Selma Lagerlöf
Der Ring des Generals
Selma Lagerlöf

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12

Der junge Baron Adrian lag in dem großen Bett der Eltern, bleich und regungslos. Wenn man den Finger auf sein Handgelenk legte, konnte man spüren, daß das Blut noch durchströmte, aber fast unmerklich. Er hatte nach der tiefen Ohnmacht die Besinnung noch nicht wiedererlangt, aber das Leben war nicht erloschen.

Einen Arzt gab es nicht im Kirchspiel Bro, aber ein Knecht war um vier Uhr früh nach Karlstad geritten, um zu versuchen, einen herbeizuschaffen. Es war eine Reise von sechs Meilen, und wenn der Doktor daheim war und aus der Stadt fortfahren wollte, konnte man ihn frühestens in zwölf Stunden erwarten. Aber man mußte sich auch darauf gefaßt machen, daß es einen oder gar zwei Tage dauern konnte, bis er sich einfand.

Die Baronin Löwensköld saß an der einen Seite des Bettes und verwandte kein Auge von dem Gesicht des Sohnes. Sie schien zu glauben, daß der schwache Lebensfunke nicht erlöschen würde, wenn sie dasaß, unablässig wachend und behütend.

Der Baron saß zeitweilig an der anderen Seite des Bettes, aber er vermochte sich nicht still zu halten. Er nahm die eine schlaffe Hand des Sohnes zwischen die seinen und fühlte den Puls, er trat ans Fenster und blickte die Landstraße hinunter, er machte eine Runde durch die Zimmer, um auf die Uhr im Speisesaal zu sehen. Dabei beantwortete er die eifrigen Fragen, die in den Augen der Töchter und der Gouvernante zu lesen waren, mit einem Kopfschütteln und ging in das Krankenzimmer zurück.

Dort hinein durfte sonst kein anderer als Jungfer Spaak. Nicht die Töchter, auch keine der Mägde, nur die Jungfer. Sie hatte den rechten Gang, die rechte Stimme, sie paßte in ein Krankenzimmer.

Jungfer Spaak war bei Adrians Aufschrei mitten in der Nacht erwacht. Als sie gleich darauf den schweren Fall gehört hatte, war sie aufgesprungen. Sie hatte die Kleider um sich geworfen, sie wußte selbst nicht wie. Aber es gehörte zu ihren Weisheitsregeln, daß man nie unbekleidet hinauslaufen soll, denn dann kann man sich nicht nützlich machen. Im Speisesaal war sie der Baronin begegnet, die herausgelaufen war, um Hilfe zu rufen, und dann hatte sie und die Eltern Adrian in das große Doppelbett gehoben. Zuerst hatten sie alle drei geglaubt, daß er schon tot sei, aber dann hatte Jungfer Spaak eine kleine Bewegung am Puls des Handgelenkes bemerkt.

Sie hatten einige der üblichen Wiederbelebungsversuche vorgenommen, aber das kleine Lebensfünkchen war überaus schwach, und bei allem, was sie taten, schien es nur noch an Kraft abzunehmen. Bald verloren sie den Mut und wagten nichts mehr zu versuchen. Man konnte nichts andres tun als da sitzen und warten.

Der Baronin tat es wohl, Jungfer Spaak drinnen zu haben, weil sie ganz ruhig und felsenfest überzeugt war, daß Adrian bald wieder aufwachen würde. Sie ließ sich von der Jungfer alles machen, das Haar kämmen und die Schuhe anziehen; als das Kleid angelegt werden sollte, mußte sie aufstehen, aber sie überließ es der Jungfer, zu knöpfen und glattzuziehen und verwandte kein Auge vom Gesicht des Sohnes.

Die Jungfer brachte ihr eine Tasse Kaffee und bewog sie mit freundlicher Hartnäckigkeit, sie auszutrinken.

Die Baronin hatte das Gefühl, daß die Jungfer die ganze Zeit bei ihr drinnen war, aber die Jungfer war auch draußen in der Küche und sorgte dafür, daß die Leute ihr Essen wie gewöhnlich bekamen. Sie vergaß nichts. Sie war bleich wie der Tod, aber sie versah ihre Obliegenheiten. Das Frühstück der Herrschaften kam zur rechten Zeit auf den Tisch, und der Hirtenbub bekam einen Rucksack mit, als er mit den Kühen auszog.

In der Küche fragten die Dienstleute sie, was denn dem jungen Herrn Baron zugestoßen sei, und die Jungfer erwiderte, das einzige, was man wüßte, sei, daß er zu den Eltern hineingestürzt war und etwas vom General gerufen hatte. Dann war er ohnmächtig geworden, und jetzt war es unmöglich, ihn wieder ins Leben zurückzurufen.

»Das ist ja sicher, daß der General ihm erschienen ist,« sagte die Köchin.

»Ist es nicht merkwürdig, daß er mit einem seiner eigenen Leute so unsanft umspringt?« wunderte sich das Stubenmädchen.

»Ach, es ist ihm wohl die Geduld mit ihnen ausgegangen. Sie haben ja nichts anderes getan, als ihn ausgelacht. Er wollte doch seinen Ring haben.«

»Du wirst doch nicht glauben, daß der Ring sich hier in Hedeby befindet?« sagte das Hausmädchen. »Er wäre imstande, uns das Haus über dem Kopf anzuzünden, um ihn wiederzukriegen.«

»Gewiß steckt er hier in irgendeinem Winkel,« sagte die Köchin, »sonst würde er doch nicht beständig hier im Hause herumstreichen.«

Jungfer Spaak wich an diesem Tag von ihrer schönen Regel ab, nie auf das zu hören, was die Dienstleute über die Herrschaft zu sagen hatten.

»Was ist denn das für ein Ring, von dem ihr da sprecht?« fragte sie.

»Weiß die Jungfer nicht, daß der General hier umgeht und nach seinem Siegelring sucht?« sagte die Köchin, die sich über die Frage freute.

Sie und das Stubenmädchen beeilten sich, Jungfer Spaak mit der Geschichte von der Grabplünderung und dem Gottesurteil bekannt zu machen, und als die Jungfer all dies gehört hatte, zweifelte sie keinen Augenblick, daß der Ring auf irgendeine Weise nach Hedeby gekommen war und da verborgen lag.

Ein Zittern durcheilte Jungfer Spaak, ungefähr so wie damals, als sie dem General zum erstenmal auf der Bodentreppe begegnet war. Das hatte sie ja schon die ganze Zeit befürchtet. Sie wußte jetzt, wie grausam und unbarmherzig dieser Geist sein konnte. Es stand ihr klar und deutlich vor Augen: wenn er seinen Ring nicht zurückbekam, mußte Baron Adrian sterben.

Aber kaum war die Jungfer zu dieser Schlußfolgerung gelangt, als sie, die ja eine resolute Person war, auch erkannte, was nun zu tun war. Wenn der entsetzliche Ring sich noch in Hedeby befand, so mußte man ihn ja ausfindig machen können.

Sie ging zuerst in das Wohnhaus hinüber, warf einen Blick in das Krankenzimmer, wo alles unverändert war, lief dann die Bodentreppe hinauf und machte das Bett in Adrians Zimmer zurecht, damit es bereit war, falls ihm besser wurde und man ihn hinauftragen konnte. Dann ging sie zu den Fräuleins und der Gouvernante hinein, die ganz verschüchtert dasaßen und nicht imstande waren, irgend etwas vorzunehmen. Sie sagte ihnen von dem, was sie erfahren hatte, so viel, daß sie wußten, um was es sich handelte, und fragte sie, ob sie ihr nicht helfen wollten, nach dem Ring zu suchen.

Doch, da waren sie gleich dabei. Die Fräuleins und die Gouvernante übernahmen es, drinnen im Hause zu suchen, in den Zimmern und den Bodenkammern. Jungfer Spaak begab sich in den Küchentrakt und setzte alle Mägde des Hauses in Bewegung.

Der General zeigt sich ja ebenso oft in der Küche wie im Haupthaus, dachte sie, irgend etwas sagt mir, daß der Ring sich hier draußen befindet.

Man drehte alles in Küche und Speisekammer, in der Backstube und im Brauhaus von unterst zu oberst. Man suchte in Mauerritzen und Feuerstellen, leerte die Gewürzkastenladen aus und stocherte sogar in den Mauselöchern.

Über all dem vergaß sie nicht, immer wieder über den Hof zu laufen und einen Blick in das Schlafzimmer zu werfen. Bei einem ihrer Besuche dort sah sie, daß die Baronin dasaß und weinte: »Es geht ihm schlechter,« sagte sie. »Ich glaube, er liegt im Sterben.«

Jungfer Spaak beugte sich vor, nahm Adrians kraftlose Hand in die ihre und fühlte die Pulsschläge.

»O nein, Frau Baronin,« sagte sie, »nicht schlechter, eher etwas besser.«

Es gelang ihr, die Herrin zu beruhigen, aber selbst war sie in heller Verzweiflung. Man denke, wenn der junge Baron nicht am Leben blieb, bis sie den Ring fand!

In ihrer Angst vergaß sie einen Augenblick, auf sich selbst achtzugeben. Als sie Adrians Hand niederlegte, liebkoste sie sie ganz leise. Selbst war sie sich dessen kaum bewußt, aber die Baronin bemerkte es.

»Mon dieu,« dachte sie, »armes Kind. Steht es so? Vielleicht sollte ich ihr doch sagen . . . aber es bedeutet ja nichts, da wir ihn doch nicht behalten dürfen. Der General zürnt ihm, und wem der General zürnt, der muß sterben.«

Als Jungfer Spaak wieder in die Küche hinauskam, fragte sie die Mägde, ob es hier in der Gegend keinen Menschen gäbe, den man bei solchen Unglücksfällen zu holen pflegte. Mußte man denn durchaus warten, bis der Doktor kam?

Ja, anderswo schickte man ja wohl um Marit Erikstochter aus Olsby, wenn jemandem etwas zugestoßen war. Sie konnte Blut stillen und Gelenke wieder einrichten, und sie würde wohl auch Baron Adrian aus dem Todesschlummer wecken können, aber hierher nach Hedeby wollte sie sicherlich nicht kommen.

Während die Hausmagd und die Jungfer noch von Marit Erikstochter sprachen, stand die Köchin ganz oben auf einer Leiter und guckte auf das hohe Wandbrett, wo sich einmal die in Verlust geratenen Silberlöffel wiedergefunden hatten.

»Ah,« rief sie, »hier finde ich etwas, wonach ich schon lange gesucht habe! Hier liegt ja Baron Adrians alte Zipfelmütze!«

Jungfer Spaak bekreuzigte sich. Da in der Küche mußte eine schöne Ordnung geherrscht haben, bevor sie nach Hedeby gekommen war! Wie konnte Baron Adrians Zipfelmütze hier hinausgekommen sein?

»Daran ist gar nichts so Merkwürdiges,« sagte die Köchin. »Er hatte sie ausgewachsen, und da gab er sie mir, damit ich mir ein paar Topflappen daraus mache. Das ist wirklich gut, daß ich sie jetzt gefunden habe.«

Jungfer Spaak nahm ihr hastig die Mütze aus der Hand.

»Es ist schade, sie zu zerschneiden,« sagte sie, »man kann sie einem Armen geben.«

Gleich darauf nahm sie die Mütze und ging damit auf den Hof hinaus, wo sie den Staub daraus auszuklopfen begann. Während sie noch damit beschäftigt war, kam der Baron aus dem Haupthause.

»Es kommt uns vor, daß es Adrian schlechter geht,« sagte er.

»Ist denn hier in der Nähe niemand, der etwas von der Heilkunst versteht?« fragte die Jungfer ganz unschuldig. Die Mägde sprechen von einer Frau, die Marit Erikstochter heißt.«

Der Baron erstarrte.

»Natürlich würde ich nicht zögern, meinen ärgsten Todfeind holen zu lassen, da es sich um Adrians Leben handelt,« sagte er. »Aber es würde nichts nutzen. Marit Erikstochter kommt nicht nach Hedeby.«

Jungfer Spaak wagte keinen Widerspruch, als ihr dieser Bescheid geworden war. Sie setzte die Suche durch den ganzen Küchenflügel fort, sorgte für das Mittagessen und erreichte es, daß auch die Baronin ein paar Bissen zu sich nahm. Der Ring war nicht gefunden worden, und Jungfer Spaak wiederholte einmal ums andere für sich selbst: wir müssen den Ring finden. Der General läßt Adrian sterben, wenn wir ihm den Ring nicht finden.

Am Nachmittag wanderte Jungfer Spaak nach Olsby hinüber. Sie ging aus eigenem Antrieb. Die Pulsschläge waren jedesmal, wenn sie bei dem Kranken gewesen war, schwächer und schwächer geworden und in längeren Zwischenräumen gekommen. Sie hatte nicht die Ruhe, auf den Doktor aus Karlstad zu warten. Es war ja mehr als wahrscheinlich, daß Marit nein sagen würde, aber die Jungfer wollte kein Mittel unversucht lassen.

Marit Erikstochter saß, als Jungfer Spaak kam, auf ihrem gewöhnlichen Platz auf der Treppe vor dem Speicher. Sie hatte keine Arbeit in den Händen, sondern saß zurückgelehnt mit geschlossenen Augen da. Aber sie schlief nicht. Sie blickte auf, als die Jungfer gegangen kam, und erkannte sie sofort.

»Aha,« sagte sie, »schicken sie jetzt um mich aus Hedeby?«

»Hat Sie schon gehört, wie schlecht es bei uns steht, Marit?« sagte Jungfer Spaak.

»Ja, ich habe es gehört,« sagte Marit, »und ich will nicht kommen.«

Jungfer Spaak antwortete ihr mit keiner Silbe. Eine schwere Hoffnungslosigkeit senkte sich auf sie herab. Alles schlug ihr fehl, und dies war das Allerschlimmste. Sie konnte sehen und hören, daß Marit froh war. Sie hatte da auf der Treppe gesessen und sich über das Unglück gefreut, sich darüber gefreut, daß Adrian Löwensköld sterben mußte.

Bisher hatte sich die Jungfer aufrecht gehalten. Sie hatte nicht geschrien, nicht geklagt, als sie Adrian auf dem Boden ausgestreckt gesehen hatte. Sie hatte nur daran gedacht, ihm und all den anderen zu helfen. Aber Marits Widerstand brach ihre Kraft. Sie begann zu weinen, heftig und unaufhaltsam. Sie wankte zu einer grauen Stallwand, lehnte die Stirn daran und weinte und schluchzte.

Marit beugte sich ein wenig vor. Lange Zeit verwandte sie kein Auge von dem armen Mädchen.

»Ach so, steht es so um sie?« dachte sie.

Aber während Marit noch so dasaß und sie betrachtete, die die Tränen der Liebe um den Geliebten weinte, ging in ihrer eigenen Seele etwas vor.

Sie hatte vor ein paar Stunden erfahren, daß der General Adrian erschienen war und ihn fast zu Tode erschreckt hatte, und sie hatte sich gesagt, daß die Stunde der Rache endlich gekommen war. Darauf hatte sie seit vielen Jahren gewartet, aber immer vergebens. Rittmeister Löwensköld war in die Grube gefahren, ohne daß irgendeine Strafe ihn getroffen hatte. Freilich war der General, seit sie den Ring nach Hedeby geschafft hatte, dort umgegangen und hatte gespukt, aber es hatte den Anschein gehabt, als brächte er es doch nicht übers Herz, sein eigen Fleisch und Blut mit der gewohnten Grausamkeit zu verfolgen.

Aber nun war das Unglück über ihnen, und gleich kamen sie zu ihr, um Hilfe zu erbitten. Warum gingen sie nicht lieber gleich zu den Toten auf dem Galgenhügel?

Es tat ihr wohl, zu sagen: Ich komme nicht. Das war ihre Art, Rache zu nehmen.

Aber als Marit das junge Mädchen so stehen und weinen sah, den Kopf an die Wand gepreßt, erwachte eine Erinnerung in ihr. »So habe ich auch dagestanden und habe geweint, an die harte Mauer gelehnt. Ich hatte keinen Menschen, auf den ich mich stützen konnte.«

Und damit brach der Quell der Jugendliebe wieder in Marit auf und erfüllte sie mit seiner heißen Flut. Staunend saß sie da und sagte zu sich selbst: »So fühlte man es damals. So war es, einem gut zu sein. Ein so süßes und starkes Gefühl war es.«

Sie sah den jungen, fröhlichen, starken, schönen Paul Eliasson vor sich. Sie gedachte seines Blickes, seiner Stimme, sie erinnerte sich an jede seiner Bewegungen. Ihr ganzes Herz war von ihm erfüllt.

Marit glaubte, daß sie ihn all die Zeit geliebt hatte, und das hatte sie wohl auch. Aber wie waren die Gefühle in den langen Jahren doch kühl geworden! Jetzt, in diesem Augenblick, brannte ihre Seele wieder in voller Glut.

Aber während die Liebe so in ihr erwachte, erinnerte sie sich auch an den furchtbaren Schmerz, den es einem Menschen bereitet, den Geliebten zu verlieren.

Marit sah zu Jungfer Spaak hinüber, die noch immer dastand und weinte. Nun wußte Marit, wie ihr zumute war. Eben erst hatte die Kühle der Jahre auf ihr gelegen. Da hatte sie vergessen, wie das Feuer brennt, jetzt wußte sie es. Sie wollte nicht die Ursache sein, daß jemand das leiden mußte, was sie selbst gelitten hatte, und sie stand auf und ging zu der Jungfer hin.

»Komm' Sie, ich werde mit Ihr gehen,« sagte sie ganz kurz.

Jungfer Spaak kam also mit Marit Erikstochter nach Hedeby zurück. Den ganzen Weg hatte Marit kein Wort gesprochen. Die Jungfer sagte sich später, daß sie im Gehen wohl darüber nachgedacht hatte, wie sie es anstellen sollte, den Ring zu finden.

Die Jungfer ging mit Marit geradewegs auf den Haupteingang zu und führte sie in das Schlafgemach. Da war alles unverändert. Adrian lag da, schön und bleich, aber still wie ein Toter, und die Baronin saß daneben und bewachte ihn, ohne sich zu regen. Erst, als Marit Erikstochter an das Bett trat, sah sie auf.

Aber kaum hatte sie die Frau erkannt, die dastand und den Sohn ansah, als sie vor ihr zu Boden sank und das Gesicht an ihren Rock drückte.

»Marit, Marit,« sagte sie. »Denk' nicht an all das Böse, das die Löwenskölds dir zugefügt! Hilf ihm, Marit! Hilf ihm!«

Die Bäuerin wich ein wenig zurück, aber die arme Mutter schleppte sich ihr auf den Knien nach.

»Du weißt nicht, welche Angst ich gehabt habe, seit der General hier umzugehen begann. Die ganze Zeit habe ich gebebt und gewartet. Ich wußte, daß sein Groll sich jetzt gegen uns kehren würde.«

Marit stand still. Sie schloß die Augen und schien in sich selbst zu versinken. Jungfer Spaak war sicher, daß es ihr wohl tat, die Baronin von ihren Leiden sprechen zu hören.

»Ich wollte zu dir gehen, Marit, und vor dir auf die Knie fallen, wie ich es jetzt tue, und dich bitten, den Löwenskölds zu verzeihen. Aber ich wagte es nicht. Ich glaubte, es sei dir unmöglich, zu verzeihen.«

»Die Frau Baronin soll mich auch nicht bitten,« sagte Marit. »Denn es ist so: ich kann nicht verzeihen.«

»Aber nun bist du doch hier.«

»Ich bin der Jungfer zuliebe gekommen, weil sie mich gebeten hat.«

Damit trat Marit an den anderen Rand des breiten Bettes. Sie legte ihre Hand auf die Brust des Kranken und murmelte einige Worte. Dabei runzelte sie die Stirn, wölbte die Augen vor und zog den Mund zusammen. Jungfer Spaak fand, daß sie sich gerade so anstellte, wie andere weise Frauen.

»Er wird am Leben bleiben,« sagte Marit. »Aber die Frau Baronin muß sich wohl merken, daß ich ihm einzig und allein der Jungfer zuliebe helfe.«

»Ja, Marit,« antwortete die Baronin, »das werde ich nie vergessen.«

Es kam der Jungfer vor, als ob die Herrin etwas hinzufügen wollte, aber sie unterbrach sich und biß die Lippen hart aufeinander.

»Und nun lassen Frau Baronin mir freie Hand.«

»Du kannst tun und lassen, was du willst, Marit, der Baron ist fort. Ich habe ihn gebeten, dem Doktor entgegenzureiten, damit er rascher kommt.«

Jungfer Spaak hatte erwartet, daß Marit Erikstochter irgendwelche Versuche machen würde, den jungen Baron aus seiner Betäubung zu wecken, aber zu ihrer großen Enttäuschung tat sie nichts dergleichen.

Marit verlangte vielmehr, daß man alle Kleider Baron Adrians herbeischaffe, sowohl diejenigen, die er jetzt trug, wie solche, die er in früheren Jahren benutzt hatte, und die etwa noch vorhanden waren. Sie wollte alles sehen, was er einmal am Leibe gehabt hatte, Strümpfe und Hemden, Handschuhe und Mütze.

An diesem Tage tat man auf Hedeby nichts anderes als suchen. Obgleich Jungfer Spaak darüber seufzte, daß Marit nichts andres zu sein schien, als eine gewöhnliche »weise Frau« mit den gewöhnlichen Zauberkünsten, beeilte sie sich doch, aus Truhen und auf Dachböden, aus Laden und Schränken, alles hervorzukramen, was dem Kranken gehört hatte. Die jungen Fräuleins, die recht gut Bescheid wußten, was Adrian getragen hatte, waren ihr behilflich, und sie kamen recht bald mit einem ganzen Pack Kleider zu Marit hinunter.

Marit breitete die Sachen auf dem Küchentisch aus und prüfte jedes einzelne Stück genau. Ein paar alte Schuhe legte sie beiseite, ebenso ein paar kleine Fäustlinge und ein Hemd. Unterdessen murmelte sie eintönig und unablässig: »Ein Paar für die Füße, ein Paar für die Hände, eins für den Körper und eins für den Kopf.«

»Ich muß noch etwas für den Kopf haben,« sagte sie plötzlich mit ihrer gewöhnlichen Stimme. »Ich muß etwas haben, was warm und weich ist.«

Die Jungfer zeigte ihr die Hüte und Kappen, die sie hervorgeholt hatte.

»Nein, es muß etwas sein, das warm und weich ist,« sagte Marit. »Hatte Baron Adrian nicht auch eine Zipfelmütze wie andere Buben?«

Die Jungfer wollte gerade sagen, daß sie keine gesehen hätte, aber die Köchin kam ihr zuvor.

»Ich hab' doch heute vormittag seine alte Zipfelmütze auf dem Wandbrett dort drüben gefunden, aber die Jungfer hat sie mir weggenommen.«

So in die Enge getrieben, mußte Jungfer Spaak mit der Zipfelmütze herausrücken, die sie nie hatte hergeben, sondern als ein teures Andenken bis zum Ende ihrer Tage hatte behalten wollen.

Als Marit die Zipfelmütze bekommen hatte, begann sie wieder ihre Litanei zu murmeln, aber jetzt war ein anderer Ton in der Stimme. Es klang so, wie wenn eine Katze vor Vergnügen schnurrt.

»Nun,« sagte Marit, nachdem sie lange mit der Mütze dagestanden und in sie hineingemurmelt und sie hin und her gedreht hatte, »nun ist nichts mehr nötig. Aber all dies muß in das Grab des Generals gelegt werden.«

Aber als Jungfer Spaak dies hörte, war sie ganz verzweifelt.

»Wie kann Sie glauben, Marit, daß der Baron das Grab öffnen läßt, um solchen alten Plunder hineinzulegen?« sagte sie.

Marit sah sie an und lächelte ein wenig. Sie nahm Jungfer Spaak bei der Hand und zog sie an ein Fenster, so daß sie all den anderen in der Küche den Rücken kehrten. Hierauf hielt sie der Jungfer Adrians Mütze vor die Augen und zerteilte mit den Fingern die Fäden der großen Troddel.

Nicht ein Wort sagte sie, und nicht ein Wort sagte Jungfer Spaak, aber die Jungfer war totenbleich, als sie sich in das Zimmer zurückwendete, und ihre Hände zitterten.

Marit machte aus den ausgewählten Sachen ein kleines Bündel und übergab es der Jungfer.

»Jetzt habe ich das Meinige getan,« sagte sie, »nun müßt ihr andern dafür Sorge tragen, daß dies in das Grab hinunterkommt.«

Damit ging sie.

*

Jungfer Spaak wanderte ein wenig nach zehn Uhr abends zum Kirchhof hinauf. Sie hatte Marits Bündelchen mitgenommen, aber im übrigen war es nichts anderes als eine Wanderung aufs Geratewohl. Wie es ihr gelingen sollte, die Sachen in das Grab des Generals hinunterzubringen, davon hatte sie keine Ahnung.

Baron Löwensköld war gleich, nachdem Marit fortgegangen war, in Begleitung des Doktors herangeritten gekommen, und die Jungfer hatte gehofft, daß der Arzt Adrian ins Leben zurückrufen konnte, ohne daß sie etwas weiteres in der Sache zu tun brauchte. Aber der Doktor hatte sofort erklärt, daß er nichts machen konnte. Er sagte, daß der junge Mann nur mehr einige Stunden zu leben hätte.

Da hatte Jungfer Spaak das Bündel unter den Arm genommen und sich auf den Weg gemacht. Sie wußte, daß es keine Möglichkeit gab, Baron Löwensköld zu bewegen, die Grabplatte abheben und das zugemauerte Grab öffnen zu lassen, nur um ein paar von Baron Adrians alten Kleidungsstücken hineinzulegen.

Wenn sie ihm gesagt hätte, was sich wirklich in dem Bündel befand, dann wußte sie, daß er den Ring sofort seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben hätte; aber damit würde sie einen Verrat an Marit Erikstochter begangen haben.

Denn sie zweifelte nicht daran, daß es Marit gewesen war, die einstmals den Ring nach Hedeby geschafft hatte. Baron Adrian hatte ja erwähnt, daß Marit einmal seine Mütze ausgebessert hatte. Nein, die Jungfer wagte es nicht, den Baron über den wahren Sachverhalt aufzuklären.

Jungfer Spaak wunderte sich später selbst, daß sie an jenem Abend keine Angst verspürt hatte. Aber sie stieg über die niedere Kirchhofmauer und ging zu dem Löwensköldschen Grabe, ohne an etwas anderes zu denken, als wie sie den Ring hinunterbringen könnte.

Sie setzte sich auf die Grabplatte und faltete die Hände zum Gebet. »Wenn Gott mir nicht hilft,« dachte sie, »so wird das Grab wohl geöffnet werden, aber nicht um des Ringes willen, sondern für einen, den ich ewig betrauern werde.«

Mitten im Gebet bemerkte die Jungfer eine kleine Bewegung im Grase, das den niedrigen Grabhügel bedeckte, auf dem der Grabstein ruhte. Ein kleines Köpfchen lugte hervor und verschwand wieder, als die Jungfer zusammenzuckte. Denn Jungfer Spaak hatte ebensoviel Angst vor Ratten wie die Ratten vor ihr. Aber dies rief in der Jungfer eine plötzliche Eingebung wach. Sie ging geradewegs zu einem großen Fliederbusch, brach einen langen, dürren Ast ab und steckte ihn in das Rattenloch hinunter.

Sie steckte ihn zuerst senkrecht hinab, aber da stieß sie sofort auf Widerstand. Dann versuchte sie ihn schräg nach abwärts zu führen, und da drang er weit hinunter in der Richtung des Grabes. Sie wunderte sich, wie tief er eindrang. Die ganze Gerte verschwand. Sie zog sie hastig wieder hinauf und maß sie an ihrem Arm. Sie war drei Ellen lang, und sie war ihrer ganzen Länge nach in die Erde versenkt gewesen. Dieser Zweig mußte drunten in der Grabkammer gewesen sein.

Jungfer Spaak war in ihrem ganzen Leben nicht so ruhig und geistesgegenwärtig gewesen. Sie begriff, daß die Ratten sich einen Weg in das Grab hinunter gebahnt haben mußten. Es war vielleicht ein Spalt in der Mauer gewesen, oder auch war irgendein Ziegelstein verwittert.

Sie legte sich flach auf den Boden, riß ein Rasenstückchen los, grub die lockere Erde aus und steckte den Arm hinein. Sie kam ohne Hindernis tief hinunter, aber doch nicht ganz bis zu der Mauer. Der Arm reichte nicht.

Da knüpfte sie ganz geschwind das Bündel auf und nahm die Mütze hervor. Sie wand sie um den Ast und versuchte sie langsam in das Loch zu schieben. Bald war sie verschwunden. Sie schob nun den Stecken ebenso langsam und vorsichtig immer tiefer und tiefer hinunter. Da plötzlich, als er fast gänzlich unten in der Erde war, fühlte sie, wie er ihr mit einem heftigen Ruck aus der Hand gerissen wurde. Er rutschte in das Loch hinunter und verschwand.

Es konnte ja möglich sein, daß er nur durch seine eigene Schwere gefallen war. Aber sie war ganz sicher, daß er ihr entrissen worden war.

Und jetzt bekam sie endlich Angst. Sie nahm all das andere, das noch im Bündel war, und stopfte es in das Loch hinunter, legte Erde und Rasen zurecht, so gut sie konnte und lief auf und davon. Sie ging nicht einen Schritt, sondern sie lief den ganzen Weg bis nach Hedeby.

Als sie auf den Hof kam, standen der Baron und die Baronin auf der Vortreppe. Sie kamen ihr eifrig entgegen.

»Wo ist die Jungfer gewesen?« fragten sie sie. »Wir stehen hier und warten auf Sie.«

»Ist Baron Adrian tot?« fragte Jungfer Spaak.

»Nein, er ist nicht tot,« sagte der Baron, »aber sage uns die Jungfer jetzt zuerst, wo Sie gewesen ist!«

Die Jungfer konnte kaum sprechen, so atemlos war sie, aber sie erzählte von dem Auftrag, den Marit ihr gegeben hatte, und sagte, daß es ihr gelungen sei, wenigstens eines der Stücke durch ein Rattenloch in das Grabgewölbe hinunterzubringen.

»Das ist sehr merkwürdig, Jungfer Spaak,« sagte der Baron, »denn Adrian geht es wirklich besser. Er ist vor einem kleinen Weilchen aufgewacht, und seine ersten Worte waren: ›Jetzt hat der General den Ring bekommen.‹«

»Das Herz schlägt wieder wie gewöhnlich,« sagte die Baronin. »Und er will durchaus mit der Jungfer sprechen. Er sagt, daß die Jungfer ihn gerettet hat.«

Sie ließen Jungfer Spaak allein zu Adrian hineingehen. Er saß aufrecht im Bett und breitete die Arme aus, als er sie sah.

»Ich weiß es, ich weiß es schon!« rief er. »Der General hat den Ring bekommen, und das ist das Verdienst der Jungfer.«

Jungfer Spaak lachte und weinte, wie sie so in seinen Armen lag, und er küßte sie auf die Stirn.

»Ich danke der Jungfer mein Leben,« sagte er. »Ich wäre in diesem Augenblick ein kalter Leichnam, wenn die Jungfer nicht gewesen wäre. Man kann für so etwas nie genug danken.«

Das Entzücken, mit dem der junge Mann sie begrüßt hatte, hatte die arme Jungfer Spaak vielleicht dahin gebracht, allzu lange in seinen Armen liegen zu bleiben. Er beeilte sich, hinzuzufügen:

»Und nicht nur ich danke der Jungfer, auch noch wer anderer.«

Und er zeigte ihr ein Medaillon, das er am Halse trug. Jungfer Spaak unterschied undeutlich das Miniaturporträt eines jungen Mädchens.

»Die Jungfer ist nach den Eltern die erste, die es erfährt,« sagte er. »Wenn sie in ein paar Wochen nach Hedeby kommt, wird sie der Jungfer noch besser danken, als ich es vermag.«

Und Jungfer Spaak knickste vor dem jungen Baron zum Dank für sein Vertrauen. Sie hätte ihm sagen wollen, daß sie nicht in Hedeby zu bleiben gedachte, um seine Braut zu begrüßen. Aber sie besann sich noch zur rechten Zeit. Ein armes Mädchen muß sich hüten, sich einen guten Posten zu verscherzen.

 


 


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