Isolde Kurz
Im Zeichen des Steinbocks
Isolde Kurz

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Vom Kinde

Jedes Kind ist wieder der erste Mensch und lebt allein auf einer noch unbewohnten Erde. Darum bringt der Übergang in den Erwachsenen oft schmerzliches Leiden. Es kann für ein heranwachsendes Kind eine geradezu fürchterliche Aufgabe sein, mit einem elterlichen Auftrag in ein fremdes Haus zu gehen. Die Menschenscheu der Übergangszeit ist eine langwierige Krankheit, bis aus dem in sich selbst geschlossenen Ich des Kindes der Gesellschaftsmensch, die Nummer wird.

Denn das Kind ist ganz Individuum. Erst durch das Geschlecht gehört der Mensch zur Gattung.

Auch das Gesicht drückt diese Veränderung aus, am meisten bei den Mädchen. Die Geschlechtsreife bringt eine Annäherung an das Allgemeine, an einen ästhetischen Idealtypus hervor. Später, wenn der Reiz schwindet, tritt oft das individuelle Kindergesicht wieder heraus.

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90 Die erste Krisis beim Kinde ist, wenn es »Ich« sagt, die zweite, wenn es »Sie« sagt. Es ist wie das zweimalige Zahnen, mit dem es ja auch zeitlich zusammenfällt.

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Wie anschaulich sich im Kinde die Anfänge der Menschheit wiederholen! Wenn das Kind seine künstliche Puppe in Stücke schlägt, um den Mechanismus in ihrem Inneren zu sehen, so ist das nur die erste Regung jener Neugier, aus der beim Erwachsenen die wissenschaftliche Forschung fließt. Wenn es sich mit seligem Gesicht in sein umgekehrtes Stühlchen setzt, das ihm einen Wagen vorstellt, und einen Schemel vorspannt, der das Pferd bedeutet, so ist damit der Anfang der Kunst gegeben, die in dem angeborenen Spieltrieb der Menschheit ihren Ursprung hat.

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Das Kind ist glücklicher mit einem solchen selbstgeschaffenen Wägelchen, als mit den künstlichsten Spielsachen, die ihm 91 der Verstand der Erwachsenen fertigen kann, denn eben dieses Schaffen, dieses Umdichten, das ist sein Glück. Wenn ihm die Mutter den zusammengewickelten Zeuglappen, den es auf dem Arme hätschelt, wegnimmt, um ein Pariser bébé incassable dafür hineinzulegen, so weint das Kind, denn die Phantasie ist in ihm beleidigt worden durch die rohe Realität, die sie überbieten will und deren Unwert vom Kinde dunkel geahnt wird.

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Von Kindern aus dem Proletariate geht häufig eine mit tiefem Bedauern gemischte Abstoßung aus, weil sie das Äußere von Kindern haben und dennoch keine Kinder sind. Sie leben nicht in der Welt der Anschauung, sondern gehen schon mit praktischen äußeren Zwecken um. Die Not hat ihnen bereits den Blick für alles Reale geschärft; ihr Auge glänzt nicht mehr vom Widerschein des Paradieses. Deshalb schreiben wir ihnen auch ohne weiteres mehr praktische Einsicht und Verantwortlichkeit 92 zu, als den Kindern höherer Stände, die sich noch den Luxus gestatten dürfen, weltfremde Himmelsbürger zu sein.

Diesem Stand der Kindheit bleibt der geniale Mensch sein Leben lang nahe. Es ist ein Zeichen von Gemeinheit, sich früh in dem, was man »die Welt« nennt, zurecht zu finden.

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Wenn wir blieben, was wir in den Jahren vor der Geschlechtsreife waren! Damals lebten wir unmittelbar im Anschauen der Gottheit.

Jeder erlebt in sich den Sturz aus dem Paradiese, wenn er sich seines Geschlechtes bewußt wird. Wie wahr ist die Mythe vom verlorenen Unschuldsstand und dem verlorenen Eden. Sie verlegt nur, wie es alle Mythen tun, das, was sich täglich wiederholt, in den Anfang der Zeiten. Der Unschuldsstand ist das Leben in der Vorstellung. Warum sind Kinderaugen so rein und leuchtend 93 wie die des Dichters, als weil sich nur die ewigen Dinge in ihnen spiegeln? Der Erwachsene, der diese Unschuld in sich wiederherstellen kann, vielleicht von Millionen ein einziger, der hat die ewige Jugend.

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Der antike Mensch blieb der Kindheit näher, weil ihn am Eingang ins reife Leben kein Verbot erwartete, um ihn in tausendfältigen Zwiespalt zu stürzen. Denn nicht der Biß in den Apfel war es, der unsere Voreltern vom Paradies getrieben hat, sondern die Existenz des verbotenen Baumes und das Reifen seiner Früchte.

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Auch im günstigsten Falle können wir als Erwachsene nicht mehr die abgerundeten, in sich geschlossenen Wesen bleiben, die wir als Kinder waren. Verhältnisse zwingen uns auf Wege, die wir nie gesucht hätten, oder bannen uns in einer Umgebung fest, die uns nicht entspricht. Unsere Welt können wir uns nicht mehr nach unserem Bedürfnis 94 aufbauen, wenigstens sind wir genötigt, viele Bausteine mit zu verwenden, die uns von außen aufgedrungen sind. Wir müssen lernen Kompromisse schließen, unser Naturell verleugnen, und das Beste in uns kommt vielleicht nie zum Wort. Dieses zerstückelte, unvollendete, zusammengeflickte Ding heißt dann ein Menschenleben. Wehe dem, der nicht schon bei lebendigem Leib sein selbstgeschaffenes Jenseits hat, wo er die bessere Hälfte seines Daseins zubringt, wo wieder, wie in der seligen Kindheit, alles Unfertige ergänzt, das »Unzulängliche« »Ereignis« wird.

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Man soll nur nicht glauben, daß die äußeren Zeichen der Mitteilung eine gemeinverständliche Sprache seien. Wie viele Konflikte zwischen Eltern und Kindern entstehen nur dadurch, daß der Aufgeregte die Verschlossenheit des anderen für Stumpfsinn hält, und der Verschlossene umgekehrt jede leidenschaftliche Äußerung für vollwertige Münze nimmt. Der eine sagt sich: Wie muß es im Innern stürmen, bis man dahin kommt, 95 sich so gehen zu lassen! – während der andere denkt: Wie kalt muß man sein, um so gelassen zu bleiben. – Verschlossene Kinder, die von den Großen mißverstanden werden, setzen gewöhnlich ihre ganze Kraft darein, den Gegensatz zu verschärfen, sich niemals zu äußern; je mehr sie bedrängt werden, desto fester krampft sich ihr Inneres zu.

Die Kindheit ist ein beständiger Kampf ums Ich, um die Individualität, die von den Erwachsenen oft mit der unverständigsten Grausamkeit verfolgt wird. Was ist individueller, als die Art, seine inneren Zustände zu äußern? Dasselbe Wort hat ja bei verschiedenen Naturen grundverschiedene Bedeutung, und die lauteste Form ist nicht immer die inhaltvollste. Aber wer selbst gewohnt ist, bei jedem Anlaß in leidenschaftliche Worte und Gesten auszubrechen, der versteht das Verstummen nicht, das für eine verschlossene Natur sehr beredt sein kann. Wenn ich ein Kind sehe, das bei starken Anlagen nie eine Empfindung äußert, so denke ich: Hier fehlt das Sicherheitsventil, 96 man darf nicht zu stark heizen. Verrannte Eltern heizen aber immer noch stärker, und so entstehen jene Kindertragödien, an denen die Erwachsenen meist so ganz fühllos vorübergehen.

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In der Sprache der Erzieher spielt Gut und Böse eine große Rolle, aber gewöhnlich verstehen sie darunter, was ihnen bequem oder unbequem ist. Meistens ist die sogenannte Erziehung nur ein Krieg der Starken gegen die Schwachen. In diesen ungleichen Kämpfen sind fast jedem von uns ein paar Rippen krumm geschlagen worden, die nie wieder gerade wuchsen.

Ja, wenn ihr Erzieher selber reife Menschen wäret und weitsichtige Weise dazu. Aber im Alter, wo ihr zu diesem Amt berufen werdet, seid ihr meistens mit euch selber noch nicht fertig. Ihr werdet vielleicht später einmal fähig, eure Enkel zu erziehen, nachdem eure Kinder das Lehrgeld gezahlt haben.

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97 Weil die beiden natürlichen Erzieher des Kindes meistens zwei ganz verschiedene Naturen sind, so erkennt jedes im Kinde nur die Züge, die von ihm selber stammen. Nun hat bei der Erziehung fast immer der eine oder der andere Teil die Oberhand, und so kann es kommen, daß der beste Vater achtlos dabeisteht, wenn von einer liebevollen, aber nicht verstehenden Mutter seine eigene Welt im Kinde mißhandelt wird oder umgekehrt. Gar für die Eigenschaften, die es mit keinem der beiden Eltern gemein hat, findet es auch auf keiner Seite ein Verständnis, und so geht ein tragischer Zug fast durch jedes Kinderleben.

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Eltern sollten sich nicht unberufen in das Gefühlsleben ihrer Kinder eindrängen; das keusche, vornehme Verschließen des Inneren gehört zum besten, was sie haben. Wenn diese Blüte entweiht wird, so gibt es eine Demütigung, die den ganzen Charakter schwächen kann. Sie dürfen nicht glauben, daß die Kinder Wesen seien, die ihnen 98 gehören, eine Verlängerung ihres Ichs; sie sind ihr eigenes Eigentum, die Welt fängt bei ihnen von vornen an. Wie sie nicht eingezwängt werden sollen in die kleinen Kreise der Eltern, so soll man sie auch in keine Ausnahmebahnen drängen. Wollet sie nicht zu Aposteln eurer Ideen erziehen, wenn sie keinen Drang zum Apostolate zeigen. Glaubet nicht, daß ihr in ihnen eure Ideale verwirklichen dürft; zu diesem Experiment hattet ihr euch selbst, die Kinder laßt ihren eigenen Sternen. Wohl sind sie Fleisch von eurem Fleisch, aber wie ihr beide unter einander grundverschiedene Wesen seid, so sind sie's von euch. Und die Zeit, in der sie leben werden, hat andere Schlachten zu schlagen, als die, in denen ihr mitgekämpft habt.

 

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