Isolde Kurz
Aus meinem Jugendland
Isolde Kurz

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1866

Wenn die alten Achtundvierziger zusammenkamen, so lag eine Verklärung auf ihren Gesichtern, sie sagten: Weißt du noch – der Völkerfrühling! Und zauberten durch ihre bloßen Mienen für die Nachgeborenen das Bild einer kurzen, unbeschreiblich schönen Zeit herauf, wo das Glück leibhaft auf Erden gewandelt und wo alle Menschen Brüder gewesen. Bis die Reaktion mit eisigem Hauch vom Nord all diese Wunderblüten geknickt und den Völkermai in Eis und Schnee begraben hatte. Unsere realistischere Josephine erzählte freilich auch Anekdoten aus dem Völkerfrühling, die zeigten, daß der Freiheitskampf nicht von allen Seiten gleich ideal aufgefaßt wurde, wie das Stücklein von jener Nachbarsfrau, die jubelnd sagte: Teile wellet se, teile! – und ihrem ausziehenden Freischärler nachrief: Daß du mir ja eine neue Matratze mitbringst! – Meine Eltern gehörten beide zu den alten Achtundvierzigern. Doch ging mein gemäßigter, politisch viel tiefer blickender Vater darin lange nicht so weit wie meine Mutter. Besonders teilte er ihr Vertrauen auf ein selbstlos für anderer Völker Freiheit eintretendes Frankreich durchaus nicht. Hatte er doch in seinem schönen »Vaterlandsgedicht« von 1848 die Stelle:

Dem Erwecker in dem Westen
Bleibe hold, er will nicht mehr,

nachträglich verändert in das warnende:

Dem Erwecker in dem Westen
Gib das Seine, gib nicht mehr.

Auch zeugt die im Freundeskreis oft erzählte Anekdote, daß er einmal seinen unbotmäßigen Söhnen zurief: Ihr 104 verdient es, preußisch zu werden! doch mehr von seinem heimlichen Humor und von der väterlichen Nachsicht als von der Schärfe seiner politischen Ansichten. Bei meiner Mutter dagegen ging immer alles aus dem Vollen, da gab es keine Abstufungen, keine Zweifel, sie mußte lieben oder hassen. Als der sechsundsechziger Krieg heranrückte, wurde sie von einem wahren Verzweiflungssturm erfaßt und ihre Erregung zitterte in unseren Kinderherzen nach. Da sie des Italienischen mächtig war, schrieb sie einen Brief an Garibaldi, worin sie ihn beschwor, diesem »freiheits- und brudermörderischen« Kampfe fernzubleiben. Sie glaubte in ihrem Kindergemüt ernstlich, weltpolitische Entschließungen hingen von Prinzipien ab. Andere waren noch naiver. Ein Gymnasialprofessor schrieb an Bismarck und gab ihm politische Ratschläge nach Platon und Thucydides. Daß Bismarck nicht auf seine Darlegungen eingegangen, beklagte er noch später seinen Schülern gegenüber als großen Fehler. Aber dicht neben dem Komischen lag die Tragik. Auf dem Bläsiberg, einem Gut in der Nähe von Tübingen, das Professor Weber, der Lehrer der Landwirtschaft an der Hochschule, Gatte der nachmals als Frauenrechtlerin stark hervorgetretenen Mathilde Weber, bewirtschaftete, hielt sich seit kurzem ein junger, aus England gekommener Praktikant Namens Ferdinand Cohen auf. Er schrieb sich aber Blind mit dem Namen seines Stiefvaters, des in London als Flüchtling lebenden bekannten Achtundvierzigers. Meine Mutter hatte ihn bei einem Besuch auf dem Bläsiberg kennen gelernt. Sie schilderte ihn als einen stillen, wohlerzogenen, aber sehr verschlossenen Menschen. Frau Weber bemutterte ihn liebevoll. Eines Tages war er ganz plötzlich verschwunden mit Hinterlassung eines Briefes, in dem er Abschied auf immer nahm. Und gleich darauf brachten die Zeitungen die Nachricht, daß ein Ferdinand Blind-Cohen in Berlin am hellen Tage auf Bismarck geschossen und, da er ihn verfehlte, sich selbst entleibt habe. Tief war der Eindruck 105 des Attentats in allen Kreisen. Die einen hielten den Täter für einen erhabenen Märtyrer, dessen Manen poetische Totenopfer dargebracht wurden, die anderen fluchten ihm als einem verbrecherischen Auswürfling. Heute würde man sagen: ein Fanatiker mit getrübtem Urteil und reinem Glauben. Er hatte durch den Tod des einen Mannes den Krieg noch aufzuhalten gehofft. Darf man es Zufall nennen, was die Kugel des gewandten Schützen ablenkte? Hätte er getroffen, so gäbe es heute kein Deutsches Reich. Ich besitze noch eine Photographie von ihm aus dem Nachlaß meiner Mutter, die mir immer etwas Unheimliches hatte: ein eleganter, englisch gekleideter junger Mann, rittlings auf dem Stuhl sitzend, mit düster fanatischen Augen, in denen eben der Entschluß zu seiner irren Tat zu reifen scheint.

Als der Krieg ausbrach, schmiedeten sogar wir Kinder antipreußische Gedichte. Einen echten Preußen aus Preußenland hatten wir zwar noch nicht gesehen, aber wir nahmen an, daß ihm zu einem Unhold wenig fehlen könne. Da kam eines Tages gerade um die Mittagszeit vom Hechingischen her ein Leiterwagen vor unserem Hause angerasselt, der ganz mit schwarz-weißen Fähnchen umsteckt und von preußischem Militär besetzt war. Ich sah diese Fähnchen für ein sehr großes Unglück, für eine unmittelbare Bedrohung unserer Freiheit an. Es schien mir Pflicht, wenigstens einen Versuch zur Rettung meiner Heimat zu wagen. Wenn es mir gelänge, eines der Fähnchen, vielleicht das äußerste an der uns zugewandten Ecke, herabzuholen, dann hätte ich, wenn nicht der Freiheit eine Gasse, so doch wenigstens der Unterdrückung eine Ecke abgebrochen. Während ich aber auf den Augenblick zur Ausführung meines Vorhabens lauerte, wurde ich zu Tisch gerufen, und jetzt war es zunächst nicht möglich, sich heimlich zu entfernen. Als ich wieder ans Fenster springen konnte, fuhr eben der Wagen in rasselndem Trab mit all seinen Fähnchen davon. Ich starrte ihm unter gemischten Gefühlen nach: es 106 war nun doch nicht so übel, daß ich nicht in die Lage kam, gegen die preußische Heeresmacht vorzugehen. Der Wagen rasselte über die Neckarbrücke in die Stadt hinein und auf der Lustnauer Straße wieder zur Stadt hinaus, und siehe, es blieb alles wie zuvor! Die Studenten sangen die alten Lieder und tranken so viel Bier wie je, niemand war versklavt worden, noch war irgendeiner Seele von den Preußen sonst ein Leid geschehen. Die Erinnerung an den geplanten Fähnchenraub läßt es mir ganz verständlich erscheinen, daß so oft im Kriege Kinder durch leidenschaftliche Reden Erwachsener zu einer unsinnigen Tat veranlaßt werden, die hernach vielleicht ein ganzes Haus in Gefahr bringt.

Im folgenden Jahre lernte ich dann einen wirklichen Preußen kennen, und dazu einen der allermerkwürdigsten Menschen, die mir je begegnet sind. Es war der Schriftsteller und Populärphilosoph Dr. Albert Dulk aus Königsberg. Sein Leben ist ein Roman, den man nicht schreiben kann, weil er als Erfindung viel zu unwahrscheinlich wäre. Er hatte längere Zeit ganz einsam im steinigen Arabien gelebt, um dem Geiste des Urchristentums näherzukommen und die landschaftlichen Eindrücke für sein Hauptwerk Der Irrgang des Lebens Jesu zu gewinnen. Kühne Abenteuerlust und suchende Philosophie lagen in ihm beisammen. Als außerordentlicher Schwimmer und überhaupt körperlich hervorragend begünstigter Mensch hatte er den Bodensee durchschwommen und ähnlicher Stücke mehr geleistet. Jetzt lebte er in Stuttgart mit seinen drei Frauen, die er gleichzeitig besaß und mit denen er im übrigen ein ganz normales Familienleben führte. Er hatte sich im engsten Kreis einen kleinen freireligiösen Anhang gegründet, für den er in seinem Hause das Priesteramt versah. So hatte er sich auch nach selbstgeschaffenem Ritus mit seinen zwei späteren Frauen selber getraut. Er konnte diese dreifache Ehe in Stuttgart ganz öffentlich und unangefochten durchführen, 107 denn es wohnte damals in dem kleinen Schwabenland die weitherzigste Romantik Tür an Tür mit dem beschränktesten Spießertum. Trotz der ungewöhnlichen Familienverhältnisse herrschte reger geselliger Verkehr im Dulkschen Hause, und es war keineswegs Bohême, was dort ein- und ausging; Künstlerschaft, Schriftsteller, Politiker ließen sich durch die dortige Eigenart nicht abschrecken. Noch weit mehr aber zeugt es von der zwingenden Persönlichkeit dieses Mannes, daß er die drei Frauen, die gleiche Rechte und gleiche Anrede genossen, in Liebe und Eintracht zusammenhielt, soweit in menschlichen Verhältnissen dauernde Liebe und Eintracht möglich sind. Sie gingen immer völlig gleich gekleidet, vertrugen sich schwesterlich und hingen mit schwärmerischer Verehrung an dem Manne. Mit der Zeit verschob sich das häusliche Gleichgewicht ein wenig zugunsten der Zuletztgekommenen, deren Ehe kinderlos blieb und die darum ihre ganze Zeit der dienenden Liebe widmen konnte. Diese Liebe war eine Art Gottesdienst in immerwährender stiller Verzückung. Frau Else durfte ihn auch auf seinen nächtlichen Spaziergängen durch die nicht allzu sicheren Wälder Stuttgarts begleiten. Nachdem sie ihm monatelang auf den unheimlichen Nachtgängen, die er noch dazu unbewaffnet machte, aus der Ferne nachgeschlichen war, um im Falle der Not beizuspringen oder sein Los zu teilen, wurde sie, als er die treue Gefolgschaft entdeckte, zu seiner Kameradin erhöht und genoß nun in diesen stillen Nachtstunden das seltene Glück, ihn ungeteilt zu besitzen. Dulk hatte eine Anzahl Dramen geschrieben, die in der Öffentlichkeit wenig Glück machten. Am bekanntesten wurde Jesus der Christ, seine feurigste und packendste Schöpfung, worin die Vermählung des Übersinnlichen mit dem Rationalismus versucht ist und Joseph von Arimathia im Lichte einer halbmystischen Vaterschaft erscheint. In der Auffassung Judas Ischariots als des feurigen jüdischen Patrioten, der in Christus den irdischen Erlöser sucht und sich enttäuscht 108 von ihm abkehrt, ist er anderen Dichtern, darunter auch Heyse, vorangegangen.

Jetzt kam Dulk nach Tübingen, um meinem Vater, den er bis dahin nicht gekannt hatte, ein neuverfaßtes Lustspiel vorzulesen. Er brachte eine seiner Frauen und seine Tochter Anna mit, die meine Altersgenossin war und sich schnell an mich anschloß. Dulk war ein hochgewachsener schöner Mann mit schwarzem Haar und Bart bei blauen Augen und klargeschnittenen Zügen. Auffallend wirkten in der süddeutschen Luft sein scharfer ostpreußischer Akzent und die straffen norddeutschen Bewegungen. Auch sein ganzes Wesen war norddeutsch ernsthaft und immerzu feierlich pathetisch; der Schwabenhumor blieb ihm und er dem Schwabenhumor unverständlich. So hatte auch seine Anknüpfung mit meinem Vater kein ersprießliches Ergebnis. Es war damals im Schwabenlande üblich, daß die Männer alle ihre besonderen Angelegenheiten beim Glase abmachten, darum »strebten« auch die beiden an jenem warmen Sommernachmittag nach einem kleinen Wirtsgärtlein in dem nahegelegenen Dorfe Derendingen. Allein mein Vater konnte der erzwungenen Laune des Dulkschen Stückes keinen Geschmack abgewinnen und kam ziemlich angegriffen von der Sitzung nach Hause. Auf die Frage des Verfassers, was er davon halte, hatte er geantwortet: Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Entweder hat das Stück keinen Humor oder ich habe keinen. Jener aber verstand die Meinung nicht und sagte beim Nachhausekommen zu meiner Mutter: Ich kann nicht herausbringen, was Ihr Gemahl von dem Stücke hält, suchen Sie es doch zu ergründen. – Es fehlte seiner immerwachen Geistigkeit an dem ergänzenden Gegenstück der Naturhaftigkeit, aus welcher gegensätzlichen Verbindung erst der Humor entspringt; der reine Geistesmensch hat keinen und der reine Naturmensch ebensowenig. Dulks Dichtungsart hatte durchgängig etwas prinzipienmäßig Gedankliches, denn seine 109 Begabung war nicht trieb-, sondern willenhaft. Er gehörte zu den stärksten Willensmenschen, die mir begegnet sind. Dieser starke Wille, auf das gerichtet, was eigentlich außerhalb der Willenssphäre liegt, machte ihn den Schwaben, denen die Poesie ein inneres Blühen des Menschen, fast mehr nur einen Zustand als eine Tätigkeit bedeutete, einigermaßen unheimlich, und er blieb immer ein Fremder unter ihnen, obwohl er württembergischer Staatsbürger geworden war.

Die zarte, hochaufgeschossene Anna durfte ein paar Tage bei mir bleiben, woraus sich eine dauernde Freundschaft entspann. Sie wurde jedes Jahr auf ein paar Wochen unser Gast, und auch ich durfte sie in Stuttgart besuchen. Einmal – es war während des 70er Krieges – wohnte ich auch einer Sonntagsfeier im Dulkschen Hause bei, die mit wechselnden Gesängen und Anrufungen an die Weltseele einen ganz lithurgischen Charakter hatte. 110

 


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