Manfred Kyber
Die drei Lichter der kleinen Veronika
Manfred Kyber

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9. Moregen

»Mitternacht ist vorüber, und es ist Morgen geworden.«

Es war der Meister, der zu Johannes Wanderer gekommen war und diese Worte sprach. Wie er kommt und wie er geht – wer vermag das zu sagen? Es sind die geheimnisvollen Dinge, die sich im Ring der Brüder vom Gral begeben, und sie geschehen da, wo sich diese und jene Welt verschwistern. Die Menschen, die nur auf der Erde wandeln, wissen nichts davon.

Es war im Gartenhaus, und es war Nacht.

Johannes Wanderer saß vor seinem einfachen, schmucklosen Arbeitstisch, und er hatte drei Kerzen darauf angezündet, die er hütete als ein Bildnis von den drei Lichtern der kleinen Veronika. Denn es war ihre Seele, an die er dachte, als ihm der Meister zu Hilfe kam.

»Es ist sehr finster auf der Erde«, sagte der Meister, »so finster ist es noch niemals gewesen. Aber die tiefste Finsternis ist vorbei. Die Weltuhr schlug, und es geht gegen Morgen. Doch der Morgen bedeutet auch den Kampf, damit der Menschheit Jugendland wieder erstehen kann.«

»Ich weiß das«, sagte Johannes Wanderer, »ich bin bereit zu jeder Stunde, wenn ich gerufen werde.«

»Es werden viele große Ereignisse in dieser Weltenwende geschehen«, sagte der Meister, »damit die Menschen erwachen und es begreifen, daß die Heerlager von Weiß und Schwarz um ihre Seelen ringen. Der Gral braucht alle seine Streiter. Auch Veronika ist gerufen worden, und es ist um ihretwillen, daß ich kam.«

»Veronika wird an meiner Seite stehen«, sagte Johannes Wanderer, »wenn wir gerufen werden. Aber mir ist bange um sie, und ich sehnte mich nach dir, daß du kämest, mir zu helfen. Veronika ist rein und reif, aber sie hat sich am Weg verirrt. Sie darf die Bürde nicht tragen, die sie auf sich nehmen will, es ist gegen ihre Bestimmung.«

Im Gesicht des Meisters waren Verstehen und Güte, und beide waren unendlich groß.

»Es ist nicht wesentlich«, sagte er, »es ist ein Rest in ihr von der kleinen Madeleine Michaille, der sich noch lösen muß. Ihre Liebe in jener Zeit nahm ein zu schnelles und schreckliches Ende.«

»Vielleicht ist es eine Jugendtorheit, die heute kommt und morgen geht«, meinte Johannes Wanderer, »es mag sein, daß ihr eine andere Seele bestimmt ist, wenn sich ihr rotes Licht wieder entzündet. Sie ist noch so sehr jung.«

»Das ist es nicht«, sagte der Meister, »sie hat nicht viele nahe Seelen auf dieser Welt. Sie ist weit gewandert und das Gewebe ihres Schicksals ist entwirrt. Sie wird sich an keinen anderen schließen, und es ist ihr dieses Mal auch kein langer Weg auf der Erde bestimmt. Nur den Rest der kleinen Michaille muß sie überwinden. Auch ihr rotes Licht soll im Feinstofflichen leuchten, dann ist sie rein und reif für den Gral. Es ist dies nötig, denn der Gral braucht alle seine Streiter. Nur darf sie die Bürde, die noch zu tragen ist, nicht schwerer auf sich laden, als sie ist. Sonst geht sie in die Irre.«

»Ich würde ihr gern diese Bürde tragen helfen«, sagte Johannes Wanderer, »auch Aron Mendel trug seine Last mit Freuden für die kleine Rahel.«

»Man kann nicht alle Bürden für andere tragen«, sagte der Meister, »es ist gegen das Gesetz. Aber hier kannst du vieles leichter machen, wenn du es willst.«

»Ich will alles, wenn es für Veronika gut ist«, sagte Johannes Wanderer.

»Es ist dies so«, sagte der Meister, »daß wir diese Bürde von ihr nehmen und auf deine Schultern legen können. Aber es wird keine leichte Last für dich werden. Willst du das?«

»Ja«, sagte Johannes Wanderer, »ich will alles für Veronika.«

»Wir werden das tun«, sagte der Meister, »hilf ihr und wir werden dir helfen.«

Dann schied der Meister von ihm. Wie er kommt und wie er geht – wer vermag das zu sagen? Es sind dies geheimnisvolle Dinge, die sich im Ring der Brüder vom Gral begeben, und sie geschehen da, wo sich diese und jene Welt verschwistern. Man kann sie nur mit einfachen Worten erzählen, weil sie sehr groß sind.

Johannes Wanderer blieb allein zurück. Es war eine einsame und stille Nacht, die er durchwachte, und vor ihm, auf dem schmucklosen Tisch, brannten die Kerzen als ein Bildnis von den drei Lichtern der kleinen Veronika.

Man kann es nicht sagen, daß die kleine Veronika gestorben wäre. Es war dies anders, als es sonst vielleicht bei den Menschen geschieht. Leben und Sterben sind so sehr verschieden bei den Seelen, die auf dieser Erde wandeln.

Es ist eine Ferne, die war, von der wir kommen.

Es ist eine Ferne, die sein wird, zu der wir wandern.

Und doch ist alle Ferne nahe, wenn man es recht begreift.

Es war so, daß die kleine Veronika müde wurde und allmählich einschlief in dieser Welt. In dieser Welt einschlafen aber bedeutet, daß man in einer anderen Welt erwacht. Man kann es auch eigentlich nicht sagen, daß Veronika krank war, jedenfalls war es nicht merklich, wie es sonst der Fall ist. Der Winter verging, der Frühling und der Sommer blühten auf, und die kleine Veronika wurde immer müder und müder. Aber sie litt nicht unter dieser Müdigkeit. Es litten nur die anderen darunter, und es war um diese Zeit ein großes Schweigen im Hause der Schatten.

Der Herbst kam, und im Garten fielen die Blätter.

Da geschah es, daß der Engel zur kleinen Veronika ins Zimmer trat, als sie im Bett lag.

»Es ist Morgen geworden, Veronika«, sagte er.

Veronika stand auf, und es war ihr kaum noch fühlbar, daß sie ihren Körper verließ. Sie war dem Kleid der Erde entwachsen, und der Gral geleitet die Seelen gnädig, die er ruft.

Magister Mützchen stand dabei mit dem roten Hut in der Hand, und Tränen liefen ihm über die Wangen. Es ist sehr selten, daß diese Wesen weinen.

»Muß ich allein zurückbleiben im Hause der Schatten?« fragte er.

Der Engel sah ihn an.

»Es ist ein wenig früh für dich, Magister Mützchen«, sagte er, »aber du hast geweint. Tränen sind der Zoll für den Garten Gottes. Komm mit.«

Da lief Magister Mützchen auf seinen dünnen Beinen eilig neben dem Engel und Veronika her, als sie zusammen aus dem Hause der Schatten hinausgingen. Hoch über ihnen hielt der Engel den Leuchter mit den drei Lichtern der kleinen Veronika, und das goldene Licht in der Mitte warf seinen reinen, klaren Schein über den Weg in jene Welt.

Im Garten fielen die Blätter, und die Blumen waren verwelkt. Und doch war es wieder ein Garten der Geister, wie ihn Veronika einmal als Kind gekannt.

Die Tiere lagen geborgen im Winterschlaf, aber sie sahen alle auf.

»Gesegnet sei dein Weg, Veronika«, sagten sie, »du wanderst nach Montsalvat, hilf uns erlösen.«

Die Elfe im Baum nickte Veronika zu, und die Nixe im Quell warf ihre blanken Bälle hoch in die Luft.

»Schneewittchen schläft im gläsernen Sarg«, riefen sie, »denke daran und hilf, sie und uns alle daraus zu erwecken, kleine Veronika.«

Tief in der Erde unten regten sich die Keime der Pflanzen und sprachen vom Frühling, der kommen muß, und unter den Steinen flammte im Dunkel ein diamantener Schein.

Jetzt standen sie vor der silbernen Brücke, und die Luftgeister mit bunten Falterschwingen umgaukelten sie.

»Nun bist du wie wir, Veronika«, sagten sie.

Es war alles so wie damals, als Veronika noch ein Kind war, und doch war es anders, war größer und stärker.

Da, wo die Brücke begann, waren die Erde und die Steine klar wie aus Glas, und es blühten um sie durchlichtete Lilien und Rosen und tausend andere Blumen.

»Sieh, wie weiß unsere Blüten sind«, sagten die Liliengeister, »so rein und so weiß ist das himmlische Hemd, das du nun wieder trägst.«

»Schau, wie rot unsere Kelche sind«, sagten die Rosenseelen, »so rein und so rot ist der Kelch des Grales, nach dem du heute wieder die Arme ausstreckst.«

Lautlos und ohne Schwere schwebten Gestalten von Menschen und Tieren über die Brücke, und auch sie waren durchdrungen von jenem Licht, das Blumen und Steine erhellte.

Ohne Schwere, wie sie, betrat Veronika die silberne Brücke, und sie nahm Magister Mützchen bei der Hand, damit er ihr nicht verlorengehe.

Am Rande der Brücke stand eine schwarze Gestalt. Veronika zauderte einen Augenblick.

»Fürchte dich nicht, Veronika«, sagte der Engel freundlich, »du brauchst ihm nicht ins Gesicht zu sehen. Du gehst dieses Mal ohne Schuld über die silberne Brücke. Er, der dort steht, führt die Menschenseelen, die das Licht nicht sehn wollten, hinab in die Täler der Tiefe, bis sie es lernen, in Gottes Garten hinaufzufinden. Es wandern die meisten erst durch die Täler der Tiefe zum Licht, und es sind mühsame Wege, die sie gehn müssen. Sie haben es selbst gewollt, denn Menschen und Tiere klagen sie an, und sie müssen sühnen.«

Veronika schritt an der schwarzen Gestalt vorüber. Die schwarze Gestalt sah sie nicht an.

Veronika warf einen Blick hinab in die Täler der Tiefe. Sehr tief waren sie, und es waren viele dunkle, verworrene Wege darin. Aber alle Wege führten zum Gipfel hinauf und zum Licht.

Nun endete die silberne Brücke und glitt hinüber in ein kristallenes Meer. Es war klar und regte sich ohne Aufhören, lebendig in sich selber, ohne Wellen zu werfen. Veronika tauchte hinein, aber sie ging nicht darin unter. Auch das hatte sie ja schon einmal erlebt in jener Nacht der vielen bunten Bilder. Doch es war damals nur ein kleiner Teil davon, und hier dehnte er sich ins Uferlose. Das Wasser bestand aus lauter feinen Perlen, und es drang ganz in sie hinein. Die Müdigkeit der letzten Erdenzeit war ihr mit einem Male genommen, und ihr schien es, als sei all ihr Wesen befreit und erneut, wie an einem allerersten Tage, den sie sah und lebte.

Der Engel reichte ihr die Hand, und sie stieg wieder auf. Magister Mützchen war neben ihr und hüpfte auf seinen dünnen Beinen über das Wasser.

Nun weitete sich ihr Blick, und sie sah viele Inseln mit blühenden Gärten darauf.

»An der schwarzen Gestalt bist du vorübergeschritten und an den Tälern der Tiefe«, sagte der Engel, »es ist ein anderer, der dich rief und zu dem ich dich geleite.«

Da schaute Veronika auf, und sie sah Jesus Christus vor sich stehen. Sie erkannte ihn, denn er glich dem, der dem alten Aron Mendel den schweren Kasten auf der staubigen Landstraße abgenommen hatte. Es ging ein Morgenlicht von ihm aus über alle Inseln und Gärten Gottes im kristallenen Meer.

Er reichte Veronika die Hand.

»Wir alle freuen uns, daß du hier bist, Veronika«, sagte er in einer Einfachheit und Güte, die größer und göttlicher war, als alle Welt der Wunder um ihn. »Dein Garten wartet auf dich, pflege ihn weiter.«

Veronika konnte kein Wort hervorbringen. Aber ein Gefühl der Geborgenheit überkam sie, das ohne Gleichnis war.

Eine Insel glitt über das Meer auf sie zu und blieb vor ihr stehen.

»Das ist dein Garten, Veronika«, sagte der Engel.

Veronika trat ans Ufer über weißen Sand und schimmernde Muscheln. Leise rauschten die Baumkronen über ihr, und tausend Blüten öffneten ihre Kelche. Vögel sangen in den Zweigen, und Tiere und seltsame Märchenwesen huschten im Garten umher. Doch es tat keiner dem anderen etwas, sie waren alle in Frieden untereinander, denn es war Gottes Garten und der Schöpfung Jugendland.

Mitten aber unter blühenden Blumen saß Mutzeputz, durchlichtet und vom Licht umflossen.

Da sank Veronika in die Knie und weinte. Es war ein innerliches Weinen der Seele, ohne Tränen und ohne Schmerz, wie das Zittern einer Saite, die bis zum Springen gespannt ist.

Veronikas Insel glitt ins kristallene Meer hinaus, an anderen gleitenden Inseln vorüber. Überall schauten bekannte Gesichter zu ihr hinüber und grüßten sie – Geister aus vielen vergangenen Leben, die sie wiedersah. Es war so viel auf einmal, und eine seltsam selige Schlummersehnsucht regte sich in ihr, Frieden und Wunschlosigkeit der Erfüllung.

»Wir werden dich bald besuchen«, riefen die Geister von den anderen Ufern, »wir freuen uns so, daß du wieder da bist. Du bist lange fort gewesen, und wir haben uns nach dir gesehnt.«

»Nun ruhe dich aus, Veronika«, sagte der Engel, »wenn du wieder erwachst, pflegst du deinen Garten. Und jetzt schau hinaus übers Meer, drüben liegt Montsalvat, und seine Tore und Türme schimmern im Morgenlicht. Auf sein Gestade treibt deine Insel zu. Dort wirst du lernen, Schild und Schwert und die silberne Rüstung zu wirken, denn der Gral hat dich gerufen.«

Da legte sich Veronika unter die blühenden Blumen in ihrem Garten, Mutzeputz und Magister Mützchen im Arm, und schlief ein, ein Kind und geborgen, und bewußt ihrer Kindheit und ihrer Geborgenheit. Bewußte Kindheit ist Seligkeit ...

Der Engel stellte ihr zu Häuptern den Leuchter auf einen Altar, und in reiner goldener Flamme brannten die drei Lichter der kleinen Veronika im Garten Gottes.

Die Insel aber glitt langsam ins Morgenlicht über das kristallene Meer nach dem Gestade von Montsalvat.

Es war ein schwerer und dunkler Tag im Hause der Schatten, als sie den irdischen Leib der kleinen Veronika zur letzten Ruhe brachten.

»Es ist bei euch mehr zu Asche geworden als bei mir, Johannes«, sagte Ulla Uhlberg, »aber wir wollen wieder aufbauen, das ist unsere Bestimmung.«

»Ich will es versuchen«, sagte Johannes Wanderer.

Der blöde Peter redete kein Wort. Er vergrub das Gesicht hilflos in Zottels Fell.

Auch Aron Mendel war gekommen. Er ging nicht aufrecht, wie man ihn zuletzt gesehen, sondern gebeugt, wie damals, als er noch den schweren Kasten schleppte. Er wußte es, die Bürde, die man heute im Hause der Schatten trug, war schwerer, als alle die Lasten, die er jemals getragen. Der Regen rann. Im Garten fielen die Blätter.

*

Es war ein tiefer Winter, in dem das Haus der Schatten eingeschneit war. Aber auch der tiefste Winter geht vorüber und der Frühling kommt. Das Eis war krachend und berstend die Flüsse hinabgegangen in die wilde Brandung der See, der erste grüne Schleier hing an den Birken, und im Wald blühten die Anemonen.

Johannes Wanderer stand im Garten und grub die Erde um für eine neue Saat. Krokus und Veilchen waren schon herausgekommen. Das Leben begann von neuem. Aber Johannes Wanderer sah alt aus, die Bürde dieses Winters war allzu schwer gewesen, und er trug immer noch an ihr.

Jetzt sah er von der Arbeit auf. Peter war durch die Gartentüre gegangen und kam mit Zottel zusammen eilig auf ihn zugelaufen. Das war sonst nicht seine Art. Er war still und langsam in allem. Das Gesicht des Blöden strahlte eine seltsam innerliche Freude aus, und die ratlos suchenden Augen hatten etwas Verklärtes.

»Ich habe heute nacht von Veronika geträumt, Onkel Johannes«, rief er, »sie sah so wunderbar aus, ganz weiß und licht, und sie sagte zu mir: Es ist Morgen geworden. Peter, geh zu Onkel Johannes und erzähle es ihm.«

Johannes Wanderer ließ den Spaten sinken.

»Es ist Morgen geworden?« wiederholte er leise, »hat sie dir das gesagt?«

»Ja, Onkel Johannes, und Ulla Uhlberg kommt auch gleich her, sie kam eben angefahren, und ich habe es ihr schon erzählt. Veronika sagte mir auch, ich solle es aufschreiben, was sie mir gesagt hat. Ich will das tun.«

»Kannst du denn jetzt schreiben, Peter?«

»Ich glaube es«, sagte der Blöde.

Johannes Wanderer ging ins Haus und brachte Peter Papier und Bleistift.

»Wenn du es glaubst, wirst du es auch können. Versuche, es aufzuschreiben.«

Peter setzte sich und legte das Papier sorgsam auf seine Knie. Dann schrieb er mit großen, ungelenken Buchstaben, aber in einem Zuge: Es ist Morgen geworden.

In seinen Augen waren Tränen. Johannes Wanderer und Zottel standen dabei und schauten auf Peters erste Schriftzüge.

Es war dies ein großer Augenblick im Leben des Blöden und dessen, der ihn betreut.

Über den Weg kam Ulla Uhlberg gegangen.

»Peter kann schreiben«, sagte Johannes Wanderer zu ihr, »er hat geschrieben, daß es Morgen geworden ist. Veronika hat es ihm gesagt.«

»Dann laß es auch für uns alle Morgen werden, Johannes. Sieh einmal, auch ich habe es gelernt, mein Leben nur zu bejahen, indem ich alles Leben bejahe und heilige. Ich will Irreloh neu bauen, aber anders, als es war. Es soll Menschen und Tieren eine Hilfe werden, es gibt ja so viele, die Hilfe brauchen. Auch für dich und für Peter gäbe es da vieles zu tun. Wenn ich so das Leben bejahe, Johannes, willst du mir dann dabei helfen?«

»Ja, das will ich tun, Ulla Uhlberg«, sagte Johannes Wanderer, »wir wollen zusammen die Erde umgraben für eine neue Saat, für das Jugendland der Lebenden und der Toten.«

Und er stieß den Spaten tief in die feuchte Frühlingserde.

*

In dieser Nacht saß Johannes Wanderer noch lange wach, und vor ihm brannten wieder die Kerzen zum Bildnis von den drei Lichtern der kleinen Veronika. Es war still und friedvoll, aber auch sehr, sehr einsam im Gartenhaus.

Es war nach Mitternacht, da wurde es licht im Zimmer, und Veronika stand darin. Sie sah größer aus als früher, wie ein erwachsenes junges Mädchen.

»Johannes«, sagte sie leise.

»Bist du endlich wiedergekommen, Veronika?«

»Ja, Johannes, es ist ja Morgen geworden.«

»Die Nacht war dunkel und lang, Veronika.«

»Ich weiß es, Johannes, du hast eine Bürde für mich auf deine Schultern genommen, ich danke dir dafür. Ich weiß es auch, daß es eine schwere Bürde war.«

»Die Bürde war schwer, weil ich dich sehr liebte, Veronika, und weil ich mich sehr nach dir gesehnt habe.«

»Ich habe mich ausruhen müssen, Johannes, man erlebt so viel auf dem Weg über die silberne Brücke. Darum kam ich nicht eher. Aber ich werde nun oft zu dir kommen. Auch Peter habe ich besucht, und ich war im Hause der Schatten bei Mama und bei Tante Mariechen. Aber sie sahen mich nicht. Du mußt ihnen helfen, daß sie mich sehen, Johannes.«

»Ich habe das schon oft versucht, Veronika, ich habe es viele Male versucht. Sie sind noch so sehr in dieser Welt befangen. Aber sie tragen eine schwere Bürde um dich und unter der Last werden sie lernen, mit den Augen der Tiefe zu sehn. Sei oft bei ihnen, Veronika, einmal werden sie dich sehen oder sie werden dich ahnen. Dann werden sie den Frieden finden und den Weg ins Licht.«

»Ich will das tun, Johannes, und auch zu dir werde ich nun häufig kommen. Mitternacht ist vorüber und es ist Morgen geworden. Der Gral ruft alle seine Streiter auf für der Menschheit Jugendland. Ich wirke mir die silberne Rüstung, Schild und Schwert, und ich werde an deiner Seite stehen, wenn der Kampf mit den dunklen Mächten beginnt und du deinen Schild hältst über denen, die wehrlos sind.«

»Das ist ein schöner Gedanke, Veronika, das war es immer, was ich mir gewünscht habe, daß du so an meiner Seite stehst. Der Preis ist den Kampf wert, und wir werden siegen, Veronika.«

»Ja, Johannes, wir werden siegen, und der zerstörte Tempel wird wieder aufgebaut. Lebe wohl, Johannes, ich werde bald wiederkommen.«

»Ja, komme bald wieder, Veronika.«

Veronika löste sich auf im Licht, aus dem sie kam.

Johannes Wanderer saß reglos vor den Kerzen, bis sie herabbrannten.

Die Nacht war zu Ende. Es wurde hell, und Johannes Wanderer trat in den Garten hinaus.

Die Sonne war aufgegangen.

In der jungen Frühlingserde leuchteten die ersten blühenden Blumen im gleichen Morgengold, wie oben in Gottes Garten die drei Lichter der kleinen Veronika.

*

Es ist eine Ferne, die war, von der wir kommen.

Es ist eine Ferne, die sein wird, zu der wir wandern.

Und doch ist alle Ferne nahe, wenn man es recht begreift.

Baut ihr Tempel und helle Hütten, zündet die Lichter an, ihr, die ihr heute atmet, und denkt daran: Mitternacht ist vorüber und es ist Morgen geworden.


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