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Das Jubelfest

Jetzt, ihr jungen Mädchen, Mathilda Lithén, Emilie Lindquist, und wie ihr alle heißen mögt, jetzt weicht auf die Seite! Eure Zeit war, aber sie ist nicht mehr. Eine große Mitbewerberin tritt jetzt auf den Plan.

Ihr seht sie nicht, aber wer ihr einmal begegnet ist, für den ist sie überall da. Ihr hört sie nicht, aber ihre Stimme klingt lauter als der stärkste Donner. Sie ist die Ungeborne, die nie stirbt, sie ist die Tatenlose, die Helden erzieht, die Stumme, die ihre Liebhaber die schönsten Worte, die herrlichsten Lieder lehrt.

Sie ist die Hungernde, die trotz aller Aufopferungen niemals satt wird, die Dürstende, die das Blut ihrer Söhne und Töchter trinkt, die Grausame, die denen, die ihretwegen in den Tod gehen, nur ein Lächeln nachsendet.

Sie ist eine Göttin, ein Nebel, ein Dunstgebilde, tausendmal schwebt sie vorbei, ohne je bemerkt zu werden. Sie ist's, die euch behütet und groß gezogen hat, die euch Wohnraum und Nahrung zuteil werden ließ, ihr habt ihr alles zu danken, aber zu Gesicht bekommen habt ihr sie noch nicht. Sie ist die Gastgeberin in einem großen Hause, wo ihr alle Tage zu Gaste seid, aber sie ist euch noch nie begegnet.

Ist es nicht selbstverständlich, daß alles andere weichen muß, sobald sie erscheint? Aber wie muß man es denn machen, um sie sehen zu können? Wann ließ sie, die den höchsten aller Namen trägt, sich herab, Zacharias Topelius zu ihrem Diener und Geliebten zu erwählen? Wann, wann fühlte er zum erstenmal den Kuß des Vaterlandes auf seinen Lippen brennen?

Das Helsingfors von 1830 glich einer jungen Schönheit, die allzu stolz im Bewußtsein ihrer natürlichen Reize es verschmähte, durch Kunst diese Reize noch zu erhöhen. Auf allen Seiten boten ja das Meer, die Inseln, die Ufer, die Berge und Parke Gelegenheit zu Anlagen, um die Europas schönsten Städte Helsingfors beneidet haben würden, aber nirgends war ein Versuch gemacht worden, sich diese Gelegenheit zunutze zu machen. Aus früheren bescheidenen Zeiten waren noch ein paar kleine Vergnügungsorte vor der Stadt vorhanden, zum Beispiel Tölö, die Sparkasse und Sörnäs, aber außer diesen gab es kaum einen Ort, wo man zusammenkommen, bei einem Regenschauer Schutz suchen oder ein Glas frisches Wasser erhalten konnte.

Ende der dreißiger Jahre trat indes eine Besserung ein; da wurde auf Veranlassung von Kommerzienrat Borgström die südlichste Spitze des Stadtgebietes durch Sprengung vieler kahler Felsblöcke und Ausrottung zahlloser Wachholdersträucher in den schönen Kurpark umgewandelt. Auch ein Kurhaus mit einem kleinen Kaffee und einem großen Kursaal wurde gebaut, das bei öffentlichen Veranstaltungen bald häufig benützt wurde.

Vielleicht betrachteten trotzdem die meisten diese Anlage hauptsächlich als einen Zufluchtsort für Kranke, oder sie meinten auch, er liege zu weit von dem Mittelpunkt der Stadt entfernt. Kurzum, es wurde nördlich von der Stadt in dem sogenannten Gesellschaftsgarten am Ufer der schönen Tölöer Bucht, die so tief in die Halbinsel von Helsingfors einschneidet, daß sie diese fast vom Festlande trennt, noch ein Vergnügungslokal gebaut. Und dieser Ausflugsort wurde dann nach der schwedischen Mamsell Kajsa Wahllund, die lange Zeit das beste Gasthaus der Stadt geführt hatte, Kajsaniemi genannt.

Aber nicht genug damit. Allen, die in der ersten Hälfte des Jahres 1840 die Hauptstadt besuchten, mußte es sofort auffallen, daß überall die alten Häuser abgekratzt und frisch angestrichen, sowie Neubauten möglichst schnell ihrer Vollendung entgegengeführt wurden. Das Straßenpflaster wurde gründlich untersucht und ausgebessert, die Bäume der Esplanade wurden von ihren dürren Ästen befreit, in allen Gärten wurden Blumen angepflanzt, Hecken beschnitten und Rasen angesät. Alte Bretterverschläge wurden entfernt und zwischen den Pflastersteinen auf dem Marktplatz alle Grashalme gründlich entfernt. Es war ganz deutlich, irgendein großes Ereignis stand bevor.

Alle öffentlichen Gebäude, vor allem solche, die zur Universität gehörten, wurden geputzt und ausgebessert. Mit besonderer Freude sah man, daß die Arbeiten an der Nikolaikirche, der großartigen Kathedrale, die den Senatsplatz beherrschte und dicht neben der Universität lag, jetzt höchst eifrig betrieben wurden. Endlich verschwanden die Gerüste, und das Innere der Kirche wurde eilig in Ordnung gebracht, damit sie benützt werden konnte. Dies war auch unbedingt notwendig; denn Finnlands Universität bereitete sich darauf vor, die Gedächtnisfeier ihrer Gründung durch Per Brahe im Jahre 1640 so feierlich wie nur immer möglich zu begehen, und man brauchte den gewaltigen Raum der Kirche zu Promotionen und Gottesdiensten.

Jeder Finnländer war von demselben Gefühle beseelt: die Universität, durch die das Land seine Geistlichen und Beamten selbst heranbilden konnte, war das kostbarste Geschenk, das man von der Schwedenzeit her besaß. Man brauchte sich nur auszumalen, wie alles gekommen wäre, als das Land in russische Hände überging, wenn man keine Universität gehabt hätte. Die finnischen Studenten hätten sich, um zu studieren, nach Petersburg begeben müssen und wären dann, von den Russen beeinflußt, als Fremde in ihr eigenes Land zurückgekehrt. Nein, die Universität war das wertvollste Erbteil des finnischen Volkes, und bei der Feier ihres zweihundertjährigen Bestehens konnten ihr nicht genug Ehren erwiesen werden!

Deshalb war es kein Wunder, wenn die Bewohner der Hauptstadt ihre Anteilnahme an dem Jubelfest nicht nur durch Neubauten und äußere Vorbereitungen an den Tag legten. Sicherlich gab es in der ganzen Stadt keine Familie, die sich nicht auf den Empfang weit herkommender Gäste vorbereitete. Die Postbeutel waren gespickt voll mit Einladungen, die an Verwandte und Freunde in der Provinz verschickt wurden. Sämtliche Schneider der Stadt arbeiteten an Uniformröcken, sämtliche Schuhmacher fertigten Tanzschuhe an. Vom Lande trafen große Bestellungen an Tüll und Tarlatan ein, und die Lager wurden allmählich leer. Wirte und Gasthofsbesitzer mußten weit aufs Land hinausfahren, um sich alles zu verschaffen, was sie an Schlachtvieh und Geflügel nötig hatten.

Am eifrigsten von allen aber arbeiteten natürlich die akademischen Mitbürger. Studenten jedes Alters, sogar solche, die schon als bemooste Häupter betrachtet wurden, büffelten plötzlich und ließen sich in einem Fach nach dem andern vorprüfen, um bis zu den großen Promotionen, die im Zusammenhang mit dem Feste stattfinden sollten, fertig zu werden. Professoren und Lehrer waren mit der Abfassung von Tischreden und Festschriften beschäftigt, Gesangvereine übten und wiederholten, und alle jungen Poeten verfaßten Festgedichte.

Unter den jungen Leuten, die während des Frühjahrs 1840 eine Prüfung ablegten, befand sich auch Zacharias Topelius. Recht sehr kam ihm dabei zustatten, daß Emilie nach Hause gereist war, denn da konnte er sich, ohne von dem Gedanken ihrer Anwesenheit in der Stadt gestört zu werden, seinen Vorbereitungen zu den Prüfungen, die von Februar bis April dauerten, widmen. Zacharias schlug sich, wenn auch nicht besonders glänzend, so doch ehrenvoll durch; er erhielt von Professor Rein in Geschichte cum laude, wie er sich das von Anfang an vorgenommen hatte, ebenso bei Professor Sahlbom in Naturgeschichte, was ihm eine Überraschung war. Einer der Examinatoren – und zwar der hebräische – verlangte gründlichere Kenntnisse, und Zacharias mußte die Prüfung noch einmal machen; aber dies war sehr erklärlich, da er in dem Glauben, das werde nicht verlangt, die Grammatik dieser Sprache nicht studiert hatte. Ein anderer Examinator, Norstedt, prellte ihn um ein laudatur in Chemie, das er redlich verdient zu haben glaubte. Im Lateinischen, dem er während seiner Studienzeit so viele Stunden gewidmet hatte, erhielt er cum laude und fand das durchaus hinreichend. Im Griechischen bekam er auch ein cum laude, bereute aber, dieses Fach nicht noch ein paar Wochen länger studiert zu haben, um ein für ihn erreichbares Iaudatur zu erhalten.

Während Zacharias sich mitten in diesen Vorprüfungen befand, verfaßte er ein kurzes Gedicht, das er »Nichts weiß ich« nannte. Merkwürdigerweise sagte er darin ungefähr dasselbe, was er in jenen Versen gesagt, die er bei seiner Abiturientenprüfung gedichtet hatte, nämlich: alle irdische Weisheit sei nichts, und sie könne den Wissensdurst, der in ihm wohne, niemals stillen. Gerade jetzt, wo er alle die Kenntnisse, die er sich in sieben Jahren mühsam erworben hatte, zur Prüfung vorlegen sollte, wurde er äußerst demütig: »Was ich weiß, ist ein Nichts!« rief er sich selbst zu. »Und ich, der das Wissen sammelte, bin auch ein Nichts.«

Anfang Mai machte er sein Examen, und er war glücklich, jetzt endlich so weit zu sein, um mit dem eigentlichen Brotstudium anfangen zu können. Und dies war tatsächlich höchst notwendig, weil es seiner Mutter mit jedem Jahre schwerer fiel, sich bares Geld zu verschaffen. Ja, mitunter hatte Frau Doktor Topelius nicht einmal soviel, einen Brief durch die Post schicken zu können. Sobald Zacharias' Examen vorüber war, schrieb sie aufs neue an den Sohn, schilderte ihm ihre bedrängte Lage und bat ihn, zwischen dem Examen und der Promotion nach Hause zu kommen; weil das gewiß billiger wäre, als wenn er in Helsingfors bliebe. Mitten in ihren Klageliedern erinnerte sie ihn indes daran, daß er zum Promotionsball einen Uniformrock haben müsse. Wenn er sich einen alten verschaffen könne, der noch hübsch genug sei, so wäre ihr das sehr lieb, im Notfalle aber müsse er sich doch einen neuen bestellen, denn hübsch solle ihr Sohn aussehen.

Als Zacharias also anfangs Mai nach dem Norden des Landes reiste, machte er überall dieselbe Wahrnehmung. Draußen auf dem Lande spielte das bevorstehende Fest eine fast ebenso große Rolle wie in der Universitätsstadt selbst.

Er machte die Entdeckung, daß alle vornehmen Herren auf dem Lande draußen, die regierenden sowohl wie die predigenden, die lehrenden wie die der Heilkunde beflissenen, sich auf die bei der Alma mater der Gelehrsamkeit verbrachten frohen Tage besannen und nun die Erinnerungen an ihre Studentenzeit wieder auffrischen wollten. Und wo der Vater nicht selbst studiert hatte, waren Söhne oder Verwandte da, die promovieren sollten, oder Töchter, die zu dem Jubelfest zu reisen wünschten, um einmal im Leben einen Promotionsball mitzumachen. In vielen Häusern hatte vielleicht kaum einer einen schwachen Begriff von dem Zweck und Grund des Festes selbst, aber alle wußten, daß etwas Großartiges stattfinden würde und daß sie dabei sein wollten.

Zacharias brachte diese Feststimmung mit nach Kuddnäs, und er hatte noch nicht viele Tage lang von all den Vorbereitungen, von allen den geladenen Menschen, von den siebzig Studenten aus Uppsala, die sich ein besonderes Dampfboot zu ihrer Reise nach Helsingfors gemietet hatten, erzählt, als seine Mutter sich auch schon ebenso warm für das Fest begeisterte wie alle andern. Und als sie dann gar hörte, daß sogar der Bischof Franzén, dessen Lieder sie ihren Kindern schon in der Wiege vorgesungen hatte, erwartet werde, drängte sie alle Geldsorgen zurück und entschloß sich, nach Helsingfors zu fahren, um dabei zu sein, wenn Zacharias mit dem Lorbeer gekrönt wurde.

Daß Schwester Sofie die Mutter begleiten würde, war selbstverständlich. Merkwürdigerweise wurde aber auch Stadtrat Lithén von der allgemeinen Begeisterung angesteckt, und so beschloß auch er, mit Frau und Töchtern dem Jubelfeste beizuwohnen. Natürlich machten beide Familien die Reise gemeinsam, und an einem schönen Sommertag im Juli fuhren sieben vergnügte Menschen durch das Nykarlebyer Stadttor hinaus. Die Doktorin und Sofie fuhren in ihrem Wagen an der Spitze der Reisegesellschaft, nach ihnen kamen der Stadtrat und seine Frau in einem Wagen, den Schluß bildeten Rosalie und Mathilda mit dem Vetter Zacharias auf dem Bock.

Während der langen Fahrt dachten alle an nichts weiter, als möglichst vergnügt zu sein. Man schlug sich allen Liebeskummer aus dem Sinne, niemand wollte sich das Bewußtsein, auf einer Vergnügungsreise zu sein, verderben lassen. Die Mädchen freuten sich über eine hübsche Blume am Straßenrand, über ein leuchtendes Johanniswürmchen, über einen rotbackigen Jungen an einem Zaun, über ein schönes Mädchen in einem Gasthof. Die Fahrt ging über Ilmola, das einstige Pfarrdorf des Oheims Johann Gabriel Toppelius, und sie begrüßten dessen Witwe auf der Durchreise; auch Kantor Finnström in Tavastehus besuchten sie, und dabei wurden Erinnerungen aus der Nykarlebyer Zeit aufgefrischt. Außerdem hatten sie das Glück, mitten in zwei große Bauernhochzeiten hineinzuplatzen, wo sie nicht nur die prächtigen Kleider der Hochzeitsgäste bewundern, sondern auch an der Bewirtung teilnehmen konnten. Sie unterhielten sich köstlich und verkehrten höchst ungezwungen mit der Hochzeitsgesellschaft. Zacharias wunderte sich fast, daß sich bei alledem die Liebe von einst nicht wieder in ihm regte. Aber er spürte nichts dergleichen. Sie war für immer tot und verschwunden.

Geradeso wie die Nykarlebyer waren jetzt Hunderte von vornehmen Familien auf dem Wege nach Helsingfors. Rüttelnd und schüttelnd rollten die hochräderigen Wagen mit ihnen dahin; die Wagenkasten waren mit Ballkleidern vollgepackt, die Wagentaschen mit Reisegepäck gefüllt, während der Kasten mit dem Reiseimbiß auf dem Boden des Wagens unter den Füßen der Reisenden stand und ein Turm von Hutschachteln auf dem Dach des Wagens aufgestapelt war. Der Eigentümer eines solchen Wagens fuhr vielleicht in die Hauptstadt, um sein Doktorjubiläum zu feiern, das junge Mädchen auf dem Rücksitz wollte vielleicht auf dem Promotionsball ihres Bräutigams tanzen, der Junge auf dem Bocke fuhr hin, um promoviert zu werden, und die Mutter auf dem Vordersitz begleitete alle, um Zeuge der Freude der andern zu sein.

In den Herbergen trafen sie dann Freunde aus alter Zeit, die aus demselben Grunde unterwegs waren. Sie kamen ins Plaudern, und die alte Freundschaft wurde bei einem kleinen Festmahl und den mitgebrachten Mundvorräten wieder aufgefrischt. Man erzählte einander, wie es einem an seinem Wohnorte erging, verglich seine Unannehmlichkeiten, prahlte mit Pferden, Vieh und Kindern und fühlte sich merkwürdig jung und aufgekratzt. Am nächsten Morgen stand man früh auf, um vor den andern zur Poststation zu kommen und ausgeruhte Pferde zu erhalten. Aber selbst wenn man sich noch so sehr beeilte, so waren am Abend, wenn man den Ort erreichte, wo man übernachten wollte, doch häufig schon alle Zimmer besetzt. Also hieß es, entweder im Reisewagen übernachten oder sich mit einem Strohlager in der Scheune begnügen. In den meisten Fällen lief alles im besten Einvernehmen ab, Ungefälligkeit und schlechte Laune hatte man zu Hause gelassen; jetzt war es das Beste, alles zu nehmen, wie es kam, und über die Unannehmlichkeiten lieber zu lachen als zu weinen.

Der Gedanke, daß Finnlands sämtliche Landstraßen aus demselben Grunde von Menschen wimmelten, wirkte geradezu aufmunternd. Auf den Straßen von Viborg, von Kuopio, von Uleåborg, von Åbo – überall herrschte dasselbe Leben. Man begriff kaum, wie so etwas möglich war. Gab es tatsächlich in Finnland so viele Menschen, die sich für die Universität interessierten? Gab es wirklich so viele studierte Leute, so viel Bildung?

Je näher die Reisenden der Hauptstadt kamen, um so mehr staunten sie. Da hatten sie alle in ihren einsamen Dörfern für sich gelebt und das Gefühl gehabt, als liege das Vaterland im tiefem Schlafe. Seit dreißig Jahren rührte sich in Finnland nichts mehr. Das Land war nach den Verheerungen und Unglücksfällen des vorhergehenden Jahrhunderts todmüde, und die russische Verwaltung ließ es in Ruhe. Nichts geschah, um es aus dem Schlafe zu wecken. Aber wahrhaftig – hatte man nicht jetzt schon auf der Landstraße das Gefühl, als sei das Vaterland lebendig oder wenigstens im Begriff aufzuwachen?

Und wer weiß? Vielleicht war es das Wagengerassel auf den Straßen, vielleicht war es all der frohe Lärm auf den Poststationen gewesen, was die Schlafende aus ihrem dreißigjährigen Schlummer geweckt hatte. Nun kam sie herbei aus der Tiefe des Waldes, noch etwas schlaftrunken mit Moos im Haar, die Augen noch ein wenig geblendet von dem ungewohnten Sonnenlichte. Die schönen Glieder waren wieder stark und kräftig, das Gesicht lachte vor Lebenslust, aber die Faulheit lag ihr noch in den Gliedern. Sie wäre wohl auch wieder auf ihr Lager aus weichem Laub niedergesunken, wenn nicht alle diese nach Süden rollenden Fuhrwerke ihre Neugier erregt hätten.

»Hier geht etwas vor, woran ich unbedingt teilnehmen muß,« dachte sie. In aller Eile verfertigte sie sich einen blumendurchwirkten Mantel, setzte sich eine Krone aus Tannenzapfen auf und eilte nach der Hauptstadt, wie alle die andern auch.

Als dann Stadt und Land in Helsingfors zusammentrafen, merkte man wohl, daß die Göttin anwesend war. Niemand wußte, wie sie hierhergekommen war, ob sie heimlich in den Wagen eines Oberpräsidenten hineingeschlüpft war oder sich an eine einfache Postchaise hinten angehängt hatte, aber alle hatten das bestimmte Gefühl, daß sie unter ihnen weile.

Das merkte man sofort an der Freude und dem Vertrauen, mit dem sich Stadt und Land entgegenkamen. Als die Landleute in der Hauptstadt eintrafen, wunderten sie sich über deren Größe und Stattlichkeit, über deren Fortschritte und Aufblühen.

»Wir Finnen sind doch kein rückständiges, untergehendes Volk!« riefen sie, »Seht, wir haben ja Dichter, Gelehrte, Forscher, wir haben Männer, die große Unternehmungen wagen, wir schreiten mit unserer Zeit fort!«

Die Hauptstadtbewohner aber priesen wiederum die führenden Männer in den abgelegenen Orten, die in den vergangenen Jahren die gesetzmäßige Ordnung aufrechterhalten, die Wunden nach dem großen Kriege geheilt und den Boden für eine neue Ernte bestellt hatten.

Aber auf diese Gedanken kamen sie nur, weil das Vaterland zugegen war. In seinem grünen mit Blumen verzierten Schleppgewand mit der Krone aus Tannenzapfen auf dem Haupte zeigte es sich seinem Volke wieder in junger, blühender Schönheit, an der die Jahre spurlos vorübergegangen waren, zu neuen Taten bereit, wert, für das Vaterland zu leben und zu sterben.

Mittwoch, den fünfzehnten Juli, nahmen die Festlichkeiten ihren Anfang, aber schon am Tage vorher hatte Zacharias Topelius ein deutliches Gefühl von der Anwesenheit des Vaterlandes gehabt.

Bischof Franzén wurde Dienstag abend auf der von Åbo nach Helsingfors führenden Landstraße erwartet, und ungefähr hundert Studenten hatten sich ein Stück vor der Stadt draußen, beim Tölöer Wirtshaus, versammelt, ihn zu empfangen. Als nun der alte Bischof wirklich in seinem Wagen dahergefahren kam, wurde dieser von der jungen Schar angehalten. Zuerst sangen sämtliche Studenten einige Franzén zu Ehren verfaßte Verse, dann trat Frederik Cygnäus, der beste Redner der Studentenschaft, vor und hielt eine Ansprache. Er sagte ihm, er und seine Altersgenossen hätten schon in der Wiege Lieder von einer wunderbaren Schönheit gehört, die mit ihren Kindheitserinnerungen, mit den Gebeten ihrer Mütter und dem Segen ihrer Väter unzertrennlich verknüpft seien. Und jetzt begrüße er den Dichter dieser Lieder und heiße ihn in seinem Vaterlande willkommen.

Während Frederik Cygnäus also sprach, bemächtigte sich der Anwesenden eine Stimmung, die vielleicht eher durch die Bedeutung dieses Augenblickes als durch die Worte des Redners hervorgerufen wurde. Alle dachten daran, wie Franzén vor einundfünfzig Jahren, in dem blutigen Revolutionsjahr 1789, in Åbo den Magisterkranz hatte in Empfang nehmen dürfen, sie dachten an alles, was zwischen jenem Tage und dem heutigen lag: an Franzéns erfolgreiche, unvergeßliche Tätigkeit an der Akademie, an die Eroberung des Landes durch die Russen, an die Übersiedelung des Dichters nach Schweden, an den zähen Kampf der Zurückbleibenden, um dem Lande seine Stellung unter den gebildeten Staaten zu erhalten. Sie dachten an den getreuen Widerhall, den Franzéns Lieder noch immer in diesem Lande fanden, und zu dem allen gesellte sich jetzt die Freude, den liebenswürdigen Mann mitten unter sich zu haben und ihm zeigen zu können, daß Finnland seine Prüfung gut bestanden hatte. Alles das wirkte zusammen, diesen Augenblick so erhebend und ergreifend schön zu machen, daß ihn keiner je wieder vergessen konnte.

Als Franzén hierauf von seiner unveränderten Liebe für das einstige Vaterland sprach, schien er dieses mit seinen Worten vor aller Augen heraufbeschworen zu haben. Sie sahen es vor sich, als seien sie plötzlich auf eine unermeßliche Höhe hinausgehoben worden und sähen nun das Land zwar arm und kärglich, aber wunderbar schön mit seinen Seen und Hügeln, seinen Flüssen und Wäldern zu ihren Füßen liegen. Und dieser Anblick rief mächtige Gefühle der Freude, der Wehmut und innigen Liebe hervor; unwillkürlich traten allen die Tränen in die Augen.

Lange, nachdem der Wagen des alten Bischofs, von einem lauten Hurra begleitet, nach der Stadt weitergefahren war, standen die Studenten noch immer auf demselben Platz. Sie waren nicht allein; das Vaterland befand sich mitten unter ihnen.

Niemand hatte während der Anwesenheit des verehrten Greises ein Wort darüber fallen lassen, daß er Finnland in einem Augenblick verlassen hatte, wo ihn dieses so notwendig gebraucht hätte. Aber alle hatten im stillen gefragt:

»Du, der Finnland verließ, um in ein Land zu ziehen, das du für dein geistiges Vaterland hieltest, hattest du eine richtige Wahl getroffen? Hast du sie nie bereut, dich nie zurückgesehnt? Hast du in deinem neuen Heimatland dieselbe Liebe empfangen, die wir dir geschenkt haben würden? Hat nicht deine Leier das Tannenrauschen deines Vaterlandes vermißt?«

Während die jungen Studenten, mit diesen Fragen beschäftigt, noch immer stille standen, trat ihnen das Vaterland immer deutlicher vor Augen. Ihnen war, als sähen sie es wie ein lebendes, liebendes Wesen, das beide Arme nach dem ausbreitete, der soeben vorübergefahren war, als hörten sie es fragen: »Wie hast du mich verlassen können?«

Und alle durchzuckte ein Gefühl schmerzlicher Zärtlichkeit für dieses Land, das noch immer über den Verlust eines großen Sohnes trauerte. Nein, sie würden es niemals im Stiche lassen!

Ach, wie stolz und glücklich fühlten sich doch die, deren Väter dieselbe Prüfung durchgemacht hatten, ohne ihr zu unterliegen! Ein Zacharias Topelius, der zwei Vorfahren aufweisen konnte, die von einem sorgenlos frohen Leben in fremdem Lande in das Vaterland zurückgekehrt waren, fühlte sich stolzer, als wenn in seinen Adern königliches Blut geflossen wäre.

Innig vereint in der Liebe zu einem Wesen, das sie alle liebten, kehrten die hundert Studenten still nach der Stadt zurück. Alle wollten, wenn ihre Zeit gekommen war, Finnland für den Verlust entschädigen. Finnlands Ruhm sollte groß, unermeßlich werden.

Am nächsten Tage nahm die lange Reihe der Feierlichkeiten mit dem Festakt in der Universität ihren Anfang. Dies war der große Gedächtnistag, wo die Geschichte dieser zweihundert Jahre allen noch einmal vor Augen geführt und gepriesen wurde. Am Donnerstag fand die Promotion der theologischen Doktoren statt, am Freitag wurden die Juristen promoviert, am Samstag die Mediziner, am Sonntag war Ruhetag, am Montag aber waren die Magister und Doktoren der Philosophie an der Reihe, das Zeichen ihrer Würde zu empfangen.

Während diese feierlichen Handlungen an den Vormittagen stattfanden, wurden die Nachmittage Festessen und Bällen gewidmet. Am Mittwoch waren von der Universität dreihundertfünfzig Personen zum Mittagessen geladen, am Donnerstag veranstaltete die Handelskammer einen Ball im Kurhaus, am Freitag hielten die Ärzte in Kajsaniemi ein Gastmahl, am Sonntag war wieder großer Ball im Kurhaus, und am Montag feierten die Philosophen ihren Ehrentag mit einem Festmahl und einem Balle ebendaselbst.

Aber während dieser ganzen Reihe von festlichen Tagen, bei den Promotionen sowohl als auch bei den Bällen, bei feierlichen lateinischen öffentlichen Reden wie bei mutwilligen Gelegenheitsgedichten herrschte immer ein und derselbe Ton. Das kam nur daher, daß jene Fremde aus dem Walde, die eben erwachte Schläferin, unter ihnen weilte. Seitdem sie da war, hatte alles andere zurücktreten müssen. Alle vergaßen, daß sie sich hier versammelt hatten, um das Jubiläum einer Universität, einer Gelehrtenwelt zu feiern. Sie feierten in diesen Tagen in der Tat nur die Auferstehung des Vaterlandes, die Wiederkehr froher Hoffnung, Finnlandia rediviva.

Wie oft an diesen Festtagen wurde allgemein bedauert, daß die siebzig Studenten aus Schweden nicht hatten kommen können! Der russische Gesandte hatte sich in letzter Stunde geweigert, ihnen einen Paß auszustellen. Aber sie hätten unbedingt dabei sein müssen! Sie hätten als Vertreter des einstigen Vaterlandes da sein und sehen müssen, wie Finnland zu neuem Leben erwachte; denn sie hätten gewußt, was das bedeutete und hätten sich mehr als alle andern darüber gefreut.

An jenem Montag, wo Zacharias promoviert werden sollte, begab man sich zuerst im Zuge von der Universität in die Nikolaikirche. Dann kam der feierliche Akt, wobei Franzén als Erster den Magisterkranz erhielt.

Der Geistliche sprach an diesem Tage über das Textwort: »Lasset euer Licht leuchten vor den Leuten!« Aber wieder machte sich das nämliche bemerkbar: das Vaterland beherrschte die Gedanken aller. Seinem Dienste, nicht dem eigenen Ruhm und Gewinn, wollten sich die jungen Magister weihen. Hohe Begeisterung wehte durch das Gotteshaus. Wer diese Augenblicke des Wachrüttelns miterlebt hatte, dem prägten sie sich fürs ganze Leben ein. Gar mancher von der jungen Schar legte Gelübde ab, faßte ernste Vorsätze. Und unter diesen jungen Leuten, die dem Vaterland ein feierliches Versprechen gaben, war auch Zacharias Topelius.

»Hier sind viele junge Leute anwesend, die Finnland lieben,« sagte er sich. »Die einen wollen arbeiten, um es reich zu machen, die andern wollen ihm zu Ruhm verhelfen, wieder andere wollen alles tun, damit ein frommes, Gott gefälliges Land aus ihm werde. Ich aber, ich will Finnland zu einem Lande machen, darin das Leben eine Freude ist; ich will ihm frohe und freundliche, aufgeweckte und lernbegierige Bewohner geben, ich will es reich an Heimstätten machen, in denen Glück und Genügsamkeit leuchtet, ich will Künstler hervorrufen, die das Leben verschönen, will einen Rosenstrauch vor jedes Häuschen pflanzen, ich will das ganze Land zu einem Rosengarten machen.«

Zuerst lächelte er über diesen Gedanken, aber gleich darauf hatte er das Gefühl, als habe er mit diesen Worten genau das ausgedrückt, was er am liebsten tun würde. Sein Leben war bisher so glücklich verlaufen wie kaum eines, und dennoch hatte er sich immer einen erträumten Lustgarten schaffen müssen, um es aushalten zu können. Warum sollte es so sein müssen? Warum sollte er gezwungen sein, sich neben der wirklichen Welt noch eine zweite zu erträumen? Das Leben mußte sich doch so einrichten lassen, daß es schön und erträglich wäre. Jeder Mensch, der in Finnland weilte, sollte das Gefühl haben, in einem Paradiese zu leben.

»Das soll mein Ziel sein, dafür will ich wirken,« sagte Zacharias erhobenen Hauptes. »Das soll mein Tribut an mein Vaterland sein.«

Die Promotion hatte sich indessen lange hingezogen, und erst um halb sechs Uhr konnten sich die Philosophen zum Mittagessen im Kurhaus einfinden. Wie hungrige Wölfe fielen sie über die ersten Gänge her, und kurz darauf nahm das Trinken in noch größerem Maße seinen Anfang. Den ganzen Tag über war man in steifen Uniformen in den Schraubstock hergebrachter Sitten eingezwängt gewesen. Jetzt wollte man die akademische Freiheit genießen, wollte man sich gehen lassen. Aber auch jetzt wurde man das Gefühl nicht los, daß die Augen des Vaterlandes auf einem ruhten. Kein einziger benahm sich roh, keiner ging zu weit, keiner störte die Festfreude.

Und erst der Ball, bei dem dann die ganze Nacht hindurch bis um fünf Uhr morgens getanzt wurde! Was für einen schönen Anblick bot schon allein der Ballsaal! Das war keiner der in Helsingfors üblichen Bälle, sämtliche Schönheiten der Provinz waren ja anwesend. Es war ein Landesball, das konnte man ruhig sagen. Diese Schwestern und Basen und Bräute vom Lande waren wunderbar natürlich, gesund und lebhaft. Sie hatten lebensfrohe Gesichter, schelmische Augen, eine höchst ungezwungene Art, sich zu geben. Ihre Kleider waren keineswegs ländlich, ebensowenig wie ihr Benehmen; aber ihre Freude war natürlich, ihre Anwesenheit anregend, der Tanz wurde zu jenem berauschenden Vergnügen, das er immer sein sollte. Hier fand Zacharias, was er nie vorher erlebt hatte: das Großartige derartiger Veranstaltungen in einer Hauptstadt vereint mit der Herzlichkeit und Gemütlichkeit einer Nykarlebyer Gesellschaft.

Aber auch hier im Ballsaal ahnte er die Nähe der Göttin. Und plötzlich dünkte ihn alles wunderbar und bedeutungsvoll. Diese jungen, schönen Mädchen waren auserwählte Boten des Vaterlandes. Ihr Tanz hatte einen tiefern Sinn, sie waren Nymphen, von Wiesen und Hainen gesandt; und anmutig drehten sie sich im Kreise, um die Auferstehung des Vaterlandes zu feiern.

Als Zacharias spät am Morgen heimkam und sich todmüde auf sein Bett warf, konnte er lange nicht einschlafen. Und während er so dalag und den Schlaf herbeisehnte, sah er, wie sich die Tür seines Zimmers plötzlich öffnete und eine hohe, in einen langen blumenbestickten Mantel gehüllte Gestalt eintrat, die eine Krone aus Tannenzapfen auf dem Kopfe trug.

Zacharias wußte sofort, wer sie war, aber ganz bestürzt über die Anwesenheit des hohen Gastes in seinem bescheidenen Zimmer, wußte er nicht, was er sagen oder tun sollte, sondern blieb still und unbeweglich liegen.

Die Göttin aber trat an sein Lager.

»Ich habe dein Gelübde angenommen,« sagte sie. »Von dieser Stunde an bist du mein.«

Damit beugte sie sich herab und drückte einen Kuß auf seine Lippen.


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