Manfred Kyber
Die drei Lichter der kleinen Veronika
Manfred Kyber

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7. Die Toten in der Kirche zu Halmar

Es ist dies eine Geschichte von dieser und jener Welt, und darum muß ich auch von den Toten in der Kirche zu Halmar erzählen. Denn es ist ja so, daß die Toten nicht erloschen sind, wie viele es meinen in einer Zeit, die geistferne geworden ist, wie kaum jemals eine andere vor uns. Die Toten leben weiter in ihrem ganzen Wesen und wechseln nur ein grobes Gewand gegen ein feineres, und die Welt, in die sie durch das verhangene Tor eintreten, ist weit wirklicher als die Welt des Scheins, in der wir hier auf dieser Erde atmen. Es ist auch nicht so, daß die beiden Welten getrennt sind durch eine unübersteigbare Mauer. Es ist nur ein dünner Schleier, der zwischen ihnen hängt, und er lichtet sich weit häufiger, als die Menschen von heute es glauben, und es gibt viele Augenblicke, in welchen diese und jene Welt ineinander übergehen, so daß man nicht sagen kann, ob man hier oder drüben ist.

Denn die Toten bauen mit am Bau der Erde, und sie wünschen es so sehr, daß die Lebenden wieder Hand in Hand mit ihnen schaffen, wie es in vergangenen Tagen der Menschheit war. Ist nicht eine Ahnung, die wir haben, oft der Gedanke eines Toten, und ein Gefühl, das uns überkommt, Wunsch und Wille verwandter Geister? Die Toten helfen uns, und wir sollen ihnen helfen. Geschähe das nicht, die Erde würde veröden und der Spielball dunkler Gewalten sein. Aber sie soll ja durchlichtet werden mit allem, was auf ihr lebt, zu einem ewigen Frieden und zu einem Sonntag der Welt. Es ist lange bis dahin, und heute ist Werktag, und der Feiertag ist noch weit.

Ihr, die ihr heute atmet, denkt daran und leugnet die Toten nicht, die neben euch stehn. Es sind auch die Toten so vielfältig wie die Lebenden, es sind lichte und dunkle unter ihnen, und sie schaffen mit euch an euren lichten und dunklen Werken. Darum sorgt, daß eure Worte und Werke durchlichtet sind, denn was ihr redet und wirkt, ist für diese und jene Welt, für die Lebenden und für die Toten und für den Bau der ganzen Welt. Es gibt so viele Tote, die euch helfen wollen – seht nicht an ihnen vorbei. Es gibt auch so viele Tote, die eure Hilfe brauchen – versagt sie ihnen nicht. Es wandeln manche Tote hoch über euch auf den Höhen, es wohnen aber noch viele in den Tälern der Tiefe, und es sind auch solche, die nicht über die Schwelle gehn können, weil es dunkel um sie ist und sie die andere Welt nicht erfassen. Sie irren durch eure Häuser der Schatten und suchen in euren Kirchen. Aber sie finden heute wenig genug an Licht, denn es ist sehr finster geworden auf der Erde um diese Zeit der Wende.

Denkt daran, ihr, die ihr heute atmet, laßt eure Hütten und Tempel wieder hell werden für Lebende und für Tote, damit sich die Welten vereinigen zu der Menschheit Jugendland. Seht ihr es nicht selbst, wie dunkel es um euch geworden ist? Irrt nicht auch die graue Frau durch die Zimmer im Hause der Schatten, Jahr um Jahr, und suchen nicht viele andere Tote in den engen Gassen von Halmar und horchen auf die Glocken, wenn sie zum Sonntag läuten? Aber es ist kein Feiertag mehr bei euch, und es ist auch dunkel in der Kirche zu Halmar.

Zündet die Lichter an! Es harren so viele darauf, daß es hell wird. Lebende und Tote rufen danach, Menschen, Tiere und alles, was Dasein hat, sehnt sich nach Licht und Erlösung. Die Stunden, die euch heute schlagen, sind Schicksalsstunden der Welt, es ist viel Licht nötig, denn es ist allzu finster geworden. Ich muß euch das sagen, und ich muß es versuchen, euch Licht um Licht zu entzünden, damit ihr es richtig versteht, wenn ich euch von den Toten in der Kirche zu Halmar erzähle. Ihr werdet vielleicht denken, das seien alte Geschichten, und wer weiß, ob sie wahr sind – aber glaubt es mir, es sind Geschichten, die jeden Tag wieder neu werden können. Denn die Toten stehen neben euch.

*

Es war eine seit Jahren beachtete Gewohnheit, daß im Hause der Schatten der Geburtstag von Tante Mariechen sehr feierlich begangen wurde und sich Freunde und Bekannte bei ihr versammelten, denn sie war die Älteste von allen und stand dem vor, was häuslich war im Sinne der Menschen von heute. Tante Mariechen betrachtete diesen Festtag auch stets mit besonderer Wichtigkeit. Sie buk gewaltige Berge von Kuchen, damit nicht einer ihrer Gäste unterernährt wieder von ihr ginge, und es war dies auch niemals geschehen, solange man sich überhaupt besinnen konnte.

Peter und Zottel erschienen als erste Gäste, aber sie blieben meistens im Kinderzimmer, weil Peter nicht gerne unter ihm fremden Menschen war. Es waren heute schon viele gekommen und wieder gegangen. Jetzt saßen im großen Saal, der an das grüne Zimmer grenzte, Ulla Uhlberg neben Johannes Wanderer, Pastor Haller mit seiner Frau und Doktor Gallus. Regine war zurückhaltend wie immer, Tante Mariechen ein wenig aufgeregt, und Veronika teilte ihre Anwesenheit zwischen den Gästen und dem blöden Peter im Kinderzimmer. Magister Mützchen folgte ihr stets getreulich, während Mutzeputz nur dazwischen, unzufrieden mit den zahlreichen Störungen seiner Ruhe, ins Vorzimmer guckte, wenn ein neuer Gast erschien. Er liebte Lärm und Bewegung im Hause nicht und sah unverkennbar mißbilligend aus.

Auch Pastor Haller war heute verstimmt, obschon er sonst keine Beziehung zu Mutzeputz hatte. Im Gegenteil, die philosophische Beschaulichkeit, die Mutzeputz in reichstem Maße besaß, fehlte Pastor Haller gänzlich, und heute mehr denn je, denn er ereiferte sich über das angebliche Krötenwunder, mit dem ihm Eriksen offenbar sehr heftig zugesetzt hatte.

»Es ist ausgeschlossen, daß ich sozusagen von kirchlicher Seite einen solchen Aberglauben gutheißen kann. Ich kann ihn dulden, vielleicht darüber wegsehen, aber Eriksen verlangte ja geradezu von mir eine Anerkennung seiner verstiegenen Wundertheorien und, was das schlimmste ist, er steckt die Leute von Halmar, die sowieso schon zu solchen dunklen Geschichten neigen, an.«

»Mir ist es nicht unlieb, wenn die Kröten ordinieren«, meinte Doktor Gallus, gleichgültig gegen des Pfarrers gekränkten Eifer, »ich habe dann eine Vertretung, wenn ich mich einmal zurückziehe. Also.«

»Die Kröte soll nicht ordiniert haben, Herr Doktor«, warf Johannes Wanderer ein, »es wird nur behauptet, daß sie geheilt habe. Sie müssen gerecht sein und zugeben, daß es zweierlei ist. Warum soll eine Kröte nicht heilen, ohne zu ordinieren? Es gibt ja auch Ärzte, die ordinieren, ohne zu heilen.«

Doktor Gallus schnappte schnabelähnlich mit der Kinnlade.

»Bei Ihnen weiß man nie, ob Sie mehr gutmütig oder bissig sind, ganz wie mein Papagei.«

»Ich habe nichts Boshaftes damit sagen wollen, Herr Doktor«, meinte Johannes Wanderer, »vor allem nichts gegen Sie. Daß Sie geheilt haben, weiß ich, und mit welcher Liebe Sie den armen Peter behandelten, als er krank war, werde ich nicht vergessen. Wollen wir vom Ordinieren einmal absehn. Glauben Sie zum Beispiel nicht, daß Sie auch eine Kraft in Wirkung setzen, wenn Sie mit Ihrer ganzen Anteilnahme einem Kranken behilflich sind, wenn Sie Mühe und Unbequemlichkeiten überwinden, die Ihnen oft vielleicht ein recht fühlbares Opfer sind? Sie sind nicht mehr der Jüngste, und doch sind Sie Tag und Nacht in Bereitschaft. Denken Sie nicht, daß solch eine Kraft auch Hilfe und Heilung in sich tragen kann, oft mehr als eine Ordination? Heilen ist eine Kunst und als solche spirituell, nicht mechanisch, wie eine heutige medizinische Dekadenz glaubt. Ist Ihre Kunst aber unwägbar, kann es dann nicht auch einmal andere unwägbare Kräfte geben, die sich irgendwie mit einer armen verfolgten Kröte verbinden? Zudem soll das im Schlaf geschehen sein. Wo sind wir, wenn wir schlafen? Der Schlaf ist eine andere Welt. Die Wissenschaft weiß nichts von ihm, und doch ist er fast unser halbes Leben.«

»Vielleicht haben Sie recht«, sagte Doktor Gallus, »wir wissen alle wenig, und wir kennen auch die Kraft nicht, die heilt. Ganz kann ich Ihnen freilich nicht folgen, aber ich verstehe auch nicht alles, was mein Papagei sagt. Sie erinnern mich also doch an meinen Papagei, Herr Johannes.«

»Das gleiche sagen manche von Ihnen selbst Herr Doktor«, meinte Johannes Wanderer, »mir persönlich ist auch dieser Vergleich in keiner Weise unangenehm. Ich habe Ihren Papagei sehr gerne.«

»So?« schnappte Doktor Gallus, »sagen die Leute das? Recht haben sie. Mein Papagei ist klüger, als alle Leute von Halmar zusammengenommen. Aber jetzt muß ich gehn, meine Kranken rufen mich. Es tut mir leid, aber das sind die unwägbaren Kräfte, mit denen ich rechnen muß. Wollen wir hoffen, daß sie sich in heilende Kräfte umsetzen.«

Doktor Gallus verabschiedete sich, und Johannes Wanderer begleitete ihn hinaus.

»Dieser Pastor Haller mit seiner Moralgrammatik ist ein Kamel«, knurrte Doktor Gallus bösartig, »er soll doch froh sein, daß die Leute hier noch an Wunder glauben, denn wenn sich Halmar an ihn gewöhnen soll, so kann das auch nur durch ein Wunder geschehen.«

»Er ordiniert eben, ohne zu heilen«, sagte Johannes Wanderer, »das ist heute üblich, weil man die unwägbaren Kräfte nicht mehr kennt.«

Doktor Gallus wollte gerne noch eine bissige Bemerkung machen, aber er stieß in der Türe mit Baron Bombe zusammen und empfahl sich eiligst.

Baron Bombes ganzes Wesen war derb und ländlich. Er warf einen abweisenden Blick auf Mutzeputz, der ihm seinerseits sofort den Rücken kehrte und sich zurückzog. Laute Leute waren seinem Kulturempfinden ekelhaft. Baron Bombe trat in den Saal und begrüßte alle strahlend. Seine kleinen himmelblauen Augen hatten Ulla Uhlberg entdeckt, für die er eine jedem sichtbare Liebe zur Schau trug.

»Gut, daß mir die Katze draußen nicht über den Weg gelaufen ist. Ich kann Katzen nicht leiden. Hunde und Pferde sind etwas anderes. Ich bin für die Kraft. Sie nicht auch, mein gnädiges Fräulein?«

Baron Bombe sprach bellend, wie es oft primitive Leute mit starkem Selbstgefühl tun.

»Er hat Mutzeputz beleidigt«, sagte Veronika, »ich werde ihm nicht guten Tag sagen.«

»Veronika«, flüsterte die Mutter ihr zu, »sei vernünftig, bitte, sonst mußt du hinaus.«

Veronika zog sich in eine Ecke zurück, und glücklicherweise bemerkte Baron Bombe sie gar nicht.

»Ich kann mich nur für die Kraft erwärmen, die fein und geschliffen ist«, meinte Ulla Uhlberg abwehrend, »darum liebe ich Katzen und kultivierte Menschen.«

Veronika vergaß in diesem Augenblick, daß sie Ulla Uhlberg sonst eigentlich nicht sehr gern hatte. Baron Bombe verstand seine Abfuhr nur undeutlich, er lachte meckernd und etwas verlegen. Tante Mariechen schenkte ihm Kaffee ein und versorgte ihn so ausgiebig mit Kuchen, daß er noch lange davon hätte leben können.

»Wir sprachen gerade von den Leuten in Halmar und ihrem Aberglauben«, äußerte Regine vermittelnd, um das gefährliche Gespräch über die Kultur von Katzen und Menschen in andere Bahnen zu lenken. Das Wunder der Kröte erschien ihr auch keineswegs abgeschlossen. Sie neigte dazu, es nicht in der Weise gelten zu lassen, wie Johannes es tat. Klar war es ihr freilich auch nicht, und sie schwankte, wie meist, in ihrer Meinung.

»Aberglauben? Großartig!« rief Baron Bombe, »hier glauben die Leute alles, was man will. Eine ideale Pfarre für Sie, Herr Pastor, nicht wahr?«

Baron Bombe sah Pastor Haller mit herzlichem Wohlwollen an.

»Das nun gerade nicht«, meinte Pastor Haller mit gekniffener Miene, »ich kann mich durchaus nicht mit der Gesinnung der Leute hier abfinden, und ich denke ernstlich daran, mich in eine große Stadt versetzen zu lassen, wo man zeitgemäßer empfindet.«

»Ach«, sagte Baron Bombe, »es ist doch reizend hier.«

»Es ist auch eine Gegenströmung gegen meinen Mann in Halmar«, ergänzte Frau Haller bedrückt.

»Ja«, sagte Pastor Haller gereizt, »man will mich morgen in dieser Sache besuchen, eine Art Kirchenrat, vermute ich. Aber ich denke nicht daran, den Leuten ihren Unsinn auch noch zu sanktionieren. Ich will ihnen einfach erklären, daß ich es satt habe und gehn werde.«

»Aber, Haraldchen«, beschwichtigte Frau Haller.

Tante Mariechen reichte ihm die Kuchenschüssel hinüber, und Baron Bombe wollte sie höflich dabei unterstützen. Bei diesem Versuch geriet die Kaffeetasse in seiner Hand ins Wanken und ergoß sich rettungslos über ihn. Baron Bombe war groß und breit, und auf seiner weißen Weste fand der Kaffee die weitesten Möglichkeiten. Regine und Tante Mariechen kamen ihm zu Hilfe.

»Mutzeputz hat sich noch nie etwas über seine weiße Weste gekippt«, verkündete Veronika schadenfroh und triumphierend.

»Veronika, geh hinaus«, sagte die Mutter und bemühte sich, durch ihren Eifer an Baron Bombes Weste den Eindruck dieser vernichtenden Worte zu verwischen.

Baron Bombe war übrigens ganz mit sich und seinem Unglück beschäftigt. So etwas geschah bei ihm wirklich nicht häufig, und nun mußte es gerade jetzt sein, wo Ulla Uhlberg dabei war. Sie sah zwar teilnahmsvoll aus, aber das konnte auch Heuchelei sein.

»Das kann jedem passieren, und wenn das mir passiert, dann passiert mir das immer einige Male hintereinander«, tröstete Tante Mariechen.

Doch Baron Bombe blieb bedrückt und empfahl sich bald darauf. Er fühlte sich unsicher in dieser entstellten Weste, und er vertrug es durchaus nicht, anders als sieghaft zu wirken.

Kaum war er gegangen, erschien auch Veronika wieder. Sie tat, als wäre nichts vorgefallen, doch sie hatte sich zur Sicherheit Peter mitgebracht. Peter war eine Ablenkung, und alle erkundigten sich nach seinem Befinden. Er war etwas ratlos und versicherte, es ginge ihm gut.

Regine rief Veronika zu sich. Sie schien ihr doch allzu vergnügt nach diesem peinlichen Vorfall.

»Veronika, solche Bemerkungen darfst du nicht machen.«

»Ach«, sagte Veronika, »wegen dem? Warum hat er Mutzeputz beleidigt? Ich habe Mutzeputz, Peter und Zottel erzählt, daß Baron Bombe den Kaffee über die weiße Weste gekippt hat, und sie haben sich alle gefreut. Auch die graue Frau stand dabei, und sie lachte sogar ein wenig. Sie war bestimmt auch sehr erfreut. Ich habe die graue Frau noch niemals lachen sehen.«

»Mein Himmel, glaubt denn das Kind auch schon an Gespenster?« meinte Pastor Haller entsetzt, »du träumst wohl viele solche Sachen, Veronika?«

»Das Kind hat manchmal Ideen«, sagte Tante Mariechen bekümmert. Ideen zu haben, schien Tante Mariechen stets bedenklich.

Veronika hatte das Gefühl, daß die graue Frau bedroht war. Das war ja eine sonderbare Gesellschaft heute! Erst griff man Mutzeputz an und nun die graue Frau. Es fehlte nur noch, daß jemand etwas Abfälliges über Magister Mützchen sagen würde.

»Ich habe das nicht geträumt, ich habe das gesehen«, sagte Veronika trotzig, »wenn ich träume, ist es ganz anders, aber auch dann ist es oft sehr wirklich, so wie es neulich war.«

»Was hast du denn neulich geträumt, mein Kind?« fragte Frau Haller freundlich.

Ihr schien es, daß ihr Mann etwas zu schroff zu Veronika gewesen war. Er war überhaupt zu schroff, ihrer Ansicht nach. Ihr Vater war darin anders gewesen, viel weicher und viel geduldiger. Du lieber Gott, warum soll man sich nicht ein bißchen für die Träume der Kinder interessieren? Nachher vergeht einem das Träumen schon – auch ihr war es lange vergangen.

Veronika zögerte einen Augenblick.

»Ich habe geträumt, daß Christus auf der Landstraße stand und dem alten Aron Mendel seinen schweren Kasten abnahm. Christus sah so aus, wie auf dem Bild in meinem Schlafzimmer.«

Eine Weile war es still, und es fand niemand ein Wort.

»Das ist ja ein schöner Traum«, sagte Pastor Haller endlich zögernd, »um so mehr, als Aron Mendel Jude ist.«

Veronika sah ihm gerade ins Gesicht.

»Es war kein gewöhnlicher Traum. Es ist schon wirklich, wenn ich so träume. Und Christus hat nicht gefragt, ob Aron Mendel ein Jude ist.«

Da senkte Pastor Haller die Augen.

»Du hast recht, Veronika«, sagte Johannes Wanderer, und Ulla Uhlberg nickte ihr zu.

»Träumst du auch so schön?« fragte Frau Haller den blöden Peter.

»Nein«, sagte Peter, »aber ich glaube es.«

»Wollen wir in den Garten gehen«? schlug Tante Mariechen vor.

Diese geistigen Gespräche waren ja vielleicht erbaulich, aber ihr schien es, es würde ein wenig zu ernst für eine Geburtstagsfeier. Auch weiß man nie, ob die Menschen dabei nicht streitbar werden, und das wollte Tante Mariechen durchaus nicht haben. Sie war für die mittlere Linie und für die Gemütlichkeit.

Alle standen auf, um in den Garten zu gehen. Aber sie waren schweigsam geworden. Pastor Haller hielt Johannes Wanderer noch einen Augenblick im Hause zurück. Er sah blaß aus und kämpfte sichtlich mit sich selber.

»Mir scheint es«, begann er leise, »dieses halbe Kind und dieser Blöde sind bessere Christen als ich.«

»Ja«, sagte Johannes Wanderer ruhig.

»Mir kommt das überraschend, es wirft vieles in mir um, Sie werden das vielleicht verstehen«, meinte Pastor Haller unsicher. »Ich muß mich irgendwie entscheiden, aber ich weiß es nun wirklich nicht, was ich tun soll. Vielleicht können Sie mir einen Rat geben? Soll ich in Halmar bleiben und es aufs neue versuchen, oder soll ich mich für die große Stadt entschließen? Welchen Weg soll ich gehen?«

»In der äußeren Lösung darf ich Ihnen nicht raten, die innere nannte ich Ihnen schon einmal, Herr Pastor, vor einigen Jahren. Sie haben es überhört. Es gibt nur einen Weg: nach Damaskus.«

Pastor Haller schlang die Finger nervös ineinander und sah ins Weite.

»Ich will es versuchen«, sagte er.

*

Am Abend machte sich Veronika an Johannes Wanderer heran, als sie allein waren.

»Onkel Johannes«, sagte sie, »weißt du, was heute das Allerschönste war? Baron Bombe hat sich gar nicht selber den Kaffee auf seine weiße Weste geschüttet, sondern das hat Magister Mützchen getan. Hast du es nicht bemerkt, wie er ihm die Tasse umkippte? Ich freue mich jetzt noch so, wenn ich daran denke.«

»Ich habe es nicht gesehn, Veronika, ich dachte wohl an andere Dinge. Aber es ist sehr ungezogen von Magister Mützchen.«

Veronika schüttelte den Kopf.

»Das mußt du nicht sagen, Onkel Johannes. Bedenke doch, daß Baron Bombe Mutzeputz beleidigt hat.«

»Ich bedenke das«, sagte Johannes Wanderer, »aber die Strafe war doch etwas hart. Natürlich muß man es bei Magister Mützchen anerkennen, daß es hübsch ist, für seine Lebenskameraden einzutreten.«

»Ja, nicht wahr? Ich hätte auch den Kaffee umgekippt, wenn ich es gekonnt hätte. Es war doch zu schön!« sagte Veronika.

Mutzeputz saß vornehm auf einem großen Sessel und blinzelte aus halbgeschlossenen Augen hinüber. Er sah aus, als ob er lachte.

Pastor Haller hatte in dieser Nacht nicht geschlafen. Er hatte bis zum Morgengrauen allein in seinem Arbeitszimmer gesessen, und er hat niemals zu irgend jemand ein Wort darüber gesagt, welche Gedanken in dieser einsamen Nacht bei ihm ein und aus gingen.

Am Vormittag kamen die Leute aus Halmar, die sich angemeldet hatten, um den Pfarrer zu sprechen. Sie traten laut auf und hatten finstere und verbissene Gesichter. Eriksen war an ihrer Spitze, offenbar sollte er ihr Sprecher sein. Pastor Haller bat sie, sich zu setzen. Er selber blieb an seinem Schreibtisch stehen. Er sah blaß und übernächtig aus.

»Ich weiß, was ihr sagen wollt«, begann er, »aber es ist besser, ihr laßt mich zuerst reden. Ich denke, daß sich dann alles Weitere erübrigt und ihr zufrieden sein werdet. Ihr wollt sagen, daß ich euch nicht der Pfarrer gewesen bin, den ihr braucht und den ihr euch wünscht. Damit habt ihr recht. Ihr wolltet euren alten Weg gehen, und ich versuchte euch einen anderen zu führen. Damit hatte ich unrecht, ich sehe das ein, und es tut mir leid. Ich habe mir Mühe gegeben, aber es war nicht die richtige Mühe, denn ihr wart Christus näher als ich. Ich bin ihm nun auch nahegekommen. Ihr habt auch recht, wenn ihr an Wunder glaubt. Es geschehen jeden Tag Wunder. Ich wußte das nicht. Ich weiß es jetzt, denn ich habe selber Wunder erlebt. Ich bin nicht reif, euer Pfarrer zu sein, ihr müßt einen besseren haben, und ich will helfen, ihn euch zu finden. Ich habe geäußert, daß ich in die große Stadt gehen will. Ich werde das nicht tun, ich will an einen viel kleineren Ort gehen, als es Halmar ist, um erst zu lernen, bis ich vielleicht einmal Pfarrer von Halmar werden kann. Wir wollen weiter nicht darüber reden, aber in großen Frieden voneinander scheiden, und ihr werdet es mir vergeben, wenn ich es nicht richtig gemacht habe.«

Die Männer von Halmar standen von ihren Stühlen auf, einer nach dem anderen. Es war eine große Stille unter ihnen. Man hörte nur die Vögel draußen im Garten singen. Endlich sprach Eriksen, indem er verlegen den Hut in den Fingern drehte.

»Der Herr Pastor hat recht«, sagte er, »wir sind sehr sündige Menschen. Aber wir wollen uns alle bessern, ja, das wollen wir.«

Pastor Haller faßte sich mit der Hand an die Stirn.

»Ihr habt mich nicht verstanden«, meinte er müde, »ich habe nicht von eurer Schuld gesprochen, sondern von meiner, und ich habe euch um Vergebung gebeten, damit wir in Frieden scheiden. Das ist alles.«

»Wir haben den Herrn Pastor sehr gut verstanden«, sagte Eriksen, »wir haben es nicht gedacht, daß der Herr Pastor so reden würde. Wenn der Herr Pastor so redet, ist er viel besser, als wir sind. Er kann auch von seiner Schuld reden, weil er darüber hinausgekommen ist, und darum, wenn er so redet, so redet er von unserer Schuld. Wir können das gut verstehen, und wir sind sündige Menschen. Es tut uns auch sehr leid, wollten wir sagen.«

»Wir wollen es uns doch nicht schwerer machen, als es ist«, sagte Pastor Haller, »es ist mir schwer genug, aber wir müssen jetzt ehrlich und wahr sein, und es ist gewiß am besten so, wie ich es euch vorgeschlagen habe – für euch am besten, denn daß es für euch am besten sei, dafür muß ich sorgen, so gut ich es kann. Dann bin ich zum friedvollen Ende doch noch einmal wirklich der Pfarrer von Halmar gewesen.«

Eriksen drehte seinen Hut weiter.

»Wir wollen den Herrn Pastor bitten, daß der Herr Pastor bei uns in Halmar bleibt. Dazu stehen wir hier. Wir wissen es auch, daß wir keinen besseren Pastor in Halmar bekommen können. Darum muß der Herr Pastor in Halmar bleiben.«

Harald Haller kämpfte mit einer ungeheuren Bewegung.

»Ich danke euch viele Male«, sagte er, »ich werde das tun.«

Am nächsten Morgen war die Kirche zu Halmar übervoll. Es war kein einziger Platz mehr darin zu finden. Pastor Haller sprach, wie er bisher noch niemals gesprochen hatte. Er sprach vom Licht, das in der Finsternis leuchtet, er sprach von den Wundern, die sich Tag um Tag ereignen für den, der sie zu schauen gelernt hat, und er sprach davon, daß einer dem anderen die Bürde tragen helfe, wie es Christus getan und wie es Christus noch heute tue.

Es war sehr still in der Kirche zu Halmar, und als Pastor Haller hinausging, reichten ihm viele die Hand, die ihn erreichen konnten.

Dann wandte er sich und ging allein nach Hause. Aber er war nicht allein. Jemand sprach neben ihm, oder es war, als ob ein anderer in ihm redete.

»Du weißt es nicht, wer mit dir spricht«, sagte die Stimme, »weil du niemand siehst. Aber du weißt es ja nun, daß die Unsichtbaren so wirklich sind wie die Sichtbaren. Es ist die graue Frau aus dem Hause der Schatten, die mit dir geht. Ich will dir danken, Harald Haller, denn es ist heute hell geworden in der Kirche zu Halmar und hell in vielen, die sich danach gesehnt. Du freust dich, daß deine Kirche gefüllt war, aber sie war noch viel voller, als du es denkst. Es waren nicht nur die Lebenden um dich, sondern auch die Toten waren heute in der Kirche zu Halmar, ich und viele andere. Wir werden nun über die Schwelle gehn können in eine andere Welt, denn es ist hell um uns geworden, und wir sehn den Weg.«

Da war es Harald Haller, als habe er heute zum ersten Male Gottesdienst gehalten.

Es war an demselben Sonntag, daß Aron Mendel durch die Gassen von Halmar schritt. Er ging hoch aufgerichtet, wie noch nie zuvor, und er trug seine mühsame Last auf dem Rücken, als wäre sie nur ein Spielzeug. Die Menschen wunderten sich darüber, er aber sagte ihnen, daß er nun nicht mehr wiederkommen werde. Und er ging aus Halmar hinaus nach dem Hause der Schatten und zu Johannes Wanderer.

»Ich werde nun nicht mehr pilgern müssen, Johannes«, sagte er, »es ist ein Zeichen geschehen, das es so will und das sehr wunderbar ist. Es war vor wenigen Tagen, als ich meinen Kasten auf der staubigen Straße schleppte, daß er mit einem Male so leicht wurde, als habe ihn jemand mir abgenommen. Es ist nun keine Bürde mehr, die ich trage um den zerstörten Tempel. Gott ist versöhnt, und er will nicht, daß ich weiter für die kleine Rahel sühnen soll. Ich will nach Hause gehen und will mit ihr spielen in meinen letzten Tagen.«

»Ich freue mich sehr darüber«, sagte Johannes Wanderer, und er dachte an Veronikas Traum. »Es ist auch sonst ein seltsamer Sonntag heute, Aron Mendel. Es waren Lebende und Tote in der Kirche zu Halmar und haben Gottesdienst gehalten. Denn es ist in der Kirche zu Halmar hell geworden, und wir wollen glauben und hoffen, daß es überall hell wird, Stufe um Stufe – dann wird der zerstörte Tempel wieder erbaut.«

»Johannes, können Sie mir nicht sagen, wer mir den schweren Kasten abgenommen hat?«

»Das muß ein jeder selbst für sich ergründen, Aron Mendel, aber ich denke mir, es ist jemand gewesen, der wie kein anderer es verstanden hat, daß Sie Ihre Bürde getragen haben aus Liebe zur kleinen Rahel.«

»Dann muß es ein großer und guter Geist sein, Johannes.«

»Das ist er gewiß«, sagte Johannes Wanderer.

Ihr, die ihr heute atmet, denkt daran und zündet Lichter an für die Lebenden und für die Toten.


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