Selma Lagerlöf
Der Ring des Generals
Selma Lagerlöf

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8

Dies war ein weises Urteil, ein gerechtes Urteil. Alle hier unten im Värmeland waren damit zufrieden. War es nicht schön von dem alten König, daß er sich nicht vermaß, in dieser dunklen Sache klarer zu sehen als irgendein anderer, sondern sie dem Allmächtigen anheimstellte? Nun endlich konnte man sicher sein, daß die Wahrheit an den Tag kommen würde.

Außerdem war es etwas ganz Eigenes um dieses Gerichtsverfahren. Es wurde nicht von Mann gegen Mann geführt, sondern ein Toter war Partei in der Sache, ein Toter, der darauf bestand, sein Eigentum wiederzubekommen.

In anderen Fällen konnte man zögern, seine Zuflucht zu den Würfeln zu nehmen, nicht so in diesem. Der tote General wußte schon, wer es war, der ihm sein Eigentum vorenthielt. Das war ja das beste an dem Königsurteil, daß es dem alten General Gelegenheit gab, freizusprechen und zu verurteilen.

Man mußte fast glauben, daß König Fredrik dem General die Entscheidung überlassen wollte. Er hatte ihn vielleicht in alten Kriegszeiten gekannt und wußte, daß er ein Mann war, auf den man sich verlassen konnte. Dies mochte es wohl sein. Es war nicht so leicht zu sagen.

Wie es sich auch damit verhielt, so wollte man an diesem Tage, an dem das Gottesurteil fallen sollte, gern mit beim Thing dabei sein. Ein jeder, der nicht zu alt war, um zu gehen, oder zu klein, um zu kriechen, machte sich auf den Weg. Solch ein merkwürdiges Ereignis hatte sich schon seit Jahr und Tag nicht zugetragen. Man konnte sich nicht damit zufrieden geben, früher oder später von anderen zu hören, wie alles abgelaufen war. Nein, hier mußte man schon selbst mit dabei sein.

Freilich lagen die Gehöfte verstreut, und man konnte sonst meilenweit fahren, ohne einem Menschen zu begegnen, aber als alle aus dem Kirchspiel an einem Platz zusammenkamen, waren sie fast erstaunt, wie viele ihrer waren. Sie standen dichtgedrängt in vielen Reihen vor dem Thinghause. Es sah so aus, als wenn ein Bienenschwarm an einem Sommertag schwarz und schwer vor dem Bienenkorb hängt. Sie waren auch darin wie schwärmende Bienen, daß sie sich nicht in ihrer gewöhnlichen Gemütsverfassung befanden. Sie waren nicht still und feierlich, wie sie in der Kirche zu sein pflegten, auch nicht fröhlich und gutmütig wie auf dem Markte, sondern wild und reizbar, sie waren von Haß und Rachsucht besessen.

Kann sich jemand darüber wundern? Sie hatten den Schreck vor Missetätern mit der Muttermilch eingesogen, sie waren mit Wiegenliedern von umherstreifenden Geächteten in den Schlaf gelullt worden. Sie betrachteten alle Diebe und Mörder als Wechselbälge, als Teufelsbraten, sie sahen sie nicht mehr für Menschen an. Sie dachten gar nicht daran, gegen solche Barmherzigkeit zu zeigen.

Sie wußten, daß einem solchen schrecklichen Wesen an diesem Tage sein Urteil gesprochen werden würde, und sie freuten sich darüber. »Nun kommt doch Gott sei Lob und Dank solch ein blutdürstiger Unhold ums Leben,« dachten sie. »Jetzt kann er wenigstens keine Gelegenheit mehr finden, uns etwas anzutun.«

Das Gottesgericht sollte nicht drinnen im Thingsaale stattfinden, sondern draußen im Freien vor sich gehen. Schlimm war es freilich, daß eine Kompagnie Soldaten eine Hecke rings um den Platz vor dem Thinghause bildete, so daß man nicht nahe genug kommen konnte, und die Leute warfen den Soldaten wahrlich viele Schimpfworte zu, weil sie ihnen im Wege standen. Das hätten sie sonst nicht getan, aber heute waren sie kühn und unerschrocken.

Sie hatten sich ja in aller Frühe von daheim aufmachen müssen, um einen Platz in der Nähe des Kordons zu bekommen, so daß sie nun schon viele lange Stunden hier standen und warteten. Der Gerichtsdiener kam aus dem Thinghaus und stellte eine große Trommel mitten auf dem Platz auf. Das war doch eine Freude, denn da sah man ja, daß die dort drinnen saßen, im Sinne hatten, die Sache noch vor Abend in Gang zu setzen. Der Gerichtsdiener trug auch einen Stuhl und einen Tisch heraus, sowie Tintenfaß und Feder für den Schreiber. Zuletzt brachte er einen kleinen Becher, in dem ein paar Würfel rasselten. Er warf sie einmal ums andere auf die Trommel. Er wollte wohl ausprobieren, ob sie richtig waren und einmal so und einmal anders fielen, wie Würfel fallen sollen.

Dann eilte er schleunigst wieder hinein, und das war nicht zu verwundern, denn sowie er sich nur zeigte, riefen ihm die Leute Bosheiten und Witzeleien zu. Das hätten sie sonst nicht getan, aber an diesem Tage waren sie rein außer Rand und Band.

Richter und Schöffen wurden durch den Kordon gelassen und wanderten oder ritten zum Thinghaus hinauf.

Sobald einer von ihnen sich zeigte, kam Leben in die Menge. Es war nicht so, daß man flüsterte und zischelte, wie man es sonst getan hätte. O, nein. Man rief Begrüßungen und Bemerkungen mit ganz lauter Stimme. Man konnte ihnen ja nichts tun, es waren ihrer zu viele, und es war nicht mit ihnen zu spaßen. Die Herrschaften, die anlangten, wurden auch in das Thinghaus hineingelassen. Da war Löwensköld auf Hedeby und der Propst von Bro und der Gutsherr von Ekeby und der Kapitän auf Helgesäter, und natürlich noch viele andere. Und sie bekamen alle zu hören, wie gut sie es hatten, daß sie nicht hier draußen zu stehen und sich um einen Platz zu balgen brauchten, und noch vieles andere obendrein.

Wenn schon gar niemand mehr da war, dem man Schimpfworte zuwerfen konnte, so richtete man sie gegen ein junges Mägdlein, das sich so nahe wie möglich vom Kordon hielt. Sie war klein und zart, und einmal ums andere versuchten die Burschen sich durchzudrängen und ihren Platz einzunehmen, aber wenn dies geschah, dann riefen ihnen jene, die in der Nähe standen, zu, sie sei die Tochter von Erik Ivarsson aus Olsby, und nach dieser Aufklärung ließ man sie in Frieden.

Aber dafür hagelten Sticheleien auf sie herab. Sie wurde gefragt, was ihr lieber wäre, wenn ihr Vater oder wenn ihr Bräutigam gehängt würde. Und man wunderte sich, warum sie, die die Tochter eines Diebes war, den besten Platz haben sollte.

Und die weit aus den Wäldern kamen, staunten, daß sie den Mut hatte, hier stehen zu bleiben, aber da bekamen sie etwas zu hören. Die kannte keine Furcht, die Kleine, sie war bei jeder Verhandlung mit dabei gewesen, und kein einziges Mal hatte sie geweint, sondern war immer ganz ruhig geblieben. Sie hatte den Angeklagten zugenickt und sie angelächelt, als sei sie sicher, daß sie am nächsten Tage freigelassen würden. Und die Angeklagten hatten neuen Mut gefaßt, wenn sie sie gesehen hatten. Sie hatten sich gedacht, daß es doch wenigstens eine gab, die wußte, daß sie unschuldig waren. Eine gab es, die nicht glauben konnte, daß ein armseliger Goldring sie zum Verbrechen verleiten konnte.

Schön, sanft und geduldig war sie im Gerichtssaal gesessen. Sie hatte nie jemanden gereizt, nein, sie hatte sich auch den Richter und die Schöffen und den Amtmann zu Freunden gemacht. So etwas hätten sie wohl nicht selbst zugegeben, aber man wollte wissen, daß das Amtsgericht die Angeklagten nicht freigesprochen hätte, wenn sie nicht beim Thing dabei gewesen wäre. Es war so ganz unmöglich zu glauben, daß jemand, den Marit Erikstochter lieb hatte, sich ein Verbrechen zuschulden kommen lassen konnte.

Und nun war sie auch hier mit dabei, damit die Gefangenen sie sahen. Sie stand hier, um ihnen zur Stärkung und zum Trost zu dienen. Sie wollte während der Probe für sie beten, sie Gottes Gnade anempfehlen.

Man konnte ja nicht wissen. Es heißt ja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, aber immerhin, sie sah gut und unschuldig aus. Und ein liebevolles Herz hatte sie, wenn sie da stehenbleiben konnte, wo sie stand.

Sie mußte ja alles gehört haben, was ihr zugerufen wurde. Aber sie antwortete weder, noch weinte sie, noch versuchte sie zu entfliehen. Sie wußte, daß die unglücklichen Gefangenen sich freuen würden, wenn sie sie sahen. Sie war ja die einzige, die einzige in der ganzen großen Menge, die ein menschlich fühlendes Herz für sie hatte.

Aber wie immer, ganz vergebens stand sie doch nicht da. Da war der eine oder andere unter ihnen, der eigene Töchter hatte, ebenso sanft und unschuldig wie sie hier, und der dachte in seinem Herzen, daß er sie nicht gerne da stehen sähe, wo sie stand.

Man hörte nun doch hier und da eine Stimme, die sie verteidigte, oder wenigstens versuchte, die Witzbolde und Schreihälse zum Schweigen zu bringen.

Nicht nur weil das lange Warten ein Ende nahm, sondern auch um Marit Erikstochter willen war man froh, als die Türen des Thinghauses geöffnet wurden und das Verfahren seinen Anfang nahm. In feierlichem Zuge kamen zuerst die Gerichtsdiener, der Amtmann und die Gefangenen, die frei waren, ohne Fesseln und Bande, aber ein jeder von zwei Soldaten bewacht. Dann zeigten sich der Küster, der Propst, die Schöffen, der Schreiber und der Richter. Nach all diesen schritten die Herrschaften und einige Bauern, die so großes Ansehen genossen, daß sie auch innerhalb des Kordons sein durften.

Der Amtmann und die Gefangenen stellten sich an der linken Seite des Thinghauses auf, der Richter und die Schöffen nahmen rechts Aufstellung, die Herrschaften blieben in der Mitte stehen. Der Schreiber nahm mit seinen Papierrollen an dem Tische Platz. Die große Trommel stand noch immer mitten auf dem Platz. Nichts verdeckte sie.

In demselben Augenblick, in dem der Zug sich zeigte, gab es in der Volksmasse ein Drängen und Vorwärtsstürmen. Mehrere große und starke Burschen suchten sich einen Weg in die erste Reihe zu bahnen. Vor allem legten sie es darauf an, Marit Erikstochter zu vertreiben. Doch in der Angst, an einen rückwärtigen Platz gedrängt zu werden, bückte sie sich, und klein und zart, wie sie war, schlüpfte sie zwischen den Beinen von ein paar Soldaten durch und war nun innerhalb des Kordons.

Dies verstieß gegen alle gute Ordnung und der Amtmann gab auch dem Gerichtsdiener einen Wink, Marit Erikstochter fortzuschaffen. Der Gerichtsdiener begab sich sofort zu ihr hin, legte ihr die Hand auf die Schulter wie um sie zu verhaften und führte sie zum Thinghaus hinauf. Aber als sie glücklich in dem Menschenhaufen waren, der dort draußen stand, ließ er sie los. Er hatte sie oft genug gesehen, um zu wissen, daß, wenn sie nur in der Nähe der Gefangenen stehen durfte, sie nicht versuchen würde, durchzubrennen; und wenn der Amtmann ihr einen Verweis zu erteilen wünschte, würde sie leicht zu finden sein.

Aber wer hatte denn jetzt überhaupt Zeit, an Marit Erikstochter zu denken? Der Propst und der Küster waren vorgetreten und hatten sich mitten auf dem Platze aufgestellt. Beide nahmen den Hut vom Kopfe, und der Küster stimmte einen Psalm an und begann zu singen. Und als die, die außerhalb der Soldatenkette standen, den Psalm hörten, da dämmerte es ihnen auf, daß etwas Großes und Bedeutsames geschehen sollte, das Bedeutsamste, was sie je miterlebt hatten: eine Anrufung der allmächtigen, allwissenden Gottheit, um ihren Willen zu erkunden.

Noch andächtiger wurden die Menschen, als der Propst sprach. Er betete zu Christus, Gottes Sohn, der selbst einmal vor dem Richterstuhl des Pilatus gestanden hatte, sich dieser Angeklagten zu erbarmen, auf daß ihnen kein ungerechtes Urteil wurde. Er bat ihn auch, sich der Richter zu erbarmen, so daß sie keinen Unschuldigen zum Tode verurteilen mußten.

Zum Schluß bat er ihn, sich der Gemeinde zu erbarmen, so daß sie nicht Zeuge eines großen Unrechtes wurde, wie einstmals die Juden auf Golgatha.

Sie hörten alle dem Propst mit entblößten Köpfen zu. Sie dachten nicht mehr ihre armen irdischen Gedanken. Sie waren in ganz anderer Gemütsverfassung. Es dünkte ihnen, daß er Gott selbst herniederrief, sie fühlten seine Gegenwart.

Es war ein schöner Herbsttag, über den blauen Himmel trieben kleine weiße Wölkchen und die Bäume waren voll von goldenem Laub. Zugvögelscharen flogen unablässig über ihren Köpfen dem Süden zu. Es war etwas Ungewöhnliches, daß man so viele an einem Tag sah. Es war ihnen, als hätte dies etwas zu bedeuten. War es ein Zeichen von Gott, daß er ihr Vorhaben billigte?

Als der Propst geendet hatte, trat der Landeshauptmann vor und verlas das Königsurteil. Es war lang, und viele Wendungen konnten sie nur schwer verfolgen. Aber sie verstanden, daß die weltliche Macht gleichsam ihr Zepter und ihr Schwert niederlegte, ihre Klugheit und ihr Wissen und von Gott die Führung erbat. Und sie beteten, sie beteten alle, daß Gott sie führen und leiten möge.

Hierauf nahm der Amtmann die Würfel und bat den Richter und einige andere der Anwesenden, damit zu werfen, um zu sehen, ob sie in Ordnung seien. Und man hörte den Fall der Würfel auf das Trommelfell mit einem seltsamen Beben. Diese kleinen Dinger, die so manchen Mannes Unglück gewesen, sollten sie nun für würdig erachtet werden, Gottes Willen zu künden?

Als die Würfel ausprobiert waren, wurden die drei Gefangenen vorgeführt. Zuerst wurde der Becher Erik Ivarsson gereicht, der der Älteste war. Aber zugleich erklärte ihm der Amtmann, daß dies noch nicht die endgültige Entscheidung war. Jetzt sollten sie nur würfeln, um die Reihenfolge untereinander zu bestimmen.

Dieser erste Gang fiel so aus, daß Paul Eliasson den niedrigsten Wurf machte und Ivar Ivarsson den höchsten. Er war es also, der beginnen sollte.

Die drei Angeklagten trugen dieselben Kleider, die sie angehabt hatten, als sie auf ihrem Heimwege aus der Sommeralm dem Rittmeister begegnet waren, doch sie waren jetzt zerrissen und beschmutzt. Und ebenso hergenommen wie die Kleider waren die, die sie anhatten. Aber allen schien es, als sei Ivar Ivarsson derjenige, der sich unter den dreien am besten gehalten hatte. Das kam wohl daher, daß er Soldat gewesen und in Krieg und Gefangenschaft durch viele Leiden abgehärtet war. Er hielt sich noch gerade und hatte ein mutiges und unerschrockenes Auftreten.

Als Ivar Ivarsson zur Trommel hintrat und den Becher mit den Würfeln aus der Hand des Amtmanns entgegennahm, wollte dieser ihm zeigen, wie er den Becher zu halten und wie er zu werfen hatte. Aber da huschte ein Lächeln um die Lippen des Alten.

»Das ist nicht das erstemal, daß ich mit Würfeln spiele, Herr Amtmann,« sagte er mit so lauter Stimme, daß alle ihn hörten. »Der Starke-Bengt aus Hedeby und ich haben uns so manchen Abend dort draußen in den Steppenländern damit ergötzt. Aber nie hätte ich geglaubt, daß ich noch einmal mit ihm spielen müßte.«

Der Amtmann wollte ihn zur Eile antreiben, aber alle hörten ihm gerne zu. Das war ein tapferer Kerl, der noch scherzen konnte, wenn er vor einer solchen Entscheidung stand.

Nun faltete er beide Hände über dem Becher, und man sah, daß er betete. Als er sein Vaterunser gesprochen hatte, rief er mit lauter Stimme: »Und nun bitte ich dich, Herr Jesu Christ, der du meine Unschuld kennst, daß du mir aus Gnade einen niedrigen Wurf gewährst, denn ich habe weder Kind noch Liebste, die um mich weinen.«

Als dies gesagt war, schleuderte er die Würfel auf das Trommelfell, so daß es dröhnte.

Und alle, die draußen standen, wünschten in diesem Augenblick, daß Ivar Ivarsson frei werden sollte. Sie hatten ihn gern, weil er tapfer und gut war. Sie konnten nicht begreifen, daß sie ihn je für einen Missetäter gehalten hatten.

Es war beinahe unerträglich, so weit weg zu stehen und nicht zu wissen, wie die Würfel gefallen waren. Richter und Amtmann beugten sich vor, um zu sehen, die Schöffen und die anwesenden Standespersonen näherten sich und sahen den Ausgang. Alle schienen betroffen, einige nickten Ivar Ivarsson zu, ein paar schüttelten ihm die Hand, aber die Menge bekam nichts zu wissen. Man murrte und knurrte.

Da winkte der Richter dem Amtmann, und dieser stieg auf die Treppenstufe vor dem Thinghause, damit man ihn besser sehen und hören konnte.

»Ivar Ivarsson hat sechs-sechs geworfen, was der höchste Wurf ist.«

Man begriff, daß Ivar Ivarsson freigesprochen war und man freute sich darüber. Mehrere fingen an zu rufen: Glück auf, Ivar Ivarsson!

Aber nun geschah etwas, was alle in Erstaunen setzte. Paul Eliasson brach in laute Freudenrufe aus, riß die Mütze vom Kopf und warf sie in die Luft. Dies kam so unerwartet, daß die Wächter ihm keinen Einhalt tun konnten. Aber man verwunderte sich über Paul Eliasson. Es war ja richtig, daß Ivar Ivarsson ein Vater für ihn gewesen war, doch nun galt es das Leben. Konnte er sich wirklich darüber freuen, daß ein anderer freigesprochen war?

Gleich darauf wurde die frühere Ordnung wiederhergestellt. Die Obrigkeitspersonen gingen nach rechts, die Gefangenen und die Wachmannschaft nach links, die anderen Zuschauer zogen sich zum Thinghaus hinauf, so daß die Trommel frei in der Mitte stand, von allen Seiten sichtbar. Nun war es Erik Ivarsson, der die Todesprobe bestehen sollte.

Heran kam ein gebrochener, alter Mann mit schwankendem unsicherem Gang. Man glaubte ihn kaum wiederzuerkennen. Konnte dies Erik Ivarsson sein, der immer so fest und gebieterisch aufgetreten war? Sein Blick war trübe, und viele glaubten, daß er sich dessen, was ihm bevorstand, kaum bewußt war. Aber als er den Becher mit den Würfeln in der Hand hatte, machte er einen Versuch, den Rücken emporzurichten und einige Worte zu sagen.

»Ich danke Gott, daß mein Bruder Ivar Ivarsson jetzt freigesprochen ist,« sagte er, »denn wenn ich gleich in dieser Sache ebenso unschuldig bin wie er, so ist er doch immer der bessere von uns beiden gewesen. Und ich bete zu unserem Herrn Christus, daß er mich einen schlechten Wurf tun läßt, auf daß meine Tochter dem angetraut werden könne, den sie liebt, und glücklich mit ihm lebe bis ans Ende ihrer Tage.«

Es war mit Erik Ivarsson so wie mit vielen Alten, daß seine einstmalige Kraft in der Stimme gesammelt schien. Was er sagte, das hörten alle, und es erweckte große Rührung. Es sah Erik Ivarsson so gar nicht ähnlich, einzugestehen, daß irgendeiner mehr gewesen war als er, und sich den Tod zu wünschen, um einen anderen glücklich zu machen. In der ganzen Volksmenge war nicht einer, der sich ihn noch als einen Räuber und Dieb denken konnte. Man stand da mit Tränen in den Augen und betete zu Gott, daß er einen hohen Wurf machen möchte.

Er schüttelte die Würfel im Becher kaum, sondern drehte ihn nur um und ließ sie fallen. Seine Augen waren zu alt, als daß er die Punkte auf den Würfeln unterscheiden konnte, und er wandte den Blick gar nicht hin, sondern stand da und starrte in die Luft.

Aber der Richter und die übrigen eilten herbei, und man sah denselben Ausdruck des Staunens auf ihren Gesichtern wie das vorige Mal.

Es war, als hätte die Menge vor dem Kordon noch lange bevor der Amtmann den Ausgang verkündete, begriffen, was vorgegangen war. Da war eine Frau, die rief: »Gott segne dich, Erik Ivarsson!« Und nach ihr hörte man einen vielstimmigen Ruf: Gott sei Lob und Dank, daß er dir geholfen hat, Erik Ivarsson.

Paul Eliassons Mütze flog in die Luft wie das erstemal, und wieder wunderte man sich. Dachte er nicht daran, was dies für ihn selbst bedeutete?

Erik Ivarsson stand stumpf und gleichgültig da, nicht ein Aufleuchten glitt über seine Züge. Man dachte, vielleicht wartet er darauf, daß der Amtmann den Ausgang verkündet, aber auch nachdem dies geschehen war und er erfahren hatte, daß er wie sein Bruder sechs-sechs geworfen, blieb er unbewegt. Er wollte zu seinem früheren Platz zurückschwanken, war aber so ermattet, daß der Gerichtsdiener den Arm um ihn legen mußte, um ihn aufrecht zu erhalten.

Nun war Paul Eliasson an der Reihe, zur Trommel hinzutreten und den Glückswurf zu tun. Und alle wandten ihm ihre Blicke zu. Sie waren schon lange vor der Probe der Meinung gewesen, daß er der eigentliche Verbrecher sein müsse, und nun war er ja sozusagen schon verurteilt, denn einen höheren Wurf als die Ivarsöhne getan, gab es auf den Würfeln nicht.

Man war nicht unzufrieden mit diesem Ausgange, aber nun sah man, daß Marit Erikstochter sich zu Paul Eliasson hingeschlichen hatte.

Er hielt sie nicht in seinen Armen, und kein Kuß, keine Liebkosung wurde zwischen ihnen getauscht, sie stand nur da, eng an ihn gelehnt, und er hatte den Arm um ihre Mitte gelegt. Niemand konnte so recht sagen, ob sie schon lange so dastanden, denn aller Aufmerksamkeit war auf das Würfelspiel gerichtet gewesen.

Da standen sie nun jedenfalls Seite an Seite, in unerforschlicher Weise zusammengeführt, trotz Wachmannschaft und Obrigkeit, trotz der Tausende von Zuschauern, trotz des furchtbaren Spiels um Leben und Tod, in das sie verstrickt waren.

Es war Liebe, aber es war etwas über aller irdischen Liebe, das sie vereinte. Sie hätten so stehen können an einem Sommermorgen, nachdem sie die ganze Nacht miteinander getanzt und sich das erstemal gesagt hatten, daß sie Mann und Frau werden wollten. Sie hätten so stehen können nach der ersten Abendmahlfeier, als sie alle Sünde aus der Seele gelöscht fühlten. Sie hätten so stehen können, wenn sie beide das Grauen des Todes erlitten hätten, und ins Jenseits gekommen wären und sich wieder getroffen und erkannt hätten, daß sie für Zeit und Ewigkeit zusammengehörten.

Sie stand da und sah ihn in inniger Liebe an, und irgend etwas sagte diesen Menschen, daß sie gerade Paul Eliasson ihr Mitleid schenken sollten. Er war ein junger Baum, der nicht bis zur Blüte und Fruchtzeit stehen bleiben durfte, er war ein Roggenfeld, das niedergetreten werden sollte, bevor es noch etwas von seinem Reichtum geschenkt.

Still löste er den Arm von Marits Mitte und folgte dem Amtmann zur Trommel. Man merkte ihm keine Unruhe an, als er den Becher in der Hand hatte. Er hielt keine Ansprache an das Volk wie die anderen, sondern er wandte sich an Marit.

»Hab keine Angst!« sagte er. »Gott weiß, daß ich ebenso unschuldig bin wie die anderen.«

Hierauf schüttelte er die Würfel gleichsam tändelnd und ließ sie im Becher herumschnurren, bis sie über den Rand kamen und auf das Trommelfell fielen.

Regungslos stand er da und folgte ihnen mit dem Blick, aber als sie endlich beide still lagen, brauchten die Versammelten nicht darauf zu warten, daß der Amtmann den Ausgang verkünde. Paul Eliasson rief selbst mit lauter Stimme:

»Ich habe sechs-sechs geworfen, Marit. Ich habe sechs-sechs geworfen, ich wie die anderen.«

Es kam ihm nichts anderes in den Sinn, als daß er damit freigesprochen war, und er konnte sich vor lauter Freude nicht still verhalten. Er sprang in die Höhe, er warf die Mütze in die Luft, er schloß den Soldaten, den er neben sich hatte, in die Arme und küßte ihn.

Da dachten alle: man sieht, daß er ein Russe ist. Wenn er ein Schwede wäre, würde er nicht so vorzeitig jubeln.

Der Richter, der Amtmann, die Schöffen und die Herrschaften gingen gemächlich und ruhig zur Trommel hin und betrachteten die Würfel. Aber sie sahen diesmal nicht fröhlich drein. Sie schüttelten die Köpfe, und da war niemand, der Paul Eliasson zu dem Ausgang beglückwünschte.

Zum drittenmal trat der Amtmann auf die Vortreppe des Thinghauses und verkündete:

»Paul Eliasson hat sechs-sechs geworfen, was der höchste Wurf ist.«

Eine heftige Bewegung entstand in der Volksmenge, aber kein Jubel. Da war niemand, der dachte, es könnte irgendein Betrug begangen worden sein, so etwas war unmöglich. Aber allen war ängstlich zumute, weil das Gottesgericht keine Klarheit gebracht hatte.

War es so, daß alle drei Angeklagten gleich unschuldig waren, oder war es so, daß sie alle gleich schuldig waren?

Man sah Rittmeister Löwensköld eifrig auf den Richter zueilen. Er wollte wohl sagen, daß damit nichts entschieden war, aber der Richter wandte sich ziemlich jäh von ihm ab.

Der Richter und die Schöffen zogen sich in das Thinghaus zurück, um zu beraten, und unterdessen wagte es niemand, sich zu rühren oder zu sprechen, kaum zu flüstern. Auch Paul Eliasson verhielt sich still. Er schien jetzt zu begreifen, daß man das Gottesurteil in mehr als einer Weise auslegen konnte.

Nach kurzer Beratung zeigte sich der Gerichtshof wieder, und der Richter verkündete, das Amtsgericht sei geneigt, den Ausgang so zu deuten, daß alle drei Angeklagten freigesprochen werden sollten.

Paul Eliasson riß sich von seinen Wächtern los und warf wieder im hellsten Jubel seine Mütze in die Luft, aber dies war ein wenig verfrüht, denn der Richter fuhr fort:

»Doch muß diese Auffassung des Amtsgerichtes dem König unterbreitet werden, durch einen Kurier, der noch am heutigen Tage nach Stockholm abgehen soll, und müssen die Angeklagten im Gewahrsam verbleiben, bis Sr. Königlichen Majestät Bestätigung des Urteils des Amtsgerichts erflossen ist.



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