Hermann Kurz
Gesammelte kleinere Erzählungen, 3. Teil
Hermann Kurz

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Bergmärchen

In den ungetrübten Stunden seines Lebens ist der natürliche Mensch ein Dichter, also auch der Knabe, denn dieser ist bei aller vorlauten Unreife doch gewiß im Grunde seines Wesens ein natürlicher Mensch. Darum, wenn ihm auch die Woche über der Kopf vor Romanismus schier zerspringen wollte, der Sonntag – wohlgemerkt, wenn er am Samstagabend seine ganze Gelehrsamkeit in Prosa und Versen säuberlich losgeworden war – der Sonntag fand den kleinen lateinischen Lehrling so froh und hochgemut wie einen alten deutschen Handwerksmann. Der Deutsche hat in jener so hausbackenen und doch zugleich träumerischen Zeit, die wir Mittelalter nennen und die vielleicht in künftigen Geschichtsbüchern erst mit dem Jahre 1830 schließen wird, eine eigentümliche Gabe besessen, zu gewissen Stunden die Welt mit anderen als Werktagsaugen anzusehen, nämlich so wie Hans Sachs sie schildert, wenn er am Sonntagmorgen in den grünen Wald lustwandeln geht. Es ist die alte wundersame Sonntagsstimmung, die die Welt im Festkleide sah und die ich nur mit dem Namen eines geistigen Sonntagssonnenscheins bezeichnen kann. Sobald ich aufgestanden war, legte ich mich unter eine Dachluke, ließ die Augen rings an dem waldbewachsenen Halbrund der Berge, die unsere Stadt bewachten, herumgehen, und bildete meine Zauberkreise, in die ich das Nahe und Ferne hereinzog. Ich bin nicht imstande, den Schmelz, mit welchem diese stille Landschaftsmalerei die Welt überhauchte, mit Worten auszudrücken: alle Farben waren gesteigert und durch einen wunderbaren Duft, der wie ein Taumeer über ihnen schwebte, in ihrer durchschimmernden Mannigfaltigkeit zu einem gemeinsamen Licht verbunden.

Ich darf mich der erquicklichen Gabe wohl rühmen, wie man sich jedes verlorenen Besitzes rühmen darf, denn sie ist mir nachher, als ich in den nüchternen Tag hinausgestoßen wurde und der Sonntag mir wie ein »anderer Mann« erschien, untreu geworden. Ebenso scheint sie mir auch der übrigen Welt abhanden gekommen zu sein, und das ist kein Wunder, denn wir haben eben den alten deutschen Sonntag nicht mehr, der nicht bloß heilig war, sondern auch gedankenvoll und bilderreich; und alle Wiederherstellungsversuche werden sich unzulänglich erweisen, den unbefangenen alten Sonntag wieder heraufzuführen, an dem es sich eben ohne künstliche Nachhilfe von selbst verstand, daß es Sonntag war. Die Poesie gießt einen ähnlichen Schmelz über die Welt; nur ist es oft mehr ein Lack, ein Firnis, ein Versuch, den duftigen Überflug wieder herbeizuzaubern, nicht aus der Anschauung selbst entsprungen, sondern bloß aus dem Heimweh nach ihr. Doch ist mir durch die deutsche und die englische Dichtung oft wieder die alte Heimat aufgeschlossen worden, daß ich den Sonnenschein meiner einstigen Sonntage wieder sah; oft haben mir diese unsere Dichter die Welt aus ihrem magischen Muschelkasten gefärbt, daß sie für Augenblicke wieder in einer andern, in jener früheren heimischen Gestalt vor mich trat. Aber auch die schönste dieser Beleuchtungen glich dem Sonntagsglanze meiner Kinderjahre doch nur wie die Erinnerung der Wirklichkeit. Denn das war es gewesen, was ich durch meine Dachluke erschaut hatte, und was mich glauben macht, daß das Kind ein größerer, das heißt, ein lebendigerer Dichter ist als der reife Mensch, obgleich es sein Schauen nicht in Worte kleiden kann. Das beste, was der Dichter sagt, und wenn er sich noch so hoch über die bloße Allegorie erhebt, ist nur Parabel, Symbol, Gleichnis, Bild oder Wahrzeichen; aber aus meiner Kindheit ist mir unauslöschlich ins Gedächtnis geprägt, daß ich von diesen Dingen eine wirkliche, eine körperliche Anschauung gehabt habe.

»Ich wußte wohl wie mir geschah,
Und wie das wurde was ich sah.«

Aber ich blieb nicht in dieser mystischen Beschaulichkeit. Oft stieg ich von meiner einsamen Warte herab und schweifte fröhlich durch Berg und Tal. Da ging mir die Muse leibhaftig zur Seite, in Gestalt eines alten Buchdruckers. Wie muß ich es beklagen, daß mir die Kunst des Zeichnens versagt ist, selbst die leichte des einfachen Umrisses, und daß ich ihn nicht wenigstens mit ein paar Strichen hinwerfen kann, den Mann mit den wunderlich geformten Beinen, die bei jedem Tritt elastisch beinahe in einen rechten Winkel einwärts sprangen, mit dem tiefgefurchten Gesicht und den nachdenklichen grauen Augen, wie er neben mir herschritt und mit seiner dumpfen Stimme die malerischen Punkte der Gegend durch Geschichte und Sage, hier auf Denkzeichen verschollener Grafen und Pfalzgrafen, dort auf die gespenstige Wohnung eines »verwunschenen« Fräuleins weisend, vor meinen Augen befestigte. Denn Mythus und Historie wohnten in ihm friedlich beisammen. Gebürtig aus einem Dorfe der Landschaft, welche der kleinen Republik unterworfen war, hatte er in der Zeit, die der französischen Revolution vorherging, das abenteuerlich ungebundene Leben der reichsstädtischen Jugend, die »poetischen Lizenzen«, die sie sich gelegentlich auf dem Jagdgebiete der Stadt und »leider« auch des benachbarten Herzogtums in Wald und Fluß erlaubte, geteilt, nachher war er wandernd weit in der Welt umhergezogen, mit einer Spieluhr, die er sehen ließ, sogar vor dem Divisionsgeneral Bonaparte aufgetreten, hatte im Umgang mit Alchimisten, Schatzgräbern, Magnetiseurs und Horoskopstellern an geheimnisvolle Künste glauben gelernt, und aus dem Sturm der Weltgeschicke, der an seinem aufmerksamen Auge vorüberrauschte, sich eine Philosophie auf seine Weise gebildet. Dazu hatte er alles gelesen, was ihm unter die Hände gekommen war, und konnte uns ganze Bücher im auserlesensten Chronikstil wiederholen, »gleich einem Hausvater, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorträgt«. Sein Kopf war ein unerschöpfliches Repertorium, und er ließ sich nicht ungern mit einem Gelehrten vergleichen, brach aber auch manchmal in rührende Klagen über die unverdiente Dunkelheit seines Schicksals aus, und versicherte, wenn er imstande gewesen wäre zu studieren, so würde er nichts Geringeres sein als die Pfarrer und Professoren, die er in der Schule neben, ja wohl unter sich erblickt habe. Noch war er meist heiterer Laune und immer von demselben Wohlwollen beseelt; am vergnügtesten erschien er, wenn es ihm gelang, eine singende Jugend um sich zu versammeln, die er durch ein unnachahmliches Schnurren der Lippen mit einem dröhnenden Baß gleich dem Pedal der Orgel zu begleiten wußte. Überhaupt hielt er sich am liebsten zu der Jugend, und so konnte er hie und da an Feiertagen als Führer eines muntern Knabenschwarmes durch Dick und Dünn, aller Waldpfade kundig, mit uns schweifen, steigen und klettern, bis eine Spitze erreicht war, die eine belohnende Aussicht in das nächste Tal oder in die weite Landschaft hinaus eröffnete.

An gewöhnlichen Tagen aber hielt er uns seine Vorlesungen innerhalb Etters. Wenn die Schulstunden beendigt und die Schulaufgaben ausgearbeitet waren, so hüpfte am späten Abend immer noch ein wißbegieriges, hoffnungsvolles Auditorium durch die Einfahrt in den kleinen Hof, wo von überragenden Nachbarhäusern umgeben sein bescheidenes Hinterhäuschen stand. Hier pflegte man sich amphitheatralisch auf Schichten umherliegender Bretter, Balken oder Steine zu gruppieren, und glücklich, wer seinen Platz in der Nähe des Sagenmannes erlangen konnte! Sogar der Mond schien manchmal näher zu kommen, als ob er lauschend herbeischliche, um seinen Teil an den Erzählungen des alten Buchdruckers zu bekommen. Zuweilen waren auch noch andere Zeugen zugegen, und noch erinnere ich mich des Schreckens, der uns eines Abends befiel, als er uns die Geschichte vom Apostaten erzählte, der den lutherischen Glauben abschwor, ohne dafür ein guter katholischer Christ zu werden und obendrein ohne die Braut heimzuführen. Er hatte noch nicht zu Ende erzählt, da ertönte auf einmal eine krächzende Stimme aus der Höhe, und gellend rief es wie vom Himmel herab: »Du bist weder kalt noch warm, darum will ich dich ausspeien aus meinem Munde! Offenbarung Johannis im dritten Kapitel, im sechzehnten Vers.« Wir drückten uns schaudernd zusammen, aber der Buchdrucker rief lachend gegen das Fenster eines anstoßenden Hauses hinauf: Sie sind ja recht bibelfest, Frau Nachbarin! So, Sie sind auch noch auf? – Es war ein altes Weib, das ganz in der Stille die Galerie bei unsern Verhandlungen besetzt hatte.

Ernstlicher wurden dieselben gestört, wenn die Hausglocken in diesen Weltwinkel, der uns vor allen andern anzog, hereingrillten; sie durften aber oft redlich stürmen, bis das kleine Parlament mit Hilfe seines alten Vorsitzers dazu gelangen konnte, seinen Vertagungsbeschluß zu fassen.

Nun aber war endlich der ersehnte Tag angebrochen, dem ein Dutzend Knabenherzen so lang' entgegengeschlagen hatten, und schon vor Sonnenaufgang rannten die Wecker in der Stadt umher, um ihre lässigeren Gespielen herauszustöbern. Es ging nicht viel anders zu, als wie wenn morgens den Gänsen oder Kühen das Zeichen zum Ausfahren gegeben wurde, worauf der Halbschläfer, sich auf dem Kissen umdrehend, alsbald ein Schnattern oder Muhen die Straße entlang ziehen hörte; nur dienten statt des krummen Hornes die Fensterglocken, die heute aber auch vor Eifer beinahe heruntergerissen wurden. Binnen kurzem war der letzte Träumer aufbruchsfertig, und mit mächtigem Hallo stürmte das wilde Heer dem Sammelplatze zu. Dort stand unser Hirt in der Einfahrt seines Hofes ruhig lächelnd; er brauchte uns nicht zu blasen, und konnte das Weckeramt getrost den Ungeduldigen überlassen, die sich desselben bemächtigt hatten; denn er wußte wohl, daß keines von seiner Herde zurückbleiben würde. Er hatte sein blaues Sonntagswams angezogen; aus der einen Tasche hing wohlgefällig ein langer Zipfel des frischen geblümten Nastuches, in der andern steckte die blanke zinnerne Dose, die er fleißig hervorzog, ein Geschenk unserer dankbaren Anhänglichkeit, bei dessen Überreichung gleichfalls von allen keiner zurückgeblieben war. Vergnüglich vor sich hinsummend begrüßte er die heranstürmende Schar, und war offenbar ein wenig stolz darauf, daß ihm ein so starkes Kapital von Zukunft anvertraut wurde. Das aber war kein Wagestück, denn er lenkte uns an unfühlbaren Fäden, indem er uns wie Erwachsene behandelte, und der Halsstarrigste, der zu Hause und in der Schule wider den Stachel lockte, gegen ihn war er, von einem versteckten Worte seines Tadels getroffen, kirre wie ein Lamm.

Und was war es für ein Tag, den wir mit ihm begehen wollten? Sommerjohanni war gekommen, das uralte Fest, an welchem man vordem große Feuer anzündete und darüber sprang, zur Feier der heiligen Zeit, in welcher die Sonne auf dem Gipfel ihrer Bahn sich wendet, um durch die Scheren des Krebses wieder nach den Hörnern des Steinbocks abwärts zu wandeln. Längst waren in unserer Stadt diese Festlichkeiten vergessen: man ließ kein brennendes Rad mehr vom Berge laufen, das die am Himmel hinabrollende Sonne vorstellen sollte, man zündete kein Sonnwendfeuer mehr an, und die Kartoffelfeuer, durch die wir im Herbste gelegentlich sprangen, hatten wohl kaum mehr eine Beziehung auf die alte Sitte. Aber dennoch war eine dunkle Erinnerung daran zurückgeblieben. Obgleich ein gewöhnlicher Feiertag im Kalender, wurde doch der Johannistag viel höher als ein solcher gehalten, und alles Volk aus Stadt und Dorf pflegte bei seinem Anbruch nach den Höhen der umliegenden Berge zu ziehen, wo vielleicht in grauer Zeit die Sommersonnenwende gefeiert worden war. Der Besuch der Berggipfel war damals überhaupt noch weit häufiger im Brauche als jetzt, und uns hätte keine größere Freude zuteil werden können, als die längst zugesicherte Erlaubnis, an Johanni, falls die Witterung nicht gar zu heiß wäre, mit unserem alten Buchdrucker eine Wallfahrt auf den Roßberg, die höchste Anhöhe unseres Gebirges, machen zu dürfen.

Lustig lärmend, wie die Vögel, wenn sie ihr erstes Morgengezwitscher anstimmen, hatten wir bald den »Wasen« erreicht, einen herrlichen alten Eichenhain, der in seinem früheren Bestande manches Fest zu Ehren der alten Götter gesehen haben mag und nun der Schauplatz des jährlichen »Maientages« geworden war. Das heutige Geschlecht hat sich schwer an ihm versündigt; damals aber standen seine Eichen noch so dicht, als man es von diesen unverträglichen Nachbarn erwarten kann, die mit den endlos ausschreitenden Wurzeln jeden schwächeren Nebensiedler aus dem Wege zu schieben wissen. Ungeachtet dieser am Boden lauernden Wurzeln trabten wir in der Frische des Morgens so munter über den weichen tauigen Rasen hin, daß der Alte Mühe hatte, uns zusammenzuhalten. Er kannte aber ein sicheres Mittel, das er stets in Bereitschaft hatte: sowie er zu erzählen begann, und die nächsten sich um ihn drängten, um kein Wort von seinem Munde zu verlieren, so war darauf zu rechnen, daß der Vortrab die Schritte anhielt, und die Nachzügler die ihrigen beflügelten, um sich mit der Hauptmacht zu vereinigen. Die Umgegend ließ es nicht an Stoff zu Erzählungen fehlen. Vor uns aus dem Walde, dem wir entgegenzogen, ragte ein kahler Hügel, die »alte Burg«, auf welcher einst Raubritter in roten Mänteln gehaust. Das Hüterhäuschen am Waldsaume, rechts von der Stelle, wo die Fahrstraße in den Wald geht, zeugte von den Nachfolgern jener alten Räuber, nämlich von den Gaunern des vorigen Jahrhunderts, die dort einen schauerlichen Mord begangen. Eine kalte düstere Waldschlucht zu unserer Linken und weiterhin ein einsamer Hof auf grünem Bühl hatten diese Zigeuner beherbergt, wiewohl man auch in der Stadt selbst noch ein Wirtshaus nannte, das ihnen offen gewesen sein soll. Zwischen den Bergen dort, tief im Walde, barg sich der »blaue Hof« oder vielmehr die öde Stätte, wo er einst gelegen, denn er war längst abgegangen, so daß niemand mehr etwas Bestimmtes von ihm zu sagen wußte; aber der Name hatte sich erhalten, der mit einer gewissen Scheu ausgesprochen wurde, und leise stammelte die Sage, daß dort in grauen Zeiten grausige Dinge geschehen sein müssen. Unter den Höhen, die nun schon hinter uns lagen, waren das »Rangelbergelein« und die »Frau Näget« als Sabbatplätze der Hexen berüchtigt, – ein Kapitel, das der Buchdrucker mit wohlanständiger Unmaßgeblichkeit behandelte, indem er nur Gehörtes nachzuerzählen versicherte, von seiner eigenen Meinung jedoch so viel vermerken ließ, daß eben doch unterweilen zwischen Himmel und Erde gar Wunderliches sich begebe.

Am Rande der Schlucht, weit links ab der Straße, betraten wir endlich den Wald, der schon eine gute Weile neben uns hergelaufen war, und bewegten uns auf einem schmalen Fußsteig, den nur unser Führer kannte, im Gänsereihen fort. Im Walde zu schweifen war selbst an Feiertagen ein seltnes Fest für uns, denn die Äcker und Baumgüter, mit denen sich die Stadt umgeben, hatten ihn nach allen Seiten, hier ans Gebirge hinauf, dort gegen das Land hinunter, so weit zurückgedrängt, daß wir ihn lange Zeit fast nur wie ein fernes Märchen gekannt hatten. Es war eine Lust, sich unter den schönen Buchen zu tummeln. Unser Mentor, der von der Zeder bis zum Ysop alles kannte, wußte bei jeder Frage unsere Neugier zu befriedigen. Er lehrte uns die Stimmen der Vögel unterscheiden, ehe sie mit dem Steigen des Tages verstummten, und gab den Käfern des Waldes, den fremden Kräutern und Blumen der Wildnis ihre Namen. Bei solcher Art zu wandern fand sich mancher Aufenthalt, und wir brauchten wohl die doppelte Zeit, bis wir uns dem Ziel der Reise näherten. Dafür hatten wir aber auch auf einem sanft ansteigenden Umweg den Gebirgsstock unter die Füße bekommen, ohne zu wissen, wie es zugegangen war. An einem Waldbrunnen, der unter einem Ahorn rieselte, machten wir Halt, um den mitgenommenen Imbiß zu verzehren, wozu uns der Brunnen den Tischtrunk schenkte. Wir freuten uns des grünen Daches, das sich gleich einer Kellerwölbung über ihm ausbreitete, und priesen den schönen gastlichen Baum. Der Buchdrucker aber vertraute uns, kaum eine Stunde von da stehe ein noch merkwürdigerer, nämlich eine alte hohle Esche, worin – nach der Behauptung vieler, setzte er vorsichtig hinzu – ein Geist hause, ein »moroser« Einsiedler in roter Weste, schwarzen Hosen und weißen Strümpfen, der sich sogar im hellen Tageslicht zeige, und gleichfalls eine Art Gastfreundschaft übe, sofern er die Vorbeigehenden in seine Spelunke hole und nicht mehr loslasse. Wir fragten, ob er ihn schon gesehen habe. Er verneinte es, aber wir brachen dennoch eilends auf, da unsre Richtung glücklicherweise die entgegengesetzte war.

In einem gelinden Bogen, der sich durch Buchen- und Eichenwald um den Hauptkörper des Berges herzog, führte uns der Fußsteig immer aufwärts, bis wir auf eine offene waldumkränzte Ebene hinaustraten, die mit duftigen Kräutern bewachsen war. Heut', am Feiertage, lag sie still und einsam, sonst aber war sie, wie uns der Buchdrucker belehrte, die Weide für die umliegenden Ortschaften, und die Rosse und Rinder kannten sie, wie die Zecher das beste Wirtshaus kennen. Auch für uns wuchs auf solchen Bergflächen eine Pflanze, die uns höchlich zu ergötzen pflegte, deren Namen ich aber nicht anzugeben weiß; es war eine strohartige, frühzeitig ausgefallene Blume ohne Stiel, deren Boden wir als musikalisches Instrument benützten, da sie, wenn man durch ein Stückchen Fließpapier in die zarten Öffnungen hineineinsang, verstärkte »humsende« Töne von sich gab. So »humseten« wir denn durcheinander, was uns einfiel, Choräle und Schelmenlieder, während wir auf dem erstiegenen großen Absatze gelagert, uns zur letzten Anstrengung vorbereiteten; denn auf diesem ruhte wie auf einem breitschulterigen Rumpfe der Kopf des Berges, den es noch zu überwinden galt. Hier war keine Bogenlinie, keine sanft geschlängelte Umgehung mehr anzuwenden, steil und schroff ging es durch dichten Wald hinauf, aber wir ermunterten einander durch Zuruf, zogen, fest mit der Ferse einhauend, die schwächeren Genossen nach, und in einem sauern Stündchen war der letzte Gipfel vollends erstürmt. Mit Verwunderung fanden wir nun die schmale Spitze, als welche sie sich von ferne gezeigt, in eine ziemlich geräumige Fläche verwandelt, die obendrein so hoch und dicht bewaldet war, daß wir zwar vor Bäumen wohl den Wald, nicht aber eine Spur von Landschaft oder Gebirge erblicken konnten. Halb verdrießlich, halb mutwillig lachten wir und neckten einander mit der schönen Aussicht. Der Buchdrucker lächelte still in sich hinein und fragte, was wir zuerst zu sehen wünschen. Natürlich wenigstens die »Schwedenschanze«, das vielbesprochene Wahrzeichen des Berges, das uns allein schon so weit heraufgelockt haben würde! Er führte uns nach der Südseite des Abhangs und zeigte uns eine verworrene Masse bemooster Steine, die wie von der Hand der Natur hingeworfen schienen, und eine Spur von Erderhöhung, durch Gebüsch und Rasenwuchs halb unkenntlich gemacht. Für Knabenaugen war das nichts Besonderes. Ja, wenn wir gewußt hätten, daß der alte Wall, der sich noch weiter nach Süden zieht, vielleicht um anderthalb Jahrtausende älter ist als die Soldaten Gustav Adolfs! Was sollten auch diese da oben zu schanzen gehabt haben? Aber selten geht eine unserer Volksüberlieferungen hinter den Dreißigjährigen Krieg zurück, zum Beweise, wie gründlich die Sündflut war, mit der er das Gemüt des Volkes überwachsen hat.

Schon wollten wir uns mit dem Ruhm begnügen, den Roßberg erklommen und die waldbegrabene Schanze besucht zu haben, als wir mit unserem Führer über die Gipfelfläche hin und her kreuzend mitten im Waldesdickicht auf ein Gerüste stießen, das mit den höchsten Bäumen in die Wette emporstrebte und mit einer rechtschaffenen Treppe versehen war. Der Buchdrucker weidete sich an der Überraschung, die er uns bereitet hatte, und lachte seinen gemütlichen Baß dazu. Die Herren Topographen, erklärte er uns in seinem Latein, haben es gleichfalls unkonvenierlich gefunden, daß eine so wohlgelegene Bergspitze wie ein Kopf ohne Augen sein sollte, und die Pläsierlichkeiten, die sich die Großen verschaffen, kommen jezuweilen auch den Kleineren zugute. Nun ging es hinan, daß das Balken- und Stangenwerk ächzte und krachte, aber die genannten Herren Grafen hatten es dauerhaft hingestellt. Da droben war nun Aussicht im Überfluß. Landkartenartig, wie von allen diesen Höhen, lag gegen Westen und Norden die Landschaft weitgebreitet mit ihren Städten und Dörfern, mit ihren Hügeln, Wäldern und Wassern vor den Blicken. Nach der andern Seite war der Gesichtskreis begrenzter, aber um so schöner: gegen Osten stieß das Auge an die Gebirgsgestalten der näheren und ferneren Nachbargegenden, während es von der Ecke, die unser Standpunkt bildete, den Zug des Gebirges nach Süden hin in ausgedehnteren Reihen verfolgen konnte. Unser Mentor hatte ein scharfes Kreuzfeuer von Fragen zu bestehen; der eine wollte eine Ortschaft, der andere einen vereinzelt aufragenden Kirchturm, ein dritter diesen, ein vierter jenen Berg, ein fünfter den blinkenden Streif eines Flusses, ein sechster die dunklen Säume des Schwarzwaldes, wieder andere wollten Schlösser und Kapellen und die Menge der Burgruinen benannt wissen, und alles fragte und zwitscherte zu gleicher Zeit. Geduldig und sicher wand er sich durch das Gewirr der Fragen hindurch, und blieb keine Antwort schuldig, ja er zeigte uns nicht bloß das, was zu sehen war, sondern auch dasjenige, was bei besonders günstiger Beleuchtung etwa gesehen werden konnte. Dieses Unsichtbare entzündete alsbald die junge Phantasie in Verbindung mit dem knabenhaften Ehrgeiz, und alles strengte die Augen an, wer am weitesten sähe. Auch fehlte es nicht an jenen Berührungen, bei welchen Betrug und Glaube ineinander laufen, die aber der Alte mit seiner gutmütigen Ironie aus dem Felde schlug. So, als unser Dicker, aus seinem Gleichmut aufgestachelt, hinter dem Schwarzwalde richtig die Vogesen ganz deutlich sah, wünschte er ihm guten Abend, und einem anderen, der noch scharfsichtiger im fernen Süden eine weiße Linie entdeckte, die offenbar nichts anderes als die Schneeberge der Schweiz vorstellen konnte, sagte er im gleichen Atem guten Morgen, und lachte dann seinen Grundbaß über die List, die er vorhin gehabt, die Tageszeiten zu verschweigen, in welchen jene seltenen Erscheinungen allein möglich seien. »Sehen Sie nur gefälligst recht scharf nach der Sonne, die dem einen auf- und dem andern untergeht!« rief er den beiden Entdeckern zu, »vielleicht sehen Sie sie eben jetzt über Ihren Adlerblick die drei Freudensprünge machen, die sie übrigens sonst nur an Ostern tut.«

Ein helles, vielstimmiges Gelächter schlug in die Lüfte, so daß ein Paar Raben, die sich nicht weit davon auf Baumwipfeln wiegten, wie ertappte Missetäter die Flucht ergriffen. Der Buchdrucker lächelte noch ein wenig vor sich hin, und beeiferte sich dann, den beiden beschämten Fernsehern eine Anzahl wirklicher Fernsichten zu zeigen. Er war sehr höflich und sagte zu unsern Wenigkeiten niemals anders als »Sie«.

Das Merkwürdigste und Vergnüglichste jedoch war für Knaben jedenfalls, bekannte Gegenstände in einige Ferne gerückt zu sehen, den Weg zu überblicken, den wir hierher gemacht hatten, und die Heimat, aus deren Mauern wir am Morgen ausgezogen waren, von da oben zu grüßen. Sie lag schimmernd am Gebirge, die sonst so altergraue Stadt; der Engel auf dem Turme blitzte in der Sonne. Der Gebirgskreis, in den sie sich schmiegte, war von eigentümlichen Formen, streng und reizlos, wie der Ernst des Lebens, wenn solche Vergleichung erlaubt ist; aber der einzelne schlanke Bergkegel, der hinter ihr aufstieg, milderte durch seine Anmut den Eindruck der Härte, und die weite Ebene, die sich vor der Stadt und den Bergen her ausdehnte, gab der Gegend, trotz des verschlossenen Hintergrundes, ein offenes Aussehen und bedeutend gestaltete Raumverhältnisse. Wir standen daher keinen Augenblick an, sie als eine der großartigsten auf diesem weiten Erdenrunde zu preisen, obwohl wir weder Gelegenheit gehabt hatten, sie mit anderen Gegenden zu vergleichen, noch das, was ihr nach solcher Vergleichung eigen blieb, mit Worten auszusprechen fähig gewesen wären; aber wir waren eben stolz auf alles, was der Vaterstadt näher oder ferner angehörte. Stolz waren wir auch auf den schlanken Berg, der vor dem Gebirge stand wie eine Schildwache vor dem Lager, oder wie ein Befehlshaber vor seinen Truppen, oder auch, wenn man will, wie in den griechischen Trauerspielen eine der handelnden Personen vor dem Chor, und die Mützen schwingend, riefen wir unserer Achalm ein Hurra zu; denn der Eigensinn einer unerforschten Vorzeit hat sie weiblich benannt, ohne einen Grund hierfür anzugeben, ja ohne ein Wort zur Entzifferung ihrer dunklen Namensrune zu hinterlassen. Der Turm auf ihrem Gipfel, das einzige Überbleibsel der gräflichen Doppelburg, ragte scharf gezeichnet in die klare Luft; sogar die Fahne auf dem Turm war zu erkennen; ebenso deutlich sah man den an der Vorderseite des Berges emporführenden Zickzackweg. Wir hatten diesen alten Reitpfad stets verschmäht und lieber mit Händen und Füßen in die Wette den steilen Gipfel geradenwegs erklettert; nicht anders ging die Rückfahrt, geradeaus bergab, wie die Kugel aus dem Rohr, unter Geschrei und Gelächter, und wenn man sich nicht mehr halten konnte, so blieb nichts übrig, als sich rückwärts zu Boden zu werfen. Dort ja hatten wir uns ln den Anfangsgründen des Bergsteigens geübt, von den Zinnen jenes alten Turmes hatten wir manches Lied auf unserer strohernen Bergharmonika geblasen, manches »Ammonshorn« hatten wir von jenem Gipfel mitgebracht, ja selbst ein seltener »Apollo« war uns dort oben je und je ins Schmetterlingsgarn geraten.

So gering jedoch die Entfernung war, so reichte sie hin, den anmutigen Berg schlanker und zierlicher zu zeigen als wir ihn je gesehen hatten, und ihm das zu geben was die Nähe nicht so entschieden erscheinen läßt: eine Gestalt. Eine zweite, dieser ähnlich, war der Hohenneufen, der etwas weiter entfernt sich mit seiner schönen Mauerkrone von dem Gebirge hob und gleichsam mit einem Fuß aus demselben herauszutreten schien. Der dritte im Kleeblatt dieser schlanken Berge und der schönste war der Hohenstaufen, der in den blauen Duft der Ferne gehüllt einsam aus Nordosten herüberblickte. Zwischen der Achalm und dem Neufen hatte sich der Sattelbogen langgestreckt wie ein Kamelsrücken hingelagert. Hinter dem Neufen sah die Teck hervor, als ob sie einen Lauscherposten einnähme. Diese ganze Gruppe von Bergen, die den östlichen Teil der Aussicht bildete, bot eine höchst lebendige Erscheinung dar, und trotz ihrer stummen Unbeweglichkeit nahmen sie sich nicht anders aus als wie wenn sie in einem stillen Verkehr, ja in einer leibhaften Handlung miteinander begriffen wären. Ich mußte immer wieder nach ihnen hinschauen, während der Buchdrucker von den wunderlichen Steinbildern der Belsener »Heidenkapelle« dozierte, die auf der anderen Seite des Berges lag.

Mittlerweile war die Sonne höher heraufgekommen, die klaren Umrisse, der Landschaft lösten sich in nebligen Flor, und die Hitze begann auf unsere obdachlose Warte zu drücken. Wir verließen dieselbe, und nach wenigen Augenblicken lag die junge Bande fest eingeschlafen im kühlen Schatten des Waldes. Nur drei von der Gesellschaft wachten noch: der alte Buchdrucker saß »auf Rosen mit Veilchen bekränzt« – denn er hatte sein geblümtes Taschentuch über das Moos gebreitet – an einem dicken Baumstamm, der ihm eine Lehne gewährte, und hing seinen Gedanken nach; ich hatte seine Stellung an einem benachbarten Baume nachgeahmt, wo ich in einem moosigen Auswuchs ein bequemes Kopfkissen fand; und der Dicke lag neben mir im Gras auf dem Rücken, die Hände unter dem Kopf gefaltet, und langsam, wie er in allem war, den Gefährten ins Reich der Träume nachzusegeln bemüht. Ein leiser Luftzug strich über die Höhe und atmete in den Blättern.

Was geht Ihnen im Kopf herum? fragte der Alte nach einer Weile. Er hatte mich beobachtet, wie ich die Augen bald schloß bald öffnete und in einer Art Verwunderung vor mich hinsah.

Sonderbar, antwortete ich, unsere Berge stehen noch immer vor mir, so deutlich, als wäre eine Öffnung durch das Dickicht gehauen, und was noch sonderbarer ist, schon da droben hab' ich mir's eingebildet und kann mir's nicht aus dem Sinn schlagen, daß die Achalm und die Teck nach dem Neufen hinsehen, die eine von hier, die andre von dort, wie wenn sie etwas besonderes mit ihm hätten.

Hm! versetzte er mit seinem nachdenklichen Lächeln. Es muß doch wohl nicht ganz »ohne« sein. Davon kann ich Ihnen etwas erzählen.

Er setzte sich zurecht und machte seine gewohnten Vorbereitungen, indem er statt des Sacktuchs, das ihm als Teppich diente, ein großes Blatt aus dem Gebüsche holte und sich hierauf mit einer frischen Prise versah. Ich nahm gleichfalls in meiner halb sitzenden halb liegenden Stellung einen kleinen Wechsel vor, um einen desto ruhigeren Zuhörer abzugeben; und der Dicke, der noch nicht ganz hinüber war, legte sich gähnend, mit dem Kinn in der Hand, auf unsere Seite. Mit dem rechten Auge schlief er fort, mit dem linken hörte er – da hier ein Sinn dem andern aushelfen mußte – der Erzählung zu.

Das nämliche was Sie da sagen, begann der Buchdrucker, hab' ich schon vor langen Jahren von einem Jugendgespielen gehört, mit dem ich aufgewachsen bin. Das war ein scheckiger Mensch, das einemal voll lustiger Flausen und wilder Sprünge, dann wieder still und duckmäuserig, als wenn er nicht fünfe zählen könnte. Ich kam als Lehrling in die Stadt, er verdingte sich in den Pferch. Zuletzt wurde er Schäfer auf dem Reissensteiner Hof, über dem Neidlinger Tal, da wo hinten das Tal sich verengt und der Reiffenstein mit seiner Ruine und der Heimenstein mit seiner Höhle einander gegenüber liegen. Dort blieb er einige Jahre, und lernte in Holz schnitzen, ganz aus sich selbst und für sich selbst, aber seine Kunst ward nach und nach in der Umgegend bekannt, und wie es im Leben wunderlich zugehen kann, so kam es am Ende, ich weiß nicht mehr durch welche Verbindungen, daß er ein vorteilhaftes Anerbieten aus Paris erhielt. Er brachte aber auch mit seinen mangelhaften Werkzeugen Dinge hervor, die ihresgleichen nicht hatten. So sah ich einen Stock bei ihm – das war ein Wacholder von einer Größe, die man selten sieht, tief unter der Heimenhöhle aus einer Felsenritze gegraben, man hatte dazu einen Mann an Stricken hinablassen müssen – diesen Wacholder hatte er zu einem wahren Kunstwerk umgearbeitet und in die mächtige Wurzel, welche die gekrümmte Handhabe des Stockes bildete, eine wilde Jagd geschnitzt, die von lebenden Figuren wimmelte. Oben, an der Spitze der Wurzel, jagte der wilde Jäger auf seinem Schimmel dahin, gestreckten Leibes, so daß man bequem hinter ihm die Handhabe erfassen konnte, eine gespensterhafte Gestalt von furchtbarem Aussehen, und doch schön dabei; das Roß warf beide Vorderfüße frei in die Luft, und aus seinen weiten Nüstern erwartete man Feuer fahren zu sehen; dem Reiter aber folgte eine Flucht von Hirschen, Rehen, Eulen, Hunden und geschuppten Drachen, alles so fein gearbeitet und so natürlich, daß man jeden Augenblick meinte, sie könnten aus dem Stock herausspringen. Ich hätte weiß nicht was darum gegeben, wenn ich das Stück hätte behalten dürfen, aber er schien selbst daran zu hängen, und da er sehr gutherzig war, so mochte ich ihn nicht mit Bitten beschweren. Das kostbare Werk hat ihn nach Paris begleitet. Dort ist er verschollen, ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Nach seinem Abschied vom Reissenstein suchte er mich auf, und dort drunten auf dem Hügel, den ich vorhin dem Herrn Dicken habe zeigen müssen, vor dem einzelnen Wirtshaus, am Steintisch in dem Baumgarten, dem Gebirge gegenüber, dort brachten wir einen vergnüglichen Herbstabend miteinander zu. Ich hatte mir was drauf zugute getan, daß ich als Handlanger der Musen etliches aufgeschnappt hatte und vielleicht ein wenig gewählter reden konnte als mancher andere meinesgleichen: ihm aber konnte ich das Wasser nicht reichen, er sprach wie ein Buch. Der Himmel weiß wie es ihm angeflogen ist, hat er zur Winterszeit auf seinem Hofe verlegene Bücher gefunden oder ist ihm ein Pfarrer in der Gegend an die Hand gegangen. Er tat mit allem was er wußte sehr geheimnisvoll, und sagte nicht woher er's hatte; noch weniger ließ er sich, wenn man ihm Zweifel entgegensetzte, in einen Streit ein, vielmehr schien es ihm ganz gleichgültig, ob man ihm glaubte oder nicht. So machte er's auch, als ich gegen die Geschichte, die er dort vorbrachte, nachher einige Bedenken äußern wollte; er lachte nur und ließ eine frische Flasche kommen. Dort nämlich, nachdem er lang' zu den Bergen hinübergeschaut hatte, die in der herbstlichen Luft so nah und greifbar vor uns lagen, hub er an, die Hoheiten da drüben seien nicht immer so unbeweglich dagestanden, wie sie jetzt erscheinen. Doch ich will mit seinen eigenen Worten berichten.


Ich weiß das anders, sagte er, und hab's in einer sonderlichen Stunde erfahren.

Als Reissensteiner Schäfer bin ich dort herum überall hingekommen, nur nicht auf den Reissenstein selbst, wiewohl der Meierhof gleich hinter ihm liegt, kaum einen Gedanken entfernt. Ich hab' auf dem ganzen Berg dort, wo er das Tal schließt, durch Heide und Wald herumgeweidet, bis auf die andere Seite, wo der Heimenstein mit seinen herrlichen Futterkräutern liegt. Oft und viel bin ich in seiner Höhle gewesen, die sich gegen das Tal öffnet, so daß man wie zu einem großen Fenster hinausschaut und gegenüber den Reissenstein aus Wald und Felsen aufsteigen sieht, gerade wie zwei Häuser auf den beiden Seiten einer breiten Straße gegeneinander über liegen, nur daß statt der Blumenscherben ganze Bäume im Fenster stehen. Bin vorgekommen bis auf den Breitenstein, von dessen Zacken man vorwärts in die weite lachende Landschaft und links über die Berge sieht; die Teck streckt sich weit hinaus; hinter ihr halb versteckt lauert der Rauber; vom Neufen ist nur die Spitze sichtbar, die wie eine große steinerne Blume aus der Hochfläche herauszuwachsen scheint; und weiter drüben sieht der Kopf der Achalm über den Gebirgsstock herüber. Bin auch im kleinen Tal gewesen, das hinter unserem Hofe liegt, am Drackenstein, der mit seinen »Duftsteinfelsen« ein eigenes niedliches Gebirge im Tale bildet. Kurz, überall bin ich herumgekommen, nur, wie gesagt, die paar Schritte nach dem Reissensteiner Felsen selbst hat sich's nie tun wollen, sei's, weil der Mensch dahin wo er am nächsten hat am wenigsten kommt, sei's, weil das alte Gemäuer nicht den einladendsten Zugang hat.

Nachdem ich aber die Schippe niedergelegt und die Herde übergeben hatte, um meinen eigenen Pferch anderswo aufzuschlagen, wollte ich doch nicht so unbekannterweise von dem Schloß abziehen, das den Riesen Heim sein schweres Geld gekostet haben soll. Ich hatte noch einen aufrechten Valettrunk mit dem Meier getan; wie der aber, um seinen Dusel versausen zu lassen, sich auf die Bank legte – was er mühselig von mir gelernt hatte, denn niemand versteht bequem auf der Bank zu liegen, als ein Schäfer – so griff ich zu meinem Gehstab und schlug den Weg zur Linken statt zur Rechten ein. Durch Wald und widerwärtiges Gesträuch kommt man zu dem Felsen, der hier mit dem festen Land zusammenhängt, sonst aber nach allen Seiten abgeschnitten und jäh ins Tal abfällt. Zwischen Schutt, Gestein und Mauerwerk, das alles wie zusammengebacken ist, öffnet sich ein enges Loch, durch das man auf Händen und Füßen kriechen muß – froh darf man sein, wenn man nicht stecken bleibt – und dann steht man auf einmal im Schloßhof. Alles verwittert und verfallen, ohne Dach und Fach, daß Sonne und Mond hineinscheinen können. Man sieht noch Fenster und Türen in den Mauern, an einer inneren Wand auch ein Kamin, aber alles ist nach allen Seiten offen, daß der Wind nach Herzenslust durchstreichen kann. Nur ein großer Turm steht noch in seiner ganzen Höhe da, aber oben ist er auch zerbröckelt. An der vorderen Seite des Felsens sieht man durch Lücken in den mächtigen Wallmauern die senkrechte Tiefe hinab, aus welcher Bäume heraufstreben, die mitten im Gestein gewachsen sind. Gegenüber an der anderen Talwand gähnt die dunkle Öffnung im Felsen des Heimensteins. Unten aber, im Talschluß, ziehen viele silberne Fäden durcheinander; das sind die Quellen und Bächlein, die in zahllosem Geriesel zur Lindach zusammenfließen.

Ich war doch oft in der Heimenhöhle drüben ganz allein gewesen und hatte an nichts dabei gedacht, weiß also nicht warum mir jetzt in den Reissensteiner Mauern so kurios wurde. Vielleicht kam es ein wenig daher, das ich gewissermaßen eingesperrt war, denn das Schlupfloch war nur auf der Schneckenpost zu passieren, und dann fand auch ein kleiner Unterschied statt zwischen dem Herein und dem Hinaus. Im Hereinkriechen hatte ich die lebendige Welt hinter mir, und die, dacht' ich, wird dich nicht in Fuß beißen; was aber beim Hinausrutschen hinter einem drein kommen kann, wenn's auch nur eine Blindschleiche wäre, das weiß man nicht, und die Augen kann man nicht hinten haben, denn wenn man mit den Füßen voraus will, so bleibt man stecken. Ich kann nicht gerade sagen, daß ich Angst gehabt hätte, aber die Stille in dem öden grauen Gemäuer machte mich ganz verwirrt. Was aber noch viel stärker auf mir lag, das war eine wunderliche Mattigkeit, die mich gefangen nahm, und statt mich zum Tempel hinaus zu machen, mußte ich mich hinlegen, als ob ich ganz da zu Hause wäre. Ein weicher Moosfleck gab sich unter einer niedrigen Steinlinde, die mit andern Bäumen im Gebröckel und Malm aufgekommen war, als ob sie gleichfalls von je ihr Heimwesen da gehabt hätten.

Eine Zeitlang lag ich so in einer Art von Traum, ich weiß nicht wie lang', da hörte ich schwere Tritte, die in den untersten Gewölben des Felsennestes widerhallten, und – du magst mir nun glauben oder nicht – hinter dem Turm kam eine Gestalt hervorgestampft, die wie ein junger Turm neben dem alten stand. Nur war sein Aussehen nichts weniger als jung; das Angesicht hatte Furchen, ähnlich den tiefen Einschnitten, die sich durch Felsstücke hinziehen, Haar und Bart waren wie altes verblichenes Moos, ungekämmt und wie mit Steingeröll durchsät, Gewand und Glieder trugen die verwitterte graue Farbe des Gesteins. Wer mochte es sein als der alte Riese, der Bauherr des alten Nestes? Wie ich ihn so ansah, konnte ich's begreifen, warum die Türe so hoch oben im Turm ist, und war mir auch nicht mehr unglaublich, daß er den Schlossergesellen mit einer Hand frei zum Fenster hinausgehalten haben soll, um den fehlenden Nagel vollends einschlagen zu lassen.

Er schien nicht wohl aufgelegt, denn er brummte und bruttelte allerlei in seinen Bart, stellte endlich den Fuß auf ein Mauerstück, das ich nicht mit der Hand hätte erlangen können, wie auf einen Schemel, und bemühte sich den Schuh auszusuchen. Da aber seine Finger zu dick waren um hineinzukommen, so stellte er den Fuß wieder auf den Boden und zog den Schuh aus, indem er ihn gegen den anderen stemmte. Bis daher hatte er getan als ob er mich gar nicht sähe, und ich hatte mich auch nicht gerührt; jetzt aber schob er mir den Schuh hin und sagte mit einer Art, wie wenn wir alte gute Bekannte wären: Da, sieh einmal in dem Schuh nach, was mich so drückt.

Ich hielt es nun für gut, den Höflichen zu spielen, griff in den Schuh, der wie ein kleiner Badzuber aussah, aber ziemliche Löcher hatte, und brachte einen Stein hervor, aus dem man eine schöne Kegelkugel hätte drehen können. Dann stand ich auf und überreichte ihm den Fund manierlich, wiewohl ein wenig zaghaft, denn wenn er mir ihn ins Gesicht geschmissen hätte, so hätt' ich wohl in diesem Leben wenig Kopfweh mehr gehabt. Er warf aber den Stein weg und sagte bloß, derweil er wieder in den Schuh schloff: Hätt' nicht geglaubt, daß so ein Kieselbatzen so beschwerlich sein könnte.

Da er mich bei diesen Worten ansah, als ob er mich auffordern wollte, ich solle auch was sagen, so nahm ich mir die Freiheit und bemerkte: Ja, wenn unsereiner so ein Sandkörnlein im Stiefel hatte, damit würd' er nicht weit springen.

Er lachte, und das klang, wie wenn ein Wagen über ein hohles Pflaster fährt. Das will ich meinen, fügte er. Und doch, seit ihr uns nicht mehr zu fürchten habt, haltet ihr euch für die Herren der Welt.

Darauf fragte er mich aus, wie es auf Erden stehe, und ich gab ihm Bescheid, so gut ich konnte. Er schüttelte den Kopf und sagte: Wenn ich so von hundert zu hundert Jahren nachsehe, so ist's eben immer wieder das nämliche Lied, und will nimmer besser werden. In unseren Tagen ist wohl auch nicht alles gewesen wie es sein sollte, aber ihr Wichtlein und Würmer seid doch das ungerechteste und hochmütigste unter allen Geschlechtern, die nacheinander unter der Sonne dahingewandelt sind. Das beste war das älteste, das Geschlecht der ersten Riesen, mit dem ich noch gelebt habe als ein kleiner Knirps; denn ich gehöre schon zum zweiten Riesengeschlecht, bin aber der älteste von diesen, daher ich auch meinen Namen trage, weil ich vor allen meinen Brüdern hier daheim gewesen bin. Du mußt aber nicht meinen, ich sei damals kleiner gewesen als jetzt, nein, ich war nur ein Knirps gegen die Urriesen, die zuerst das Land inne hatten. Damals waren sie noch viel großer als jetzt. – Nun? unterbrach er sich, da ich ihn bei diesen Worten verwundert ansah, hast du sie noch nie gesehen, oder sind sie dir nicht groß genug?

Wer denn? fragte ich.

Krabbelst ja zwischen ihnen herum, erwiderte er, und siehst sie nicht? Meinst du denn, die seien immer so still und ruhig gewesen, wie jetzt, wo ihr sie für Berge haltet? Nein, die haben auch ihren Tag gehabt, und Händ' und Füß', so gut wie ich und du, und Leben und Lebenslust, und wenn sie zusammenkommen wollten, so haben sie nicht so viel Schritte gebraucht wie ihr Erdenkäfer. So groß sie aber waren, so waren sie doch wie Kinder, ohne Arg und Falsch, und die Zeit, die ich unter ihnen gelebt habe, ist meine beste gewesen. Aber alles hat sein Ende, und ein trauriges Ende hat selbiger alte Riesenstamm genommen, wie du ja noch heut' an ihnen sehen kannst. Ich will dir's erzählen, so gut ich's noch weiß, denn mein Kopf ist altersschwach geworden und mein Gedächtnis hat nachgelassen.

Er wollte sich's zu seiner Erzählung bequem machen, der alte Heim, und ließ sich auf ein Stück Mauer am Rande des Felsens nieder; ein Teil davon brach unter seinem Gewicht wie mürber Kalk zusammen, und ich fürchtete schon, es werde mit ihm in den Abgrund hinunterstürzen, aber er griff gleichmütig hinter sich und drehte sich mit dem Hauptstück, ohne aufzustehen, einwärts auf festen Grund, während die übrigen Trümmer krachend in die Tiefe polterten. Für das verfluchte Gemäuer hab' ich auch zuviel Baulohn bezahlt, sagte er mürrisch: das elende Zeug will nicht mehr halten. – Also, um wieder auf die Geschichte zu kommen, fuhr er fort, indem er sich zurecht setzte und, die Ellbogen auf die Kniee gestemmt, das Kinn in beide Fäuste legte. Du mußt nämlich wissen, daß es damals in der Welt zuging, wie es nachher auch jederzeit unter den Menschen gegangen ist, ich will sagen, es hat damals Liebschaften gegeben so gut wie jetzt. Die Namen erzählen dir ja davon, daß es unter selbigen großen Kindern Buben und Mägdlein gegeben hat; und daß es hoch bei ihnen hergegangen ist, das kannst du dir denken; nur konnten sie nicht so leis küssen wie die jetzige Welt, im Gegenteil, so einen Kuß hörte man stundenweit wie einen Wetterschlag, und alles lachte dazu und hatte seine Freude dran. Eine solche Liebschaft war auch zwischen dem Neufen und der Achalm, das war ein schmuckes, blutjunges Pärlein, und die ganze Sippschaft hatte ihre Lust an ihnen, nur nicht die Teck. Die war nämlich selber in den Neufen verliebt, was ihrem Geschmack auch gar keine Schande machte, denn der Neufen war ein schlanker, hochgewachsener Gesell, das sieht man ihm jetzt noch an, wiewohl sie alle miteinander im Lauf der Zeit ziemlich heruntergekommen sind. Das sah seinerseits wieder der Rauber ungern, der hatte sein Herz an die Teck gehängt, aber sie wollte nichts von ihm, denn er war ein windiger Bursche, der einzige von allen, der nicht sauber unterm Brusttuch war, und man sprach wenig Gutes von seiner Lebensart. Der Neufen aber fragte nichts nach der Teck, weil er alle seine Sinne bei der Achalm hatte, nicht, als ob es schon zu einem Einverständnis zwischen ihnen gekommen wäre, denn sie waren gar schüchtern gegeneinander, doch sahen sie sich allezeit an und gingen einander auf allen Schritten und Tritten nach. Alle die anderen wußten ihr Geheimnis besser als sie selbst, und freuten sich auf die Stunde, wo sie einmal Laut geben würden. Nun weiß ich nicht mehr recht, wie es kam – richtig ja, es gab Verdruß am Rhein, oder vielmehr am großen Landsee, denn das war der Rhein damals noch. Die überm See drüben waren ein unruhiges Volk, wie's ja die Franzosen nach ihnen bis diesen Tag geblieben sind. Sie hatten einen König, was die Unseren nicht hatten, den setzten sie immer wieder ab und wieder einen anderen ein mit lauter Possen und Gelächter, bis sie zuletzt einen bekamen, der stärker war als sie und dem sie gehorchen mußten. Der wollte nun auch die Nachbarn in sein Joch schirren, und machte den Anfang mit dem Volk am See, das auf beiden Ufern wohnte und zu den Unsrigen gehörte. Als er aber Unterwürfigkeit von ihnen verlangte, schossen sie in ihrer Not zu den Unseren einen Farrenbaum herüber, denn was jetzt Kräuter sind, das waren damals riesengroße Bäume. Der Baum kam geflogen, stand eine Weile auf dem Kopf oder vielmehr auf den langen Rippen, streckte die Wurzeln in die Höhe und fiel dann langsam zu Boden. Das war ein Zeichen, daß es bei dem Seevolk drunter und drüber ging, und daß Hilfe nottat. Also wurde der Zuzug beschlossen und alles brach in Eile auf. Der Neufen aber, ehe er mit den andern zu seiner ersten Waffentat auszog, gedachte er seiner Achalm ein Andenken zu hinterlassen; er hatte nämlich schon längst ein großes Stück Gold gefunden, das er mühsam verarbeitete, denn eiserne Werkzeuge gab es noch nicht; manche Nacht hatte er daran geschmiedet und Glied um Glied zu einer Kette gefügt; nun machte er die Arbeit geschwind vollends fertig und gab seinem Schatz die Kette zum Abschied. Du mußt aber nicht glauben, das Metall, aus dem die Kette war, sei das trübe, schlechte Gold gewesen, um das sich die Menschen jetzt plagen, nein, es war etwas ganz anderes, viel lichter und besser von Art; es wird nicht mehr auf Erden gefunden, aber in der Tiefe liegt es noch, und verschmilzt in die Gewächse, die aus dem Boden kommen; ihr esset's im Korn, ihr trinket's im Wein; auch in die edlen Gesteine ist es verwachsen. Die Achalm nahm die Kette mit Freuden an und hing sie um den Hals, der Neufen aber zog eilig fort, den anderen nach. Als nun die Teck bei der Achalm die goldne Kette sah, an der sie den Neufen hatte schmieden sehen, weil sie ihn immer belauschte, da ward sie sehr unmutig. Der Rauber aber, der feigerweise nicht mit in den Krieg gezogen war, dachte auf eine schnöde Meintat. Ob er sie mit der Teck verabredet hat, weiß ich nicht; jedenfalls aber meinte er in seiner Verblendung, er werde sich ihr angenehm machen, wenn er es dahin brächte, jene beiden zu entzweien. Indessen ging der Feldzug an. Das war aber kein menschenfressender Krieg wie jetzt, er fraß höchstens Wälder, denn die Kämpfer warfen einander Bäume an den Kopf, und balgten sich, daß es eine Art hatte, aber niemand blieb, obgleich man eine solche Schlacht mit ihrem Getöse ganze Länder weit hören konnte. Darum wurde der Krieg damals auch nicht als ein Unheil angesehen, wofür er doch in den besten Heldenzeiten immer gegolten hat; aber er war nur zwischen Volk und Volk, und nie zwischen nahen Freunden, die einander kund waren und ein Volk ausmachten. Es lief jedoch eine alte Prophezeiung um, ein schwerer und tödlicher Hader werde dereinst überall unter den nächsten Freunden ausbrechen, und dann werde die Welt untergehen. Die Prophezeiung kam von einem betagten, gebückten Riesen her, der sonst wenig redete; sie nannten ihn nur den Alten; jetzt ist er einer von den Sattelbogen, die zwischen den Bergen liegen; der Weg von der Achalm zum Neufen führt über ihn. Der nämliche hatte auch wider diesen Zug gesprochen, weil von Urzeiten her zwischen den beiden Völkern eine Blutsverwandtschaft sei, die ihnen den Krieg verbiete; aber man hatte nicht auf ihn geachtet und, weil es nottat, auch nicht auf ihn achten können. Nun, die Schlacht war gestritten, der König überm See mußte mit einer meilenlangen Nase abziehen, und die Seinigen haben ihn richtig unterwegs noch abgesetzt. Die Unsrigen zogen gleichfalls heim, mit ihnen der Neufen. Der hatte sich ritterlich gehalten, war von männiglich belobt worden und freute sich, vor der Achalm in seinem Kriegsruhm zu erscheinen. Auch war er kecker geworden bei den Oberrheinischen, und gedachte jetzt weniger Umstände zu machen als zuvor. Aber in der Nacht, eh' er ankam, vollbrachte der Rauber sein sauberes Stück. Er lauerte bis die Achalm eingeschlafen war, dann schlich er hinzu und stahl ihr die goldne Kette. Das war der erste Diebstahl in der Welt; vorher war alles Eigentum frei und ohne Gefährde auf den Hügeln umhergelegen, denn Berge hatte die Erde noch nicht. Ich ritt damals gerade auf dem Rücken des Sattelbogens und sah im hellen Mondenschein alles, was vorging. Aber ich durfte mich nicht dareinmischen, sie hätten einen Däumling, wie mich, zertreten, wenn ich ein Wort in ihre Sachen geredt hätte, denn sie waren trotz ihrer Gutherzigkeit alle miteinander gar stolz, und nur der Sattelbogen ließ etwas mit sich anfangen, der alte, träge Kerl, der immer auf der Nase lag und schlief. Deswegen trommelt' ich ihm mit den Füßen auf dem breiten Teil herum: »Alter, auf und leid's nicht!« rief ich; aber er tat einen Schnarcher, daß sich alle Bäume bogen, und streckte sich noch länger aus. Da mußt' ich's denn ins Kuckucks Namen geschehen lassen. Wie nun frühmorgens der Neufen ins Land kommt, den anderen voraus, zitternd vor Ungeduld – das erste, was er zu Gesicht kriegt, ist dir der Rauber, der mit der goldenen Kette vor ihm herumstolziert. Dem gab er einen Tritt, daß er der Länge nach zu Boden fiel. Da war das Aufstehen eine schwere Sache. Dann warf er einen Blick auf die Achalm, die ihm voll Freuden entgegenkam, nur einen einzigen, und dann blieb er trotzig stehen und sah sie nicht mehr an. Die Achalm, da sie die Kette am Rauber sah, merkte sogleich, wie sich die Dinge verhielten: aber sie war zu stolz, um sich zu rechtfertigen, und daß ihr der Neufen kein besseres Vertrauen bewies, das kränkte sie so, daß sie sich auch abwandte und ihren Schatz nicht mehr ansah. Da schritt der Staufen herzu, der eben mit den anderen aus dem Kriege zurückkam, und wollte den Streit beilegen; jedoch der Neufen stieß ihn zornig zurück, denn es war bis dahin noch nicht vorgekommen, daß sich einer ungefragt in die Händel des anderen einmischte, und hatte jeder sich vor dem Schein gehütet, als ob er Richter und König werden wollte. Durch den letzten Krieg aber war alles wie verschoben und verkehrt worden, und es waren doch vorher viele Balgereien in der Welt gewesen. Wie die Teck das Unheil sah, das der Rauber angerichtet hatte, nahm sie ihm die goldne Kette ab und warf sie der Achalm entgegen. Diese aber stampfte das Kleinod mit Zorn und Haß in den Grund des Bodens, wo es noch jetzt verborgen liegt, und aus ihrem Munde ging ein feuriger Atem, daß es alle mit Grausen sahen. Da brach auch dem Neufen die rote Glut aus Mund und Nase, und der Staufen, der ergrimmt von ihm weggegangen war, begann gleichfalls Feuer und Flammen zu speien. Die Feuerströme aber schossen immer höher in die Lüfte, und von dem Rauchdampf ward es Nacht, und in dieser Nacht stiegen rings umher in allen Fernen die gleichen Feuerzeichen auf. Da gedachte alles Volk der Weissagung und erkannte, daß in allen Landen zu gleicher Zeit der innere Hader ausgebrochen und auf den lustigen Krieg der traurige gefolgt war; und eine Angst kam über sie, daß ihre mächtigen Gebeine erzitterten, stärker, als wenn ein Erdbeben den Grund bewegt. Der Feuerqualm erlosch endlich und es wurde wieder Tag, aber alle wußten, daß es ihr letzter war. Da kehrte sich die Achalm noch einmal mit halbem Leibe gegen den Neufen herum und hub an bitterlich zu weinen, und der Neufen weinte mit, und alles Volk weinte, und den Bäumen standen die Tränen in der Rinde, als sie ihre Fürsten so betrübt sahen, und die Erde weinte brausende Fluten aus ihren Tiefen und der Himmel öffnete seine Schleusen, und die ganze Welt wurde zu einem Meer, das wuchs und stieg immer höher und schwoll endlich über die höchsten Bäume hinaus. Als mir's zu arg geworden war, hatte ich mich auf eine Fichte hinaufgemacht – zehn der heutigen geben keine solche, denn sie war zwanzigmal so groß als ich – und hatte droben das Fallen der Gewässer abwarten wollen. Die aber rissen zuletzt den Weltsbaum mit samt den Wurzeln aus, so daß er mein Schiff wurde, auf dem ich in den Fluten trieb. Einen umherschwimmenden Schaft, dergleichen jetzt nur Halme sind, der aber dick und lang wie ein Balken war, nahm ich zum Ruder, aber die Strömung riß mich mit meinem Fahrzeug fort. Aus weiter Ferne sah ich noch einmal das Riesenvolk; es hatte sich zusammengedrängt, wie jetzt eine Herde Schafe vor dem Gewitter sich aneinander schmuckt, und die Wasser leckten schon nach ihren Häuptern empor. Endlich sah ich nichts mehr und trieb lange Tage auf der Flut umher. Die Kurzweil war nicht groß, aber ich labte mich mit dem Wasser, das frisch und rösch wie eure Sauerbrunnen schmeckte. Da kam aber über einmal ein harter Frost, der erste Winter, den ich erlebte, und bald war alles Stein und Bein gefroren, das Meer, so daß ich mit meinem Schiff im Eise steckte, und das Mark in meinen Knochen, so daß ich, mit dem Kopf in den Fichtenzweigen liegend, entschlief. Wie ich wieder zu mir kam, war die Flut geschmolzen und abgelaufen, und ich erwachte zwischen den Trümmern meines Baumes, der zu Modererde geworden war, hier auf dieser Riesenfaust, wo ich mich hernachmals angebaut habe. Ich war aber sehr verwundert, daß ich auf einer Höhe stand und in ein Tal hinabsah; denn zuvor war alles Land fast so gut wie eben gewesen. Da stieg ich hinunter und watete durch Sumpf und Moor in die Ebene hinaus, und nun, wie ich mich umsah, erkannte ich erst was geschehen war. Das Riesenvolk war zu Bergen geworden, alles tot und still und ausgestorben. Gerade wie sie bei dem Untergang ihrer Welt gestanden waren, so standen sie und so stehen sie jetzt noch: der Neufen stolz und in sich gekehrt; die Achalm schaut halb umgewendet nach ihm hin; die Teck hat sich, den Leib nach hinten gestreckt, auf die Ellbogen gelegt, und sieht immer noch drein, wie es wohl gehen werde; hinter ihr schielt der Rauber mit bösem Gewissen hervor, und hat alle Ursache dazu, denn er hat nachher sein schlechtes Handwerk fortgetrieben oder es wenigstens andern zugelassen und ihnen einen Schlupfwinkel gestattet; und drüben steht der Hohenstaufen mit seinen beiden Brüdern abgesondert, wie er damals vom Neufen weggegangen war, aber keck und frei, denn er hat's doch noch so weit gebracht, daß er König und Kaiser über alle wurde. Der große Haufen aber steht noch wie damals, als die Not über sie hereinbrach, zusammengedrängt und nach und nach ganz ineinander verschmolzen und eingesunken, so daß man an den meisten keine Gestalt mehr wahrnehmen kann; sie sind zum Grundstock des Gebirges geworden, die Erde hat sie überkleidet, und Gras und Wälder sind über ihrem Schicksal gewachsen. Damals aber waren die meisten noch zu erkennen, nur hatten die Gewässer an ihnen genagt und gewaschen, und ihre Knochen und Zähne waren in Gestein und Felsen verwandelt. Ich stieg weit und breit zwischen ihnen herum, und es erbarmte mich ihrer, aber noch mehr erbarmte es mich meiner selbst, daß ich nun mutterseelenallein war in der Welt. Aber bald spürte ich etwas, das noch stärker war und mich an nichts anderes denken ließ. Du mußt nämlich wissen, daß vor der Flut und Kälte vom Essen keine Rede war, und daß ich wie alle andern von der Luft und vom Wasser gelebt hatte. Nun aber war eine Veränderung in mir vorgegangen und ein allmächtiger Hunger war über mich gekommen. Aber es war bereits für mich gesorgt. Auf den Hügeln über den Sumpfgründen waren, derweil ich noch schlief, Fruchtbäume gewachsen, anders gestaltet als die vorigen Bäume, die nur Blüten getragen hatten, und gelbes Getreide war aufgeschossen, das ich zwischen Steinen zermalmen und bereiten lernte. So hatte ich Essen im Überfluß, und hätte gern geteilt, wenn ich nur Mitesser gefunden hätte. Aber auch diese stellten sich ein. Aus den Felsen wuchsen Riesen und Zwerge hervor, woran ich sah, daß den Bergen noch Trieb und Lebenskraft innewohnte. Das ist das zweite Riesengeschlecht, das jüngere, kleinere, zu dem ich mich rechne, obwohl ich von anderer Herkunft bin. Dann kamen die Menschen, die wuchsen aus Bäumen, tief im Wald, und vermehrten sich schneller als uns lieb war; aus dem Schlamm der Sümpfe und Moraste aber sind die Tiere gewachsen. Nun war wieder Leben in der Welt, aber mit dem Leben zog auch das Unrecht wieder ein und wurde viel größer denn zuvor, so daß ich oft meine stillen Urriesen ansehen mußte und denken: wenn den lebenden Geschlechtern mit dem gleichen Maß gemessen würde wie euch, so müßte die Welt jeden Tag zweimal untergehen, morgens und abends. Das sag' ich absonderlich von euch Menschlein, die ihr's zuletzt gewonnen und das Feld behalten habt, denn die Zwerge sind vor eurem Übermut in die Steinwände verschlossen, und von den Riesen bin ich einer noch übrig und werd's auch nicht mehr lang' treiben. Ich hab' wenig Freude an euch erlebt. So lang' ihr den Wisent auf den Bergen jagtet, war noch etwas von alter Riesenart in euch; seit ihr mir aber meinen Felsensitz gebaut habt um Lohn aus meinen Schatzgewölben, ist der Geist des Hungers, der mit euch auf die Welt gekommen ist, immer größer in euch geworden. Eure Ritter, mit deren Heldentaten ihr wunder wie prangen wollt', was sind sie anderes gewesen als Prozeßkrämer, die um's Mein und Dein aufeinander loshackten, denn das waren alle ihre Fehden, und bei ihrem Heldentum war das Geschrei größer als die Wolle, denn ich sah es oft mit an, wie sie einander stärker auf den Schild klopften als auf die Haut. Seit ihr aber vollends Geldwechsler und Krämer geworden seid, die einander im Frieden unterdrücken, kann euer letzter Tag nicht mehr ferne sein. Von euch ist jede Kraft gewichen, die da schätzen könnte, was eins dem anderen wert sein sollte. Geiz und Gier, Neid und Haß und Falschheit sind euer täglich Brot. Aber nur Geduld, alte Liebe rostet nicht. Schau, die Achalm, wiewohl man ihr immer noch ansieht, wie schön sie einst gewesen sein muß, ist jetzt eine alte Jungfer mit einem tüchtigen Raffzahn und mit eingesunkener Brust, und doch kann sie's nicht lassen, immer noch mit halbem Leib nach ihrem alten Schatz zu blicken. Dem Neufen geht es ebenso: vor vielen hundert Jahren, wenn ich in stiller Nacht vorüberging, und sein Ritter im Schlosse droben ein Liebeslied zur Harfe spielte, da hört' ich oft, wie er von einem tiefen Widerhall in seinen Gründen erzitterte, und später vernahm ich auf meinen nächtlichen Gängen manchen Seufzer aus seinem Innern, nicht bloß von den Gefangenen, die er ungern genug in seinen Eingeweiden beherbergte. Ja, es wird nicht immer so bleiben: die Berge sind nicht so tot wie sie aussehen! Aus den Quellen und Flüssen, die sie hervorstoßen, kann man abmerken, daß noch Leben in ihnen ist; auch hör' ich wohl, wenn ich in der Nacht vor ihnen stehen bleibe und horche, daß in ihrem Innern noch die Herzen schlagen, und gib acht, gib acht! sie halten's nicht aus, einander ewig so anzusehen, sie reißen sich gewiß noch aus ihren Wurzeln und schreiten aufeinander zu und werden wieder jung, denn alte Liebe rostet nicht! Dann aber wird eure Welt untergehen, wie einst die ihre untergegangen ist, denn wo die herumwandeln, da ist kein Platz für euch, und ohnehin, wenn die Wasserkammern zu ihren Füßen aufbrechen, so wird's ein Seelein geben, daß euch nicht bloß bis an den Hals geht, und ein Bad, in dem ihr euren Golddurst löschen werdet. Wenn ihr nur auch wüßtet, was das Gold und Silber ist, dem ihr so hitzig nachzujagen verdammt seid, ihr würdet das Angstding wahrhaftig nicht in die Hand nehmen. Aber das ist ein Geheimnis, das eurem Witz und Hochmut hat verborgen bleiben sollen, damit ihr einmal recht zu Schanden werdet. Oder kannst du ein Geheimnis bei dir behalten?

Der Riese dämpfte bei diesen Worten seine Stimme, daß sie mir gerade vorkam wie die große Baßpfeife, wenn die Orgel aufhört und das Pedal noch eine Weile allein fortbrummt; daher, wenn die Worte auch nicht ganz so leis klangen, wie es vermutlich seine Absicht war, so klangen sie doch so geheimnisvoll, daß es mir ganz eng um die Brust wurde. Ich dachte, jetzt werd' ich doch auch einmal etwas erfahren, was der Mühe wert sei. Ja, rief ich mit allem Nachdruck, ich kann's für mich behalten!

Ich auch, sagte er, und stieß ein Gelächter aus, daß Turm und Mauerwerk schüttelten. Ich schluckte einen Fluch hinunter, daß er mich so drangekriegt hatte, und lachte mit, um ihn bei guter Laune zu erhalten.

Wenn ich so von Quellen und Fluten rede, hob der alte Heim nach einer Weile wieder an, so wässert mir gleich der Mund. Zudem hat mich das lange Reden durstig gemacht. Ich muß doch nach meinem Keller sehen; ich sag' dir, da drunten hab' ich noch ein paar Mutterfäßlein liegen, so was find't man in keinem Hofkeller. Du kannst's auch versuchen.

Er tappte an den Löchern im Boden umher, aber er konnte mit den Riesenarmen, die so dick wie mäßige Eichenstämme waren, nicht hineinkommen. Das Zeug, brummte er, verstopft sich immer mehr, am Ende komm' ich gar noch um meinen Wein; da will ich mich lieber einmal einen Tag hersetzen und will ihn vollends wegbürsten. Er sah sich um, schob einen Felsblock weg, unter welchem eine breite Öffnung sichtbar wurde, legte sich platt auf den Boden nieder, wobei er die Beine über den Felsrand hinaushängen ließ, griff hinunter und brachte keuchend ein großes, länglichrundes Gestein in Gestalt eines Fasses herauf. Sieh, sagte er, das war einst ein Faß! Seine Dauben waren dicker als jetzt eure Küfer sie machen, und doch sind sie abgefault, von den schweren Eisenreifen sind nur noch ein paar Splitter da, aber mein Wein ist mir getreu blieben und hat sich selbst von innen her ein steinern Haus gezimmert; da sieh her, sieh, so sieht ein weinsteinernes Weinfaß aus. Ich muß nur ein Stück herunterbeißen, daß ich dem Trunk beikommen kann.

Er tat einen Biß in die Ecke des Fasses, daß es knirschte und krachte, ein heller, voller Weinstrahl schoß heraus und beregnete ihn, daß ihm Haar und Bart wie von Perlen glänzten. Dann setzte er an, und einen guten Zug hatte er noch zu seinem Alter; seine Kehle arbeitete wie ein Blasbalg. Das Faß war wenigstens zur Hälfte geleert, als er's absetzte; er bot es mir mit einem freundschaftlichen Gurren hin, denn sprechen konnte er noch nicht sogleich.

Dank' Euch, Vater! sagt' ich scheu, denn ich traute dem Wesen doch nicht ganz: ich geh' nicht gern weit hinter den Ferndigen zurück, ich kann den Alten nicht wohl vertragen, und zudem so ist mir das Mundloch zu weit, und einen Weindieb haben wir nicht bei der Hand.

So laß bleiben, wenn du nicht magst, murrte er. Da muß ich eben den Rest vollends selber versorgen, denn lang' hält sich der Wein doch nicht mehr, nun das Faß ein Loch hat.

Er hob es noch einmal mit beiden Armen zum Mund, und ließ so lang' laufen bis er's senkrecht über sich hielt; ich hätte für die Nagelprobe stehen mögen. Dann setzte er's mit einem schweren Atemzug ab, schwang es in der einen Hand und warf es nach dem Heimenstein hinüber, an dessen Felsenkrone es in tausend Stücke zerschellte.

Hättest du getrunken, sagte er dann, so wär' dir in deinem dunklen Kopfstüblein ein Licht aufgegangen. Weißt du denn nicht, was das Sprichwort sagt von der Wahrheit im Wein? Das ist ja eben das Urgold, das in ihm steckt. Aber von dem hat der meine etliche Karat mehr als euer Rachenputzer, das hättest du dir denken können. Nun, wer nicht will der hat gehabt, das ist auch ein Sprichwort. Du hast das Nachsehen, und laß dir's nicht einfallen, etwa hier nachzugraben; ohne mich findest du meinen Keller nicht. So, jetzt muß ich um ein Haus weiter, ich muß heut noch ein paar Felsenlöcher visitieren. Gehab' dich wohl, heut' über hundert Jahr komm wieder her, da triffst du mich vielleicht, wenn wir bis dahin noch beide frisch und munter sind.

Er hob den Fuß, und da war es nun wunderbar, wie lang der Fuß aus dem Leib herauswuchs und sich über das ganze Tal hinüberstreckte bis zum Heimenstein. Eine bequemere Stelzengängerei hab' ich in meinem Leben nicht gesehen. Doch lief das Ding nicht ganz eben ab, denn wie er hüben dem Fuß nachwollte, der schon drüben aufstand, stieß er mit Macht an den Turm, sei es, daß ihm die Weinfeuchte doch ein wenig in den Kopf geraten war, oder daß ihn eine kleine Altersschwäche anwandelte, und dicht hinter ihm fiel ein Haufen Quaderstücke herab. Aber das verschlug ihm nichts, er war noch fest auf den Füßen. Gib acht, brummte er, es will hier schon lebendig werden; da hab' ich nun, was man so sagt, ein Eck mitgenommen. Er lachte laut auf und mit einem Schritt war er drüben auf dem Heimenstein, und verschwand dort hinter der Felsenwand. Sein Lachen aber rollte wie ein Donner dahin, brach sich am Gebirge, kehrte im Umkreis des Tales immer näher und stärker wieder zurück, und jetzt ging's auf einmal Krach und Schlag wie aus hundert schweren Stücken über mir los. Ich sprang auf, und war wie verblendet, denn vorhin war's noch Tag gewesen, aber jetzt stand ich in einem falben Zwielicht, und in diesem sah ich den Turm beben und wanken; er seufzte wie in seinen Grundfesten erschüttert; Schutt bröckelte an ihm herab, und es kam mir vor, das ganze Trümmerwerk neige sich zum Einsturz.

Nun wollte es mir in dem alten Riesenneste nur noch halb gefallen, ich machte, daß ich von dannen kam. Das Schlupfloch war mir zu eng und umständlich für meine Eile, und es ist die Frage, ob ich's in der Geschwindigkeit gefunden hätte. Mir blieb nur eine Wahl. Die Flucht hatte mich an einen Absturz geführt, da wo der Fels sich vom festen Lande scheidet. Aber die Kluft war zu breit zum Sprung, wenigstens für einen, der den Fuß nicht nach Belieben wie ein Fernrohr herausschieben kann. Zur Rechten stieg eine Mauer senkrecht aus dem Fels herauf; sie war zu hoch zum übersteigen und unzugänglich an ihrem Fuß; aber von der Mauer springt der Fels, wo sie mit ihm verwächst, mit einer Platte hervor, die zwar abschüssig ist, doch in der Mitte eine Vertiefung hat, wie einen Tritt, so daß man zur Not darauf Fuß fassen und auf diese Art in zwei Sprüngen statt in einem über die Kluft setzen kann. Fehlen darf man nicht, sonst geht's über die Felsen ins Tal hinunter. Zum Glück hatte ich keine Zeit mich zu besinnen, denn eben fing das Getöse wieder an. Ich faßte die Felsplatte in beide Augen, um den Abgrund nicht zu sehen, und sprang fest auf; der Schwung war so stark, daß ich gar nicht anders konnte, sondern gleich den zweiten Sprung machen mußte. Den möcht' ich nicht noch einmal tun, denn er ging ein wenig aufwärts, aber drüben war ich, und hatte zum Überfluß noch mit den Händen den grünen Boden gefaßt. Jetzt war ich wieder wo ich hergekommen war. Wie ich mich aber aufrichtete, war mir's doch auch, als ob der ganze Berg unter mir in Bewegung käme. Zu verlieren hatte ich nichts mehr da oben, griff nach Stock und Bündel, die ich vor dem Eingang gelassen hatte, und fuhr den nächsten Weg ins Tal wie auf einer Rutschbahn hinab. Es war ein Holzriß, der mich in kurzem an den Wasserfall brachte. Da mich meine Kniee nicht weiter trugen, und alles still war, so warf ich mich dort einen Augenblick ins feuchte Gras und kühlte mir Gesicht und Hände mit dem Bergwasser. Doch war auch da meines Bleibens nicht, denn abermals krachte es über mir, wie wenn der Reissenstein mit Turm und Mauern und Felsen auf mich herabkommen wollte, und mit ein paar Sätzen war ich vollends im Tal. Mit sinkendem Abend machte ich mich zum Tal hinaus, während es unaufhörlich hinter mir tobte, und erst jetzt merkte ich, in was sich der Lärm verwandelt hatte: es war ein spätes herbstliches Gewitter, das dem Sommer seinen Abschied gab. Aber ich wußte darum doch, wer mir das Donnerwetter auf den Hals geschickt hatte, denn ich hatte ja in dem alten Riesenschloß droben gelernt, daß, um gleichfalls ein Sprichwort anzuwenden, mit großen Herren, auch mit den besten, nicht gut Kirschen essen ist. Als jedoch das Gewitter nachgelassen hatte, blieb ich stehen und sah zurück. Da lag der alte Turm weit hinten überm Tal, und durch zwei gegenüberliegende Fensterlücken blinzelte ein Sternlein durch, so freundlich, das es mir fast vorkam, der alte Riese schaue mir nach und grüße mich noch einmal.

Also lautete des Buchdruckers oder vielmehr seines Schäfers Erzählung, wenn ich sie recht im Gedächtnis behalten habe. Kaum war sie beendigt, so erhob sich der Dicke auf den Ellbogen und ließ, was er meisterlich verstand, einen gellenden Pfiff durch die Faust ertönen, so daß sämtliche Schläfer fast zugleich auf die Beine sprangen. Es war in der Tat an der Zeit, den Gipfel zu verlassen, den bereits die Nachmittagssonne von der anderen Seite zu umwandeln begann. Im beliebten Pfeilschusse ging's die steile Höhe hinab, und die zuerst unten angekommen waren, stellten sich mit ausgebreiteten Armen auf, um unter Lachen und Jauchzen die Nachschießenden aufzufangen. Der Berg verbreitete sich allmählich in sanfteren Absätzen, bis uns die Straße aufnahm, die bequem, aber immer noch hoch hinabführte und nach den Bergen, von welchen die Erzählung gehandelt hatte, eine offene Aussicht bot.

Mit einem Sonnensteine, den er gefunden hatte, – man hält den Strahlenkranz darauf für ein Spiegelbild der Sonne – lockte der Dicke mich unterwegs vom Buchdrucker weg, um dessen Erzählung herunterzumachen. Du, das ist aber dummes Zeug! begann er, nachdem er fruchtlos den schönen Stein zerschlagen hatte, um das Gold daraus zu gewinnen, das ihm angedichtet wird. Wie können denn die Berge einmal Menschen oder wenigstens so etwas wie Leute gewesen sein? Sie haben ja gar keine Gestalt darnach.

Aber, entgegnete ich, warum legt man ihnen denn heut' noch Glieder bei, wie sie nur lebendige Wesen haben, Kopf, Hals, Rücken, Fuß und dergleichen?

Ei, das sind bloße Metaphern! erwiderte mein Grundgelehrter. Und dann vollends wegen einer Liebschaft zwischen zwei Bergen und wegen einer goldenen Kette soll die Sündflut über die Welt gekommen sein! Das kommt mir doch spanisch vor!

Man hört alle Tage von nichts als von dummen Liebschaften, wie kann's also eine gescheite geben? wendete ich ein. Und was die Kette betrifft, so sind schon aus geringeren Ursachen Händel und ganze Kriege entstanden. Du hast ja aber gehört, daß die Welt auch ohne das untergegangen wäre, weil überall die goldene Zeit von ihr gewichen war.

Ja, aber aus der Bibel weiß man das alles ganz anders, rief der hartnäckige Gegner. Was untersteht sich dieser Riese dem Noah ins Handwerk zu pfuschen und gar auf dem Reissenstein zu landen statt auf dem Ararat? Der Ries' ist ein Renommist, und weil er sich recht steinalt machen und von älterem Datum sein wollte als seinesgleichen, so hat er dem Schäfer einen Bären aufgebunden. Oder vielmehr – setzte er nach einigem Besinnen hinzu – der Schäfer hat den Bären selber gemacht, denn wo wird er einen Riesen gesehen haben? Jetzt gibt's ja keine Riesen mehr.

Diese Angriffe auf eine Erzählung, mit der ich mich gewissermaßen verwachsen fühlte, sofern ich sie durch meine Träumerei über die vor uns liegenden Berge hervorgerufen hatte, waren mir äußerst unbequem. Da ich mich jedoch nicht sattelfest genug fühlte, um den Kampf nach Art der Erwachsenen zu führen, so wehrte ich den Gegner mittelst einer wohlberechneten Flankenwendung ab. Was willst denn du sagen, du Vogesenseher! fuhr ich ihn an.

Das wirkte, und er schlich beschämt zu den anderen.

In dem Dorfe, das im tiefen Loch am Fuße des Berges liegt und dessen Bewohner durch ihre Blumenzwiebeln auf den fernsten Karawanenstraßen des Ostens bekannt sind, in dem nämlichen, wo einst ein dunkler Naturforschungsdrang aus dem Papagei meiner Großmutter das »Ding an sich« herauszubringen versucht hatte, dort gönnten wir uns einige Stunden Rast bei Milch und Butterbrot. Doch Essen und Trinken vergaß ich und hörte nichts vom Geplauder meiner Genossen, denn die Erzählung ging mir beständig im Kopf herum, und unser Alter, der dies sah, nickte mir zuweilen mit seinem bedeutungsvollen Lächeln zu. Und als die Wanderschar am späten Abend müd und schlaftrunken daheim eingezogen war, konnte ich trotz der Müdigkeit nur wenig schlafen, und wachte immer wieder aus wunderlichen Träumen auf. Das einemal sah ich wie die Berge ihre Erdmäntel abwarfen, die Glieder frei bewegten und im Lande spazieren gingen; das anderemal erschien mir der Riese, auf seiner Fichte durch die Flut dahinsteuernd; dann wieder stand ich auf dem Gipfel der Achalm, der Boden aber war unter mir durchsichtig wie Glas, ich schaute hinab auf den Grund und sah die goldene Kette, hell wie Morgenrot und flüssig wie Feuer, die Wurzel des Berges umkreisen.

Viele Jahre waren vergangen Und ich hatte des Riesenmärchens lang' nicht gedacht, als ich einst auf einer Reise sonderbar daran erinnert wurde. Ich bog eben bei Sargans aus dem vorzeitlichen in das jetzige Rheintal ein, betrachtete mir die Berge, und war nicht wenig verwundert, sie unseren schwäbischen Särgen an Gestalt und Höhe so ähnlich zu finden, daß ich mir einbilden konnte, ich ziehe auf dem alten Bergsträßchen durch das Herzogtum Teck und die Grafschaft Eichelberg, Gleich den meisten der unseligen zeigten sie statt eines Gipfels einen langgestreckten Rücken, auf welchem die steten Begleiter und Affen der Berge, die Wolken, in langen Streifen und über diesen in großen Ballen saßen. Während ich mich nun frage, wohin die gerühmte Höhe eines Galanda, eines Falknis, die ich zum erstenmal in der Nähe sehen sollte, gekommen sei, trifft auf einmal, berghoch über der vermeintlichen Gipfelfläche des Berges, ein Gegenstand mein Auge, der mich ordentlich in Schrecken setzt: ein Kopf, der rund und zierlich aus den Wolken schaut, gerade wie ein Menschenkopf aus Kissen und Decke! Was ist denn das? rief ich meinem vorderrheinischen Gefährten zu und zeigte auf die Erscheinung, die sich in dem Augenblick neckend wieder versteckte. Es war der Falknis, zur größeren Hälfte in Wolken gehüllt. Kaum konnte es ein besseres Mittel geben, das Maß jener Höhen im Vergleich zu den unserigen zu finden. Abends sodann, aus der wundervollen Schlucht der Tamina zurückkommend, sah ich ihn über Ragaz in seiner vollen Gestalt vom Kopf bis zum Fuße. Die Wolken waren von ihm gewichen, und der Riese stand frei vor mir, auf der mächtigen Masse des Unterstocks schlank wie von einem Künstler aufgebaut. Ich brauchte ihm nur einen zweiten seinesgleichen aufzusetzen, und dann hatte ich in Gedanken den Montblanc bestiegen; mehr als die Hälfte mußte ich ihm nehmen, wenn er unserem Roßberge gleichen sollte. Und doch dünkte er meinem Auge jetzt nicht mehr so hoch wie am Mittag: das Maß, das die Wolken so anschaulich bezeichnet hatten, war weggefallen, und das Auge gewöhnt sich schnell an neue Verhältnisse. Nur hatte diese Gewöhnung zur Folge, daß ich nachher in der Heimat meine Berge beim ersten Blicke gar nicht sah; als ich am Morgen nach der Nacht, in der ich sie durchreist hatte, nach ihnen zurücksehen wollte, glaubte ich nur eine Kette von Vorhügeln zu finden und suchte hinter diesen vergebens, obgleich bei hellem Wetter, die Alb – denn gerne wird man sie, wenn man aus der Schweiz kommt, mit dem bescheidenen b schreiben, statt mit dem pompösen p. Bald aber waren sie mir wieder die alten geworden; denn der Berg hat in sich selbst sein Eigenmaß, das von fremden Höhenverhältnissen unabhängig ist, und der Eindruck seiner Erscheinung beruht vor allem in der Gestalt, durch die er eine gewisse Persönlichkeit erhält. Freilich gerade hierin haben die Alpen ihresgleichen kaum; ein solcher Riese steht vollgestaltig da, als ob es nur an ihm läge, aus seiner beschaulichen Ruhe herauszutreten, wofür sich freilich die kleine Nachbarschaft im Tal bedanken würde, da mancher dieser Riesen nicht bloß einen Kopf, sondern sogar Hörner trägt.

Wiederum wurde ich an Riesenverwandlungen erinnert, als ich eines Abends eine Albsteige gegen das alte Städtchen herabging, das seinen Namen vom Wisent führt. Sonst nicht ganz unvertraut mit unseren heimischen Sagen, hatte ich eine, die eben jener Gegend angehört, entweder nicht gekannt oder wieder vergessen. Wie ich nun auf dem untersten Absatz der Straße stehen bleibe und rückwärts in die Höhe schaue, fesselt mich ein überraschender Anblick: eine hohe, schlanke Frau in grauem, niederfließendem Gewande, die, den Fuß zum Schritt ansetzend, regungslos, wie ganz in Gedanken versunken, ins Weite starrt. Erst der zweite Anblick belehrte mich, daß die Gestalt, die hoch über mir an der Seite des Berges aus dem Walde ragte, in der Nähe ein Maß weit über das menschliche haben müsse. Ein Denkmal an diesem Orte zu vermuten lag fern genug, und ich erfuhr denn auch im Städtchen, daß das Standbild, das jedermann dort unter dem Namen des steinernen Weibes kennt, ganz allein von der Hand der Natur gemeißelt sei. Hier hatte ich nun an mir selbst erfahren, wie so manche Sagen von Riesen oder hünenhaften Menschen, die in Felsblöcke verwandelt worden, ganz ungezwungen aus der Anschauung selbst entsprungen sein mögen.

Allerdings haftet diese letztere Gattung von Sagen, deren Deutschland unzählige hat, an vereinzelten Felsengebilden, die, wie die steinerne Frau und deren Nachbar, der Graf von Geiselstein, sich einigermaßen der menschlichen Gestalt nähern und auch von der Höhe derselben sich wenigstens nicht um Tausende von Maßen entfernen. Nicht auf so anschaulichem Grunde ruht das Märchen, das ich soeben nachzuerzählen versucht habe. Soll ich mich nun auf einen Schäfer berufen, der verschollen ist, oder gar auf einen Riesen, der, wenn alles gut geht, nicht vor Anfang des nächsten Jahrhunderts wieder zu sprechen sein will? Lieber weise ich auf die so nahverwandte griechische Sage hin, deren Freunde schwerlich zugeben werden, daß sie an Formlosigkeit die deutsche übertreffe. Jene aber hat Bergriesen, neben welchen der Neufen und die Achalm zu ganz untersetzten Leutchen werden. Zwar ihre Niobe gleicht immer noch den Gestalten der deutschen Sage: sie ist ein mächtiger Fels, der noch obendrein durch Nachhilfe einer kindlichen Kunst dem Bilde des trauernden Weibes näher gebracht wurden ist. Aber ihr Atlas, ihr Hämos – fragt die Franzosen, die Russen, was das für Gebirge sind! Und diese land- und lufterfüllenden Massen sind der griechischen Sage vormalige Menschen oder, wenn ihr wollt, Riesen, jener von Perseus durch den Medusenschild, dieser nebst Rhodope von den Göttern selbst in Berge verwandelt. Gleicherweise lebt ihr König Kithäron in dem Berge dieses Namens fort. Die Echinaden vollends waren Nymphen, die von dem beleidigten Flußgott nach dem Meer hinausgerissen und in Eilande verwandelt wurden.

Diese Beispiele, Dicker, von welchen wir beide damals noch wenig wußten, halte ich dir jetzt entgegen, wenn du noch immer streiten willst. Solltest du aber auch dann noch nicht zufrieden sein, so lies in den Verwandlungen des römischen Dichters, was der weise Lelex dem ungläubigen Sohne des Ixion sagte. Denn als dieser »Verächter der Götter« nicht zugeben wollte, daß Mädchen zu Inseln werden können, so antwortete, »gereift an Geist und an Jahren«, sein Jagdgefährte, die Allmacht der Götter sei ohne Maß und Ende, und zum Beleg erzählte er ihm auf der Stelle eine weitere Geschichte, wo nicht noch wunderbarer, so doch nicht viel weniger wunderbar als diejenige, die der Zweifler angetastet hatte.


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