Isolde Kurz
Im Zeichen des Steinbocks
Isolde Kurz

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Unter Menschen

Die Politik ist das Schicksal, sagte Napoleon, das Fatum der Alten mißbilligend. Heute müßte man sagen: die Gesellschaft ist das Schicksal, diese ganze große Kulturmaschine, die den Starken, der sich widersetzt, zermalmt und den Schwachen zerreibt.

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Der Konventionalismus wird niemals aus der Welt geschafft werden: er ist die einzige Form, unter der die große, unendliche Herde derer, die nicht denken, dem Ideal huldigen kann, wenn sie es dabei auch gänzlich fälscht und in sein Gegenteil verwandelt.

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Die menschlichen Vorurteile sind wie jene bissigen Hunde, die nur den Furchtsamen angreifen.

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Die materiellen Interessen reißen die Menschen auseinander, die geistigen 222 verbinden sie. Nur in Zeiten, wo der Idealismus herrscht, gibt es die großen Freundschaften.

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Die Gegenwart hat etwas Versöhnendes: Wenn wir einem Menschen, mit dem wir Krieg geführt haben, persönlich gegenüberstehen und der Zwang der guten Sitte die Stirnen glättet, so regt sich auch wirklich etwas zu seinen Gunsten in unserer Seele. Alle Erklärungen seines Betragens legen sich ohne sein Zutun mildernd an unser Herz.

Es sind unheimlich tiefgründige oder ganz perverse Naturen, die auch unter dem Einfluß der Gegenwart und mit einem versöhnten Lächeln auf den Lippen im stillen den Krieg weiterführen.

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Im Urzustande der Menschheit war jeder Unbekannte ein Feind, und eine Erinnerung daran ist noch im Instinkt erhalten. Bei jeder ersten Begegnung muß im Grunde etwas Feindseligfremdes überwunden werden, das der Kulturmensch durch eine verbindliche Formel zudeckt. Kinder schweigen und 223 stehen sich scheu gegenüber, bis sie entweder Sympathie fassen und einander bei den Händen nehmen, oder die Abneigung so deutlich wird, daß sie vielleicht beide in ein Geheul ausbrechen.

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Klug sein heißt praktische Psychologie treiben. Wer einen anderen gar nicht zu behandeln versteht, der beweist, daß er in sein Wesen und seine Bedürfnisse keinen Einblick hat.

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Zur Menschenkenntnis gehört nichts als ehrliche Selbstbeobachtung. Kennt man sich selbst, so kennt man alle Menschen, die guten wie die schlechten.

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Die Fronsklaven des Luxus blicken mit Neid, der nicht immer frei ist von Gehässigkeit, auf jene Bedürfnislosen, die sich den höchsten Luxus gestatten, ihre Freiheit zu wahren.

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224 Nicht umsonst setzt die Gesellschaft immer die höchste Luxussteuer auf die idealen Bedürfnisse.

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Der Philister, der nur das Reale schätzt, ist doch ganz außer stande, mit den wirklichen Realitäten zu rechnen. Sieht man ihn je einem Hochbegabten, Großeswollenden, der noch kämpfen muß, die Hand reichen? Auf den Dank solcher ringenden Heroen müßten ja die »praktischen« Leute ganz eigens wie auf eine hohe Kapitalanlage spekulieren. Aber das fällt ihnen gar nicht ein. Dagegen ist man gleich zur Hand, wenn es gilt, sich irgend einem Hochgestellten dienstbar zu machen, der den Vorschub weder braucht, noch dafür dankt. So schlecht verstehen sie sich sogar auf den weltlichen Vorteil. Die Wahrheit ist: dem Philister flößt nur der im Besitz Befindliche Zuneigung ein, die er dann auch völlig gratis verschwendet, und so ist er, ohne es zu ahnen, doch auf seine Art ein ganz unpraktischer Phantast.

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225 Der wahrhaft Bedauernswerte in der heutigen Gesellschaft ist nicht der Proletarier, an dessen materielle Förderung eine mächtige Partei ihre ganzen Kräfte setzt. Freilich ein chimärisches Bestreben, so lange mit der Steigerung der Löhne neben der Erhöhung der Preise auch die materiellen Bedürfnisse sich erhöhen. Dennoch gibt es einen Ausgleich für den gemeinen Mann: er lebt naiv in den Tag hinein, der Zwiespalt zwischen den Forderungen der Natur und der Gesellschaft läßt ihn unberührt, er heiratet jung und fragt nicht: Wie werde ich meine Kinder durchbringen? Er weiß: die breite Woge des Lebens trägt auch sie.

Der wahre Märtyrer unserer Kultur ist der gebildete Mensch, der keine Mittel hat. Er ist zum Zölibat verurteilt, weil er nicht, wie der Proletarier, leichtsinnig einen Lebensfunken entzünden darf, den er nicht nähren kann. Seine Kinder sollen nicht unter sein eigenes Niveau herabsinken, besser also, daß sie gar nicht sind. Keine Partei fragt nach seinem Wohlergehen. Seine glücklicheren Standesgenossen lassen ihn mehr 226 oder minder deutlich seine finanzielle Ohnmacht fühlen, und der Niedrige rächt gerne an ihm all den Haß und Neid, den die privilegierte Klasse ihm einflößt. Wenn er ihn nicht für den Luxus seines Auftretens hassen kann, so haßt er ihn für den geistigen Ausdruck seiner Gesichtszüge, der ihm als der allergrößte Luxus erscheint. Ja, er haßt ihn im Grunde sogar mehr als den Reichen, weil der Besitz dem gemeinen Mann als Realisten, der er ist, doch zugleich imponiert. Und was Wunder, daß das rohe Volk roh empfindet, wenn der wohlhabende Gebildete selber jeden Geldsack mit Hochachtung behandelt und dem Parvenü Rücksichten erweist, die er vielleicht dem unbemittelteren Bruder schuldig bleibt. Die ungeheure Überschätzung der materiellen Güter ist dem Volk, das die geistigen nicht kennt, am wenigsten zu verargen.

Wahrlich, es gehört noch viel, viel mehr dazu, als Geist und Bildung, es braucht Charakter, Gemüt und eine fortgesetzte Veredlung der Rasse durch viele Generationen, 227 um den Mammon endlich auf seinen wahren Wert zu fixieren.

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Wenn ihr weiter nichts wollt, als schön wohnen, behaglich leben, euren Sinnen angenehme Empfindungen zuführen – das alles will die Bestie auch. Fragt den Stier, was er vom Leben verlangt: eine grüne Wiese mit vielem saftigem Gras und mit schönen Kühen darauf. Wenn ihr nichts Höheres wollt als er, so habt ihr kein Recht, ihn zu töten und euch durch ihn zu nähren.

Aber ich sehe eine Zeit kommen, wo ein Hunger nach idealen Gütern die Welt verzehren wird. Dann wird sie sich in Hirngespinste und von da in die Askese stürzen, denn das Schöne ist eine Blume, die in Jahrtausenden nur einmal blüht.

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Allerlei Heilige

Die Idealisten wider Willen. Die praktischen Köpfe, die sogenannten »positiven Menschen«, die den Idealismus 228 verachten und nur für den Gelderwerb leben, das sind die Idealisten wider Willen. Sie rechnen und häufen Millionen auf Millionen, ohne zu wissen, für wen, für was? Auf Befragen sagen sie zwar: »Für unsere Kinder«, in Wahrheit sind ihnen aber die Kinder dabei sehr unwichtig. Wenn sie klug sind, so wissen sie sogar, daß sie die Kinder schädigen, denn daß schnell erworbener, großer Reichtum die Degeneration der Familie zur Folge hat, das steht ihnen täglich in unzähligen Beispielen vor Augen. Aber danach fragen sie nicht, das Erwerben ist ihnen ein Naturtrieb. Sie rechnen, während sie eine Beethovensche Sonate anhören, sie rechnen im Theater und in den Armen ihrer Gattin oder Geliebten. Nie hat ein großer Gedanke ihr Herz weit gemacht, nie eine poetische Regung ihre Phantasie entzückt. Auch für das bunte Maskenfest des Lebens hat der »praktische Kopf« keine Zeit, er schließt das Fenster, damit das Gejauchze ihn nicht im Rechnen stört, und schreibt Zahlen zu Zahlen: er muß seine Millionen ausschicken, um neue Millionen 229 heranzureißen, bis der Tod ihm die Feder aus der Hand nimmt. Alsbald ist offene oder heimliche Empörung auf der ganzen Linie. Die Millionen, ihres Herrn und Meisters ledig und selbstherrlich geworden, erheben sich gegen seine Erben und lassen nicht ab, an den Unglücklichen ihre Rache zu kühlen, bis der physische und moralische Ruin der Familie vollendet ist und sie dann in öffentliche Stiftungen zerfallen können, die einem politischen oder humanitären oder künstlerischen Zwecke dienen. Denn auch der Dämon Geld hat zuweilen ethische Hintergedanken, wenn man sie auch nicht gleich durchschauen kann.

So hat der praktische Kopf, der lebenslang mit kaltem Lächeln auf die Idealisten heruntersah, dennoch sein ganzes Dasein an ideale Zwecke gesetzt, und die idealen Zwecke können mit Seinesgleichen als mit einer völlig sicheren Größe rechnen.

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Die ästhetischen Menschen. Feine geistige Kultur, die unmittelbar aus 230 dem Gelde stammt, hat etwas von der Treibhauspflanze an sich, die außerhalb ihrer Jahreszeit zum Blühen gebracht wird. Statt daß eine Familie von Geschlecht zu Geschlecht sich langsam zur Kultur entwickelt und verfeinert, bis in einer Generation oder einem Individuum die höchste Blüte erreicht ist, nehmen die Kinder reich gewordener Banausen die Blüte vorweg, indem sie Eigenschaften in ihrem Geiste zeitigen, auf die normalerweise erst ihre Urenkel ein Recht hätten. Aber Schmelz und Duft sind nicht wie bei der natürlich entwickelten Blume, es ist etwas Unvollkommenes darin: einseitige Ausbildung des Geschmacks, ästhetischer Sinn ohne Veredlung des Gemüts und Charakters zu voller Menschlichkeit. Die Pflanze, die zum Blühen noch gar nicht reif war, verkümmert danach; niemals setzt sich bei den Nachkommen der unterbrochene Entwicklungsprozeß fort, die Familie muß aussterben oder verkommen.

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Diese Naturen wissen ihre Mängel unter der ästhetischen Verfeinerung so gut zu 231 verstecken, daß es langer Erfahrung bedarf, um sie an ihrem Merkmal immer und überall wieder zu erkennen. Ihr Merkmal ist: sie wissen nichts vom Noblesse oblige.

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Wie sie es fertig bringen, diese ästhetischen Schwelger, die überall das Schöne suchen und genießen, in ihren eigenen Handlungen und Unterlassungen so gar nicht schön zu sein und doch mit sich in Einklang zu bleiben?

Sie sehen das Leben als ein Bühnenstück an, das eigens für sie aufgeführt wird. Sie sitzen bequem in ihren Logen, verteilen Lob und Tadel mit Kunstsinn und Gerechtigkeit und klatschen, wenn der Held mit Anstand untergeht. Ihm beizuspringen, fällt ihnen niemals ein, sie kämen sich dabei so absurd vor, wie jenes Bäuerlein, das vom Zuschauerraum auf die Bühne sprang, um die bedrängte Unschuld zu beschützen. Sie wissen nicht, daß in diesem Stück, wie in den Komödien der romantischen Schule, auch die Zuschauer mitspielen, und daß eben dies ihre Rolle ist, diese ästhetische Teilnahme bei völliger 232 seelischer Indifferenz, eine Rolle, die die Regie ihnen zugeteilt hat, weil ihr Zeug zu keiner besseren ausreicht.

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Wer auf einer ererbten Geldtruhe sitzt, muß, wie die Mediceer, hohe Verpflichtungen mitgeerbt haben, um ein großer Mensch zu sein. Aber diese verzogenen Kinder wollen wie die olympischen Götter thronen; jeder bringt ihnen sein Bestes, sie nehmen es an wie leichte Weihrauchwölkchen und gehen doch vorüber, ohne einen Segen zu hinterlassen.

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In jungen Jahren sagte ich getrost: Ästhetik ist die beste Moral. Damals kannte ich die Menschen nicht, sondern lebte in Ideen. Jetzt sage ich umgekehrt: Moral ist angewandte Ästhetik.

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Die Pseudoromantiker. Es gibt phantastische Naturen, besonders im weiblichen Geschlecht, denen alles Hergebrachte, Fadengerade zuwiderläuft und die dabei doch so wenig Originalität besitzen, daß sie nicht 233 einmal auf eigene Hand zu träumen, geschweige ohne Vorbild zu leben vermögen. Es sind das besonders die eingefleischten Romanleserinnen, die immer von Zeit zu Zeit in den Bann einer Romanfigur kommen, auf deren Maß sie ihr eigenes Dasein zuzuschneiden suchen. Sie gefallen sich nur im Kostüm und in der Pose ihres Vorbilds, wollen im gleichen Leide schwelgen, wie dieses; sie machen ihre ganze Existenz zum Plagiat und schrecken, wenn der Nachahmungstrieb es fordert, nicht einmal vor dem Martyrium zurück. Ich frage mich, ob nicht unter den Opfern der großen Bewegungen, die von der Geschichte gefeiert werden, manche Exemplare dieser Gattung gewesen sind.

Da solche Naturen aus innerer Unproduktivität mit dem täglichen Leben nichts anzufangen wissen, verachten sie es als ihrer unwürdig und ziehen sich gerne allerlei Elend auf den Hals, das sie vor sich selbst mit Theaterflittern aufputzen; überhaupt verwechseln sie sich selbst mit den produktiven Naturen, deren innerer Drang gleichfalls ein 234 behagliches Dasein abweisen muß, aber aus anderen Gründen.

Die kleinen Städte bringen diese wunderlichen Heiligen hervor, oder die Städte, die so groß sind, daß man auch dort im Winkel lebt.

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Die Gerechten. Der Schwerfällige, der kleinlich Gewissenhafte, der das Leben wie einen Sack zur Mühle schleppt, ist nie in Gefahr, sich bei den Blumen des Weges zu vertändeln. Das Entsagen fällt ihm leicht, weil seine Phantasie und seine Sinne gar nicht genießen können und weil das Tretrad der täglichen Pflicht ihm noch die geringere Langeweile bereitet; deshalb wundert er sich allen Ernstes, daß nicht alle eine Tugend üben, die ihm selber so wenig Überwindung kostet.

Dagegen hat er einen anderen Genuß, dem er bis zur Ausschweifung fröhnt. Er schlemmt und praßt in Prinzipien. Er bringt das Gesetz nicht aus dem Munde, und wenn es ihm gelungen ist, mit seiner 235 Rechtfertigkeit den anderen eine schöne Stunde zu verderben, so hat er seinen Zenith erstiegen: er genießt dann das schönste Glück, er genießt sich selbst. So treulich sorgt die Natur für alle ihre Geschöpfe. Sich selbst genießen, das ist in Wahrheit das höchste Glück des Weisen wie des Toren.

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Die Empfindsamen. Zuweilen begegnet man Menschen, die feiner organisiert sind, deren Nerven weiter reichen und in zärtere Fäden auslaufen, als beim normalen Menschentypus, die darum auch verletzlicher sind und sich mit einem weiteren Bollwerk von Rücksichten umgeben müssen. Dieselbe Feinheit und Verletzlichkeit setzen sie auch bei den anderen voraus und bringen deshalb in ihren Verkehr eine Zartheit, eine Höflichkeit und Vorsicht mit, die gleichsam nicht von dieser Welt sind. Sie gehen wie mit bittend vorgehaltenen Händen durchs Leben. Wenn wir solchen Menschen begegnen, so erscheinen sie uns wie Wesen von einer anderen Rasse, einer zärteren, 236 schutzbedürftigeren, leichter verwundbaren, wir hüten unsere Worte und Geberden, um ihnen nicht wehe zu tun, wir treten unwillkürlich leiser auf und dämpfen unsere Stimme. Sie sind niemals bequem zum Umgang, diese Empfindsamen, sie erwecken eine Art zärtlicher Scheu, den Trieb, sie zu schützen und zu hegen, man möchte ihnen so wenig ein rasches Wort sagen, als einen Bluter mutwillig mit der Nadel ritzen, man weiß ja, daß bei ihnen die kleinste Wunde gefährlich werden kann.

Neben diesen liebenswürdig Gefühlsamen gibt es aber Empfindliche von einer schlimmeren Gattung. Es sind das die Leute, die zwar mit Wonne dem Nachbar auf die Hühneraugen treten, aber außer sich geraten, wenn ihnen das Gleiche geschieht. Sie reden gerne von ihrem Feingefühl, das allerdings ihre eigene Person mit einer Unverletzlichkeit umgibt, das aber niemals auf die anderen angewendet wird. Ihre Empfindlichkeit hat vielmehr etwas Aggressives, und ihre Schwäche ist wie in einer stachligen Schale versteckt. Sie leben nach dem

237 Spruch:

Was du nicht willst, daß man dir tu,
Das füge stets den andern zu.

Da sie gänzlich formlos sind, verlangen sie, daß man sie so gelten lasse, während sie selber die peinlichste Beobachtung der Form ihnen gegenüber fordern. Sie schreiben also den anderen, ohne sich das einzugestehen, eine geistige Überlegenheit und höhere Verantwortung zu und vermeiden es daher, ihr Ich ins Auge zu fassen, weil sie beim Vergleiche verlieren müßten. Sie sind eine um so größere Landplage, als von dieser Gattung immer nur einer völlig auswachsen kann, der dann ungehindert einen ganzen Kreis von Friedfertigen, Einsichtsvollen terrorisiert.

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Geselligkeit. Wer in der heutigen Gesellschaft glänzen will, muß alle Taschen voll Kleingeld haben. Die Geister, die an Platos Symposion oder an der mediceischen Tafelrunde beisammen saßen, wären schwerlich brillante Gesellschafter in einem 238 modernen Protzensalon. Kardinal Bembo hätte da seine Rede über die Liebe nicht gehalten, eine der schönsten Tischreden, die existieren. Aber man braucht noch gar nicht zu diesen glänzenden Geistern zu gehören, es genügt, daß man sich gewöhnt hat, mit dem Worte einen Gedanken zu verbinden, so ist man schon für unsere »gute Gesellschaft« unbrauchbar.

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In der Gesellschaft wird mancher für einen großen Grundbesitzer angesehen, der nur zu den öffentlichen Anlagen Zutritt hat und nicht das kleinste Gärtchen sein eigen nennt.

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Sein rechtes Licht braucht jedes Individuum, besonders in der Jugend. Es gibt wenig so königliche Wesen, daß sie überall, wohin sie treten, am rechten Platze sind und ihr eigenes Licht verbreiten. Am meisten haben es junge Mädchen nötig, daß man ihnen zu der richtigen Aufstellung behilflich ist, und die Familie tut nur, was billig ist, 239 wenn sie ihnen das gewährt. Es gibt aber Familien, wo man für so raffinierte Beleuchtung sorgt, daß der Beschauer mißtrauisch wird und sich fragt, wie wohl das Bild außerhalb des Ateliers aussehen möchte.

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Bei einer Diskussion hat der Hausherr immer einen geistigen Vorteil über die Eingeladenen. Man befindet sich in seiner Welt, und da man seine Voraussetzungen mit Händen greift, muß man seine Konsequenzen gelten lassen. Vor allem: er steht nicht allein da, die Familie teilt seine Meinungen und vervielfältigt sie, ja sie scheint sogar seine Theorien durch ihr bloßes Dasein zu beweisen. Selbst die Möbel sagen ja, wenn er spricht. Der Gast ist ein einzelner und kann seine Atmosphäre nicht mitbringen. Er muß der Welt, in die er eingetreten ist, gerecht werden, und sobald er seine eigene zum Ausdruck bringen will, ist er in Gefahr, daß man ihn mißversteht.

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Langeweile, das heißt langweilige Gesellschaft – denn eine andere Langeweile 240 gibt es nicht – ist die giftigste von allen Krankheiten. Sie löst Leib und Seele auf, pulverisiert den Menschen und streut seine Asche in die Winde. Und die Höflichkeit verlangt, daß wir den Gastfreunden die Hand drücken, die uns in ihrem Hause dieser Infektion preisgegeben haben! Freilich, wir werden ja nur auf ein paar Stunden gemordet. Aber kann nicht dieser Abend unser letzter sein? Und ist nicht jeder Abend in einem gewissen Sinne unser letzter, da wir doch niemals wieder als ganz dieselben zusammen kommen? So behandelt man das Unwiederbringliche, das Leben!

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Ein Abendessen unter Freunden arrangieren, ist dasselbe, wie ein Musikstück komponieren. Nur wenigen ist dieses Talent heute gegeben. Unsere Geselligkeit ist ein roher Naturalismus geworden. Eine Hausfrau würde sich schämen, zwei Schüsseln auftragen zu lassen, die nicht zu einander passen. Aber zwei Gäste zusammen setzen, die gar nichts gemeinsam haben, weder die 241 Interessen, noch den Geschmack, noch die Bildung, das findet sie ganz natürlich. Alles bleibt dem Zufall überlassen. Die Zahl, die Auswahl der Gäste, das steht meistens unter einem ganz anderen Gesichtspunkt, als dem künstlerischen, unter dem es doch einzig stehen müßte. Die ausgesuchten Lebenskünstler, die das verstehen, bereiten ihren Gästen Stunden, die durchs ganze Leben nachleuchten. Jeder fühlt da etwas aus sich heraustreten, einen leichten, geflügelten Genius, von dessen Dasein er vielleicht soeben noch keine Ahnung gehabt hatte. Die auf diesem Gebiete Laien sind, genießen das Glück der Stunde wie eine Zauberei. Ein jeder gibt improvisierend sein Bestes von sich und weiß nicht, daß zuvor ein Regisseur die Rollen verteilt und fein gegen einander abgewogen hat. Aus einer solchen Geselligkeit kann am Ende eine ganz seltene und köstliche Wunderblume aufsteigen: ein Moment, wo das Wort zu schrill und schreiend erscheint, weil alle sich verstanden haben. Zusammen schweigen können, ist die höchste Blüte der Geselligkeit.

 

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