebten Fries, aus dem er sich selbst einen Anzug machte; aber essen und trinken mußte er doch auch! So begann er in seiner freien Zeit in den Dörfern umherzuwandern und für einen Laib Brot und eine halbe Metze Roggen zu singen. Auf diese Weise erhielt er tatsächlich einen ganz annehmbaren Zuschuß zu dem, was er mitgebracht hatte. Als er sein Einkommen zusammenzählte, entdeckte er zu seiner Überraschung, daß er sich dreißig Tonnen Roggen ersungen hatte. Ei, das war gar nicht übel!

Von da an gab es sogar Zeiten, wo Elias nicht zu hungern brauchte. Doch man kann nicht das ganze Leben hindurch Gymnasiast sein, man muß auch Student werden. Woher aber sollte Elias nur das Geld nehmen, um nach der Universität Åbo zu reisen und sein Abiturium zu machen?

Zufällig hörte er, daß in der Apotheke von Tavastehus ein Gehilfe gesucht würde. Gleich wanderte er dahin und erklärte, er getraue sich die lateinischen Rezepte schon richtig herauszubringen. Die Sache glückte. Er erhielt die Anstellung in der Apotheke, lernte Pillen drehen und Tropfen zubereiten und wurde bald ein ebenso geschickter Provisor wie irgendein anderer.

Als er sich da eine kleine Summe erspart hatte, begab er sich auf die Universität und wurde Student, gleichzeitig mit Johan Ludwig Runeberg und Johan Wilhelm Snellmann. Das war wahrlich kein schlechter Jahrgang, der damals seine Studienlaufbahn antrat!

Elias hatte wie gewöhnlich nichts zum Leben; aber er war jetzt zwanzig Jahr alt und hatte gelernt, sich selbst durchzubringen. Warum sollte er hungern? Kaum war er Student, begann er mit jüngeren Knaben zu lernen und auf diese Weise sein tägliches Brot zu verdienen. Das war wieder ein hartes Stück Arbeit, aber es mußte gehen, und es ging. Volle fünf Jahre dauerte es, bis der junge Student alles eingeholt hatte, was er brauchte, um im Jahre 1827 sein Examen als Kandidat der Philosophie machen zu können und die erste akademische Würde zu erlangen. Aber schon im Jahre 1830 wurde er Kandidat der Medizin, 1832 Lizentiat und kurz darauf Kreisphysikus in Kajana. Jetzt hatte er also sein Auskommen und hätte sich ruhig nur der Ausübung seines Berufes widmen können.

Aber Doktor Elias Lönnrot interessierte sich ebenso lebhaft für die finnische Sprache und die alte finnische Volkspoesie wie Doktor Zacharias Topelius in Nykarleby. Im Jahre 1822 war Elias Hauslehrer bei einer Professorenfamilie gewesen, die den Sommer über auf dem Lande lebte, und in der Umgegend dort hörte er finnische Sagen erzählen und besonders auch finnländische Lieder singen. Da machte er seinen ersten Versuch, solche Lieder zu sammeln. Gleichzeitig lernte er Reinhold von Becker, einen jungen Sprachforscher kennen, der weit im Lande umhergereist war und eine ganze Anzahl Lieder gefunden hatte, die von Väinämöinen, dem Helden einer alten Sage handelten, der in den uralten finnischen Liedern eine große Rolle gespielt zu haben schien. Reinhold von Becker behauptete, wenn jemand alle die Lieder sammelte, die im Volk über diesen Väinämöinen lebten, würde es sich herausstellen, daß zwischen den verschiedenen Gedichten ein Zusammenhang bestehe, und man würde vielleicht ein ganzes finnisches Epos aus der Vorzeit entdecken. Elias Lönnrot war sofort Feuer und Flamme für diese Gedanken, und er begann voller Eifer nach solchen Liedern zu suchen, die von Väinämöinen handelten. Er fand auch eines nach dem andern, und schon im Jahre 1827 konnte er eine Schilderung von Väinämöinens Leben herausgeben.

Aber gerade in diesem Jahr gab auch Doktor Topelius auf Kuddnäs von seinem Krankenlager aus eine Sammlung »Die alten Runen des finnländischen Volkes« heraus. In der Vorrede erwähnte er, daß er seine besten Lieder von Kareliern erhalten habe, und ermahnte spätere Volksliederforscher, sich in deren Land zu begeben und dort selbst Nachforschungen anzustellen. Diese Ermahnung fiel bei Elias Lönnrot auf fruchtbaren Boden. Im Jahre 1828 machte er sich nach dem an Volksliedern reichen Karelien auf den Weg, durchstreifte das Land zu Fuß, befreundete sich mit der Bevölkerung und erfuhr, wo die besten Volksliederdichter gewohnt hatten. Als er heimkam, brachte er eine reiche Ernte mit, war aber trotzdem noch lange nicht befriedigt. Im nächsten Sommer unternahm er eine neue Fußwanderung, und je tiefer er in das Land hineinkam, desto mehr Volkslieder konnten ihm dessen Bewohner mitteilen. Da fand er nicht nur Lieder über den alten, weisen Väinämöinen, sondern er entdeckte auch Lieder, die von dem jungen tapferen Lämminkäinen, von der schönen Aino, dem kunstfertigen Schmiede Ilmarinen und der bösen, zauberkundigen Wirtin von Pohjola handelten.

Er fand diese Lieder bald hier, bald dort, und als er sie nach der Heimkehr genau studierte, gelangte er zu der Überzeugung, daß Reinhold von Becker recht gehabt hatte, und daß alle diese einzelnen Teile ursprünglich zusammengefügt gewesen waren und ein einziges Epos gebildet hatten. So gut er konnte, suchte er dieses wieder herzustellen. Daß es der einstigen auseinander gerissenen Dichtung völlig gleiche, wagte er freilich nicht zu behaupten; aber mit unendlicher Geduld glückte es ihm doch, das Ganze zu einem gewaltigen Gedicht zusammenzuschmelzen, das den großen vorzeitlichen Gedichten anderer Völker recht wohl den Rang streitig machen konnte. Schon im Jahre 1835 hatte er alle wichtigen Teile gefunden, und so konnte er denn seinem Volke die große Kalevala, das Epos der Vorzeit schenken. Damit hatte der arme Schneidersohn von Samatti, er, der so arm gewesen war, daß er für ein Stückchen Brot hatte singen müssen, der wieder und wieder seine Studien hatte unterbrechen müssen, um sich daheim als Schneider auf den Bauernhöfen seinen Lebensunterhalt zu verdienen – er hatte seinem Vaterlande eine Gabe darzubringen vermocht, die weit wertvoller war, als wenn er ihm ein Schiff voller Gold zugeführt hätte.

Elias Lönnrot hatte den Doktor in Nykarleby immer als einen Vorläufer betrachtet, und er gab ehrlich zu, daß er durch dessen Beispiel angeregt worden sei und seinem Rate zufolge, die Volkslieder in dem östlichen Karelien zu suchen, einen großen Teil seines Erfolges zu verdanken habe. Schon deshalb interessierte sich der junge Zacharias Topelius begreiflicherweise sehr für die Nachricht von der Entdeckung der Kalevala. Über deren poetischen Wert konnte er nicht gleich selbst urteilen, da er die finnische Sprache nicht beherrschte. Allmählich aber kam dann doch ein Lied nach dem andern in schwedischer Übersetzung heraus, und jetzt bemächtigte sich Zacharias' die größte Bewunderung, nicht nur für das Gedicht selbst, sondern auch für das Volk, das eine so reiche, eigenartige Poesie hatte hervorbringen können.

Es dauerte auch nicht lange, so versuchte er selbst, solche Volkslieder mit kurzen, vierfüßigen Verszeilen und Stabreimen zu dichten. Und da entdeckte er, daß ihm dieses Versmaß so überaus leicht von der Hand ging, wie wenn er dazu geboren wäre, den Beruf eines Volksliederdichters an den Ufern der großen Binnenseen Saima und Ladoga auszuüben.

Aber daß sein Dichten von der Kalevala beeinflußt wurde, war das wenigste. Auch bei der Wahl seines künftigen Berufes gab dieses Epos mit den Ausschlag.

Je mehr Zacharias diese wunderbare Dichtung kennen lernte, desto mehr verwunderte er sich darüber, daß das finnische Volk einst Sänger sein eigen genannt hatte, die gut mit Ossian und Homer verglichen werden konnten. Dieses finnische Volk, das er immer für eine rohe, nahezu bildungsunfähige Masse gehalten hatte, und das in der nun herrschenden Zeit sicherlich keine ähnlichen Schöpfungen hervorbrachte. Aber wie, vielleicht war dieser niedrige Standpunkt der finnisch sprechenden Bevölkerung nur anscheinend so? Wenn die Gabe der Dichtkunst einem Volke einmal verliehen gewesen war, so konnte sie doch nimmermehr verloren gehen? Wenn die Finnen aus ihrer Unwissenheit und Tatenlosigkeit aufgerüttelt wurden, kam diese Gabe vielleicht wieder zum Vorschein.

Immer stärker regte sich in Zacharias der Wunsch, dieser Erwecker der finnischen Rasse zu werden. Er überlegte, ob er sich die ärztliche Laufbahn aus dem Kopfe schlagen, statt dessen Pfarrer werden und sich um eine Pfarrei auf einem finnländischen Dorfe bewerben und da an der Hebung der Bevölkerung arbeiten sollte. Auf diese Weise würde er einen tiefen Einblick in das Wesen der Finnländer gewinnen können; niemand kommt ja dem Volke so nahe wie der Pfarrer.

War es nicht ein herrlicher Gedanke von Schwedens größtem Dichter, dem unvergleichlichen Almquist, gewesen, sich zu seinem schwedischen Volk hinauszubegeben, auf die Annehmlichkeiten des Lebens mit gebildeten Menschen zu verzichten, um das karge, harte Leben eines wärmländischen Bauern zu führen? Gab es einen edleren Beruf, als den Bauern die Schätze des Wissens zu bringen, während man selbst von ihnen Einfachheit, Geduld, Ausdauer lernte und immer mehr Verständnis für die gewaltige Poesie des kargen Ödlandes bekam?

Bauer wollte Topelius nun gerade nicht werden, aber Pfarrer. Zu Ende der dreißiger Jahre ging eine starke religiöse Bewegung durch das Land; von Zacharias Kameraden ließ sich einer nach dem andern mit fortreißen, sie besuchten Versammlungen, um für die wahre Frömmigkeit, für die durch den Pietismus wiedergeborene Religion zu wirken. Zacharias konnte diesen ernsthaften Schwärmern seine hohe Achtung und Bewunderung nicht versagen, einige davon gehörten zu seinen besten Freunden; sie suchten ihn zu ihren Ansichten zu bekehren und ermunterten ihn, seine Gaben als Diener des Reiches Gottes anzuwenden.

Zacharias schob indes jegliche Entscheidung hinaus, bis er sein Staatsexamen gemacht hätte; vorher brauchte er sich zu nichts zu entschließen. Auch gab es noch eine andere Laufbahn, die ihn gelockt hätte. Keines der wissenschaftlichen Fächer hatte ihn während seiner Studienjahre so gefesselt wie die Weltgeschichte. Da fand seine Phantasie Nahrung; eine Vorlesung des geliebten Professor Rein rief in ihm stets eine Fülle von Träumen hervor. Er saß nicht nur da und hörte zu, er lebte mit. Er kämpfte in der Schlacht bei Leipzig als finnischer Reiter, er zog auf dem schwankenden Eise über den Belt, er vollbrachte auf eigene Faust Taten, von denen noch kein Geschichtsprofessor eine Ahnung hatte.

Ein herrlicheres Los, als so wie Professor Rein aus einem Katheder zu stehen und Finnlands Geschichte darzulegen, ließ sich kaum denken.

Aber wenn auch Zacharias also die verschiedensten Berufe lockten, so fiel es ihm doch schwer, gegen die Bestimmungen seines Vaters zu handeln, und noch während des Jubelfestes stand sein Entschluß nicht fest. Sein Interesse für Geschichte war an diesen festlichen Erinnerungstagen größer geworden. Das Gelübde, das er in einem besonders erhebenden Augenblick abgelegt hatte und an das er kaum zu denken wagte, als er zu ruhiger Besinnung kam, glaubte er am besten erfüllen zu können, wenn er an der Universität einen Lehrstuhl erhielt. Da konnte er auf die Jugend einwirken, die hinausziehen und Finnlands Zukunft gestalten sollte. Im übrigen aber war es ein Gelübde, das er nicht nur als Professor, sondern auch als Pfarrer oder als Arzt einlösen konnte.

II.

Als Zacharias Topelius im August wieder nach Kuddnäs fuhr, wußte er noch immer nicht, welchen Beruf er wählen sollte. Aber als er ein gutes Stück aufs Land hinausgekommen war, hatte er das Gefühl, als riefe und lockte ihn jeder bewaldete Hügel, jede Anhöhe in der Heide. Und plötzlich erschien ihm die Wahl sehr leicht. Er konnte sich nur einem Berufe widmen, der ihm erlaubte, beständig in dieser herrlichen Landschaft, zwischen diesen Seen und Birkenhainen zu wohnen.

Nie hatte er eine so glühende Sehnsucht nach der freien Natur empfunden, nie vorher geahnt, daß diese es ihm am meisten angetan hatte, jetzt aber wußte er es. Und zugleich verschwanden sämtliche Zweifel und Bedenken. Sein Leben lag plötzlich deutlich vor ihm. Er war glücklich, nicht mehr nach dem suchen zu müssen, was am besten für ihn paßte.

Als diese große Klarheit und Gewißheit über Zacharias kam, befand er sich in der Nähe der Poststation Kahra in Kuortane, und man könnte wohl sagen, daß die innere Stimme, die ihm riet, sich auf dem Lande niederzulassen, immer lauter wurde, je näher er diesem Orte kam.

»Erinnerst du dich an das schöne Mädchen, das du hier in Kahra so oft gesehen hast?« sagte die Stimme zu ihm. »Du, der sich nach Schönheit und Poesie sehnt, wo könntest du beides in reicherem Maße finden, als bei dieser schüchternen, blauäugigen, wildwachsenden Blume?

Mit Ausnahme von Emilie, die du nicht erringen kannst, sag', sind nicht alle jungen Mädchen, die du kennst, durch eine aufs äußerliche gerichtete Erziehung verdorben? Sind sie nicht alle geziert, unbedeutend, überspannt? Wo findest du in der heutigen Zeit unverdorbenes, gesundes Menschentum, ausgenommen bei der finnischen Landbevölkerung? Und dieses Mädchen von Kahra, ist sie nicht die Verkörperung all des Reinen, Gesunden, Poetischen, das im Volke lebt?

Stelle dir vor, du suchtest das Herz dieser Tochter der Wildnis zu gewinnen, du brächtest sie dann für ein paar Jahre zu einer gebildeten Frau, du würdest ihre Fortschritte selbst sorgfältig überwachen – würde sie dir da mit der Zeit nicht eine Gattin werden, die deinen Wünschen mehr als jede andere entspräche? Würdest du nicht auf diese Weise eine Braut bekommen, die schlicht und gut wäre und ohne Zögern das bescheidene Los eines Landpfarrers mit dir teilte? Sie würde sich in der Einsamkeit wohl fühlen, und ihre Schönheit und Liebenswürdigkeit würden dein Heim in der Wildnis in einen wahren Lustgarten verwandeln.«

Was für eine köstliche Ruhe kam doch über Zacharias, während diese Stimmen sprachen! Er fühlte deutlich, daß dies das richtige für ihn sei. Den stürmischen Freuden des Lebens wollte er gern entsagen, sie lockten ihn nicht. In dem köstlichen Schatten rauschender Birken, am Ufer eines stillen Flusses, an der Seite einer geliebten Lebensgefährtin wollte er sein stilles Haus bauen, seine Leier schlagen, seine Herde weiden, zum Wohle der Menschen wirken soviel er konnte und über jene lachen, die sich darüber wunderten, daß er sich zu einem derartigen Leben entschlossen hatte.

Je näher er der Herberge kam, desto lebhafter träumte er von dieser Greta von Kahra, die er eigentlich kaum kannte und deren Schönheit er bisher nicht mehr beachtet hatte, als er Blumen, Sterne, kurz alles Schöne bewunderte, das ihm in den Weg kam.

Er hatte sie nur höchst selten gesehen. Sie war so schön, daß kein Mann an ihr vorübergehen konnte, ohne ihr eine Schmeichelei zu sagen; aber auf solche Weise hatte Zacharias bisher noch nie von ihr geträumt.

Jetzt fand er indes durchaus nichts Unnatürliches dabei. Nur warum er nicht eher auf diese Gedanken gekommen war, war ihm unerklärlich. Jetzt war er fest entschlossen, einen ersten Versuch zu machen. Eine bessere Art, das Lebensrätsel für sich zu lösen, konnte es gar nicht geben. Seine Mutter würde zwar vielleicht zuerst ein wenig erstaunt sein, aber sicherlich würde sie, die selbst so viel auf Einfachheit und Tüchtigkeit gab, seinen Plan gutheißen.

Doch siehe, als Zacharias bei seiner Ankunft in Kahra nach Greta fragte, erfuhr er zu seiner größten Überraschung, daß sie sich diesen Sommer verlobt habe und einen Bauern namens Hangola heiraten werde.

Hierüber war er, der bereits in Gedanken sein Examen als Pfarrer bestanden, Greta daheim auf Kuddnäs hatte erziehen lassen und mit ihr in ein hübsches kleines Pfarrhaus gezogen war, aufs höchste überrascht. Er hatte noch nie so bestimmt auf die Verwirklichung eines Traumes gerechnet wie diesmal. Jetzt war er geradezu verdutzt und mußte über sich selbst hellauf lachen.

Von einem wirklichen Kummer oder auch nur einer ernstlichen Enttäuschung konnte ja keine Rede sein. Als er Kahra verließ, sagte er sich, es sei eigentlich am besten, daß alles nur ein Traum geblieben sei. Der Name des Bräutigams gefiel ihm außerordentlich. Wie war er schön! Er würde sich vortrefflich für ein Gedicht eignen.

Nach der Heimkehr suchte Zacharias wirklich ein Gedicht über diesen »Traum auf der Landstraße« zu verfassen. Seine Gedanken spielten mit dem, was nichts zu bedeuten hatte, aber doch vorhanden war, von dem niemand etwas wußte, das aber für ihn doch volle Wirklichkeit war.

»Dort draußen,« schrieb er, »ganz dort draußen, so weit draußen, als der Vogel fliegt und als die Sonne scheint und als Gedanken einen Augenblick oder auch zwei hinschweifen, dort wohnt in einem Hofe, den du nicht kennst, jemand, von dem du nichts weißt.

Da ist ein See, ein Hain, eine Ebene, ein Wald, eine Kirche, ein Dorf, vielleicht auch eine Stadt. An diesem See, in diesem Haine, auf dieser Ebene, vor diesem Walde, bei dieser Kirche, in diesem Dorfe oder in dieser Stadt, da wohnen viele schöne Mädchen, die du nie gesehen hast, und unter ihnen ist eines, von dem du nie etwas geahnt hast.

»Jetzt errätst du es schon. Sie gleicht einem Morgen im Mai. Du kennst sie, sie ist ein Maiglöckchen, das duftet, ein lieblicher Ton, der über einen stillen See hinschwebt. Weißt du noch nicht, wen ich meine?«

So fuhr Zacharias ein paar Seiten lang fort. Er sprach davon, wie er ihr in einem Hain ohne Namen, unter unzähligen Blumen begegnet sei. Als ein Schelm einmal seinen Weg zu der Geliebten ausfindig machen wollte, habe er den Lüftchen Schlingen gelegt; aber nachdem er tausend Lüftchen und zehntausend Mondstrahlen gefangen hatte, habe er noch immer nicht auch nur einen einzigen von ihren Füßen niedergetretenen Grashalm gesehen, als sie sich ihm durch die Flucht entzog.

Ferner schrieb er, seine Braut heiße die Namenlose, die Unkörperliche, die Unhörbare, die Unaussprechliche, und er liebe sie im dichtesten, rosendurchdufteten Schleier eines nächtlichen Geheimnisses. Wenn jemand ihn sähe, während er sie auf die Lippen küßte, würde er vor Schmerz darüber sterben, weil das Unnennbare Gestalt angenommen hätte.

Als Zacharias dieses Spiel mit Worten fortsetzte, geriet er über die Schönheit der biegsam geformten Sätze und des wehmütigen Tonfalles, die ihm bei der Schilderung dieser Traumbraut geglückt war, geradezu in Entzücken. So fein und zart war der Traum, den er in seinem Herzen barg; nein, nicht einmal verraten wollte er, daß es nur ein Traum war.

»Eines Morgens in aller Frühe,« schrieb er, »atmete ich den Duft der Narzissen, den wehmütig lieblichen ein, und ich sagte mir: ›das ist sie!‹ Da hörte ich um mich her unter den Lilien und Blättern ein leises Lachen, und mir war, als flüsterten sie untereinander: ›jetzt wissen wir, wer sie ist, das ist sie!‹ Ich erschrak über diese Worte und über mich selbst, weil ich geoffenbart hatte, was die wesenlosen, ewig schweigenden Träume vergeblich zu erforschen gesucht hatten. Ich entfloh in weite Ferne und gelobte mir, auch nicht einen Schimmer meiner Ahnungen durch Worte zu trüben, die das Unaussprechliche verraten könnten.«

Zuletzt schwang sich Zacharias in diesem Liebesgedicht über einen Traum zu einer Huldigung des Geistes auf, der in seiner eigenen Seele wohnte, einer Huldigung jener Macht in der Tiefe der Seele, die alle Träume hervorbringt.

»Du, die ich ohne Namen, ohne Körper, ohne Laut liebe, oh, ich weiß ja so gewiß, daß du kein leerer Schall, nicht die bloße Verneinung dessen bist, was glühende Herzen so gerne fest an sich pressen, mit rosigen Wangen und heißem Blute schmücken. Ich weiß, daß du das Leben, die Schönheit, die Liebe bist, und dennoch kann niemand dein Wesen in diese, in irgendwelche Worte fassen. Du entfliehst dem Ausdruck meiner Lippen, wie das Höchste und Schönste beständig der Umarmung eines Erdgeborenen entflieht, hätte ich dich aber gefangen, so müßtest du vergehen. – – – Und dennoch weilst du beständig in meiner Nähe: Tag und Nacht sehe ich dein strahlendes Antlitz dicht vor mir, und dein Bild umschwebt mich, wohin ich auch gehe, wie ein flackernder Schein. Kenn' ich dich? Ach ja, die Vergewisserung meiner Seele bist du! Dein Wesen läßt sich nicht durch Duft, Farbe oder Ton binden, aber es durchstrahlt alle, ihre Schönheit ist nichts anderes als du – – –.«

Ob Zacharias Topelius, als er das schrieb, wußte, daß er sich wie ein Mystiker ausdrückte, wie einer jener Meister des innern Lebens, die sich in das Studium der Geheimnisse der Seele vertiefen und mit liebenden Worten versuchen, ihre Verbindung mit dem alles durchdringenden Weltgeist zu schildern?

Noch ein Gedicht schrieb Zacharias im Laufe dieses Herbstes, ein Gedicht, das verriet, wie stark ihn die Mystik jetzt anzog. Er nannte es »Dichtung und Wirklichkeit«, und in der letzten Strophe heißt es:

Des Lebens Traum und Wachen, wer kann sie erleiden?
Nur eine feine Linie trennt diese beiden.
Man sieht das ferne Meer in Himmel übergehen,
Der Wirklichkeiten Grenzen kann niemand sehen.

Daraus und aus noch vielem andern wollte er Hangolas Dichtung gestalten. Sie sollte aus kleinen, leicht beschwingten, hauchzarten Gedichten bestehen. Aus ihnen sollte von der Einöde her der Duft der Traubenkirsche strömen, aus ihnen sollte die Blauäugige von Kahra herauslächeln, und von der ewigen Zauberkraft des Unnennbaren, dem Mystischen, das aus der verborgensten Tiefe der Seele hervorquillt, sollten sie umschwebt sein.


Ende Oktober fuhr Zacharias auf der Rückreise nach Helsingfors wieder nach der Herberge Kahra.

Noch hatte er die schwere Wahl eines Lebensberufes nicht endgültig zu treffen vermocht, sicherlich, weil ihn keiner der drei Berufe, um die es sich seiner Meinung nach für ihn nur handeln konnte, völlig zusagte. Aber der Gedanke, Schriftsteller zu werden, erschien ihm doch allzu kühn, ihn wagte er kaum vor sich selbst einzugestehen.

Als er sich jetzt Kahra wieder näherte, bemächtigten sich seiner genau dieselben Gedanken wie das letzte Mal.

Die Sehnsucht nach dem Lande, nach dem einfachen Leben in der Natur, nach dem unverdorbenen finnischen Volke!

Er dachte an die Bauern und Postkutscher, die er auf seinen beständigen Reisen von und nach der Hauptstadt kennen gelernt und mit denen er sich so viel unterhalten hatte, als seine geringen finnischen Sprachkenntnisse zuließen. Bei allen diesen ungebildeten Menschen war ihm eine merkwürdige Mischung von reifer Überlegung und Kindlichkeit aufgefallen; außerdem hatte er bei ihnen eine Vertrautheit mit der Natur bemerkt, die sie instand setzte, ihrer Sprache einen unerschöpflichen Reichtum an Bildern zu verleihen.

Dieses Ursprüngliche und Tiefsinnige, wie man es nennen könnte, dieses gleichzeitig Weiche und Wilde, kurzgesagt, diesen poetischen Zug hatte er nirgends so ausgeprägt gefunden, wie bei der finnischen Bevölkerung. Er sehnte sich danach, eins mit ihr zu werden, bei ihr die alte Weisheit des finnischen Volkes kennen zu lernen.

Zacharias dachte daran, daß er selbst finnisches Blut in den Adern hatte, auch schwedisches natürlich, wenn er es ganz genau nahm auch jüdisches und slavisches. Aber der Stammvater seines Geschlechtes war ein Finne gewesen vom Hofe Toppila bei Uleåborg. In diesem Augenblick kam sich Zacharias vor wie ein landflüchtiger Mann, der sein ursprüngliches Vaterland wiederfinden möchte. Es war die Stimme des Blutes, die sprach; er sollte seinem finnischen Volk zurückgekauft werden!

Je näher er Kahra kam, desto festere Formen nahm seine Sehnsucht an. Wieder hörte er im blühenden Heidekraut, aus trockenem Laub, aus plätschernden Bächen und aus raschelnden Gräsern Stimmen flüstern:

»Komm heraus zu uns in die Wildnis! Da wollen wir dich so singen lehren, wie noch keiner gesungen hat. Wenn du dich der Aufklärung und Veredlung deines finnischen Volkes widmest, sollst du nicht unbelohnt bleiben.

Warum bist du das letzte Mal so schnell und unüberlegt zurückgewichen? Warum hast du nicht wenigstens einen Versuch gemacht, das schöne, blauäugige Mädchen aus Kahra zu erringen? Hast du ihre Blicke nicht verstanden? Glaub' doch nicht, daß sie den Bauern liebt, mit dem sie sich verlobt hat! Sprich mit ihr! Du bist der, den sie liebt. Der Wald ist erfüllt von ihrer Sehnsucht, das Heidekraut naß von ihren Tränen.

Begreifst du nicht, daß sie Finnlands Muse ist, die noch einmal über diese Erde hinwandeln darf! Sie, sie hat Aino Väinämöinen in ihren Gedichten besungen. Versuche sie zu erringen, sie, die aus dem Heidekraut der Wildnis Schönheit hervorzaubern kann!«

Während die Stimmen auf diese Weise in Zacharias' Ohren klangen, überkam ihn ganz wie das vorige Mal die größte Gewißheit und Sorglosigkeit. Jetzt war er wieder bei demselben Gedankengang angelangt. Er wollte mit diesem Bauern Hangola wetteifern und ihn aus dem Felde schlagen. Die Heideblume von Kahra mußte ihm gehören, ihm, der ihre Schönheit und schüchterne Liebenswürdigkeit zu schätzen vermochte. Kein anderer wußte, daß sie die Muse war. Kein anderer brauchte sie so notwendig zur Gattin wie er. Sie war die Eingebung, war das von oben Kommende, war das Mystische im Lied. Nie, nie würde er sie einem andern abtreten!

Der Tag war regnerisch gewesen, aber als Zacharias den Bauernhof zu Gesicht bekam, brach die Sonne durch die Wolken, und er faßte das als ein gutes Zeichen auf.

Auf Kahra hatte man den Reisenden schon entdeckt. Jemand sah die goldene Leier auf seiner Mütze glänzen und verkündigte auf dem ganzen Hofe, ein Student komme angefahren.

Zacharias knallte mit der Peitsche und fuhr schnell auf den Hofplatz herein. Am Fenster standen die Mägde sowie auch die Wirtin selbst und schauten hinaus.

»Das ist der Student, der seit so vielen Jahren hier durchreist, ja schon als er noch ein ganz kleiner Junge war,« sagten sie. »Seht, er hat noch heute seine alte Pfeife aus Birkenholz, seine Reisetasche aus Seehundleder und seine Pistolen!«

Zacharias merkte, daß er willkommen war. Die Kinder und jungen Mädchen versammelten sich um das Fuhrwerk. Sie warteten auf die guten Sachen, die er immer unter sie zu verteilen pflegte, und lachten im voraus über die lustigen Späße, die er dabei machen werde.

Er sprang aus dem Wagen und holte die Tasche mit seinem Reiseimbiß hervor. Seelenvergnügt bahnte er sich einen Weg durch die Schar und schaute dabei alle genau an. Nein! Die schöne Greta war nicht darunter.

Im Wartezimmer kam ihm der Wirt entgegen. Der alte Mann strahlte bei seinem Eintritt über das ganze Gesicht, genau wie die andern. Sie waren nun schon seit langen Jahren gute Freunde und wechselten jetzt einen kräftigen Händedruck miteinander. Dann wurde Zacharias' Schnapsflasche hervorgeholt, der Wirt erhielt seinen Teil, und hierauf begann er zu plaudern.

»Soso, der junge Herr reist jetzt wieder nach Helsingfors,« sagte er. »Wird er denn nie gelehrt genug? Er will wohl den Gesang der Vögel verstehen lernen?«

Derartige Spaße hatte der junge Magister schon öfter gehört. Er antwortete wie immer.

»Wenn es sich nur darum handelte, wär' ich sicher längst fertig,« sagte er. »Aber seht, ich bin noch immer dabei, die Kunst zu leben zu erlernen!«

So plauderten sie ein Weilchen über alles mögliche. Schließlich sagte der Bauer mit einem vielsagenden Blick:

»Ja, Greta seht Ihr dieses Mal nicht mehr. Sie ist jetzt mit Hangola verheiratet. Aber ob nicht Ihr der gewesen seid, den sie lieb gehabt hat, das weiß Gott.«

Die Hand des jungen Magisters, der sich gerade ein Stück von seinem Laib Brot abschnitt, zitterte, als er das hörte. Er konnte keine Silbe antworten. Sofort hörte er auf zu essen, packte stumm seine Habseligkeiten zusammen und fuhr auf und davon.

Erst als er schon ein gutes Stück Wegs hinter sich hatte, war ihm, als erwache er aus einer tiefen Ohnmacht. Er hatte gewiß einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen und war eine Zeitlang betäubt gewesen. Jetzt, wo er wieder zu sich kam, durchzuckte ihn ein heftiger Schmerz. Körper und Seele zitterten vor Qualen.

Hatte er das denn nicht erwarten müssen? Was für ein Wahnsinn war nur über ihn gekommen? Er verging fast vor Sehnsucht, vor qualvoller, brennender Sehnsucht. Er wollte umkehren, um Greta zu sehen, wenn auch nur für einen Augenblick.

Eine solche Leidenschaft hatte sein Inneres noch nie durchzittert. Eine solche Sehnsucht hatten weder Emilie noch Mathilda in ihm erweckt. Dies war einer jener Wirbelstürme der Gefühle, der die Menschen aus ihrer Bahn schleudert und sie dem Laster und Untergang in die Arme treibt.

III.

Am zweiten November 1840 spät abends wanderte Zacharias in seinem Zimmer in Helsingfors auf und ab. Er war aufs Höchste erregt und verzweifelt, rang die Hände und stieß kurze Schmerzenstöne aus. Plötzlich warf er sich vor einem Stuhl auf die Knie und betete zu Gott.

Während er so kämpfte und litt, durchzuckte sein Gehirn blitzartig ein Gedanke, ganz so, als sei er von außen gekommen und er selbst habe keinen Teil daran.

»Ach nein, das ist unmöglich,« sagte er sich und blieb mitten im Zimmer stehen. »So etwas kann nicht geschehen.«

Aber im selben Augenblick erinnerte er sich an die alte Brita Kiviranta daheim auf Kuddnäs und an alle ihre Erzählungen von Frauen, die die Männer, die ihre zärtlichen Gefühle nicht erwiderten, durch Hexenkünste in sich verliebt gemacht hatten. Sie vermochten in dem Herzen des andern eine solche Sehnsucht zu erwecken, daß diese den Tod herbeiführte, wenn sie nicht befriedigt wurde.

Zacharias schüttelte den Kopf, er schob den Gedanken weit von sich. Das wollte er nicht glauben. Wohl hatte alles Mystische von jeher eine starke Anziehungskraft auf ihn ausgeübt. Er hatte nie genug von Prophezeiungen, Wahrzeichen, Gespenstergeschichten hören können, aber nur, weil er solche Dinge in seine Phantasie aufnahm und sie dann in Poesie verwandelte. Auch nicht einen Augenblick wäre ihm bisher der Gedanke gekommen, selbst an den Nöck oder an Wichtelmännchen, an Liebesbeschwörungen oder irgendeine andere alte finnische Zauberkunst zu glauben. Rasch trat er an den Schreibtisch und griff nach der Feder, um die bösen sich in ihm regenden Gedanken zu verscheuchen. Was er schrieb, war ein Gebet:

»O Gott, im Dunkel hab' mit mir Erbarmen!
Nacht ist's in mir, trotz ird'schem Morgengrauen.
Ich dürste! Lebenswasser gib mir Armen,
Dem trotz der Erdenlast der Tod schafft Grauen.
Mag andern auch das Leben hold sich schmücken
Und lachen in der Jugend Glanzgefunkel,
Mich will die Luft sogar zu Boden drücken,
Des Himmels Sterne löscht das tiefe Dunkel!«

An Gott wendete er sich um Hilfe. Nie war seine Sehnsucht nach dem Ewigen stärker gewesen, als gerade jetzt, wo die Mächte der Finsternis über ihn herfielen. Aber Pfarrer werden, nein, das konnte er nach dem, was ihm jetzt widerfahren war, nicht mehr, das fühlte er deutlich.

Auch Arzt wollte er nicht werden. Er mußte sich einem Studium widmen, das er wirklich lieben konnte.

So ging er denn ein paar Tage später zu Professor Rein und meldete sich bei ihm zum philosophischen Lizentiatexamen mit der Geschichte als Hauptfach.

Die Arbeit sollte ihm Halt und Rettung werden. Er wollte nicht länger nach eigenem Glück streben, wollte durch Arbeit für das Vaterland Herr über seine Leidenschaft werden. Dem Dienst des Vaterlandes hatte er sich ein für allemal geweiht. Auf einem andern Wege gab es kein Glück für ihn.

Als die Weihnachtsferien herankamen, reiste er wieder über Kahra heim, aber diesmal ließ er sich Zeit, damit er Greta zu sehen bekäme. Zwar sah er dieser Begegnung mit großer Unruhe entgegen, aber er fühlte, es ging nicht anders, er mußte sie sehen. In ein Netz von Träumen war er verstrickt, und er begriff sich selbst nicht mehr. Er dachte sich, wenn er dieses einfache Mädchen, das er liebte, wiedersähe, würden sich seine aufgepeitschten Gefühle beruhigen. Ja, er glaubte beinahe, wenn er nur einmal in Gretas Nähe weilen dürfte, werde ihn diese sonderbare Liebe ebenso schnell verlassen, wie sie über ihn gekommen war. Wenigstens würde dann wohl das Dämonische verschwinden, das sich jetzt in seine Gedanken an sie eingeschlichen hatte.

Und sie sollte wieder seine sanfte Heideblume und sein unschuldiges finnisches Mädchen sein.

Aber das Beisammensein verlief nicht so, wie er gehofft hatte. Nachher dachte er noch mehr als zuvor, diese Greta von Kahra gebiete über eine gewisse finnische Zaubermacht. Sie brachte ihn so weit, daß er »seine Hand ausstreckte nach den Rosen der Sünde«. Ein Zufall, oder wie er lieber glaubte, die Hand des Allmächtigen rettete ihn. Von diesem Tag an fuhr er nicht gern an der Herberge Kahra vorüber, sondern wählte andere Wege.

Der Sehnsucht konnte er aber doch nicht entfliehen, sie verfolgte ihn mehrere Jahre lang. Noch immer dachte er an Greta, so wie er sie zuerst gesehen hatte, wo sie das Sinnbild von allem Guten und Reinen gewesen war, und da bekam das Lied von ihr einen sanften, warmen Ton. So sang er im Frühling des Jahres 1841:

»Du mein holdes, liebes, warmes,
Du mein Mädchen in der Ferne,
O daß du in dieses Ahorns
Trautem Schatten wieder säßest!
O daß hier an dieses Meeres
Wellumspülter Bucht du weiltest,
Und daß in des milden Mondes
Schimmerschönem Schein ich könnte
Zärtlich dir am Herzen ruhn!
Aber du zogst weit von hinnen,
Weilest fern in öder Fremde!
Sterne, die am Himmel glänzen,
Sehen fragend auf mich nieder.
Freundlich flüstern Meereswellen,
Wind fragt mich, warum ich traure,
Warum ich so einsam sei?
Und ich lege meine Hände
Sehnend auf mein Herz und bete:
Gib mein fernes Kind mir wieder!
Gib mir meine holde Blume!
Laß im Glanze ihrer Augen,
Meiner Augen Lieb' sich spiegeln!
Meines Herzens letzten Seufzer,
Laß mich in ihr Herz ergießen!
Dann will nimmermehr ich trauern,
Nimmermehr ich einsam klagen!«

Aber zu andern Zeiten sah er in Greta von Kahra die böse Versucherin, ein Wesen, das ihn verfolgte und ihn beunruhigte. Da glaubte er bei ihr etwas Dunkles, Dämonisches zu verspüren. Er kämpfte mit ihr, so wie christliche Heilige in früheren Zeiten mit Visionen aus der Welt der Sünde und Wollust gekämpft haben. In solchen Augenblicken wechselte er leidenschaftliche Worte mit dem Verfolger:

»Ha, stehst du wieder neben mir, du düsteres Mädchen, du, mein Dämon!

Von Qualen gehetzt, verblutet, verloren und aufgerieben bin ich dir in finsterer Nacht entflohen, wie man vor dem Tode flieht; ich entfloh dir, wie man vor dem Gewitter flieht, am liebsten wäre ich dem Leben selbst entflohen, und dennoch stehst du wieder neben mir!«

»Verstoße mich nicht, du wilder Geselle, o denk an den nächtlichen, wunderschönen Traum unserer Liebe! O denk an die glühenden holden Rosen und ihren Duft in dem stillen Schweigen der Nacht, o denk an die heißen, die seligen Tränen, denk an die Seufzer der glühenden Sehnsucht am späten Abend, draußen im Sturm in der unendlichen Einöde!«

»Hör' auf, hör' auf, die vergangene, die düstere Sünde heraufzubeschwören, die meinen Frieden zerstörte! Die Rosen alle, und alle die Tränen, und alle die Seufzer meiner furchtbaren Sehnsucht hab' ich in Lethes Wellen versenkt und begraben, aus meinem Leben hab' ich sie ausgelöscht.«

»Es ist vergeblich, du nichtiger Streiter, die feuerroten Erinnerungen der einstigen Liebe, die unausrottbaren schönen Gespenster, sie folgen dir auf Wegen und Stegen, ins Grab selbst versenken sie sich mit dir, in alle Ewigkeiten klammern sie sich an deinen Geist an.«

»O wenn du mich geliebt, wenn du, wie du sagst, mir allein dein Herz gegeben hast, dann, ich flehe dich an, weiche von mir, beschwöre nicht mehr das Feuer wach, das den Frieden meines ganzen Lebens zu Asche verbrennt!«


Es war, als könnte ihn diese Erinnerung nicht eher loslassen, als bis es ihm geglückt wäre, daraus ein Gedicht zu schaffen, ein Gedicht von großer, unvergänglicher Schönheit. Er versuchte es einmal ums andere, dies zu erreichen. Aber es glückte ihm erst im Herbst des Jahres 1845.

Da entstand »Der Student auf der Reise« in seiner fertigen, vollendeten Form. Da war alles Mystische überwunden, das Gedicht war frisch, lebendig, echte Wirklichkeit, und mit dem tragischen Schluß, den er hineingedichtet hatte, erhob es sich zu großer, edler Kunst.


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