Isolde Kurz
Im Zeichen des Steinbocks
Isolde Kurz

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Vom Genius

Der Genius wandelt, wie die Gottheit, unsichtbar auf Erden. Auch der stumpfste Philister kennt augenblicklich das Talent, wo es ihm entgegentritt, mit dem Genie aber könnte er, wie im Märchen der Schwabe mit dem lieben Gott, auf die längste Wanderschaft ziehen, ohne zu bemerken, wen er neben sich hat. Nur insofern, als dem Genie auch noch ein sehr großes Talent eigen ist, erobert es sich dennoch seinen Platz, wird aber dann mit anderen Talenten beständig verwechselt und höchstens gradweise von ihnen unterschieden. Der Genius selber bleibt nach wie vor unerkannt, ihn zu erkennen hat der Alltagsmensch überhaupt kein Organ. Nur so kann man sich die ungeheuerlichen Nebeneinanderstellungen erklären, denen man täglich im Munde von »sehr gebildeten Leuten« begegnet.

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176 Das Genie zeigt sich nicht im Ausdenken des Unerhörten, nie Dagewesenen, sondern daran, daß das Alte, Abgeblaßte, von ihm berührt, auf einmal wieder ganz frisch und neu wird.

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Kennzeichen des Genies ist sein unwiderstehlicher Wahrheitsdrang. Es ist wahr, weil es gar nicht anders kann, weil sein ganzes Sein im Anschauen der Grundwahrheiten besteht. Alles Flunkern, Vertuschen, Ausweichen ist ihm seiner Natur nach unmöglich. Sobald ein Künstler, und sei er noch so begabt, dem äußeren Effekt eine der ewigen Wahrheiten opfert, hat er sich selber ein untrügliches Rangzeugnis ausgestellt.

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Genialität ist ein besonderes, angeborenes Verhältnis zur Natur, wodurch ein Sterblicher die kürzesten Wege zu ihr findet. Es ist zunächst nur ein Zustand, der auch latent bleiben kann und es oft genug bleibt, denn er ist gar nicht immer mit einem starken 177 Schaffenstrieb gepaart, und es könnte sehr wohl einen genialen Dichter geben, der sich sein Leben lang mit dem Lauschen auf die inneren Stimmen begnügt und nur zuweilen in seinem Entzücken ein paar Worte nachgestammelt hätte, ohne sich dem Zwang des wirklichen Schaffens zu unterziehen. Von dieser Art sind vielleicht die Dichter unserer schönsten Volkslieder gewesen.

Andererseits bringt auch der Genius, der vom größten Schaffenstrieb beseelt ist, nicht immer ein Geniewerk hervor. Was man ganz eigentlich so nennt, das sind jene Werke, deren Guß so rasch, so feurig, so einig ist, daß ihre Fehler nicht auszumerzen sind, weil sie mit dem Besten darin ein untrennbares Ganzes bilden. Um sie zu schaffen, bedarf er eines Stoffes, der sich seiner mit Gewalt bemächtigt und eines besonders günstigen Planetenstandes, durch den von allen Seiten unsichtbare Mitschöpfer heranschießen, denn dem Geniewerk hängt immer etwas Dämonisches an. Derselbe Dichter schafft zu einer anderen, minder schicksalsvollen Stunde ein anderes Werk, das vielleicht als Arbeit 178 vollkommener ist, weil er es überlegt und durchgefeilt hat, das aber nicht mit diesem höchsten Stempel gezeichnet ist. Das Geniewerk kennt man an dem unwiderstehlichen Glanz, den es noch nach Jahrhunderten ausströmt. Die Früchte der Glücksstunde sind, wie Kinder der Liebe, schöner, stärker, eigenwilliger, erregen mehr Bewunderung und Tadel und werden von den Erzeugern mehr geliebt, als die Kinder, die aus ihrem täglichen Verkehr mit der Muse entsprossen sind.

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Der Witz, der der gerade Widerpart der Poesie ist, hat das mit ihr gemein, daß er zuweilen Eingebungen beschert, die über den Horizont des Individuums gehen. Es können sogar aus dem Munde von Kindern markerschütternde Witze kommen, von deren Tragweite diese nichts ahnen. Sie stehen mit unschuldigem Lächeln da, während der schlimmste Kobold aus ihnen herausredet. Also ist auch der Witz keine bloße Talentsache, sondern gehört der Sphäre des Dämonischen, oder Genialen an, wie man es nennen will.

 

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