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Eines schönen Sommertages wurde mir die beglückende Eröffnung gemacht, daß ich in der Vakanz mit Edgar, der jetzt ein ganz grünes Studentlein war, den Rigi besteigen dürfe. Ich war zwar dank meinem Zusammenlernen mit Lili in der Geographie so schwach geblieben, daß ich nicht einmal genau wußte, wo dieser Berg zu suchen sei, allein durch die Worte Rigi Regina, die ich in irgendeinem Gedicht gelesen hatte, war er zu einem Berg der Wunder geworden. Ich erschrak jedoch bis ins Herz, als es sich enthüllte, daß mir noch ein anderer Begleiter zugedacht war, ein reiferer Mann, dessen Werbung um die kaum Erwachsene zwar dem Mutterstolz schmeichelte, aber bei der Tochter auf entschiedene Abwehr stieß. Er sollte uns zwei Weltunerfahrenen als Mentor dienen und dabei die Gelegenheit wahrnehmen, sich von seiner günstigsten Seite zu zeigen. Ich begriff aber gleich, daß die gemeinsame Schweizerreise nur als Vorspiel einer längeren, lebenslangen, gedacht sei, und war sofort bereit, unter diesen Bedingungen zu verzichten, so hart es mich ankam, die schon sehnlich ausgebreiteten Flügel wieder zusammenzufalten. Ein Sturm brach los, der erste ganz schwere, den ich mit meiner Mutter zu bestehen hatte, und solche Stürme waren keine Kleinigkeit; aber ich blieb fest, und die Arme mußte mit Schmerzen das ganze Gewebe wieder aufdröseln. Mich zur Strafe um die Reise zu bringen, vermochte sie schließlich doch nicht, also ließ sie mich nach ein paar durchweinten Tagen allein mit dem Bruder in die mit doppelt freudigem Aufatmen begrüßte Freiheit ziehen. Daß ich mir das Reisegeld durch meine Übersetzungen selbst erschrieben hatte, vermehrte das Hochgefühl. Rigi Regina!
175 Den Reiseplan machte Edgar, und mit der ihm eigenem Herrsch- und Eifersucht gestattete er mir kaum, einen Blick mit auf die Karte zu werfen. Doch waren wir einig, vor allem möglichst weit zu kommen, denn uns beide beherrschte derselbe Raumhunger. Nur hatten wir nicht mit unserer eigenen Kinderei gerechnet. In früheren rauheren Zeiten pflegten Eltern ihre Kinder bei denkwürdigen öffentlichen Ereignissen durch eine plötzliche Ohrfeige zu überraschen, damit der Eindruck unauslöschlich hafte. Nach demselben Gesetz der Mnemotechnik haben sich mir die Etappen dieser ersten Ausfahrt in die Welt nur durch die ausgestandenen Verdrießlichkeiten eingeprägt.
Sobald wir in der Bahn saßen, begann die Not. Ich hatte einige Zeit das Englische getrieben und war so weit, daß ich mich unbefangen in dieser Sprache ausdrücken konnte. Das fiel nun mit einem Mal meinem brüderlichen Beschützer schwer auf die Seele. Er meinte, sämtliche in der Schweiz reisenden Söhne Albions warteten nur auf seine Schwester, um sich ihr in den Weg zu stellen, und da er diese Nation nicht liebte, verlangte er im voraus ein bindendes Versprechen, daß ich mit keinem Engländer ein Wort reden würde. Ich sagte, ich hätte gehört, daß Engländer auf der Reise niemals Unbekannte ansprechen, aber das genügte ihm nicht, er bestand auf einem Ehrenwort, das ich zu seinem bitteren Schmerz verweigerte. So vergällten wir uns die erste Reisestunde mit dem ersten Zank.
Einige mitreisende Herren, die das blutjunge Pärchen beobachteten, begannen nun mir überflüssige kleine Aufmerksamkeiten zu erweisen, die Edgar schroff ablehnte, weil er selbst seiner Ritterpflicht genügte. Das trieb die andern zu vermehrter Beflissenheit, und als er sich einmal der Fahrscheine wegen aus dem Abteil entfernen mußte, machten sich jene mit Neckereien ob des eifersüchtigen jungen Herrn an mich heran. Ich antwortete mit so viel Würde, als meine 176 Backfischjahre erschwingen konnten, dieser junge Herr sei mein Bruder. Die aber lachten noch anzüglicher und meinten, solche Brüder kenne man schon. Nun war das Aufgebrachtsein an mir, und als wir allein weiterfuhren, machte ich dem schon zuvor Verstimmten Vorstellungen über sein Betragen. Daraus entspann sich der zweite Zank, der so bitter wurde, daß das eine rechts, das andere links zum Fenster hinausblickte, ohne die Landschaft in sich aufzunehmen, denn beiden fraß die vermeintlich erlittene Unbill am Herzen. Und so ging es immer weiter. Luzern, der Vierwaldstättersee mit Axenstein und Tellsplatte, das ganze Seenpanorama auf Hin- und Rückfahrt huschte nur wie ein Schattenspiel vorüber. Dann begannen wir zu Fuße den Rigi zu erklimmen, denn die Benützung der Bergbahn erschien uns als etwas unwürdig Weichliches. Aus halber Höhe ließ ich mir jedoch von einem zurückkehrenden Treiber ein Pferd aufreden, mehr aus Reitlust, als um mir den Weg zu ersparen; Edgar, der mit seinem zarten und zähen Körperbau ein unermüdlicher Fußgänger war, ging nebenher. Bei sinkender Dunkelheit kamen wir auf dem lichterstrahlenden Kulm an, der mir wie ein Feenschloß in der Bergeinsamkeit erschien. Ich weiß nicht, für wen man uns dort ansah. Man gab uns prunkvolle Zimmer, groß wie Säle und strotzend von Samt und Gold. Natürlich gefiel es uns da recht gut, und nach dem Preise zu fragen, hielten wir für krämerhaft. Das Abendessen ließ gleichfalls nichts zu wünschen übrig, das schönste aber war doch der Vorgenuß des kommenden Tages. Rigi Regina, wie hast du uns betrogen! Um vier Uhr weckte uns freilich das Alphorn, und wir eilten, hastig in Tücher gewickelt, mit anderen bleichen Schemen nach einer Plattform, um die Majestät der Sonne zu grüßen und die Reiche der Welt zu unseren Füßen zu sehen. Aber da gab es nichts als ein graues wallendes Nebelmeer. Die Erde schien noch gar nicht aus dem Chaos geboren, und schaudernd schlichen wir in unsere Betten zurück.
177 Da es nach dem Frühstück noch nicht besser war, verlor Edgar die Geduld, und es hieß aufbrechen. Ich packte meine Sächelchen zusammen, um sie in seine Reisetasche zu legen, da fand ich ihn eben im Begriff ein prächtiges blaues Samtkissen mit reicher Goldstickerei zum Fenster hinauszuwerfen, das auf einen grasigen Abhang ging. Nach dem Grunde dieser Tätigkeit befragt, reichte er mir nur stumm die Rechnung. Diese übertraf alle meine Befürchtungen: die eine Nacht hatte fast den ganzen Rest des Reisegelds verschlungen.
Nur noch den silbernen Leuchter, sagte er, dann sind wir quitt. – Ich sah ihn stürzen, sinken, damit war das Gleichgewicht hergestellt, und wir schritten stolz hinaus.
Inzwischen begann die Sonne doch noch Meister zu werden, und außen im Freien stand eine Gesellschaft von angelsächsischem Ansehen beisammen, die mit ihren Gläsern nach auftauchenden Bergspitzen fischte. Und wie bestellt, um Edgars Mißmut zum Kochen zu bringen, trat einer der Herren aus der Gruppe heraus und bot mir in englischer Sprache sein Fernglas an, weil eben die Berner Alpen aus dem Nebel träten; ich selber besaß nämlich keines. Bevor ich aber danach greifen oder Dank sagen konnte, hatte mich mein erzürnter Gefährte gewaltsam weggerissen und lief, mich an der Hand nachziehend, wie eine Dampfmaschine bergab. Natürlich kam nun bei mir die Milch der frommen Denkart wieder stark ins Gären, denn ich stellte mir das Lachen der Zurückgebliebenen vor. Ihm aber saßen neben der Anglophobie vermutlich auch noch die weggeworfenen Kostbarkeiten auf den Fersen, daß er so eilte. Der Wunderanblick, der sich aus dem Nebel rang, führte dann wieder die Versöhnung herbei. Aber nicht auf lange. Denn schon sehe ich die beiden Kindsköpfe wieder, wie sie aufs neue beleidigt und stumm den langen Weg durch den Straßenstaub der Ebene pilgern, er hüben und sie drüben.
178 Unsere Kasse, die Edgar führte, war so geschröpft, daß wir die nächste Nacht nur noch in einer Kutscherkneipe verbringen konnten. Aber der Vater hatte uns eingeschärft, uns nichts abgehen zu lassen, er habe einen Bekannten in Zürich beauftragt, eine kleine Summe bereitzuhalten für den Fall, daß uns auf der Rückreise das Geld ausgehen sollte. Wir machten uns also keine Sorge, denn bis Zürich brauchten wir nur noch die Fahrkarte, nachdem wir unsere Bedürfnisse schon sehr eingeschränkt hatten.
Aber in Zürich, als der Zuschuß abgeholt werden sollte, erklärte Edgar, daß ich den Gang allein tun müsse, denn er seinerseits finde solch ein plötzliches Auftauchen und Geldheischen landstreichermäßig und bettelhaft. Ich fiel aus den Wolken; von dieser Seite hatte ich die Sache nie angesehen, obwohl auch mir bei dem Unternehmen nicht recht wohl war. So ließ ich mich alsbald von der Verkehrtheit anstecken und fühlte mich nur verletzt, daß mir etwas zugemutet werden sollte, was er seiner unwürdig fand. Er rechnete mir nun vor, daß unser Geld zur bloßen Heimreise gerade noch ausreichen würde, wir müßten uns aber durch den heutigen und den ganzen folgenden Tag – von Zürich bis Tübingen – durchhungern. Und das täte er, wenn er allein wäre, um seine Würde zu wahren. Natürlich wollte ich nun nicht hinter ihm zurückstehen und erklärte mich gleichfalls zu der Hungerprobe bereit. Gehoben durch diesen Entschluß, durchwanderten wir die Stadt, betrachteten uns den See und wollten dann abends noch bis Schaffhausen fahren. Mama hatte uns jedoch bei der Abreise aufgetragen, in Zürich auch ihren Jugendfreund Johannes Scherr zu besuchen und ihm ihre Grüße zu bestellen. Dieser Gang sollte also rasch noch erledigt werden. Aber vor der Haustür fiel es meinem schon wieder verdrießlichen Gefährten ein, daß er von Johannes Scherr ein Buch gelesen hatte, dessen hanebüchene Derbheit ihm stark mißfiel. Und nun wollte er auch nicht mehr zu Scherr. Aber diesmal bestand 179 ich auf meinem Kopf. Wenn ich mich recht erinnere, ließ ich ihn unten warten und stand allein vor dem Berühmten. Ich richtete aber nur kurz die mütterlichen Grüße aus und hatte es eilig, mich wieder zu empfehlen, weil ich des Bruders fiebernde Ungeduld fürchtete. Dies half jedoch nichts, denn als es sich auf dem Bahnhof zeigte, daß die Züge gar nicht mit dem Fahrplan stimmten, war ich doch wieder die Schuldige. Er war gereizt, weil er müde und hungrig war. Ich war aber gleichfalls müde und hungrig und sah nicht ein, weshalb ich nun auch noch den ungerechten Mißmut des anderen Teils über mich ergehen lassen sollte. Wer mir gesagt hätte, daß es ein künftiger Helfer und Wohltäter seiner Mitmenschen war, der in solche Launenhaftigkeit verkappt mir gegenübersaß! So schwiegen wir abermals und sahen beleidigt zum Fenster hinaus. Erst die wilde Pracht des Rheinfalls führte uns wieder zusammen. Und als wir im »Rappen« zu Schaffhausen um ein bescheidenes Nachtlager einig geworden waren und dann entdeckten, daß unsere Mittel uns noch eine kleine Abendmahlzeit gestatteten, war die Welt wieder einmal vollkommen.
In der Frühe bedurfte es einer Ausflucht, um dem uns angebotenen, ach so verlockenden Morgenkaffee nebst Honigbrötchen zu entgehen, denn der große Fasttag mußte jetzt wirklich beginnen. Aber auf den Hohentwiel, der an unserem Wege lag, wollten wir doch nicht verzichten, schon des Ekkehard wegen, den damals die deutsche Jugend mit Begier verschlang. Wir stiegen also, nüchtern wie wir waren, in Singen aus und wanderten durch den Wald, der uns mit mancherlei Beeren erquickte, nach der Felsenburg. Doch o weh, das Eingangstor war verschlossen und sollte sich nur nach Erlegung von 25 Rappen für die Person öffnen. Solche Summen hatten wir nicht mehr aufzuwenden. Wir schlugen uns in die Büsche, überkletterten geschichtete Felsenplatten und sprangen über die Mauer in den Hof hinab. Dabei machte 180 ich die Erfahrung, wie es denen zumute ist, die außerhalb des Gesetzes leben. In der Menge der zahlenden Besucher verborgen, sandten wir suchende Blicke nach dem Bodensee, der sich nur schwach im Dunst abzeichnete; auch die Geister Hadewigs und ihres verliebten Mönchs ließen sich nicht blicken. Und das Herzklopfen, bis man endlich unter den Augen des Wächters glücklich zum Tor hinaus geschritten war! In solchen Augenblicken bestraft sich 's, wenn man nicht geübt ist, auf unrechten Wegen zu wandeln. – Noch war ein langer Tag vor uns; um nichts zu versäumen, erklommen wir unverdrossen auch noch den steilen Basaltkegel des Hohenkrähen, der uns gleichfalls den Lohn unserer Mühen schuldig blieb. Jetzt aber meldete sich der Hunger immer unwiderstehlicher. Darum beschlossen wir von Singen bis zum nächsten Statiönchen zu Fuße zu wandern, um vom Fahrgeld ein Stück Brot für jedes abzusparen. Wir marschierten wacker zu, trotz Staub und Hitze und den zwei vorangegangenen Besteigungen und fühlten uns an diesem Tage zum erstenmal vollkommen friedlich und einig. Auf dem Bahnhof erkannten wir, daß uns noch Zeit genug zur Ankunft des Schnellzugs blieb, und wir verständigten uns alsobald, noch bis zur nächsten Station weiterzumarschieren, um durch unserer Füße Arbeit zum Brot auch noch ein Stück Käse zu verdienen. Als dort die Fahrkarten gelöst waren, konnte Edgar mir noch ein ganzes Häuflein Münzen für meine Einkäufe in die Hand schütten, denn es gehörte auch zu seinen Eigenheiten, daß er selber niemals einen Kaufladen betrat. Ich trug zwei duftende Laibchen Weißbrot und eine stattliche Schnitte Emmentaler davon. Mit Stolz brachte ich sie dem Bruder, der sich abseits der Landstraße unter einem Birnbaum niedergelassen und einen Haufen herrlicher Birnen vor sich aufgestapelt hatte. Ich fragte nicht, mit welchem Rechte. Wir setzten uns in tiefer, freudiger Eintracht nebeneinander und genossen die köstlichste Mahlzeit und das reinste Glück, das uns auf der ganzen Reise beschert war.
181 O, und der Kalbsbraten, mit dem die gute Josephine uns abends in Tübingen empfing. Es war, als ob sie alle unsere Leiden geahnt hätte, die treue Seele. Der Vater sagte nur, als er uns so verhungert sah, mit gerührtem Lächeln: Ihr dummen Kinder! Der bleibendste Wert dieser Reise war vielleicht der, daß mein Kamerad in den drei Tagen so viel von seinen knabenhaften Wunderlichkeiten ausgeschüttet hatte, daß er nun allmählich zu werden begann, wofür er sich bisher mit Unrecht gehalten hatte – ein Mann. 182