Isolde Kurz
Aus meinem Jugendland
Isolde Kurz

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Die Heidenkinder

Innerhalb des Tübinger Spießbürgertums stand nun unser Haus wie eine einsame Insel. Schon beim Eintritt hatte unsere Mutter die üblichen Antrittsbesuche unterlassen. Mein Vater war eigens ein paar Wochen früher eingerückt und hatte alles, was die Etikette vorschreibt, erledigt, um ihr diese Prüfung nicht aufzuerlegen, denn er sah voraus, daß sie sich in ihrer freien, der Zeit vorangeeilten Weltanschauung ebenso abgestoßen fühlen würde wie in ihrer aristokratischen Empfindungsweise, die mit der ultraradikalen Gesinnung ganz gut zusammenging. Er wußte auch, daß die Abstoßung gegenseitig gewesen wäre, denn es gab damals in Tübingen nur wenig Frauen, die das Zeug hatten, eine so ungewöhnliche Natur wie meine Mutter zu verstehen. Außerdem war bei ihrem ganz auf die Familie beschränkten Dasein ihre Garderobe nicht im besten Stand, und jede Ausgabe für sich selber ging ihr lebenslang gegen das Gewissen. Außer mit der Witwe Uhland und mit den Töchtern des alten Dichters Karl Mayer, der ihr feuriger Verehrer war, wollte sie überhaupt keinen Frauenumgang. Es läßt sich denken, welchen Anstoß wir Kinder, auf die bisher fast nichts als die Natur und der Geist der Eltern eingewirkt hatten, jetzt in der Tübinger Umwelt erregten. Die »Heidenkinder« nannten sie uns auch dort. Meine Brüder wurden oftmals auf dem Schulwege von anderen Jungen tätlich angegriffen, und es entspann sich dann eine gewaltige Schlägerei; die Heiden standen zusammen und wehrten sich mannhaft, wodurch sie ihren Widersachern allmählich die Lust zu solchen Unternehmungen verleideten. Mir aber, die ich allein und unbeschützt war, erregte es ein schmerzliches Erstaunen, 69 wenn mir mein ungewöhnlicher Rufname in einer häßlichen Verketzerung nachgeschrien wurde, oder wenn gar ein Stein aus dem Hinterhalt geflogen kam. Ich ging daher als Kind nur sehr ungern durch die Straßen und trieb mich lieber in der Nähe unserer damaligen, außerhalb der Stadt gelegenen Wohnung an den Steinlachufern oder auf dem großen Turn- und Schießplatz umher, in einsame Phantasien versponnen. Für alle Zeit bleibt mir ein Sonntag in die Seele geschrieben, an dem ich ganz allein eine Forschungsreise in die Gôgerei unternahm. Man hatte mir mein schönstes weißes Mullkleid mit blauer Gürtelschleife angetan, in das lange offene Haar, auf dessen Goldfarbe die Mutter so stolz war, hatte sie mir ein blauseidenes Band geschlungen, und so zog ich unternehmend meines Weges. Als ich nun von der Langen Gass' in das seitliche Gewinkel eindrang, flog mir ein kleines Gôgenkind mit Jubelgeschrei entgegen und wollte in meine Arme stürzen, denn es sah mich augenscheinlich in meinem Putz für einen Weihnachtsengel an. Da kam eine ältere Schwester aus dem Haus gerannt und riß entsetzt die Kleine von mir weg. Erst als sie sich hinter einem niederen Zaun geborgen sah, drehte sie sich noch einmal um und sagte, mit dem Ausdruck tiefsten Grauens auf mich weisend: So sehen die Heiden aus!

Dies waren die Anfänge von dem zwölfjährigen Kriege Philistäas gegen ein kleines Mädchen. Und ich mußte gute Miene zum bösen Spiel machen, sonst hätte Mama mich noch gescholten oder ausgelacht. Sie hatte selbst in ihrer Jugend sich über alle Meinungen und Vorurteile der Menschen weggesetzt, um nach ihren selbsterwählten Grundsätzen zu leben; ihre Tochter sollte nicht schwächer sein als sie. Allein ihr war es hingegangen: sie war die in ihrem Dorfe verehrte Baronesse gewesen, die auch in ihren Kreisen als die erste herrschte. Selbst als sie im Jahre 48 zwischen sich und dem Stand, in dem sie geboren war, das Tischtuch zerschnitt, trugen ihr die 70 Jugendfreunde und Verehrer ihre Abkehr nicht nach, sondern wahrten ihr, ob sie wollte oder nicht, eine ritterliche Anhänglichkeit; die Thumbs und Rantzaus und wie sie hießen, suchten sie immer wieder auf und ließen ihren Radikalismus ruhig über sich ergehen. Auch ihre entfernteren Verwandten – die nahen waren schon alle tot – hatten nicht mit ihr gebrochen, sondern sie mit ihnen, weil einer davon, ein junger Leutnant, bei Niederwerfung des badischen Aufstands im feudalen Übermut einen gefangenen Freischärler an sein Pferd gebunden hatte. Sie genoß auch in Tübingen um ihrer unerhörten tatkräftigen Güte willen bald allgemeine Verehrung. Als sie einmal bei einem gefürchteten jüdischen Geldverleiher zur Unterstützung eines in Not geratenen Studenten die nötige Summe in bar erhob, weil die von ihr und Ottilie Wildermut gesammelten Gelder nicht schnell genug fließen wollten, da nahm der angebliche Shylock von der Erstaunten weder Schein noch Zinsen und bat sie, sich in ähnlichen Fällen nur immer wieder an ihn zu wenden. Ich weiß nicht, ob es aus bloßer Hochachtung für ihre Person geschah oder ob er wußte, daß sie in ihrer Ritterlichkeit stets bereit war, gegen die an den jüdischen Mitbürgern verübte Unbill mit all ihrem Feuer zu Felde zu ziehen. Sie besaß eine ungeheure Macht über die Gemüter, wie es nur einem Menschen gegeben ist, der gar nichts für sich selber bedarf. Denn er allein ist der ganz Starke; die Genießenden und Bedürfenden sind immer die Schwächeren.

Aber das kleine Mädchen, das an ihrer Seite aufwuchs, genoß nicht dieselben Vorteile. Ich hatte keinen Umgang als die Brüder, zur Schule wurde ich nicht geschickt, und bei Maienfesten hatte ich wie in Kirchheim das Zusehen. Dabei erfüllte mich doch der glühende Wunsch, auch einmal dabei zu sein, dazu zu gehören. Nur einmal unter den Schulkindern mitspielen zu dürfen, es hätte mich selig gemacht! Aber wenn ich je mit anderen Mädchen zusammengebracht 71 wurde, so merkte ich bald, daß ich ihnen unheimlich war, und auch ich wußte nichts mit ihnen anzufangen, denn statt mich »dabei sein« zu lassen, umstanden sie mich neugierig und forschten mich aus: ob es wahr sei, daß ich das Lateinische triebe und daß ich Goethe gelesen hätte. Bei der ersten und einzigen Kindergesellschaft, die ich mitmachte, bedrängten sie mich, ihnen ein Gedicht aufzusagen. Schnell überschlug ich im Geiste, was ich auswendig wußte, aber weder Die Götter Griechenlands, noch Der Gott und die Bajadere, noch sonst einer meiner Lieblinge wollte sich für den Anlaß schicken. Von den himmelblauen und rosenroten Backfischgedichtchen, mit denen damals die weibliche Jugend aufgepäppelt wurde, führte keine Brücke zu meinen Dichtern hinüber. Ich flehte, mir die Pein zu erlassen, versicherte, kein einziges Gedicht zu kennen und sagte der Poesie das Schlimmste nach. Umsonst, meine Quälgeister ließen nicht locker. Da sagte ich ihnen, heimlich knirschend, den ersten Vers von »Schleswig-Holstein, meerumschlungen« auf, einem Lied, das damals durch alle Gassen lief, aber schon ganz abgenützt war, machte dann Schluß und erklärte meinen Vorrat für erschöpft. Von da an begehrte ich niemals wieder nach einer Kindergesellschaft.

Zu den aus meiner Erziehung fließenden Bedrängnissen, die mir den Umgang erschwerten, gesellten sich noch solche in meiner eigenen Brust. Dazu gehörte ganz besonders das Wörtchen Sie. Ich weiß nicht, ob es jemals anderen ähnlich ergangen ist, ich konnte das Wörtlein nicht aussprechen. Meinem natürlichen Sprachgefühl widerstrebte es aufs heftigste, eine anwesende Einzelperson als eine abwesende Mehrzahl zu behandeln. Die nahen Freunde der Eltern verkehrten wie Blutsverwandte im Hause, da verstand es sich von selbst, daß man ihnen das Du zurückgab. Aber jetzt wuchs man heran und fand sich unter lauter Fremden, wo sich das alte homerische Du nicht mehr schicken sollte. 72 Und mit dem Sie war es doch so eine vertrackte Sache. Ich bekrittelte den Zopf ja nicht bei den Erwachsenen, mochten sie es nach ihrer Etikette halten, aber ich als Kind glaubte mich berechtigt, so lange wie möglich jeder Unnatur ferne zu bleiben. Es schien mir, als ginge ich auf Stelzen, wenn ich Sie sagen sollte, ich vermied es, Respektspersonen überhaupt anzureden und drückte mich auf lauter Umwegen um das Sie herum, bis der Kampf dadurch entschieden ward, daß die Menschen mich selber mit Sie anzureden begannen, was bei meiner täuschenden Körpergröße viel zu früh geschah. Da war mir zumute, als sei mir das Tor des Kinderparadieses schmerzhaft auf die Ferse gefallen.

Dieser kindlichen Nöte erinnerte ich mich unlängst, als mir die Schrift Fr. Böckelmanns: »Ein Fleck im Gewande der deutschen Sprache« zugeschickt wurde. Was da über die Wiedereinführung des alten edlen Ihr gesagt ist, von dem Goethe sich so schwer trennte, in das er in seinen späteren Jahren gerne zurückfiel, das alles möchte ich wörtlich unterschreiben. Ich muß jedoch zu den von dem Verfasser gerügten Schäden des Sie noch einen nennen. Es übt im Umgang, verglichen mit dem Vous und You, eine erkältende, entfremdende Wirkung, vor der die ganze Sprache zu erstarren scheint. Ich konnte es späterhin im Auslande nicht fertig bringen, mit Französisch oder Englisch redenden Freunden, wenn sie mir einmal nähergetreten waren, meine eigene Muttersprache zu sprechen, auch wenn ich darum gebeten wurde, denn ich hatte das peinliche Gefühl, mit dem gespreizten Sie auf einmal eine Scheidewand aufzurichten. Die ganze sprachliche Einstellung sträubte sich, aus einem freundschaftlichen Vous in das starre, unpersönliche Sie überzugehen. Das Sie erschwert auch den Ausländern die deutsche Satzbildung (Skandinavier schreiben in deutschen Briefen meistens »Sie hat« statt: »Sie haben«) und ist dadurch der Ausbreitung unserer Sprache hinderlich.

73 Auch in Tübingen fuhr Mama fort, mich selber zu unterrichten, doch handelte sich's dabei mehr um die lebendige Anregung als um eigentliche Übermittlung des Lehrstoffs, und es blieben viele Lücken, die ich später allein ausfüllen mußte. Für den schlechten Ausfall des Arguments entschädigte ich sie dadurch, daß ich den Guten Kameraden von A bis Z in lateinische Verse brachte, wobei allerdings an einer gar zu wackligen Stelle der Papa eine Zeile einflickte, die sich ausnahm wie ein Lappen feines Tuch auf einem verschlissenen Kittel. Aber das gute, leicht befriedigte Mütterchen war hoch erbaut und sang fortan das Uhlandsche Lied am liebsten in meiner Lesart: Habemus commilitonem etc. Daß ich für die lateinische Grammatik noch immer keine Begeisterung zeigte, schrieb sie der Unvollkommenheit ihrer eigenen Kenntnisse zu und sah sich nun nach einem Lehrer für mich um den sie in Gestalt eines blutjungen katholischen Theologen aus dem Konvikt gefunden zu haben glaubte. Allein dieser hielt mich meiner Größe nach für erwachsen, behandelte mich barsch, um sich der fremdartigen Schülerin gegenüber eine Haltung zu geben und verbot mir sogar, ihn anzublicken. Gleich nach der ersten Stunde erklärte er meiner Mutter, daß das Lehramt bei einem jungen Fräulein mit seinem künftigen Beruf unvereinbar sei, und kündigte den Unterricht auf. Aber das ist ja gar kein Fräulein, sagte meine Mutter verblüfft, das ist ein Kind von elf Jahren. Allein er blieb bei seiner Weigerung, und damit fiel das Latein für längere Zeit ganz zu Boden. Die Anfänge der neueren Sprachen brachte sie mir auf dem lebendigen Wege bei, auf dem sie selbst sie von ihren ausländischen Gouvernanten empfangen hatte, während meinen Brüdern auf der Schule auch das Französische und das Englische zu toten Sprachen gemacht wurde. Dies war der einzige Punkt, auf dem meine so sehr erschwerte Ausbildung sich den Brüdern gegenüber im Vorteil befand.

74 Da mein Tag durch keinen festen Plan gebunden war, schwelgte und praßte ich in einer Fülle von Zeit, von der der erwachsene Mensch sich keine Vorstellung mehr machen kann. Zu allem, was mir einfiel, hatte ich die Muße. Meine liebste, heimlichste Beschäftigung war, in ein mir von der Mama zu diesem Zwecke schon in Kirchheim geschenktes Büchlein eigene Verse zu schreiben. Denn seit sie mir jenes Mal erlaubt hatte, an einer ihrer metrischen Arbeiten teilzunehmen, war in mir der Trieb zu ähnlichen Versuchen erwacht. Mit dem ersten machte ich freilich eine erschütternde Erfahrung, denn der Geist war zur Unzeit über mich gekommen, als ich gerade an einem lateinischen Übungsstück aus dem Middendorf saß, worin ein Begebnis aus dem Leben Alexanders des Großen erzählt war. Da ergab der erste Satz ganz von selbst ein gereimtes, wenn auch äußerst prosaisches Zeilenpaar, und um mich von der Langeweile der Grammatik zu erholen, fuhr ich fort und brachte das ganze Stück in ähnlich hölzerne Verse. Damit weihte ich voller Freude mein neues Büchelchen ein. Aber alsbald wurde mir dieses von den Brüdern entrissen, und die trockene Ernsthaftigkeit des Erzeugnisses erregte ein nicht endendes Gelächter. Weil der lateinische Text mit sine dubio begann, hatte auch ich meinen Gesang mit Ohne Zweifel angehoben, was von unwiderstehlicher Wirkung war. Alle lernten ihn auswendig, um mich zu peinigen, und sobald nur jemand fortan die Worte »ohne Zweifel« aussprach, wurde ich rot und blaß aus Furcht, daß Alfred sie als Stichwort aufnehmen und sogleich die ganze Litanei abschnurren werde. Trotz diesem schrecklichen Fiasko setzte ich aber meine Versuche fort, indem ich mich nun zu einem höheren Flug nach dem Muster Schillerscher Balladen erhob. Die Muse besuchte mich nur des Nachts, wenn alles still im Bette lag. Dann wachte ich unter schaurig süßem Herzklopfen, bis auch der letzte widerstrebende Reim sich einfügte, und wenn am Morgen noch alle Verse beisammen waren, daß ich in irgendeinem sicheren 75 Versteck das Ganze meinem Büchlein einverleiben konnte, so genoß ich die vollkommenste irdische Glückseligkeit. Aber nicht auf lange, denn bei unserem engen Zusammenwohnen ließ sich der Schatz nicht für die Dauer verbergen. Die Gedichte wurden hinter meinem Rücken herumgezeigt, Erwachsene redeten mich darauf an und versetzten das kleine Seelchen in bittere Pein, denn das Lob, das mir unangebrachterweise gespendet wurde, vermochte mich nicht über die gewaltsame Entweihung zu trösten. 76

 


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