Hermann Kurz
Gesammelte kleinere Erzählungen, 3. Teil
Hermann Kurz

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Eine reichsstädtische Glockengießerfamilie.

Es sind die alten Glocken,
Die ich als Kind vernahm.

Der Erzähler der nachfolgenden Geschichten lebt mit seinen frühesten Erinnerungen noch im alten Reiche, obschon die Stadt seiner Väter zu der Zeit, als er in ihr das Licht erblickte, lang den Fall der Kaiserkrone gesehen und noch länger eine der freien Städte des heiligen römischen Reiches zu heißen aufgehört hatte. Sie, die einst auf ihr Siegel ein stolzes S. P. Q. R. geschrieben – berechtigt durch die Gleichheit des Anfangsbuchstabens, aber etwas stolz für ein kleines Gemeinwesen, das dem mächtigeren Nachbarfürsten seit Jahrhunderten ein Schirmgeld zahlte – hatte nun schon ein Jahrzehnt die Farben dieses Nachbars, herzogliche, kurfürstliche, königliche, getragen. Aber die Gemüter hatten diese Farben noch wenig angenommen, und wenn auch nicht, wie in einer andern der schwäbischen Reichsstädte, der Bürgermeister bei Übergabe der Gewalt an den fürstlichen Oberamtmann mit gebrochenem Herzen tot zu Boden gestürzt war, so lebte doch bei uns der reichsstädtische Geist in seiner Stärke und Schwäche unvertilgbar fort! die »fremden« Beamten hatten oft Mühe, Wohnungen zu finden, und mußten untereinander selbst zusammenhalten lernen, wie die Bürgerschaft spröd und abgeschlossen unter sich zusammenhielt; ja der Zwiespalt zwischen Gegenwart und Vergangenheit äußerte sich so wunderlich, daß man zum Beispiel einen Weinberg, der, vom Hagel oder Frost beschädigt, jene halb schwarze, halb rote Färbung blicken ließ, spottweise etwas nannte, was man doch selbst geworden war, nämlich »württembergisch«.

Wie die Alten sungen, so zwitscherten die Jungen. Für uns Knaben konnte es kein größeres Fest geben, als wenn wir in irgend einem vergessenen Winkel eines der alten Warenzeichen entdeckten, die man der Stadt gleich im ersten Feuer der »provisorischen« Besitzergreifung, noch vor dem Reichsdeputationsschlusse, weggenommen hatte, und der Beflissenheit, womit die herzoglichen Beamten bei der Zerstörung derselben zu Werke gegangen waren, kam der Eifer gleich, mit welchem eine im Schoße des mediatisierten Reichsbürgertums nachwachsende Jugend die Reliquien alter Herrlichkeit wieder aufzuspüren wußte. Als besonders glücklichen Entdecker beneideten wir den Dicken, wie wir ihn zu nennen pflegten, einen sehr phlegmatischen Mitschüler, der aber eine zähe Beharrlichkeit hatte und mit der sichern Schärfe seiner langsam bohrenden Augen Dinge ausfindig machte, die von jedem andern übersehen worden wären. Er hatte an einem Tage nicht weniger als zwei Reichsadler entdeckt, die den Händen der Verfolger entgangen waren, beide in der Kirche; der eine, ein Doppeladler, horstete hoch am Gewölbe des Schiffs, der andere, in älterer einfacher Form, saß am Gewölbeschluß der Taufkapelle. Wir hüteten sie wie heilige Schätze, zeigten sie einander nur mit den Augen und verrieten ihr Dasein mit keinem Atemzuge, wiewohl die Vorsicht überflüssig sein mochte, denn die schreckliche Ausrottungsjagd nach den harmlosen Wahrzeichen hatte aufgehört.

Die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart begann zu schwinden, einzelne Beamtenfamilien befreundeten sich mit einzelnen Bürgershäusern, vornehmlich mit solchen, die auswärtige Frauen heimgeführt hatten, und, was mehr ist, auch die widerstrebenden Teile gewöhnten sich an die Verschmelzung des winzigen Staates mit dem größeren; wir aber fuhren fort, uns in der Empfindungsweise von Mediatisierten zu gefallen, obgleich und vielleicht eben weil wir die letzten Tage der Reichsunmittelbarkeit nicht mit erlebt hatten. Diese reichsstädtische Romantik wurde genährt durch den Familiengeist, der uns in einzelnen überlebenden Erscheinungen die ganze »gute alte Zeit« erschauen ließ. Was an jener Zeit Gutes gewesen war, hatte fast ausschließlich der Familie angehört. Das wußten wir nicht, aber wir sahen, daß die alten Familienbräuche ihr Schönes hatten, daß die alten Familienglieder ehrwürdig waren, und aus diesen einzelnen Erscheinungen bauten wir uns die gesamte Vergangenheit in einem verklärenden Lichte auf.

Wie konnte ich an der Ehrwürdigkeit einer Zeit zweifeln, aus welcher mein Großvater stammte, ein zu Anfang der zwanziger Jahre mehr als achtzigjähriger Greis, der noch unter Kaiser Karl VI. geboren war! Wer ihn sah, pflegte zu sagen, so müsse Johannes ausgesehen haben, als er seinen »Kindlein« nur noch die Liebe predigte. Er hieß auch Johannes und war liebreich wie ein Kind; ein Greisenkopf mit langen silberweißen Haaren, das rotwangige Gesicht voll Freundlichkeit, sein ganzes Wesen ohne Arg und Falsch. Wie konnten mir die Vorzüge eines reichsstädtischen Rates fraglich sein, in welchem der alte Glockengießermeister gesessen hatte! Mußte mich doch schon die Achtbarkeit überzeugen, die von ihm auf seine ganze Familie ausgeflossen war, gar nicht, als ob sie für reich gegolten hätte, denn da sie gerade so groß war wie die Kinderzahl des Erzvaters Jakob, so ging sein mäßiger Wohlstand in sehr kleine Teile, auch nicht, weil kein Makel auf ihr ruhte, denn es gab noch andere unbescholtene Leute genug, die uns bei aller bürgerlichen Gleichheit doch um einen leisen Grad nachstanden, wie auch wir unsererseits wieder an den Familien von Geblüt, nämlich vom Blute der letzten Reichsbürgermeister, in der Stille emporzuschauen hatten. Derlei kleinere oder größere aristokratische Passionen erwachsen auch in der reinsten Demokratie, und eine reinere hatte es wohl im ganzen Reiche nicht gegeben als die unserer Stadt, in welcher jedes Jahr auf einen bestimmten Tag alles Stadt- und Zunftregiment erlosch und durch eine – wenigstens nach den Verfassungsstatuten – völlig freie Wahl von neuem zu besetzen war. Adelige Geschlechter zumal hatte es seit dem Mittelalter nicht mehr in der Stadt gegeben; das Bürgerrecht war an die Zunftpflichtigkeit geknüpft und der höchste Würdenträger so gut wie jeder Mitbürger, ein Handwerker oder mindestens Angehöriger einer Handwerkerfamilie gewesen; aber wenn ich den Namen des Großvaters an einer der älteren städtischen Feuerspritzen las, die er in seinen tätigen Jahren verfertigt hatte, so bildete ich mir darauf nicht weniger ein, als wenn ich mit ihm über die Straße gehend Zeuge war, wie er als »Herr Senator« begrüßt wurde und bescheiden dankend sein dreieckiges Hütlein zog. An den Glocken konnte ich seinen Namen nicht lesen, denn dazu hingen sie zu hoch, wiewohl ich oft in ihre Nähe kam, da es eine unserer gewöhnlichen Belustigungen war, am Sonntag vom Knabenstande bei der Orgel in den Turm hinauf zu schleichen und dem betäubenden Geläute das Gehör preiszugeben.

Was aber vollends in uns ein Gefühl erweckte, das einem hochwohlgebornen Ahnenstolze nicht ganz unähnlich sah, das war die Geschichte der alten Reichsstadt selbst. Und diese Geschichte lernten wir nicht auf dem Papiere kennen, sondern sie hatte sich von Mund zu Munde fortgepflanzt. Durch die natürlichsten Beziehungen wurde sie so für uns, neben den großartigen, aber toten Bildern aus der griechischen und römischen Geschichte, die wir in der Schule lasen, zu einer lebenden Herzensgeschichte, deren kleiner Umfang sich gewaltig erweiterte, indem sie eine Zeit vor uns auftat, die einer Stadt von mittelmäßiger Größe ihren Namen in die Reichsgeschichte einzutragen gestattete. Mündliche Sage und Rede machte uns zuerst mit den Hohenstaufen bekannt, die unserem alten Dorfe Mauern und Stadtrecht verliehen, und die schöne münsterartige Marienkirche zeugte ja gleichsam in Lebensgröße noch von den Tagen, da die junge Stadt dem schwäbischen Kaiserhause ihre dankbare Treue bewies. Nach der unglücklichen Schlacht bei Frankfurt, die durch den Abfall zweier schwäbischen Grafen mit entstellten, aber leicht kenntlichen Namen für König Konrad verloren gegangen war, wurde diese Kirche von den Bürgern während der Not der Berennung gelobt und nach dem Siege über die Belagerer alsbald in Bau genommen. Dieser »Pfaffenkönig« Heinrich Raspe, der unseren Vorfahren heiß gemacht, war der erste Gegenstand, welcher unsere Leidenschaft in Bewegung setzte: wir haßten ihn wie den Teufel, obwohl wir uns etwas ziemlich Eisernes unter ihm vorstellten und uns schon die Ehre unserer Stadt gebot, ihn nicht als einen geringfügigen Gegner anzusehen. Mit voller Parteinahme waren wir dann dabei, als die Stadt in den folgenden Zeiten, mit den anderen Städten verbündet, die »Landherren« befehdete, und bei aller Liebe zu unserem Schiller wollte es uns doch keineswegs behagen, daß er sich vom württembergischen Parteigeiste so weit fortreißen ließ, uns »Gift kochen« zu lassen, von welcher Kochkunst uns doch nicht das entfernteste bewußt war; doch söhnte uns das einigermaßen mit ihm aus, daß er seinen Grafen von uns »gepantscht« nach Hause sandte. Aber Uhland mit seinen »Gerbern« und »Färbern« hatte es eben doch ganz anders getroffen! Über die Geschichte bei Dössingen sodann mußten wir freilich achselzuckend wegzukommen suchen.

Eine weitere Nahrung bot unserem städtischen Nationalstolze, wenn ich das Wort in so verjüngtem Maßstab anwenden darf, das sechzehnte Jahrhundert dar, das unsere Vorfahren abermals mannhaft in die Geschichte, leider nicht mehr des Reiches, sondern seiner Zertrennung eingreifen sah. Die Verhältnisse zu den oberschwäbischen Klöstern, deren ehemalige weitläufige Höfe noch jetzt in verschiedenen Stadtteilen an die katholische Zeit erinnern, aus welcher auch im Archiv der Kirche noch ein Schatz verblichener Paramente vorhanden ist, hatten solche Mißstände herbeigeführt, daß die Stadt, wie unser Selbstbewußtsein mit seinem korrektesten Ausdrucke zu sagen liebte, schon ein paar Jahre vor Luthers erstem Auftreten zu reformieren begann. In den strengen Konfessionsformen, die unsere Kindheit umgaben, lag noch ein Nachklang von der politischen Bedeutung, die der Protestantismus einst gehabt hat. Löblich war jedenfalls die Zuverlässigkeit, womit die Stadt an der ergriffenen Überzeugung und an den Verbündeten festhielt, und so findet sie sich auch nach dem Schmalkaldischen Kriege in der kaiserlichen Strafmatrikel aufgeführt.

Die Stürme des Dreißigjährigen Krieges gingen nicht spurlos über ihre Mauern weg. Freund und Feind erschienen nacheinander und nahmen mit dem gleichen Rechte der Gewalt ihren Säckel in Anspruch. Das alte Lied: »Der Schwed' ist kommen«, klingt bekanntlich in den protestantischen Teilen Deutschlands nicht um einen Ton anders als in den katholischen. Doch begnadigte uns Gustav Adolf mit zweien der eben genannten geistlichen Höfe, nur daß uns diese schwedische Schenkung nicht so gut bekam, wie dem Stuhle Petri die »konstantinische«. Gänzlich erschöpft ging die Stadt aus den Drangsalen dieses Krieges hervor, so daß man schwer begreift, wie sie noch die Heimsuchungen überstehen konnte, die gleich darauf durch Ludwig XIV. über das Reich gebracht wurden. Und dennoch war ihr Schicksal nach der Nördlinger Schlacht im Vergleich mit den Nachbarlanden ein gnädiges gewesen.

Eine unmittelbare Erinnerung an die Zeiten des Dreißigjährigen Krieges hatte sich in einer Sitte erhalten, welche der Großvater unverbrüchlich beobachtete. Er pflegte am Peter- und Paulstage zu fasten. Bis in sein höchstes Alter genoß er an diesem Tage keinen Bissen; erst abends aß er ein Stücklein trocken Brot, trank dann einen Schluck Wein und ging zu Bette. Der Fasttag galt dem Andenken einer Rettung, deren sich die Stadt im »Kirschenkriege«, einer wenig rühmlichen Episode jener endlosen Kriegswirren, zu erfreuen gehabt. Schon war sie vom kaiserlichen General, der vor den Toren lag, durch einen Trompeter und »Schröck-Kapitän« zur unbedingten Übergabe aufgefordert, Major Widerhold, der nachmalige Oberst und Kommandant von Hohentwiel, war mit seiner unzulänglichen Truppe abgezogen, und das Ärgste stand bevor; da gelang es dem Syndikus, von den Kaiserlichen eine Kapitulation zu erwirken, die den Bürgern Raub, Mord, Brand und den gefürchteten Glaubenswechsel ersparte. Das Gedächtnis dieses Tages überlebte größere Glücks- und Unglücksfälle beinahe zwei Jahrhunderte lang.

Einen zweiten Fasttag feierte der Großvater zum Andenken eines Tages von verhängnisvollerer Bedeutung. In seiner Stube befand sich ein altertümlicher Ofen, auf dessen Vorderplatte das Bild unserer Stadt, in vollen Flammen stehend und von flüchtenden Menschen erfüllt, gegossen war, mit einer darüber schwebenden Inschrift: »Dein Sünd, dein Brand.« Die Inschrift flatterte steif, und die Flammen loderten schwerfällig, aber um so frischer überrankte die lebendige Überlieferung das Unglücksdatum des 23. September 1726, des Tages, an welchem die Stadt der Raub jener Flammen geworden war. Oft erzählte der Großvater von dem furchtbaren Brande, an dessen Andenken sich für uns eine anmutige Familiensage knüpfte. Er hatte sie aus dem Munde seines Vaters, der, zu jener Zeit neun Jahre alt, in der Verwirrung des Augenblicks mit sechs anderen Kindern in einen großen Kleiderkasten gesperrt und zur Stadt hinausgetragen wurde. Einen Tag lang blieb der Kasten auf einer Anhöhe unter dem verzweifelten Geschrei der Kinder stehen. Zum Glück hatte er Luft, der altertümlich riesige Schrank, und sie waren noch immer besser daran, als manche andere Kinder, die in jenen Schreckenstagen verloren gingen und erst spät oder gar nicht mehr gefunden wurden.

Die Stadt wurde unvorbereitet in völliger Sorglosigkeit vom Schicksal überfallen. Zwar erinnerte man sich nachher, daß der fromme Hauptprediger längst das Unglück von der Kanzel geweissagt hatte. Da in den Schrecken der unaufhörlichen Kriegszeiten Geschlecht um Geschlecht verwildert war und die obrigkeitlichen Mandate jetzt im Frieden wenig zur Herstellung der alten strengen Zucht bewirkten, so hatte er jeden Sonntag gegen die sündenbeladene Stadt gedonnert und jede seiner Predigten mit den Worten geschlossen: »Aber es wird dereinst ein Feuer kommen, das niemand löschen kann.« Er selbst erlebte es nicht, daß seine Worte, die vielleicht geistlich gemeint waren, so buchstäblich in Erfüllung gingen; aber die zerknirschte Stadt schrieb seine Weissagung über ihre rauchenden Trümmer, und es lag in der Anschauung jener Zeit, welche Herzenshärtigkeit mit Bußfertigkeit wunderbar vereinigte, in jedem Ausbruch der Elemente ein himmlisches Strafgericht zu erblicken. An jenem Septembertage jedoch ahnte niemand etwas von einem Strafgerichte, vielmehr war der Jahrgang so günstig gewesen, daß man wohlgemut dem herbstlichen Danksagungsfest entgegensah. Die Vorratskammern waren voll, und zum erstenmal in zwölf Friedensjahren hatte man Hoffnung, die langen Nachwehen der Kriege vollends zu überwinden. Die Glocken hatten gestern so fleißig wie immer zu der strengen Sonntagsfeier geläutet. Hier schlugen sie zu ungewohnter Stunde, doch nicht zu unbekanntem Zwecke wieder an, indem sie dem alten Türmer, der zu Grab getragen wurde, den letzten Gruß nachriefen. Wer hätte gedacht, daß seine Glocken noch einmal diesen Abend zusammen laut werden würden, daß sein Turm so bald nach seinem Scheiden unwohnlich werden sollte? Noch vor kurzem hatte man durch einen »fremden« Schieferdecker aus Heidelberg den Engel von der Turmspitze abnehmen und neu vergoldet unter großen Feierlichkeiten wieder aufsetzen lassen. Wie sollte nicht alles im besten Stande sein?

Die Abendglocke hatte längst geläutet, das Nachtessen war vorüber, doch wachte noch die ganze Stadt, und die frühesten Schläfer hatten den Abendsegen noch nicht ausgelesen, als vom Turm und in den Gassen Feuerlärm ertönte. Der Mann, in dessen Hause das Feuer ausbrach, war schon in frühester Kindheit gleichsam vom Schicksal gezeichnet worden. Sein Vater stand mit dem Kind auf dem Arm am Laden, der statt des Fensters diente, scherzte mit ihm und tat, als ob er es hinauswerfen wollte, da verlor er das Gleichgewicht und stürzte mit ihm auf die Gasse hinab, so daß das Kind ein Ärmlein brach. Jetzt nach vierundsechzig Jahren war es diesem bestimmt, daß sein Haus ein Herd der Zerstörung für seine gesamte Mitbürgerschaft werden und sein oder der Seinigen schuldhafter Leichtsinn ihn mit seiner ganzen Familie in die Verbannung führen sollte.

Noch ehe die Lohe ausschlug, war die Hilfe zur Hand, aber es war ein Feuer, das niemand löschen konnte. Die Bewohner hatten es zu lang verheimlicht, nun befreite es sich mit doppelter Gewalt, und im Angesichte der Löschanstalten stand plötzlich das Haus nach allen Seiten in vollem Brande. Die Flamme sprang über die enge Straße auf das gegenüberliegende Haus und bildete einen Bogen, dessen feuerspeiender Regen die Mannschaft zurücktrieb. »Alsbald zündeten die beiden brennenden Häuser auch die in ihrem Rücken gelegenen Häuserreihen an, und das Feuer wütete in drei Gassen zugleich, alle Rettungsversuche zersplitternd und verwirrend. Die Gassen waren eng, die Giebel vorspringend, so daß sie einander über der Straße beinahe berührten, die Gebäude fast alle von Holz, die Stuben getäfelt, die Böden mit schlechtgefugten Brettern belegt, alle Stockwerke vollgepfropft mit dem Hausrat einer eng zusammengedrängten Bevölkerung, alle Häuser angefüllt mit den Gaben des Jahres, mit Frucht, Futter, Stroh und Holz: Speise im Übermaß für jenes Ungeheuer, das nur hungriger vom Fressen wird! Und es fraß nach allen Richtungen der Stadt: abwärts die kurze Strecke gegen das untere, und aufwärts die lange Zeile gegen das obere Tor.

Am Himmel hatte ein gelinder Süd geweht; aber das Feuer schuf sich seinen eigenen Luftzug, der zum Sturme wurde und die Flamme vor sich hertrieb, so daß die Häuser nicht mehr einzeln, sondern reihenweise in Brand gerieten. Wenn das Feuer eine Straße durchrast hatte, – dies erzählten Augenzeugen noch viele Jahre lang als das Schrecklichste, dann drehte sich der Wind, als ob er eigens dazu bestellt wäre, und jagte die Lohe wieder eine andere Straße hinab. Umsonst versuchte man durch Niederreißen von Häusern dem Glutstrom seine Nahrung zu rauben; die Maschinen zerbrachen oder verbrannten. Die rüstige Bürgerschaft, die schon manche Feuersbrunst unverzagt überwältigt hatte, verlor den Mut, und nun entstand ein verworrenes Gedränge derer, die noch zu retten suchten, und derer, die unter Jammergeschrei flüchteten. Diese füllten die Gassen und Stadttore, so daß es oft eine Stunde dauerte, bis der eine zum Tor hinaus, der andere wieder hereingelangte. Kranke und Alte wurden in Betten, oder was der Zufall an die Hand gab, erst nach den noch unversehrten Stadtteilen und dann, wenn hier das Feuer nachstürmte, vor die Tore geschleppt. Da draußen war es wie eine weite Walstatt anzusehen, wo Tausende unter freiem Himmel lagen, wund an Leib und Seele. Viele erkrankten tödlich in der nassen Kälte, die außerhalb des Feuerbezirks herrschte. Kreißende Frauen wurden aus den Flammen herausgetragen, andere wurden im Freien unzeitig von der Geburt übereilt, Eltern und Kinder suchten einander, kläglich rufend, und stürzten in die brennende Stadt zurück oder zerstreuten sich stundenweit in die Nachbarschaft, Tiere irrten zwischen den obdachlosen Menschen umher; die einen rannten im blinden Schrecken alles nieder, die andern winselten nach ihren Herren. Zahllose Habe ging nicht bloß im blinden Drang des Flüchtens, sondern auch durch untreue Hände zugrunde, indem schlechte Menschen sich die Verwirrung zu nutze machten.

Der anbrechende Morgen sah den dritten Teil der Stadt in Asche und Flammen, und noch immer spottete das Feuer aller menschlichen Gegenwehr. Es hatte inzwischen nach dem Marktplatze herauf gebrannt, und eben jetzt mit Tagesanbruch loderte das schöne Rathaus auf seinen steinernen Säulen mit seinen gemalten Fenstern, welche die Wappen besiegter Ritter trugen, und seinem Sturmbock, dem Siegesdenkmal aus noch älterer Zeit. Dieser Mauerbrecher war von dem Heere des Hohenstaufengegners, als es die Belagerung der Stadt aufheben mußte, zurückgelassen und von den Bürgern Jahrhunderte lang in der über ihm erbauten Kirche aufbewahrt worden, bis Kaiser Max bei einem Besuch der Stadt das Kriegswerkzeug aus dem Gotteshause entfernen hieß; da die Kirche fast rings von Häusern umgeben war, die ihm keinen Durchgang gestatteten, so durchbrach man die Mauer im Chor und schob den mehr als hundert Werkschuhe langen Widder nach der einzigen freien Seite hinaus, worauf er am Rathaus aufgehängt wurde, mit dem er jetzt bis auf den eisernen Schnabel verbrannte. Noch immer stießen die Straßen dicht an die hohe Marienkirche, und wer über den eigenen Jammer noch hinausdenken konnte, der zitterte für das Kleinod der Stadt, als die lange, vom unteren nach dem oberen Tore führende »Kramergasse« nun auch aufwärts vom Marktplatz zu brennen begann. Sie lag zwischen zwei Feuern, die sie von den beiden hinter ihr brennenden Gassen her zugleich ergriffen. Man riß die größten Gebäude an der Kirche ein, und zu gleicher Zeit wälzte sich die Flammenmasse nach Süden weg, so daß die Umgebung der Kirche völlig frei vom Feuer wurde; aber das Glutmeer, von dessen Atem das Wasser in den Röhrenbrunnen sott, die hölzernen Staffeln im Bache verbrannten und die dicksten Fässer in den Kellern zu Asche wurden, hauchte auch nach der Spitze des Turmes empor, und von oben herab wurde die Kirche ein Spiel der Flammen.

Am Abend des zweiten Tages sah man kleine Lichter im Gebälke des Glockenstuhles erscheinen; sie liefen hin und her und flossen zusammen; auf einmal schlugen die Flammen zu den Bogenfenstern heraus; ein stürmender Wirbelwind erhob sich und die ganze Kirche samt allen angrenzenden Häusern stand im Feuer. Zum letztenmal bewegten sich die Glocken, aber nicht von Menschenhand; sie läuteten sich selbst zu Grabe, bis sie mit furchtbarem Krachen herabstürzten und in dem Feuerofen zerschmolzen. Nächtelang stand der Turm schneeweiß glühend, dann schwarz und ausgebrannt über der weiten Schuttstätte. Die Röte am Himmel sah man bis in die Schweiz, und die Umgegend war so stark erleuchtet, daß man, wie alte Leute zu erzählen pflegten, in stundenweiter Entfernung mitten in der Nacht einen »Kreuzer vom Boden auflesen konnte«.

In den Morgenstunden des dritten Tages hatte das Feuer auch den obersten Stadtteil von der Kirche bis zum oberen Tore vollends verzehrt. Dort sprang es über die Stadtmauer und wollte die große Vorstadt ergreifen, die ihm jedoch wegen ihres weiteren Raumes glücklich widerstand. Nun aber wandte es sich rächend abwärts und fraß an der Mauer eine große Strecke entlang Gassen und Gäßchen, die es noch verschont hatte, bis es zu den bereits in Asche gelegten Stadtvierteln zurückkehrend erstarb.

Die ganze Stadt war mit Ausnahme eines unansehnlichen Halbkreises von Häusern in Flammen aufgegangen. Wunderbarerweise begann dieser gerettete Halbkreis mit seinem breitesten Stücke gerade da, wo das zuerst in Brand geratene Haus seine Flammen in die hinter ihm liegende Gasse geworfen hatte. Als ein zweites Wunder staunte man die Nikolauskapelle an, neben welcher der Brand ausgebrochen war. Sie stand, ohne Glocken zwar, doch unversehrt, in einem Kreise von Schutthaufen. Daß der Kaiser auf dem Marktbrunnen den Brand überdauert hatte, war gleichfalls allen ein Rätsel, weil er durch die Trümmer der hart an ihm gelegenen großen Gebäude, besonders des Spitals, der Zerstörung ausgesetzt gewesen war. Nicht so glücklich war auf dem Röhrenbrunnen an der Hauptkirche die Bildsäule des anderen Kaisers gefahren, dem die Stadt ihr Mauerrecht verdankte. Das Bild des Hohenstaufen war untergegangen, das des Habsburgers war erhalten geblieben.

Aber nun, als es nichts mehr zu fürchten noch zu hoffen gab, erwachte das Gefühl des Elends erst in seiner ganzen Schärfe und zählte die Verluste der Gesamtheit wie des einzelnen auf. Der Mensch jedoch, so lang Leben in ihm ist, hebt auch nach dem schwersten Schlage wieder den Kopf empor, wie viel mehr eine tätige und entschlossene Gemeinde. Unter den drei bis vier öffentlichen Gebäuden, die wie Inseln im Feuermeere dem Verderben entgangen waren, befand sich das alte Franziskanerkloster, das seit seiner Aufhebung als Schwörhof bei den Ratswahlen diente. Dort richtete die Obrigkeit sich ein und begann die unterbrochene Regierung mit der schwierigen Ausscheidung des Eigentums, das dem Schutt etwa noch abzugewinnen war. Die stehengebliebene Kapelle wurde zur Kirche gemacht; statt der Glocke rief die Trommel zum Gottesdienst, der mit einem Buß- und Fasttage begann; denn das Dankfest war mit dem Segen des Jahres dahin; man hatte die Fruchtvorräte wie Schneeflocken in den Feuersäulen umherwirbeln sehen. Doch stand die Traube noch am Stock, und ihr Ertrag gewährte diesmal ein reichliches Brot. Die Witterung blieb mild, daß man bis tief in den Winter an den Neubauten arbeiten konnte. Mangel und Teuerung blieb abgewendet, und die auflebenden Bürger hatten zu rühmen, daß ihnen von allen Seiten »ritterlich« zugeführt worden sei. Reichsstädte und Fürstenlande, Kreis und Reich griffen der heimgesuchten Stadt unter die Arme. Freilich gab es bei der Verteilung der Beiträge und der Verrechnung der Steuernachlässe viel Beschwerde und Murren, Streit und Mißtrauen; doch schritt das Werk der Herstellung unter allen diesen Unruhen freudig fort. Das erste, was man in Angriff nahm, war die Hauptkirche; ihr Turm war ausgeschält, die Schwibbogen zersprengt, ein Teil des Gewölbes lag am Boden, die zierlich gewundenen Säulen waren zerborsten, die Kanzel mit dem großen Simson verbrannt, die bunten Chorfenster zersprungen und der prächtige Altar mit Schmuck und Zier vernichtet; aber indem man sich auf das Notdürftigste beschränkte, kam man mit den Arbeiten so weit voran, daß am ersten Jahrestage des Brandes wieder der erste Gottesdienst, noch ohne Glocken, in der Kirche gehalten werden konnte. So baut der Mensch, was die Natur mit einem Schlage in den Staub warf, langsam wieder auf, ihre Gewaltstreiche überbietend durch zähe Geduld und Ameisenfleiß.

Indessen wurden viele Familien durch diesen Brand in bittere Armut gestürzt. Auch mein Ururgroßvater, der vorher reich gewesen war, kam dabei um sein ganzes Vermögen. Er hatte, als Glockengießer und Spritzenmeister der Stadt, seinen Posten im Kampfe mit dem Feuer, und während er hier seiner Pflicht oblag, vertraute er sein Silber und Gold einem vieljährigen Freunde an; nachher, als er es wieder von ihm fordern wollte, leugnete dieser, etwas empfangen zu haben. Was konnte man ihm anhaben? Ein allgemeines Unglück ist wie eine Kriegszeit, in welcher der Stärkere und Schlechtere oft die Oberhand behält. Mein Ururgroßvater faltete die Hände und sprach: »Was Gott tut, das ist wohlgetan«; darauf richtete er sich mit seinem Handwerk wieder ein, so gut es ging, goß neue Glocken und Feuerspritzen für die wiedererstehende Stadt und nährte sich redlich. Zwar wollte ihm nach dem Ratswechsel der neue Amtsbürgermeister, der ihn nicht liebte, das Leben sauer machen; aber er behauptete sein Recht, und der gestrenge Herr gab weislich bei Zeiten nach; denn die kleinen Obrigkeiten im Reiche hatten einen zwar lässigen, jedoch immer noch durchgreifenden Richter über sich und fürchteten nichts so sehr wie einen Kammerboten von Speier.

Mehr als seine eigenen Widerwärtigkeiten ging ihm der Kummer eines lieben Gevatters zu Herzen, der zurzeit der Feuersbrunst erster Bürgermeister gewesen war. Herr Matthäus Baur hatte in einer jener beiden Schreckensnächte ein Kind verloren, ein liebliches Mädchen von drei Jahren; er vermißte sie erst am Morgen, als ihm die Sorge für das öffentliche Wohl einige Zeit ließ, nach seinem eigenen Hause zu schauen. Man wußte nicht, war sie im Feuer oder im Gedränge der Flüchtenden um das Leben gekommen. In den ersten Wochen hatte man noch Hoffnung, die Kleine wieder zu finden, denn es kamen viele verloren geglaubte Kinder zum Vorschein, die sich in die Nachbarschaft verlaufen hatten. Der Bürgermeister sandte Boten nach allen Seiten aus, zu nahen und fernen Freunden, aber niemand wollte etwas von der verlorenen Katharina wissen. Da faßte er sein weinendes Weib in die Arme und richtete ihr das Antlitz gen Himmel, wo sie ihr Kind als einen schönen Engel von nun an suchen sollte. Abends aber, wenn er mit seinem Gevatter auf der Zunftstube zu einem Glas Wein zusammenkam, dann sprachen sie einige halbe Worte über das süße Mädchen, der Bürgermeister wischte sich eine Träne aus dem Auge und trank einen Schluck Wein dazu, und sein Freund drückte ihm die Hand und sagte: »Ich habe immer geglaubt, mein Franz werde sie einmal zum Weibe haben.«

Dieser, das älteste von den Sieben, die im Kasten gewesen waren, wuchs mittlerweile heran und ward ein stattlicher Jüngling, Er erlernte das Handwerk seines Vaters, die edle Gießerkunst, und setzte mit seinem im Feuer gebräunten Gesicht und durch den Druck seiner kräftigen Hand manches Mädchenherz auf dem Tanzboden in Flammen. Er aber schaute nur nach der schönen Regine, die er in seinem Herzen für die Königin des Tanzbodens erklärte. Die schöne Regine war ein Mädchen von stolzem, vollem und schlankem Wuchse; sie hatte ein majestätisches Gesicht, schwarze Haare und schwarze Augen und dabei eine blendend weiße Haut; sie galt für das schönste Mädchen in der ganzen Stadt, nur wollten strenge Richter den Umfang und die Biegung ihrer Nase zu kühn finden, und es ist nicht zu leugnen, daß die Stellung dieses Gliedes in dem seinen Antlitz etwas sehr Gebieterisches hatte. Von dieser Art war auch Reginens ganzes Wesen; sie tat zurückhaltend, stolz und spröde. So betrug sie sich auch gegen Franz; aber wenn er sie im feurigen Tanze den Saal hinunterschwang, so steckten alle Leute die Köpfe zusammen und flüsterten: »Das ist doch das schönste Paar auf dem Tanzboden; die täten zusammen passen!«

Das sah und hörte Franzens Mutter sehr ungerne, denn die schöne Regine war die Enkelin des alten, reichen Stadtschreibers, und der stand bei meiner Ururgroßmutter in keinem guten Andenken. Er war ihr Vormund gewesen, und ohne daß man wußte, wie es zuging, war bei der Abgabe der Pflegschaft der Vormund ein reicher Mann und sein Mündel ein armes Mädchen. Aus Großmut bot er ihr seine Hand an, aber sie weinte und rief: »Ihr seid ja so alt, daß Ihr mein Vater sein könntet; wär't Ihr's nur gewesen, dann stände es jetzt anders!« Dies klang ihm zu unbescheiden, und er jagte sie aus dem Hause. Damals war die Waisenjustiz noch nicht im besten Zustande, und meine Ururgroßmutter sah ein, daß es klüger sei, zu schweigen und zu dulden, als ein Recht zu suchen, von dem sie nicht wußte, wo es zu finden war. Ein entfernter Verwandter nahm sie auf, und da sie zu Feldarbeiten nicht kräftig genug war, so mußte sie ihm die Schafe hüten. So saß sie den lieben langen Tag und vertrieb sich die Zeit damit, daß sie schöne Lieder sang; sie wußte deren viele und hatte eine gute Stimme. Aber als ein ehrbares Mädchen sang sie nichts, was für leichtfertig angesehen werden konnte; die strengste Kirchenzensur hätte ihre Lieder hören dürfen, eine Art halbgeistlicher Lieder mit langtönenden wehmütigen Melodien, welche recht geeignet waren, einem betrübten Herzen Luft zu machen. Solche pflegte die arme Dorothea zu singen, wenn sie bei ihrer Herde saß; sie gewährten ihr einen schmerzlichen Trost, und wer in den Feldern oder in den Weinbergen an der Arbeit war, ließ gern sein Werkzeug auf eine Weile sinken, um der klaren, sanften Stimme zu lauschen, wie sie hinter dem kleinen Hügel hervordrang, der den Weideplatz verdeckte. So sang sie einmal ihr Lieblingslied: »Himmlische Geduld« mit besonderem Ausdruck, als die Tochter ihres ehemaligen Vormunds, die es ihr immer noch nicht verzeihen konnte, daß sie einst eine Stiefmutter in ihr hatte fürchten müssen, an ihr vorbeikam, von einer Magd und einem Hündchen begleitet, auf dem Kopfe einen schauerlichen Bänderhut, wie ihn damals die Vornehmen und Reichen trugen. Sie blieb stehen, betrachtete die Hirtin hochmütig, und als verstände sie die Worte des Liedes nicht, wandte sie sich zu der Magd, die ihr den Korb nachtrug: »Was singt die da für Schelmenlieder?«

Das schöne Lied: »Himmlische Geduld« ein Schelmenlied! Das Wort gab der armen Dorothea einen Stich durchs Herz, Sie war sehr versöhnlichen Gemüts und hatte schon oft für ihren Vormund gebetet; aber das konnte sie der tückischen Judith nie vergessen, daß sie nicht nur im Elend ihrer gespottet, sondern auch ihren Sinn und Wandel verleumdet hatte.

Ein alter Winzer, der in der Nähe zugehört, kam herbei und tröstete die Weinende. »Sei ruhig, Kind,« sagte er, »der dir jetzt Trübsal widerfahren läßt, wird dich noch in Freude führen. Er wird dir einen braven Mann bescheren, dann hat all der Jammer ein Ende.«

So geschah es auch.

Eines Tages hütete Dorothea ihre Schafe an der Straße, da kam ein stattlicher Reiter auf einem Friesländer dahergezogen; er war ausländisch gekleidet, trug einen kurzen Mantel und ein Federbarett, an seiner Seite hing ein zierliches Schwert, Es war mein Ururgroßvater, der weit in der Welt herumgezogen, in den Niederlanden, in Frankreich und Spanien gewesen war, um die damals neuen Verbesserungen in der Glocken- und Spritzenmacherkunst aus dem Grunde zu lernen, und jetzt in die Heimat zurückkam, wo er sich niederlassen und seine Kunst ausüben wollte. Er hielt sein Pferd an und richtete mit ausländischem Akzent einige Fragen an Dorothea, die sie schüchtern beantwortete.

»Kennst du mich denn nicht mehr?« rief er auf einmal in der heimischen Sprache. Sie sah ihn genauer an und erkannte in ihm einen Vetter und Jugendgespielen, der seit vielen Jahren nichts von sich hatte hören lassen. Die Freude öffnete ihr das Herz, sie erzählte ihm ihr Schicksal, wie der Vormund sie verkürzt habe und wie sie jetzt in Not und Verachtung leben müsse. »Laß du ihm seinen Mammon, Dorothea,« sagte er, »und gib mir den Strauß, den du da an der Brust hast.«

Sie verstand ihn und gab ihm die Blumen mit Erröten. Er steckte sie ans Koller, spornte sein Pferd und ritt in die Vaterstadt ein. Damals hatte das Handwerk noch einen goldenen Boden; der junge Meister war der einzige weit und breit, aus allen Gegenden kamen Bestellungen, manche Ortschaften waren noch gar nicht mit Spritzen versehen, auch waren die neuen erst eigentlich brauchbar; ähnlich stand es mit den Glocken, die man bis dahin nicht so bequem zu gießen verstanden hatte. Er mußte ein ganzes Haus voll Gesellen und Lehrlinge annehmen; der Verdienst überstieg alle Erwartungen. Nach einem halben Jahr führte er die demütige Hirtin in sein Hans. Um dieselbe Zeit heiratete auch die hochmütige Judith, und die schöne Regine war ihre Tochter.

Aus diesem Grunde hörte die Ururgroßmutter es nicht gerne, wenn man Franzen und Reginen ein Paar nannte; sie dachte immer wieder an die »Himmlische Geduld«, konnte aber darob sehr ungeduldig werden. Ferner erwog sie ein großes Hindernis: Franz hatte seinem künftigen Weibe nicht viel anzubieten, denn das Wenige, was seit dem Brand erübrigt war, ging in mehrere Teile; Regine aber war reich, und ihre Mutter hatte den Hochmut nicht abgelegt, den Geiz aber noch dazu gelernt.

Eines Morgens saß Franz betrübt hinter dem Ofen und hatte ganz vergessen, zu dem Vater in die Werkstatt zu gehen. Die Mutter beobachtete ihn eine Weile, endlich trat sie zu ihm und sagte: »Was ist dir, Franz? Warum bist du so verdrießlich?«

Der Jüngling schrak auf und sagte: »Ich bin noch schläfrig vom gestrigen Tanz; Ihr wißt, Mutter, ich kam spät in der Nacht erst nach Hause; nun muß ich aber gehen und formen, der Vater schilt sonst.«

»Bleib noch ein wenig,« sagte die Mutter, »ich muß dich etwas fragen.«

Sie setzte sich ihm gegenüber und fuhr fort: »Du bist nicht ehrlich gegen mich, Franz: ich habe schon längst bemerkt, daß du etwas auf dem Herzen hast; gesteh' mir's, was macht dich so bekümmert? Es ist nicht recht, daß du mich betrügen willst: wie kannst du denn schläfrig sein, da du heut schon so früh aufgestanden bist? Ich habe dich gehört, du warst vor uns allen auf den Beinen.« Franz sträubte sich; endlich fragte sie: »Hast du etwas mit der Regine gehabt auf dem Tanz? Nicht wahr, die macht dir das Herz schwer?«

Sie mußte ihm noch lange Zeit freundlich zureden, bis es endlich herauskam. Regine hatte ihm gestern zweimal nacheinander einen Korb gegeben, und als er zum drittenmal wiederkam, hatte sie gerade heraus gesagt: »Ich bin nicht für Euch allein auf dem Tanzboden und mag mir auch nichts nachsagen lassen, probiert's doch einmal mit anderen Tänzerinnen, sie nehmen's Euch sonst übel.« Und dabei hatte sie spöttisch auf seine Schuhe geblickt, deren Schnallen nicht von Silber, sondern bloß von Messing waren.

»Seht einmal die hoffärtige Prinzessin!« rief die Mutter entrüstet. »Wenn alle Menschen redlich gewesen wären, so trügest du Silberschnallen an den Schuhen, und das Ruster an ihrem Halse wäre nicht von echten Granaten. Aber es geschieht dir ganz recht, was läufst du auch dem großnasigen Dinge nach? Es sind viel schönere Mädchen in der Verwandtschaft, und sind auch nicht arm und keine so aufgebauschte Pfauen, wie die.«

»Was wird da von Mädchen geleiert?« rief eine zornige Stimme hinter ihr; der Vater war unbemerkt ins Zimmer getreten, um seinen Sohn zu suchen. Mein Ururgroßvater war ein sehr strenger und heftiger Mann, der gute Zucht im Hause hielt und groß von seinem Stand und seiner Würde dachte. Er saß seit den letzten Wahlen im Rat, welches Amt zwar jedes Jahr einer Neuwahl unterworfen, aber im gewöhnlichen Lauf der Dinge doch so gut wie lebenslänglich war; durfte Stock und Degen tragen, ohne welche man ihn nie ausgehen sah, und wachte mit einer gewissen Eifersucht darüber, ob ihm von jedermann die schuldige Ehrerbietung erwiesen werde. Ja, die böse Welt sagte ihm nach, er habe einmal, als er über den Markt aufs Rathaus gegangen sei, einer Gans, die den Schnabel gegen ihn aufsperrte, in gerechter Entrüstung den Kopf mit dem Ehrendegen abgeschlagen und dazu seinen Lieblingsfluch »Pugio«, den er aus Spanien mitgebracht, ausgestoßen. Er war daher sehr entrüstet, als ihm seine Frau gestand, wovon die Rede sei; er fühlte sich durch den Hochmut Reginens in seiner Würde gekränkt und ließ den Zorn an seinem Sohne aus.

»Pugio!« rief er, »was fällt dem Burschen ein? Ist noch nicht hinter den Ohren trocken und sieht schon nach den Mädchen? Ich will's ihm vertreiben, so wahr ich Senator und Zunftmeister bin! Wenn er einmal sein Handwerk aus dem Fundament gelernt hat und ein gemachter Mann ist, dann ist's Zeit, sich nach einer Frau für ihn umzusehen, das heißt, nach einer Frau, die seinen Eltern ansteht und fromm und fleißig ist, und nicht in Hoffahrt gekleidet, wie die Lilien auf dem Felde, die da weder nähen noch spinnen. Pugio! Ich habe nicht eher an solche Sachen gedacht, als bis ich von meinen Reisen zurückkam und mich hier niederließ, und der milchbärtige Junge hat seine Gesellenjahre noch nicht einmal hinter sich, und in der Welt ist er auch noch nicht gewesen. In der Welt muß man gewesen sein, das gibt den Verstand und den rechten Schick. – Ich habe mir's schon lang' bedacht,« sagte er etwas freundlicher zu seinem Sohn, »du mußt fort in die Fremde, ich sehe, es ist nunmehr Zeit dazu, und dann kommst du mir auch aus der einfältigen Liebschaft heraus. Ich bin weit gereist, aber fürs erste will ich dich nicht so weit forttreiben. Du sollst mir in die kurkölnische Stadt Attendorn; daselbst ist ein geschickter Glockengießermeister, Christoph Woltmann, mein sehr werter Freund, mit dem ich lange Zeit zu Lüttich als Gesell gestanden bin. An den will ich dir einen Brief mitgeben, daß er dich in Arbeit nimmt, und hernach, wenn du mir anständig schreibst und triftige Gründe dafür weißt, bin ich auch nicht abgeneigt, dich noch weiter reisen zu lassen.«

Franz war ein gehorsamer Sohn und ein verständiger Jüngling; er sagte: »Ja, Vater, ich bin's zufrieden«; ließ sich den Wanderbrief schreiben, nahm Abschied vom Hause und wanderte nach Norden zu.

In der fröhlichen Rheingegend hatte er bald seinen gesunden Mut wiedergefunden; Herzweh, Heimweh und was ihn drücken mochte, warf er in den Strom, als er mit dem Schiffe hinuntertrieb. Die erste Reise ist wie die erste Liebe, sie verwandelt das ganze Wesen des Menschen. Bei Bingen bestand er ein kleines Abenteuer, doch ließ ihn die Lurlei mit dem Schrecken davonkommen. Auf dem Wege nach Attendorn hatte er einen günstigen Angang, eine Lämmerherde, und in Attendorn selbst, vor einem Eckhause, zu welchem er auf seine Frage nach Meister Christoph Woltmann gewiesen worden war, stand ein Engel und fragte ihn: »Wat belieft, myn Heer?« Er gab seine Auskunft ziemlich verwirrt, und der Engel führte ihn die Treppe hinauf in ein Zimmer, wo der Meister, der soeben Feierabend gemacht hatte, beschäftigt war, ein Stück echten Limburger Käses und eine Kanne Wein durch ein gelassenes Schmelzverfahren miteinander zu vereinigen.

»Wo bist du gewesen, Katharina, und wen bringst du mir da?« fragte der freundliche Mann.

»Ich habe den Gesellen ihren Trunk gebracht, Vater,« sagte das holde Mädchen, das mit Franz in die Türe getreten war. »Dann ging ich in die Abendmette, und wie ich zurückkam, blieb ich noch eine Weile unter der Haustüre stehen, es ist so ein warmer Tag heute; nun kam der Fremde hier auf mich zu und sagte, er wolle Gesell bei Euch werden und habe Euch einen Brief zu überreichen.«

Meister Woltmann ließ den Ankömmling näher treten und nahm ihm den Brief ab. Er war ausnehmend vergnügt, als er hineingesehen hatte; abwechslungsweise las er den Brief und betrachtete den Jüngling. »Sei mir herzlich willkommen in meinem Hause, lieber Junge!« rief er endlich. »Was du deinem Vater gleichst! Zug für Zug, wie aus dem Gesicht geschnitten! Ja, das war ein hübscher, lustiger Bursche zu seiner Zeit, wir haben manchen guten Tag miteinander verlebt in Lüttich. Nun, das ist brav von ihm, daß er dich zu mir schickt; ich will dir ein getreuer Freund sein bei all deinem Tun und Lassen, du sollst Arbeit bei mir haben, wie ein wackerer Gesell, und sollst gehalten werden, wie das Kind im Hause. Katharina, geh und bring ihm zu trinken. Da, sitz zu mir her, du wirst müde sein; heute und morgen hast du Rasttag, übermorgen fangen wir eine Spritze nach einem ganz neuen Modell an; da kannst du Hand anlegen und lernen zugleich.«

In diesem Tone sprach der Meister noch lang'; er erkundigte sich nach seinem Jugendfreunde, nach dessen Haushalt und Handwerk, fragte, wie es bei jenem Brande zugegangen, dessen Kunde überall hingedrungen war, ob sein Freund sich jetzt wieder ganz erholt habe von seinem damaligen Schaden, und tausend freundschaftliche Dinge mehr, Franz gab über alles Auskunft; es war ihm so wohl, als ob er in der Heimat wäre. Beim Abendessen mußte er sich zwischen Meister Woltmann und Katharinen setzen, und dieser Platz wurde ihm für immer angewiesen. Dann fing der Meister wieder an, von Lüttich zu erzählen und zu fragen und wieder zu erzählen; Franz mußte von seiner Reise berichten und brachte allerhand Merkwürdiges und Ergötzliches vor. Er war in Köln gerade zum Fasching eingetroffen und gab die lustigsten Bilder davon zum besten, wobei er besonders an Katharinen eine aufmerksame Zuhörerin hatte. Die Gesellen, die am gleichen Tische mit der Meisterschaft saßen und Franzen fröhlich bewillkommt hatten, nahmen ebenfalls Anteil an der Unterhaltung, und jeder erzählte ein Abenteuer von seiner Wanderschaft. Katharina war sehr heiter und rief einmal übers andere: »Nun sitzen wir schon so manches Jahr beisammen, und doch ist's noch keinem eingefallen, so viele hübsche Sachen zu erzählen! Noch keinen Abend sind wir so vergnügt gewesen, wie heute.«

Die Abendglocke unterbrach diese Gespräche, und eine andächtige Stille trat ein, Franz horchte mit Staunen und Wohlgefallen auf den herrlichen Klang. »Fürwahr,« begann er, als er sah, daß die anderen ihre kurze Andacht beendigt hatten, »ich bin immer stolz auf das Geläute meiner Vaterstadt gewesen, glaube auch nie ein reineres und einstimmigeres gehört zu haben, aber eure Glocke sticht alles aus, sie hat einen wahrhaft goldenen Ton, bei dem es einem ganz anders wird.«

»Einen goldenen Ton,« versetzte Meister Woltmann, »ja du hast's getroffen, und zwar ist's nicht bloß figürlich, sondern buchstäblich so. Die Glocke ist ein altes kostbares Werk, wie heutzutage keines mehr gegossen wird, denn sie hat einen starken Zusatz von echtem Gold erhalten. Du weißt, daß man früher, um einer Glocke den rechten Ton zu geben, eine Beimischung von Gold oder Silber für nötig hielt, die jedoch meist in den Säckel des Gießers geflossen sein mag. Hier aber hat der Zufall die Mischung vollbracht, und eben darum ist das Gold auch wirklich der Glocke zuteil geworden, wiewohl sie hinwiederum, so oft sie den Mund auftut, eine Trauermär erzählt von dem Fluch, der auf dem Golde ruht. Ich will sie dir berichten, wie sie von unseren Alten hinterlassen worden ist.«

Er gab Katharinen einen Wink, die zinnernen Becher vollzuschenken, und begann hierauf die Geschichte der Glocke, die, weil nach Ortsbrauch der Eintritt der Nacht durch langes Läuten gefeiert wurde, die ganze Erzählung mit ihren weichen bebenden Schlägen begleitete.

»Vor längerer Zeit,« begann der Meister, »als die Glockengießerkunst noch selten und nur in den Händen weniger Meister war, die mit ihrem Geheimnis in der Welt herumzogen und großen Reichtum erwarben, kam einst ein solcher wandernder Glockengießer mit seinem Gesellen hierher und erbot sich, den Bürgern eine Glocke zu gießen. Sein Antrag wurde mit Freuden angenommen, denn sie hatten noch keine größere. Alles geriet in Bewegung, man legte zusammen, und jeder trug nach Kräften bei; die Reichen gaben Geld, um Metall zu kaufen und den Meister zu unterhalten, und wer kein Geld hatte, brachte Stücke Metall herzu, so viel oder so wenig er besaß, zerbrochene eherne Töpfe und dergleichen, so daß in kurzer Zeit eine Menge Metalls beisammen war und der Meister mit dem Schmelzen anfangen konnte. Dieser aber war ein wilder, jähzorniger Mann; er trug einen unmäßigen Schnurrbart, soff, fluchte und strich sich bei jedem Schwure den Bart; dazu war er unleutselig und grob gegen jedermann. Die Bürger hätten ihn längst gern zur Stadt hinausgejagt, wenn es ihnen nicht um ihre Glocke zu tun gewesen wäre. Deshalb trauten sie ihm auch nicht recht, und es mußten immer einige vom Rat zugegen sein, wenn er in seiner Werkstätte arbeitete, um aufzusehen, daß das gesammelte Metall auch wirklich alles zum Gusse verwendet werde.

»Nun lebte zu derselben Zeit in dieser Stadt eine arme Witwe, die sich von einem kleinen Kramladen kümmerlich nährte. Dieselbe hatte ihren einzigen Sohn nach Holland geschickt, um reichen Kaufleuten allda zu dienen, in diesem Geschäfte hatte sich der junge Mann, der sehr anstellig war, Gunst und Geld in hohem Maße erworben, so daß er jährlich seiner Mutter einen Zuschuß senden konnte. Nach und nach brachte er ein hübsches Vermögen zusammen, mit dem er in seine Vaterstadt und zu seiner Mutter zurückzukehren beschloß. Beim Abschied schenkten ihm die Kaufleute, bei denen er gedient hatte, zur Belohnung und zum Zeichen ihrer Zufriedenheit eine große Platte von lauterem Golde. Da er auf einem Umwege in die Heimat reisen wollte, so sandte er die Goldplatte schwarz angestrichen voraus und schrieb seiner Mutter, sie werde ihn bald wiedersehen, aber von der Platte schrieb er nicht, aus welchem Metall sie bestehe, sondern nur, man solle sie bis zu seiner Ankunft aufbewahren. Als daher in der ganzen Stadt Metall zu der Glocke gesammelt wurde, gab die unberichtete alte Frau ihre Platte her und dachte, ihr Sohn werde es zufrieden sein, das unnütze Stück auf diese Art angewendet zu sehen. Aber der Glockengießer erkannte den Schatz sogleich und trachtete von Stund an darnach, ihn in seine Gewalt zu bringen; nur war es für jetzt nicht möglich, weil er in all seinem Tun und Lassen beobachtet wurde. Noch wußte er Mittel und hoffte zuversichtlich, noch vor dem Gusse das Gold von dem anderen Metall zu sondern und sich zuzueignen.

»Als nun die Zeit des Gusses herangekommen war, unternahm der Meister schnell eine Reise gen Arensberg, um auch dort etliche Glocken anzufangen und so viel Metall an sich zu bringen, daß er das Gewicht des Goldes damit ersetzen könnte. Er trat daher zu seinem Gesellen und sagte: ,Ich muß auf etliche Tage verreisen! du bleibst indessen hier und richtest noch eins und das andere zu, was wir zum Gusse brauchen; aber höre, so lieb dir dein Leben ist, unterstehe dich nicht, den Guß in meiner Abwesenheit vorzunehmen, und wenn ich auch noch so lang' ausbliebe! Du verstehst es nicht, denn ich habe dir noch nicht alle Geheimnisse unserer Kunst mitgeteilt, und welche Schande wäre es für uns, wenn das Werk mißlänge; übrigens werde ich spätestens in acht Tagen wieder da sein.'

»Der Meister reiste ab, der Gesell blieb zurück. Dieser war ein feiner, frommer, sittsamer Jüngling, bei jung und alt beliebt. Er war fleißig am Werke und brachte vollends alles Nötige in Richtigkeit. Als nach vier Tagen der Meister noch nicht da war, fing er an, Hand an die Maschinen und Werkzeuge zu legen, durch welche die Glocke auf den Turm gehoben werden sollte.

»Acht Tage waren verstrichen und noch einige dazu; das Geschäft des Gesellen war beendigt, aber der Meister ließ nichts von sich sehen noch hören. Da entstand eine große Unruhe in der Stadt, man schrie, der Meister sei ein Betrüger, der sich auf gemeine Unkosten habe unterhalten lassen, und jetzt, da er seine Kunst zeigen sollte, entflohen sei. Der Gesell fürchtete, es sei ihm ein Unglück zugestoßen; er versicherte, sein Meister sei der geschickteste Glockengießer in der Welt, und falls er nicht zurückkäme, so verstünde ja er die Glocke zu gießen, nur habe der Meister es ihm verboten; man möchte ihm erlauben, einige Tage sich entfernen, um den Meister aufzusuchen. Aber die Bürger wollten auch ihm nicht mehr trauen; sie verboten ihm bei Todesstrafe, die Stadt nur einen Augenblick zu verlassen, und ob man ihm gleich nichts zuleide tat, so wurde er doch bewacht und wie in festem Gewahrsam gehalten. Da ging ihm endlich die Geduld aus, und er verhieß, wenn am Ende von zwei Wochen der Meister nicht zurück sei, so wolle er die Glocke gießen.

»Die vierzehn Tage gingen auf die Neige, und der Meister kam nicht. Da ging der Gesell ans Werk, betete eifrig und goß dann die Glocke. Sie war aufs schönste geraten, als er die Form zerschlug, kein Eckchen fehlte, Namen und Bilder, alles hatte sich aufs deutlichste ausgedrückt, und das Metall glänzte in einem gelben Scheine, als wenn es beständig von der Sonne angestrahlt würde. Der Gesell war voll Freuden und mit ihm alles Volk. An einem Sonnabend wurde die Glocke auf den Turm gebracht, der Schwengel aber erst in der Nacht darin befestigt, denn sie sollte ihr Erstlingsgeläute nicht eher als zum Sonntagsgottesdienst ertönen lassen. Als nun am anderen Morgen die Frühmesse eingeläutet wurde, da gab die Glocke einen so reinen, herrlichen Klang, daß alle Herzen bewegt wurden. Zu Mittag aber richtete die Stadt dem Gesellen ein großes Bankett auf dem Rathause an; daselbst wurden ihm reichliche und ehrenvolle Geschenke gereicht und wacker mit ihm gezecht bis an den Abend. Der Jüngling aber war seltsam betrübt und mußte sich zwingen, in die Freude der anderen mit einzustimmen. Er klagte, dem Meister müsse wohl etwas Böses widerfahren sein, daß er so lang' ausgeblieben, und sagte, er wolle ihn in der ganzen Welt aufsuchen, um ihm die Geschenke zu überbringen, die nicht ihm selbst, sondern jenem gebührten.

»Als nun der Abend herankam, nahm er Abschied von den Bürgern; aber viele wollten sich's nicht nehmen lassen, ihm noch das Geleite zu geben. So ritten sie mit ihm und folgten ihn aus mit Kannen und Gläsern; der Gesell ritt in der ersten Reihe, und neben ihm ging ein Saumroß, das die Ehrengaben trug. Der Rat aber befahl, ihm die Glocke nach zu läuten, so lang' er sie hören könne. In solcher Ehre und Fröhlichkeit kam er bis auf die steinerne Brücke zwischen hier und dem Schlosse Schnellenberg und tat eben noch seinen Geleitern, von denen er sich beurlauben wollte, zum letztenmal Bescheid; da sah man einen Reiter auf schweißtriefendem Rosse heranjagen; als er näher kam, erkannten sie den Meister. Er war in mehreren Städten gewesen, bis er das erforderliche Metall beisammen hatte; seine Hast und sein Ärger hatten ihm eine hitzige Krankheit zugezogen, an der er bis jetzt darnieder gelegen. Er sah todbleich aus, trotz der rasenden Eile, mit der er geritten war; aber seine Augen funkelten wie zwei Fackeln, als er den Reiterhaufen gewahr wurde, denn er ahnte, daß er zu spät komme. Er hielt vor ihnen, und in diesem Augenblick trug die Luft den goldenen Ton seiner Glocke vernehmlich herüber. »Hundesohn,« schrie er den Gesellen an, »hast du sie gegossen? Wohlan, sie soll deine Totenglocke sein!« Damit riß er das Schwert von der Seite und stieß es ihm in die Brust; der unschuldige Jüngling stürzte ohne einen Laut unter das Pferd. Seine Genossen aber warfen sich über den Mörder her, rissen ihn herunter, banden ihm die Hände und brachten ihn so nach der Stadt zurück.

»Man stellte ihn vor den Magistrat; er war zerknirscht und gestand alles, wie er das Gold erkannt habe und dem Satan anheimgefallen sei. Nur noch eines bat er sich aus: wie seine Glocke dem Ermordeten zur Todesglocke geworden sei, so möchte man sie ihm als Armesünderglocke läuten, wenn er zum Tode geführt werde. Sein Urteil wurde gesprochen, seine Bitte gewährt. Man führte ihn unter dem Klang der Glocke hinaus, festen Schrittes trat er in den Ring, blieb eine Weile stehen und horchte mit durstigem Ohr den letzten Tönen der verhängnisvollen Glocke, dann kniete er nieder, und sein Haupt fiel in den Sand. Dem Gesellen aber wurde auf der Brücke, wo er sein Ende genommen, eisern Kreuz zum ewigen Gedächtnis aufgerichtet.

»Mit dem Todesurteil hatte der Magistrat beschlossen, die Glocke solle nie mehr geläutet werden, wegen des Verbrechens, woran sie schuldig sei. Aber bald hernach traf der Sohn der Witwe, der Eigentümer des Goldes, in der Heimat ein; sobald er die Begebenheit vernommen und von seiner Mutter erfahren hatte, daß sie jene Platte zum Guß der Glocke hergegeben habe, ließ er sich vor den Rat führen und erzählte, inwiefern er bei dieser Sache beteiligt sei. Es wurde sogleich beschlossen, die Glocke wieder einzuschmelzen und durch kundige Leute das Gold für ihn ausscheiden zu lassen oder ihm eine angemessene Entschädigung in Geld anzuweisen, aber er weigerte sich des und sprach: ›Ehrsame Herren, ich bin nicht vor euch getreten, um das Meinige anzusprechen, der liebe Gott hat väterlich für mich gesorgt, daß ich in diesem Leben keine Not leiden werde. Aber weil ich das Gold zurückbegehren könnte, habe ich auch ein Recht auf die Glocke, und darum bitte ich euch, sie der Gemeinde nicht zu entziehen; wohl muß ich trauern, daß mein Gold zween um das Leben gebracht hat, einen unschuldig und einen schuldig, aber die Glocke hat durch diese Begebenheit eine ernste Taufe erhalten, und wie sie dem Unschuldigen und dem Schuldigen zu Grabe geläutet hat, so soll sie auch hinfüro allezeit fortklingen, dem Frommen zur Andacht und dem Gottlosen zur Warnung.‹« Wer Meister schwieg, und noch immer hörte man die Glocke, die gleichsam mitredend ihre letzten Schwingungen jetzt zu vernehmen gab, auf einmal aber, wie wenn sie noch ein lautes Wort hätte hinzufügen wollen, mächtig anschlug und mit diesem Schlag verstummte. Ein leiser Schauer kam über die Hausgenossenschaft in der stillen abendlichen Stube, und doch war es allen, als ob nur noch dieses Grauen vor den unbekannten Abgründen des Lebens gefehlt hätte, um das trauliche Gefühl des Daheimseins in ihnen zu erhöhen. Noch eine Weile blieben sie schweigsam beieinander sitzen, dann ging alles zu Bette, und auch der Ankömmling suchte sein neues Nachtlager auf.

Als er am andern Morgen die Treppe herunterkam, begegnete ihm Katharina auf dem Flur.

»Guten Morgen!« rief sie ihm entgegen, »Sagt mir nur gleich, was Euch geträumt hat diese Nacht, denn es ist ein alter Glaube, was einem träumt in der ersten Nacht an einem Orte, wo man zum erstenmal ist, das trifft ein. Oder seid Ihr vielleicht so müde gewesen, daß Euch gar nichts geträumt hat?«

»Allerdings hat mir geträumt,« sagte Franz, »und zwar etwas, das mir seltsam vorkam und mir immer noch lebhaft vor der Seele steht.«

»Nun, laßt hören!«

»Mir träumte, ich hütete eine Herde Schafe, und darunter war ein zartes, kleines Lamm, das ich besonders lieb hatte; es war am Halse rot gezeichnet, fraß immer aus meiner Hand und ging auf jeden Schritt und Tritt mit mir. Nun entstand nachts, als ich im Pferche lag und schlief, ein großes Geschrei, die Lämmer blökten, die Hunde bellten, daß die Luft überall widerhallte; ich fuhr auf und wollte herausspringen, aber der Pferch war fest verschlossen, und ich mochte mich anstrengen, wie ich wollte, ich blieb gefangen, während das Getümmel draußen immer mehr überhand nahm. Es dauerte, so däuchte mir, bis an den Morgen fort, da wurde es auf einmal still, der Pferch sprang von selber auf, und ich fuhr hinaus. Meine Schafe lagen friedlich umher im Frührot, aber mein Lieblingslamm fehlte. Ich ging in der ganzen Gegend umher und lockte ihm, ich sandte alle meine Hunde aus, es zu suchen, aber vergebens, es kam nicht mehr zum Vorschein. Da war ich so ernstlich betrübt, daß ich es jetzt selbst nicht mehr begreifen kann; aber ich ward im Traum auf einmal in eine andere Gegend geführt, sie war mir unbekannt und kam mir doch bekannt vor; in diesem Augenblick ist es mir, als ob es die hiesige Gegend gewesen wäre, wie sie gestern bei meiner Ankunft vor mir lag. Auf einmal war ich mitten in meinem Handwerk: vor mir stand eine Form aus Lehm, Gesellen waren dabei, und auf der Seite lehnte der Meister, Herr Woltmann, auf einem Stock und sah uns zu. Die Form aber war fertig und ganz trocken, und ich wußte, daß die Glocke, schon gegossen, darunter verborgen war. Auch wußte ich, daß es mir oblag, die Form zu zerbrechen; ich nahm also den Hammer und führte einen Schlag auf die Form. Sie ging in Stücken, aber statt der Glocke sprang ein Lamm darunter hervor, das blökte fröhlich und hüpfte an mir hinauf und leckte mir die Hände; es war am Halse rot gezeichnet, und als ich es näher ansah, war es das verlorene Lamm. Ich neigte mich und liebkoste es, und in demselben Augenblicke fing eine Glocke zu läuten an, da dachte ich: ,die Glocke ist ja auch fertig'. Diese läutete aber immer stärker, so daß ich erwachte, da war es die Morgenglocke hier in Altendorn. – Nun sagt aber, ob das nicht ein sonderbarer Traum ist?«

»Der Traum hat gewiß eine Bedeutung,« erwiderte Katharina: »ich wünsche, daß er Euch auf eine fröhliche Art in Erfüllung gehe. Ich wollte, alle verlorenen Lämmer könnten ihre Herde wiederfinden.«

Tränen standen ihr in den Augen, und sie ging schnell hinweg.

Franz suchte Meister Woltmann auf.

»Guten Morgen, lieber Junge,« sagte dieser; »du mußt nun schon leiden, daß ich dich duze; ich habe es einmal so angefangen und kann mir's jetzt nimmer abgewöhnen.«

»Bleibt dabei, Meister,« rief Franz, »Ihr macht mir eine große Freude damit, und ich kann Euch um so eher wie meinen Vater ansehen.«

»Nun, mit der Vaterschaft, Franz, können wir jetzt gleich anfangen: wir müssen über einen Punkt ins reine kommen, von dem ich gestern nicht schon reden mochte. Unsere Stadt ist katholisch, und ich bin es auch, wie du weißt, dein Vater aber ist ein vernünftiger Mann und macht sich nichts daraus. ›Ich habe zu viele Menschen und Sekten gesehen,‹ schreibt er mir, ›als daß ich nicht wissen sollte, wie wenig es mindestens bei uns ungelehrten Leuten auf den Religionsunterschied ankommt; ich habe sehr gute Katholiken und sehr schlechte Protestanten kennen gelernt, und wieder umgekehrt; aber an dem Glauben, den einer mit der Muttermilch eingesogen hat, soll er festhalten sein ganzes Leben lang; dadurch prüft er ihn am besten, wenn er ihm treu bleibt, denn sein Glaube bleibt dann auch ihm treu und wird seine Stütze in Gefahr und Anfechtung. Darum, und auch damit niemand kein Ärgernis nehme, wünschte ich, daß mein Sohn Franz sich von Eurem Gottesdienst entfernt hielte, und habe ihm dannenher für seine sonntägliche Andacht Benjamin Schmolkens Erbauungsbuch mitgegeben. So aber ein evangelisches Haus in Eurer Stadt wäre, mit dem er den Tag des Herrn begehen könnte, so sollt« mir das freilich noch lieber sein.'« –

»Sieh, Franz,« fuhr Meister Woltmann fort, »jetzt hast du die Wahl, Ich denke in dieser Sache gerade wie dein Vater, und es wird dir auch sonst niemand hier zusetzen, denn die Leute sind friedlich und duldsam; du kannst also den Sonntag über deinem Schmolke zubringen oder bei einem Religionsverwandten, der hier wohnt, wofern nämlich dieser nichts dagegen hat.«

Franz entschied sich für das letztere, und Meister Woltmann ließ ihm sogleich das Haus seines Glaubensgenossen, eines Leinewebers, zeigen. Dort wurde er aber nicht aufs beste empfangen, denn als er seinen Wunsch vorgebracht hatte, schlug der Leineweber die Hände zusammen und rief: »Was? die ganze Woche hindurch wollt Ihr Euch verunreinigen im Hause der Gottlosen, und am Sonntage mutet Ihr mir dann zu, Euch aufzunehmen in meine reine Hütte, daß ich selber verdächtig würde vor dem Herrn der Heerscharen? Nein, das kann nicht sein! O leichtsinniger, junger Mensch, habt Ihr denn keine Eltern mehr, oder sind sie so unchristlich, daß sie Euch verkauft haben in die Gemeinschaft Belials? Rettet Eure Seele und fliehet augenblicklich aus dem Hause der Verdammnis. Ich will Euch aufnehmen gegen ein billiges Kostgeld und so lang' beherbergen, daß Ihr wisset, wo Ihr hinziehen und Arbeit finden werdet. Aber wenn Ihr bei Eurem Meister bleibt, ist Euch meine Türe verschlossen, die da versiegelt ist mit dem Blute des Lammes; ja, wenn Ihr es wagen wolltet, zu mir zu kommen mit Eurem unbeschnittenen Baalsherzen, so müßte ich, so wahr mir Gott helfe, Euch von hinnen treiben, wie unser Herr die Wechsler aus dem Tempel trieb, und dazu sprechen; ,Hebe dich weg von mir, Satan!'«

Franz, der anfangs etwas verblüfft gewesen war, brach endlich, als die Rede immer salbungsvoller und die Gesten des Redners immer possierlicher wurden, in ein herzliches Gelächter aus, so daß der Leineweber ihn ganz entsetzt ansah. »Verzeihet,« rief er endlich, als er sich wieder erholt hatte, »verzeihet, daß ich so unschicklich vor Euch herausgeplatzt bin, aber es ist mein angeborener Fehler, daß ich mich nicht bezähmen kann, wenn mir was Lustiges vorkommt. Eure Meinung habe ich wohl verstanden, und es kommt mir nicht von weitem in den Sinn, sie Euch bestreiten zu wollen; unser Streit könnte gerade so lang' dauern, wie der Dreißigjährige Krieg, und dann wären wir erst nicht fertig, sondern säßen noch, wer weiß wie lang', zu Münster und Osnabrück; auch bin ich zu jung gegen einen Mann, wie Ihr, und verstehe mich besser aufs Glockengießen, als aufs Kontroversieren. Doch meine ich, wenn ich eine Glocke gieße, so sieht man ihr's nicht an, ob sie für Evangelische bestimmt ist oder für Katholische; sie ist von gleichem Metall, auch hat sie den gleichen Ton, sie mag hängen, wo sie will, ob sie zur Messe läutet oder zur Betstunde, und seht, es wird doch jedem wohl ums Herz, wenn er die Glocken in die Kirche läuten hört. Vielleicht sieht der liebe Gott die Sache auch so an und hat Wohlgefallen an unserer unverständigen Frömmigkeit, wenn sie nur vom echten Metall ist und keinen falschen Ton gibt. Aber, wie gesagt, ich will gar nicht mit Euch streiten, ich habe da nur so meine junge Meinung, und Ihr seid älter als ich, und vielleicht besser angeschrieben im Himmel. Ich wünsche Euch nur, daß Euch dereinst nicht mit demselben Maße gemessen werde, mit dem Ihr andern gemessen habt. Gott sei mit Euch!«

Mit diesen Worten verließ er das Haus und betrat es niemals wieder. Der Meister fragte ihn sogleich, wie es gegangen sei, und Franz erwiderte ganz kurz, der Leineweber wolle es nicht haben, daß jemand aus einem katholischen Hause zu ihm komme.

»Das hätt' ich dir voraussagen können!« rief Meister Woltmann lachend: »aber ich wollte ganz unparteiisch sein, und dann ist es dir auch kein Schade, wenn du die Menschen ein wenig kennen lernst.«

Katharina war dazu gekommen und fragte: »Was hat denn der Mann gegen uns?«

»Geh du nur ruhig in deine Kirche, mein Kind,« sagte ihr Vater, indem er sie küßte: »für dich ist gar nichts Bedenkliches dabei, denn das Lallen der Unmündigen, heißt es, gefällt dem Herrn.«

Franz arbeitete sich nunmehr bei seinem Meister als Geselle ein, und das tägliche Leben ging seinen ruhigen Gang. Er war geschickt und fleißig, geachtet von seinem Meister und geliebt von den Mitgesellen, welchen er ein treuer und freundlicher Gefährte war. Und wie der Meister in Handwerksangelegenheiten gern auf seinen verständigen Rat hörte, so hatte er auch im Haus ein Wörtchen mitzusprechen; es kam bald dahin, daß nichts ohne sein Beisein hier vorgenommen wurde, und die junge, lebhafte Katharina ließ sich, wenn es notwendig schien, willig von ihm hofmeistern. Sonntags hielt er seine Andacht zur gleichen Zeit mit den anderen; wenn die Glocken anschlugen, ging er auf seine Kammer, hörte zu, bis das Geläute schwieg, dann nahm er sein Buch und las sein »Gesetzlein« darin. Mit wem er in Attendorn in Berührung kam, der gewann ihn lieb wegen seines aufrichtigen, freundlichen und geselligen Wesens, Wegen der Religion erfuhr er von niemand etwas Widerwärtiges. Nur einige junge Mädchen mochten in ihrem Herzen den hübschen Ketzer bedauern und in den Schoß der allein seligmachenden Kirche zurückgebracht zu sehen wünschen. Franz aber hatte für keine ein Auge; er war so eifrig in seiner Arbeit, daß ihm kein anderer Gedanke in den Sinn kam; Reginen hatte er völlig vergessen. Katharina hatte täglich mit ihm zu tun und zu verkehren; er lehrte sie zeichnen und, was damals statt des Klaviers galt, die Orgel »schlagen«. Er hatte dies zu Hause, wo eine kleine Orgel im Zimmer stand, von seiner Mutter gelernt, und auf seinen Betrieb erhielt Katharina einmal zu ihrem Geburtstag ebenfalls eine kleine, zierlich gebaute und mit mehreren Registern versehene Orgel, über die sie in das höchste Entzücken geriet. Sie war sehr gelehrig und spielte bald auf dem anmutig tönenden Instrument protestantische wie katholische Choräle nebst den gebräuchlichen und erlaubten Liedern, worunter auch die »himmlische Geduld« nicht fehlen durfte. Franz war an sie gewöhnt wie ein Bruder an seine Schwester; ihr beständiges Beisammensein war es eben, was beide so unbefangen machte; an eine Trennung dachten sie gar nicht, denn dieser Gedanke hätte sie wohl schnell aus ihrem ruhigen Traume geweckt.

Katharina war von einer Schönheit, die sich erst nach und nach durch das Gemüt den Augen offenbarte; man mußte viel zu viel auf ihr liebes, gutes Wesen achten, und erst allmählich entdeckte man die stillen Reize des blonden Kindes, ihren edeln Körperbau, ihr zartes Antlitz und ihre seligen, blauen Augen, Aber dem jungen Glockengießergesellen kam nichts anderes in den Sinn, als täglich bei ihr zu sein, mit ihr zu reden, mit ihr zu zeichnen und die Orgel mit ihr zu schlagen.

So vergingen zwei Jahre. Glocken und Spritzen wurden in Menge geliefert, und außerdem verfertigte Franz kleine, zierliche Gefäße aller Art aus Zinn und Messing, die sich bald in der Umgegend und noch weiter verbreiteten; in den Freistunden ging er mit dem Meister oder saß er mit ihm bei Katharinen. Diese ganze Zeit von zwei Jahren, die einem Menschen so lang werden kann, ließ sich für ihn in die kurzen Worte befassen: ein Tag war schön wie der andere. Aber mit dem nächsten Frühling sollte alles ganz anders kommen.

Ein reicher Kaufmann, aus Attendorn gebürtig, kam von weiten Reifen zurück; er hatte sein Leben genossen und wollte sich jetzt, da er kein Jüngling mehr war, in seiner Vaterstadt häuslich niederlassen. Er warf sein Kennerauge auf die Töchter des Landes umher und hatte bald ausgefunden, daß keine mit Katharinen sich messen könne. Bei einem städtischen Tanzvergnügen, mit welchem die Maifeier beschlossen wurde, bemühte er sich den ganzen Abend um sie und machte ihr in mancherlei ausländischen Weisen und Figuren den Hof. Franz meinte, einen kalekutischen Hahn zu sehen, und wußte nicht, ob er ihn mehr um seine Zuversichtlichkeit beneiden oder sich über seine Zudringlichkeit ärgern solle. Aber seine ganze, ihm selbst verborgene Liebe zu dem Mädchen wachte mit einer unwiderstehlichen Heftigkeit auf, sobald ihm sein Instinkt in diesem »fliegenden Holländer« einen Nebenbuhler zeigte, und er verließ den Tanzplatz mit ganz anderen Gefühlen, als an jenem Abende, da er in kindischem Zorn von Reginen geschieden war. Der Kaufmann setzte seine Bewerbung entschlossen fort; am folgenden Tage machte er in Meister Woltmanns Hause einen Besuch, der in Franzens Herz spitzige Pfeile grub; er erkundigte sich, was damals noch nicht Sitte war, nach dem Befinden seiner schönen Tänzerin und sagte ihr schon viel ernsthaftere Süßigkeiten, als gestern abend. Am dritten Tage kam er wieder, er trug ein Päckchen köstlicher Brabanter Spitzen und sagte mit zierlichen Verbeugungen zu dem Vater, den er allein fand, dies sei das Brautgeschenk für Jungfrau Katharina, dafern sie es als solches anzunehmen gewillet sei. Hiermit hielt er förmlich um sie an.

»Liebwerter Herr,« entgegnete Meister Christoph Woltmann, »Ihr erweiset mir und meiner Tochter durch Euren Antrag große Ehre, seid dessen freundlichst bedankt; aber ehe ich Euch eine Antwort gebe, muß ich wissen, wie Katharina davon denkt, denn ich bin nicht gesonnen, sie in einer so wichtigen Sache zu zwingen. Habt daher die Güte und gebt uns beiden eine Bedenkzeit von acht Tagen. Indessen muß ich auch bitten, daß Ihr Euer schönes Geschenk wieder mit Euch nehmet, auf daß es zu keiner Mißdeutung Anlaß gebe; wenn das Mädchen einmal Eure Braut ist, so kann ich Euch nicht hindern, ihr zu schenken, so viel und so wenig Ihr wollt.«

Der Kaufmann wußte, daß die Schicklichkeit einen solchen Bescheid erforderte; er fügte sich daher mit guter Miene in die anberaumte Frist, da er nicht im mindesten zweifelte, Katharina werde nach einer so vollen Hand mit Freuden greifen. Er sagte, er wolle diese acht Tage zu einer Reise benutzen, um noch vorher einiges Nötige abzumachen, und schied mit den besten Hoffnungen.

Franz war es, welchem Meister Woltmann die Sache zuerst vortrug; der gute Mann wollte ihn um Rat fragen. Franz wurde wechselsweise rot und blaß und fragte endlich, ob er Katharinen vorbereiten solle. Der Meister gab dies unbefangen zu. Mit Bitterkeit im Herzen suchte Franz die Jungfrau auf und benachrichtigte sie von ihrem Glück, aber er war gleich versöhnt, als er gewahr wurde, wie sie darüber erschrak.

»Nun, Katharina,« sagte er, »macht Euch der Antrag keine Freude? Habt Ihr keine Lust zu dem reichen, vielgereisten Freiersmanne?«

»Nein,« flüsterte sie zitternd, »lieber wollte ich sterben.« – Alle Heiterkeit und Vertraulichkeit war von ihr gewichen, sie war scheu, wie ein verfolgtes Reh.

»Steht ihm vielleicht ein anderer im Wege, dem Ihr den Vorzug gebt?« fuhr Franz fort.

Sie sah ihn mit flehenden Augen an.

»Liebe Katharina, wir haben nun so lauge Zeit miteinander gelebt, wie Kinder, ich habe Vater, Mutter und Heimat vergessen in deiner Nähe, und wenn es mir dennoch über der Arbeit manchmal heimwehleidig ums Herz wurde, so kam dies bloß daher, weil ich meinte, du müssest immer neben mir sein und mir zusehen oder mit mir reden. Und jetzt, wo dich mir ein anderer wegnehmen will, jetzt weiß ich es ganz gewiß, daß ich ohne dich nicht leben kann.« Eine dunkle Röte lag über ihrem Angesicht, sie senkte die Augen, aus welchen Tränen strömten; sie hob sie wieder und sah ihn so herzinnig an, daß er ihr bis auf den Grund des Herzens blicken konnte.

»Katharina,« rief er, indem er sie mit den Armen umfing und fest an sich drückte, »hast du mich lieb?«

Sie lächelte durch die Tränen hindurch, flüsterte: »Sprich mit dem Vater!« und eilte hinweg.

Ganz betäubt und trunken kam Franz zum Vater zurück und sagte: »Wenn Ihr nichts dagegen einzuwenden habt, Meister, so ist Katharina heute noch Braut.«

»Ei! so schnell hat sie sich entschließen können, ihn zu nehmen?«

»Nicht ihn.«

»Wen denn?«

»Mich.«

Da schüttelte aber der Meister den Kopf sehr bedenklich und sagte: »Knabe, du hast mir was Schönes angerichtet! Doch ich kann dich nicht schelten, ich bin selber schuld daran: ich ließ mich von Euch täuschen, denn Ihr waret wie Geschwister miteinander, und ich hätte bedenken sollen, daß das nicht in die Länge gut tun konnte. Nun, jetzt ist es einmal so, und es bleibt nichts anderes übrig, als der Sache so schnell wie möglich ein Ende zu machen.«

»Was sagt Ihr, Meister?« unterbrach ihn Franz erschrocken. »Warum soll es denn nicht sein? Ich verstehe kein Wort von alle dem, was Ihr da redet.«

»Die Sache hat zwei große Schwierigkeiten,« entgegnete jener, »die von uns beiden keiner heben kann. Zum ersten ist das Mädchen katholisch.«

»Und glaubt Ihr, es wäre um ihre Seligkeit getan, wenn sie mir zu lieb evangelisch würde?«

»So? einer Liebesgrille wegen zieht man einen neuen Glauben an, wie man eine andere Schürze vorbindet? Da müßte es mit Eurer Angelegenheit schon weit gekommen sein, und, Gottlob das ist nicht der Fall; sie ist ja erst von heute.«

»Ach nein,« erwiderte der Gesell, »genau genommen, hat sie mit dem Tage begonnen, an dem ich Euer Haus betrat; wir wußten es nur nicht so, es war eben, als wenn wir immer beieinander sein müßten.«

»Es mag sein, wie es will, es würde mir nicht an Katharinen gefallen, wenn sie deswegen die Religion wechselte.«

»Ich denke, da braucht es kein Gefallen und kein Mißfallen, Ihr seid ja der Vater und könnt befehlen; ohne Euren Willen geschieht freilich nichts, und wenn Ihr dagegen seid, ja, dann ist's abgetan.«

»Nicht so sehr, wie du denkst; denn da eben ist noch ein größerer Haken: du mußt wissen, Katharina ist nicht meine Tochter.«

»Wie?« rief Franz, »was muß ich hören? Katharina ist nicht Eure Tochter?«

»Nein, mein Sohn, sie ist nur ein angenommenes Kind.«

Bei diesen Worten trat Katharina herein. »Ja,« sagte sie weinend, »der Vater hat mich aufgenommen, gepflegt, erzogen und geliebt, wie sein leibliches Kind, aber ich bin es nicht. Ach, ich habe es Euch oft gestehen wollen, Franz, aber –«

»Ich habe es verboten,« sagte ihr Pflegevater. »Man muß so was nicht unter die Leute bringen; es dient zu nichts Gutem, und sie machen nur ein unnützes Geschrei daraus.«

»Und wenn du ein Bettelkind wärest, mir wär's gleich,« sagte Franz zu ihr. »Aber kann man denn deine Eltern nicht ausfindig machen, daß sie ihre Einwilligung geben?«

Sie weinte heftig und sagte: »Ein Bettelkind bin ich allerdings, ja! Wer aber meine Eltern gewesen sind, weiß ich nicht zu sagen, ebensowenig, aus welchem Land ich gebürtig bin; ich kenne niemand als den Vater hier, den mir der liebe Gott geschenkt hat. Aus meiner frühsten Kindheit kann ich mich nur so viel entsinnen, daß ein Bettelweib weit, weit in der Welt mit mir herumzog. Wenn sie die Leute um ein Almosen ansprach, so ließ sie mich dabei sehen, um ihr Mitleid zu erwecken. Aber sie war immer gut gegen mich und gab mir immer das Beste von allem, was sie geschenkt bekam. Hier und da erzählte sie mir, ich sei nicht ihre Tochter, sie habe mich einmal, ich weiß nicht wo, an der Straße schlafend gefunden, in zerrissenen Kleidern, denen man aber doch angesehen, daß ich von keinen schlechten Leuten abstamme. Aus mir selbst habe sie nichts herausbringen können, als daß ich Katharina heiße. Darauf habe sie mich zu sich genommen und sei ihren Weg mit mir weitergezogen; an allen Orten habe sie gefragt, ob kein Kind vermißt werde, niemand aber habe davon etwas wissen wollen. Ungefähr ein Jahr lang bettelte sie mit mir den Rhein herunter –«

»Da kamst du in meine Hände,« sagte Meister Woltmann und klopfte ihr auf die Wange. »Dies ging so zu. Mein seliges Weib war aus Brüssel gebürtig und hatte dort einen reichen Vetter. Der war alt und krank und schrieb ihr, er fühle, daß sein Stündlein nahe sei, und habe sie zu seiner einzigen Erbin eingesetzt; zuvor aber wünsche er, sie noch einmal zu sehen, sie solle kommen und ihm die Augen zudrücken, damit er nicht unter Fremden sterbe. Da sie nicht allein hinreisen wollte und wir leider keine Kinder hatten, so entschloß ich mich, mein Haus so lang' zu schließen und das Handwerk liegen zu lassen, bis der Vetter zu seinen Vätern versammelt wäre. Wir zogen also miteinander gen Brüssel zu dem alten, kranken Mann, dem es wohltat, unter den Seinigen zu sein. Aber mit seinem Sterben verzog es sich, und wir hatten viel Ungemach mit seiner Pflege. Es dauerte Jahre, bis seine Krankheit zu Ende ging, da segnete er uns und starb. Wir nahmen die Erbschaft ohne Hindernis in Empfang, wollten aber nicht gleich zurückkehren, sondern reisten noch eine geraume Zeit in den Landen zu unserer Ergötzung und Erholung umher, denn mein Weib hatte als Krankenwärterin viel ausgestanden. Endlich machten wir uns auf den Rückweg und beschlossen, über Kevlaar zu gehen, da gerade die Wallfahrtszeit herangekommen war. Wir gingen, wie die anderen Wallfahrer, zu Fuß und nur langsam, weil das Wandern meinem Weibe stark zusetzte. In Kevlaar blieben wir eine Zeitlang und verrichteten unsere Andacht. Am Tage, da wir wieder fortgehen wollten, sahen wir ein Bettelweib mit einem schönen Kind unter dem Muttergottesbilde liegen; sie sah sehr abgezehrt aus und schien am Sterben zu sein. Wir nahmen uns ihrer an, ließen sie in ein Haus bringen und verpflegen, und da sagte sie uns von dem Kinde dasselbe, was du aus Katharinas Munde gehört hast. Weil ihr aber das Kind Gewinn brachte, so mag sie vielleicht den Eltern nicht allzu eifrig nachgeforscht haben. Das Weib starb, und da wir kinderlos waren, so hatten wir zu gleicher Zeit den Gedanken, das Mädchen an Kindesstatt anzunehmen; wir ließen sie kleiden und kehrten mit ihr nach Attendorn zurück. Um weder sie noch uns dem Gerede der Leute auszusetzen, gaben wir vor, sie sei unser Kind und während der mehrjährigen Abwesenheit von meinem Weibe geboren worden; man wünschte uns Glück und scherzte über den späten Ehesegen. Mein gutes Weib kränkelte aber seit der Brüsseler Reise und ging nach einigen Jahren in die ewige Heimat ein. Nun wäre ich allein in der Welt gewesen, aber das liebe Mädchen wurde mein Trost und die Freude meines Alters. Um das Geheimnis weiß niemand in der ganzen Stadt, aber es ist eine Ehrensache, es ihrem Freier zu entdecken, denn wie ich sie nicht unnötigerweise in den Mund der Leute bringen wollte, so will ich doch auch niemand mit ihr betrügen. Sobald sie einwilligt, den Kaufmann zu heiraten, so muß er ihre ungewisse Herkunft erfahren und kann sich darnach halten; will sie ihn aber nicht, so braucht er auch nichts zu wissen. – Jetzt frage ich dich, Franz, wie du es bei deinen Eltern angreifen willst, um ihre Einwilligung zu dieser Heirat zu erlangen? Ich habe Katharinen, wie es meiner Tochter geziemte, in meinem Glauben erziehen lassen, und es geht nicht so leicht, damit eine Änderung vorzunehmen. Geschähe es aber auch, so könnten doch die Deinigen immer noch Skrupel genug darin finden. Aber noch mehr: wenn sie dich fragen, wer ist die Frau, die du einführen willst in unser ehrsames Haus? woher ist sie? und wer sind ihre Freunde, mit denen wir uns verschwägern sollen? was kannst du antworten? Du hast mir selbst Beispiele erzählt, wie schwer bei Euch, wo alles in die Verwandtschaft heiratet und die ganze Stadt unter sich verwandt ist, eine fremde Frau eine Heimat findet: wie würde es nun vollends einem Findelkinde gehen? Niemals werden deine Eltern in diese Heirat willigen. Zwar kann man es meinem Kinde nicht ansehen, wes Standes sie ist: sie kann meinetwegen von einem Fürsten oder Grafen abstammen, aber es kann auch anders sein, und ihre Herkunft könnte doch immer noch an den Tag kommen. Mir gilt das gleich, ich kann der Entdeckung ruhig entgegensehen, denn Katharina ist und bleibt meine herzliebe Tochter, mein gutes Kind, und wenn sie von einem Abdecker herkäme. Aber die Deinigen denken nicht so und werden in einer so wichtigen Sache nichts aufs Ungewisse wagen. Deswegen bitte ich dich, Franz, stehe lieber von deiner Werbung ab und frage zu Hause gar nicht an; ich weiß, du würdest es nicht durchsetzen, und dein bloßes Anfragen brächte dir Verdruß auf den Hals. Mit dem hiesigen Freier ist es ein ganz anderer Fall; der hat keine Eltern und keine nahe Verwandtschaft, die er zu fragen brauchte, er ist sein eigener Herr, und da er Katharinen sehr gut zu sein scheint, so glaube ich nicht, daß er sich an dieser Schwierigkeit stoßen wird. Bei ihm fällt ohnehin das Haupthindernis weg: er ist gleichfalls katholisch, wie sie, und da braucht keins dem andern seinen Glauben zum Opfer zu bringen.«

»Ja, ja,« sagte Franz mit jener Bitterkeit, die so leicht in jungen Herzen aufsteigt, wenn sich der Leidenschaft Gründe in den Weg stellen, deren Gewicht sie wider Willen anerkennen muß, – »ja, ja, ich sehe schon, Ihr habt alles mit dem Mynheer Nabob so gut wie ins reine gebracht.«

»Sei kein Kind, Franz!« rief der Meister gutmütig aufbrausend. »Meinst du denn, du wärest mir als Schwiegersohn nicht so willkommen oder willkommener denn jeder andere? Ich habe nichts mit ihm abgemacht, wiewohl nur die Eifersucht leugnen kann, daß der Mann nicht so geradehin zu verwerfen ist. Aber ich sage dir ja, daß ich die ganze Sache in ihren freien Willen stelle. Sagt sie nein, so könnten wir, dächt' ich, von anderen Dingen reden. Hat sie sich's in den Kopf gesetzt, keinen anderen zu nehmen als dich, je nun, so wißt ihr ja die Bedingungen. Vor allem muß sie zu deiner Religion übertreten, um dir in deine Heimat folgen zu können. Da steht sie: frage sie, ob sie bereit sei, ihren Glauben abzuschwören. Oder hat sie dir schon das Wort darauf gegeben?«

»Nein,« antwortete Franz und blickte mit gespannter Erwartung auf Katharinen. Sie hatte den Kopf gesenkt, hob die Augen nicht vom Boden und sprach kein Wort.

»Genug!« versetzte der Meister, der mit einem Blick die Haltung des Mädchens und den tiefen Eindruck derselben auf den jungen Mann überschaut hatte. »Für jetzt ist genug gesprochen. Es bleibt bei der Bedenkzeit, die ich dem Freier gesetzt habe. In acht Tagen,« sagte er hierauf zu seiner Tochter, »will ich dich wieder fragen, und bis dahin,« setzte er gegen beide gewendet hinzu, »wird es das beste sein, einander das Herz nicht schwer zu machen.«

Sie trennten sich schweigend.

Die acht Tage vergingen sehr langsam und doch auch wieder sehr schnell. Gesprochen wurde fast gar nichts, auch zwischen den beiden Liebenden nicht, denn er scheute sich die Frage zu wiederholen, die sie ihrem Vater zu beantworten gezögert hatte, und ihr war die Zunge wie gebunden. An ihm war eine von Tag zu Tag wachsende unheimliche Spannung zu bemerken, die niemand deuten konnte, die aber Katharinen, wenn ein düsterer Blick aus seinen Augen auf sie fiel, mit Schrecken erfüllte. Er arbeitete rastlos, aber mit einer peinlichen Hast und Heftigkeit. Der Meister sah ihm kopfschüttelnd zu, und Katharina ging oft auf ihr Kämmerlein, um sich satt zu weinen.

Der letzte Tag der gegebenen Frist war herangekommen, der Meister und seine Tochter saßen mit gepreßtem Herzen beisammen, denn Franz hatte gegen alle Gewohnheit diesen Morgen um Vergünstigung gebeten, einen längeren Ausgang machen zu dürfen, und war zum Mittagessen nicht zurückgekehrt. Ein herannahendes Gewitter vermehrte ihre Bangigkeit. Der Himmel war schwarz überzogen, der Donner, der noch in der Ferne drohend murrte, schien sich allmählich zu nähern, der Tag verfinsterte sich, Blitze spielten durch das Dunkel, und man hatte ein Gewitter zu befürchten, schwerer als der Mai es sonst mit sich zu bringen pflegt. Die alte Glocke sandte ihre bebenden Töne hinaus, die der geängstigten Stadt die Gefahr beschwören helfen sollten. Endlich kam das Gewitter und mit ihm Franz.

Er trat mit finsterer Entschlossenheit herein und sprach: »Meister, wollt Ihr mir ein paar Worte vergönnen?«

»Sprich, mein Sohn,« erwiderte dieser, »und möge es etwas Gutes sein!«

»Herr Woltmann, lieber Meister,« hub der Jüngling an, »Ihr habt mir zwei Hindernisse genannt, die zwischen mir und Eurer Pflegetochter stehen. Ich bin nun diese acht Tage mit mir zu Rat gegangen und habe gefunden, daß es ein Mittel gibt, durch welches beide mit einem Male zu heben sind. Ihr habt gesagt: daß ich ein Protestant sei, das stehe der Heirat im Weg; und weiter: ein Mädchen von ungewisser Herkunft könnt' ich bloß dann zur Frau nehmen, wenn ich keine Eltern hätte, wie sie.«

»Das hab' ich nicht gesagt!« unterbrach ihn der Meister.

»Gleichviel,« fuhr Franz fort, »ich will Euren Glauben annehmen, der gut sein muß, weil Katharina nicht von ihm lassen zu wollen scheint. Dann ist die Religion kein Hindernis mehr. Und,« setzte er mit brechender Stimme hinzu, »ich hoffe zwar, meine Eltern werden mir ihren Segen nicht ganz entziehen, aber dreinreden werden sie mir dann nichts mehr, und werden mir nicht verwehren, die Tochter des Kaisers oder des Scharfrichters zu heiraten.«

Der Meister sah nach Katharinen hinüber: sie hatte das Gesicht verhüllt. »Hast du das mit dem Mädchen abgeredet?« fragte er.

»Kein Wort!« beteuerte Franz.

»Nun, und was sagst du dazu, meine Tochter?«

Katharina ließ die Hände sinken, sie sah sehr bleich aus. »O Franz,« rief sie, »begehe keine Sünde um meinetwillen! Bin ich denn so wichtig, daß du die Liebe deiner Eltern um mich aufs Spiel setzen mußt? Ich bitte dich, verlaß uns, kehre wieder in deine Heimat zurück und tue deinen Eltern kein solches Leid an; du wirst gewiß eine andere finden, bei der du mich vergessen kannst.«

Franz zitterte wie im Fieber, »Sünde?« sprach er. »Was ist denn für eine Sünde dabei, die mir meine Eltern vorwerfen könnten? Habt Ihr einen andern Gott als wir? Deucht mir doch, der Hauptunterschied bestehe in ein paar Tropfen Wein.«

»Junge!« donnerte der Meister, »fürchtest du dich nicht, so gottlos zu reden? Hörst du nicht, wie der Himmel über deine gottvergessenen Reden zürnt?«

»Laßt's gut sein, Meister,« lachte Franz, »der Himmel ist jetzt zornig, weil gerade ein Wetter ist. Er würde ebenso schelten, wenn ich gesagt hätte, es sei ein Tiegel umgefallen.«

»Siehst du, wie der Unglaube aus dir spricht?« rief der Meister halb ärgerlich halb lachend. »Du bist, sorg' ich, nicht einmal gut evangelisch, du würdest mir einen schönen Katholiken geben!«

Das Gewitter wurde stärker, heftige Schläge fuhren zwischen die streitenden Reden der beiden Männer.

»Und, kurz und gut,« sagte Meister Woltmann, »bleibe auf deinem Willen, werde katholisch, aber mein Jawort bekommst du nicht! Wenn sich dein Herrgott, wenn sich dein Vater nicht auf dich verlassen kann, so mag ich's auch nicht. Was würde dieser von mir sagen, der dich mir anvertraut hat? Der Christoph, würde er sagen, ist ein alter bigotter Narr und ein schlechter Kerl geworden, er hat mir meinen Sohn katholisch gemacht.«

»Gut,« entgegnete Franz, »wenn's das ist, so bleibt auf Eurem Sinn, aber laßt auch Katharinen den ihrigen. Ihr könnt's ihr nicht verwehren, wenn sie in mir einen Katholiken nimmt. Oder verstoßt sie meinetwegen, ich trage sie auf den Händen durch die Welt.«

»Ich hoffe,« sprach Meister Woltmann, »mein Kind werde vernünftig sein und bei mir bleiben. Katharina sieht jetzt schon ein, was du erst später einsehen würdest. Ja, und auch du siehst mir nicht aus, als ob du dein Gewissen völlig überwunden hättest. Und wenn du nun dennoch deinen Willen durchsetztest, wie würde es in ein paar Jahren sein? Verstoßen von deinen Eltern, verflucht von deinen ehemaligen Glaubensbrüdern, von allen besseren Katholiken verachtet, ohne Auskommen, ohne Beistand, wirst du mit ihr herumirren: der erste Rausch ist verflogen, und du siehst in dem armen Kinde nichts mehr, als die Ursache all deines Ungemachs. Ich traue dir wohl zu, daß du nicht so unedel sein wirst, es ihr zu sagen, aber in deinem Herzen wirst du's denken, und Katharina wird's in dem ihren fühlen, und beide werdet ihr unglücklich sein. Das sagt sich mein kluges Kind von selbst, ehe es zu spät ist, und damit wird sie sich und dich vor Schaden behüten. Glaubst du denn, es könne ihr Vertrauen einflößen, wenn du um ihretwillen die Gemeinschaft deiner Glaubensgenossen, deiner Eltern, deiner Verwandten und Mitbürger wie altes Eisen wegwirfst? Ich glaub's nicht. Hab' ich doch schon einmal einen ähnlichen Fall erlebt, den du dir zur Lehre dienen lassen kannst. Es wird just so gut wie ein Wettersegen sein, wenn ich dir's erzähle; denn mir scheint es, das Ungewitter in deinem Innern sei gefährlicher als das am Himmel. Höre also auf ein warnendes Beispiel, da du nicht auf die Stimme hören willst, die aus den Wolken spricht.«

Franz machte eine ungeduldige Bewegung, als ob er wenig geneigt wäre, sich in dieser schweren Stunde durch eine Geschichte, wie sie der Meister zu erzählen liebte, zerstreuen zu lassen; doch hielt ihn die Achtung vor dem väterlichen Freunde in Schranken. Nach einem gewaltigen Vorspiel, das dieser dem Donner hatte einräumen müssen, hob der Meister zu erzählen an:

»In Brüssel, im Hause meines Meisters, dessen Tochter ich nachher heimführte, lernte ich einen Studenten kennen, der daselbst wohnte und wegen einiger großen Dienste, die er als geschickter Arzt geleistet hatte, ein vielgeliebter Hausfreund geworden war. Von Geburt war er ein Deutscher, protestantischer Konfession und hieß Ludwig mit seinem Vornamen. Er hatte in Löwen studiert und vollendete jetzt seine Studien bei der berühmten medizinischen Gesellschaft zu Brüssel, war aber bei allem Fleiß eine lustige Haut, immer zu Späßen und tollen Streichen aufgelegt. Er hat mir manche schlaflose Nacht bereitet, denn er stellte sich, als ob er mir die Meisterstochter wegfischen wollte, und ruhte nicht eher, als bis ich eifersüchtig wie ein Türke geworden war; dann aber machte er der Neckerei ein Ende und brachte es durch seine Fürsprache bei meinem Schwäher dahin, daß ich mich schon als Gesell mit meinem lieben Weibe verloben durfte. Ich tat mir nicht wenig darauf zu gut, daß ich so viel Ehre von einem so gelehrten Herrn genoß. Eins aber wollte mir nicht ganz an ihm gefallen: er war mir zu leichtsinnig in Religionssachen. Zwar nahm er sich vor mir in acht, weil er wußte, daß ich in dem Punkte keinen Spaß verstand, doch spöttelte er hie und da über unsere katholischen Bräuche. Oft lachte er mich aus, wie ich mir nur habe in den Kopf setzen können, daß er im Ernst mein Nebenbuhler sei, da er doch schon als Protestant nicht daran hätte denken können, eine Katholikin zu heiraten. Damals sah ich nicht voraus, wie es sich nachher so ganz mit ihm wenden sollte. Er nahm von uns und von Brüssel Abschied; die medizinische Gesellschaft ernannte ihn zu ihrem Mitglied, die Universität Löwen setzte ihm den Doktorhut auf, und er verließ die Niederlande in großen Ehren, um auf gelehrte Reisen zu gehen. Zuvor besuchte er seine Eltern in Deutschland, deren Stolz und Freude er als einziger Sohn war; dann wollte er sich in die Schweiz und hierauf nach Montpellier, als einem berühmten Sitz der Arzneiwissenschaft, begeben. Aber er kam nicht weiter als bis Konstanz. Dort besuchte er, nach seiner Gewohnheit, einen großen Arzt, den er am Krankenbette eines einzigen Kindes traf, und der ihm gestand, daß er mit all seiner Kunst ratlos sei und die Hoffnung, seine Tochter Kornelia zu retten, völlig aufgegeben habe. Auf Ludwigs Andringen ließ er ihm die Kranke zur Behandlung, und der junge Doktor hatte sie mit einer seiner kecken Kuren nach wenigen Wochen dem Tod aus dem Rachen gerissen. Die Folge war, daß die beiden jungen Leute einander liebgewannen, nur meinte es Kornelia nicht für diese Welt; denn als er ihr Herz und Hand anbot, erklärte sie ihm mit bitteren Tränen, sie werde nie einem anderen die Hand reichen, aber auch von ihm sei sie durch eine unübersteigliche Kluft getrennt. Ihr Vater jedoch, sei es nun, daß er in Wahrheit vom Eifer für unsere Religion entflammt war, oder wollte er den Protestanten ein solches Licht der Wissenschaft entreißen, oder hatte er andere weltliche Beweggründe vor Augen, kurz, der Alte sagte ihm, er solle nur der Ketzerei entsagen, dann sei er auf dem geraden Weg zum Ziele seiner Wünsche, Ludwig drückte ihm die Hand, und fort war er, ohne Kornelia zuvor noch einmal gesehen zu haben. Nach einigen Wochen aber kam er von Sankt Gallen zurück, wo damals ein sehr glaubenseifriger Abt war, der's ihm leicht gemacht haben mag. ›Gelobt sei Jesus Christ!‹ rief er Kornelien entgegen. ›In Ewigkeit,‹ antwortete sie und kehrte ihm den Rücken zu. Um jene Zeit saß ich einmal mit meinem Weib abends drunten vor der Haustür auf der Bank. Da kam ein Fremder die Straße herauf, ein bleicher Mensch mit hohlen Augen und struppigem Haar. Gott verzeih mir's, das alte Lied vom Tannhäuser fiel mir ein, da ich ihn sah, aber wie ward mir erst, als ich ihn erkannte! Er erzählte uns seine traurige Geschichte, und das merkwürdigste war, daß er jetzt Kornelien recht gab. ›Wohl mag vor Gott kein Unterschied im Glauben sein, hatte sie gesagt, aber leider Gottes haben die Menschen einen gemacht, und daraus sind durch beiderseitige Schuld Verhältnisse entstanden, die der einzelne nicht überspringen kann; wo Kampf in der Welt ist, wo ein Teil den anderen zu unterdrücken sucht, da erkennt man den Menschen vor allem an der Treue, die er den Seinigen hält, und dem Überläufer werden meist nur die Eitlen vertrauen.‹ Wir suchten ihn vergebens zu halten, unstät und flüchtig setzte er seinen Stab weiter, und bald hernach ist er auf der Reise, in der Fremde, fern von Eltern und Verwandten gestorben. Sieh, Franz, so bestraft sich der Abfall, der dir in deiner jetzigen Verfassung ein leichtes dünkt.«

Ein furchtbarer Donnerschlag folgte auf diese Worte; man hatte die Wahl, ob man eine Bekräftigung oder einen Widerspruch darin finden wollte. »Gott steh uns bei!« murmelte der Meister unwillkürlich und ging nach dem Fenster, um zu sehen, ob der Streich irgendwo eingeschlagen habe. Er fand alles ruhig und kehrte wieder zurück.

Die drei Menschen, die einander so lieb hatten und dennoch durch die Macht der Einrichtungen und Ansichten unwiederbringlich getrennt schienen, standen einander eine Weile stumm gegenüber. Jedes sah die Züge der andern entstellt im fahlen Licht der Blitze, und der Donner, der jetzt fast unausgesetzt das Haus erschütterte, war ihnen ein Widerhall des inneren Herzenskampfes. Durch das Getöse aber klang die flehende klagende Stimme der Glocke wie eine vergebliche Bitte an die harten Mächte dieser Welt.

Franz raffte sich zuerst auf. »Leb' wohl, Katharina, lebt wohl, Meister,« sagte er, beiden die Hände hinstreckend.

»Franz!« rief Katharina.

»Was fällt dir ein?« rief Meister Woltmann.

»Ich muß fort,« antwortete er dumpf, so daß sie ihn unter dem Rollen des Donners kaum verstanden. »Ihr mögt recht haben beide, der Meister mit seinem Reden, und Katharina mit ihrem Schweigen. Ich will nicht streiten darüber. Eine Welt, in der es zum Verrat wird, nach dem Besten und Lautersten zu greifen, was der Mensch begehren kann, eine solche Welt ist auch des Streitens nicht wert. Grüßet meine Eltern, Meister. Wenn ich diesen Stoß überwinden kann, so geh' ich wieder heim; kann ich's nicht, so werden sie ja lieber Leid haben wollen, als Schande.«

»Wo willst du hin?«

»Wo sich ein Weg auftut. In den Krieg – aufs Meer – weiß ich's?«

»In dem Unwetter, Franz!« rief Katharina, die mit sich kämpfte und nur durch des Vaters Gegenwart abgehalten wurde, ihn zu umklammern.

»Behüt' Euch Gott!« rief er mit starker Stimme, die den Donner übertönte, und wandte sich der Türe zu.

»Jesus! Jesus!« schrie Katharina. Das Zimmer stand im Feuer, und zugleich fiel ein Streich, der einen Augenblick stockte, um im nächsten mit betäubender Gewalt und schmetterndem Krachen die Luft zu zerreißen. Blitz und Schlag waren sich so rasch gefolgt, und der Donner war mit jenem eigentümlichen Tone eingefallen, daß niemand zweifelte, es müsse eingeschlagen haben. Zugleich wurde es auch laut auf den Straßen, Feuerruf ertönte, Pferde rasselten im gestreckten Lauf herbei, von ihren Reitern wütend gespornt. Die beiden Männer stürzten hinab; das ganze Gewicht der Stunde lag auf dem Gießer als Spritzenmeister. Er mußte das Gewölbe öffnen, wo sämtliche Löschwerkzeuge aufbewahrt wurden, die Spritzen für die harrenden Pferde herausziehen und ihre Leitung übernehmen. Auf die größte setzte er sich selbst, in die anderen teilten sich Franz und die übrigen Gesellen.

Alles dies war geschehen, ehe man nur wußte, wo der Blitz gezündet hatte; aber es blieb nicht lang' verborgen, denn nun streckte die Flamme zu allen Fenstern des Kirchturms, dessen Glocke verstummt war, ihre roten Zungen heraus. Die Spritzen wurden ringsherum verteilt und spieen dem Feuer sein feindliches Element entgegen; doch der Turm war zu hoch und die Wasserstrahlen, die zwar bis zu den Fenstern reichten, waren ohne Kraft und Sicherheit, sie trafen nur die Spitzen der Flamme, statt innen unter dem Gebälke des Glockenstuhls ihren Mittelpunkt aufsuchen zu können. Das Feuer nahm sichtbar überhand, und jetzt beschäftigte eine andere Sorge die Scharen der Rettenden. Es war zu befürchten, daß ein Teil des Turmes ausgehöhlt und morschgebrannt herabstürzen würde; daher war man beschäftigt, die umliegenden Häuser, die von dem Sturze dieser Trümmer bedroht waren, auszuleeren und sich im voraus gegen das Umsichgreifen des Brandes zu waffnen, Der Turm wurde verloren gegeben, die Spritzen traten langsam, ihre letzten Kräfte gegen die gefährliche Höhe versendend, den Rückzug an.

Alles stand untätig umher, auf die weitere Entwicklung des bangen Schauspiels gerüstet. Da schlug eine Glocke an, eine andere folgte, und bald erklang das vereinte Geläute aller Glocken, als wollten sie zum festlichen Kirchgang laden. Die Menge sah sich erstaunt und dann traurig an, denn man erkannte bald, daß es die Kraft der Hitze war, die das Glockenspiel zum letztenmal in Bewegung setzte. Die Goldglocke hatte angefangen, ihr reiner, klagender Ton war aus allen heraus zu vernehmen und drang erschütternd in die Herzen der Umstehenden, die bei diesem Schwanengesang ihrer verhängnisvollen Geschichte gedenken mußten. Franz aber, der in der Aufregung des Augenblicks einen Teil seines eigenen Leidens vergessen hatte, fühlte sich im Geist in jene Nacht zurückversetzt, da er den Brand seiner Vaterstadt mit erlebt hatte, und wie er nun hier vor seinen Augen sah, was damals seinen Blicken entzogen geblieben war, wie er endlich die aus dem brennenden Gebälke losgewordenen Glocken mit unaussprechlichem Getöse durch das Innere des Turmes herabstürzen hörte, so wachten alle die Erzählungen, die ihm während seines Heranwachsens geläufig geworden waren, mit schauriger Lebendigkeit in ihm auf.

Aber die untätige Ruhe, mit der das Volk diesem Ereignis nachstarrte, dauerte nicht lang; ein Schrei erhob sich aus der Menge, alles wich ängstlich zurück. Die Spitze des Turmes wankte, neigte sich und fiel, weithin die Zerstörung tragend; Steine und brennendes Holzwerk schlugen durch die Dächer, und in demselben Augenblick standen mehrere Häuser in Flammen, Nun wurden alle Kräfte aufgeboten. Die Feuereimer flogen durch die Kette hindurch, die Spritzen reihten sich vor den Häusern auf. Doch konnte man das Umsichgreifen des Feuers nicht hindern, es züngelte von einem Nachbardach auf das andere, und bald schlug auch auf Meister Woltmanns Hause der rote Hahn seine Flügel. Franz eilte mit der ihm zugeteilten Spritze herbei; das Haus war ihm eine zweite Heimat geworden, deren Untergang er nicht ertragen konnte, und zudem drohte von hier aus die höchste Gefahr, da das Haus eine Ecke nach einer noch unversehrten Straße hin bildete. Achtsam saß er oben auf seiner Spritze und lenkte die Röhre hierhin und dorthin, umsichtig spähend, wo dem Feuer am besten beizukommen wäre.

Indem er so mit forschenden Blicken und von der Höhe seines Sitzes begünstigt durch die Fenster tief in die Gemächer und Kammern sah, gewahrte er auf einmal, wie ein gespenstiges Blendwerk, mitten im Wohnzimmer Katharinen. Sie stand noch auf demselben Platze, wo er sie vorhin verlassen hatte. Er sah hin und sah noch einmal hin, und herab war er von der Spritze, deren Röhre, seiner Hand entfallen, herunterschlug und die Verwunderung der Umstehenden über das Benehmen des Spritzenlenkers durch einen derben Wasserstrahl nicht eben angenehm vermehrte.

Katharina war von jenem Donnerschlage betäubt stehen geblieben, sie sah und hörte nichts, ihre Gedanken flogen wild und gestaltlos durcheinander. Die fortwährende Spannung der letzten Woche, die Erschütterungen des leidenschaftlichen Wortwechsels, an dem sie einen stummen, aber um so bewegteren Anteil genommen hatte, der jähe Schmerz bei Franzens plötzlichem Abschied und endlich der Schreck über die heftige Entladung des Gewitters, dies alles hatte zusammen so sehr auf das sonst starke Mädchen gewirkt, daß sie jetzt einer Schlafwandelnden glich. Die Außenwelt ging ihr nicht ganz verloren, aber sie nahm dieselbe bewußtlos und nur wie von ferne auf; sie gewahrte alles, was bei dem Brande vorging, durch den Spiegel eines magnetischen Traumes, sie hörte den Feuerruf und sah den Brand des Turmes, aber es war ein anderer Turm, den sie in ihrem Innern erschaute. Größer und schöner stieg er in ihrem Traumgesicht empor mit Nebentürmen, Türmchen und Spitzen, die zwölf Apostel, lebensgroß in Stein gehauen, standen in Nischen an der Kirche umher, oben aber, aus den hohen Bogenfenstern am Glockenstuhl, schlug die Flamme gräßlich hervor, unten eilten flüchtige Menschen sich drängend vorüber, Kinder irrten dazwischen, geängstigte Haustiere suchten aus den brennenden Häusern in ein sicheres Nest zu entkommen. Das Läuten der Glocken, das Geschrei der Menschen, das Krachen der stürzenden Trümmer, alles drang mit fremden Stimmen an ihre traumbetäubten Sinne. Oben auf der dünnsten Spitze des Münsterturmes stand ein Engel wie aus lauterem Golde getrieben, er schien seine Flügel rettend über dem Graus und der Verwüstung zu schwingen, auf einmal wandte er sich leuchtend gegen die Schauende und rief:

»Katharina, Katharina, komm zu dir!«

Sie schrak auf, Franz hielt sie in seinen Armen. Ihre Spannung war gelöst, sie warf sich ihm laut weinend an die Brust. Er umfaßte sie und trug sie hinweg wie ein hilfloses Kind, über ihnen das Sausen der Flammen, das Prasseln des Sparrenwerks. Das Feuer war im Dach und in den oberen Räumen, die Böden waren noch nicht durchgebrannt, aber die oberen Treppen standen schon in lichten Flammen; doch Franz, der jeden Winkel des Gebäudes kannte und auch in diesem drangvollen Augenblicke seines Berufes nicht vergaß, hoffte alsbald die geeigneten Mittel zur Rettung des geliebten Hauses anwenden zu können. Er eilte mit seiner Bürde die Treppe hinab. Bretter- und Treppenteile, die sich oben lösten, fielen neben ihm nieder, und ein schweres Holzstück streifte ihm den Kopf. Er merkte es nicht einmal, stürzte zum Hause hinaus, legte Katharina den aufschreienden und herzuspringenden Leuten in die Arme, gab der Mannschaft die nötigen Mitteilungen über den Sitz des Feuers und die zugänglichsten Stellen und wollte sich munter auf seine Spritze schwingen. Aber im Ansetzen sank er zurück und fiel ohnmächtig nieder.

Die Weisungen jedoch, die er gegeben hatte, entschieden über den Verlauf des Brandes. Die Flamme wurde an den bezeichneten Punkten gedämpft und die herabfallenden Brandtrümmer, von welchen den unteren Stockwerken Gefahr drohte, zog man mit Haken heraus. Das Woltmannsche Haus wurde gerettet, und wie im ersten Vorteil, den man über einen Feind erringt, sich schon der vollständige Sieg ankündigt, so gelang es auch in der Nachbarschaft allmählich den angestrengten Bemühungen der Löschenden, das Feuer zurückzudrängen, auf seine bereits gemachte Beute zu beschränken und endlich ganz zu überwältigen. Meister Woltmann hatte, wie er bei der näheren Besichtigung seines Hauses fand, keinen großen Verlust gehabt. Die unteren Geschosse waren unbeschädigt, nur ein Teil des Daches und der Bodenräume mußte, nebst den Treppen, die nach oben führten, neu gebaut werden.

Aber in den nächsten Tagen war in dem Woltmannschen Hause, das im vollen Stande der Wohnlichkeit geblieben war, von einem solchen Geschäfte nicht die Rede. Die Bewohner gingen geräuschlos hin und her oder sprachen leise und ängstlich miteinander; von Zeit zu Zeit sah man Katharinen mit verweinten Augen vorüberschweben; sie ging nach dem Zimmer, in welchem Franz seit zwei Tagen besinnungslos darniederlag, und das sie nur verließ, um irgend ein für ihn notwendiges Bedürfnis zu befolgen. Das brennende Trümmerstück, von dem er am Haupte getroffen worden war, hatte eine Verletzung zurückgelassen, die der Arzt für sehr bedenklich erklärte. Als die ersten Maßregeln, den Jüngling aus seiner Ohnmacht zu erwecken, fruchtlos gewesen waren, schlug derselbe eine Operation vor, die bei dem nicht über jeden Zweifel erhabenen Grade der Heilkunst mit Recht als das Äußerste zu fürchten war. Daher setzte sich ihm Katharina hartnäckig entgegen und versicherte, sie werde es durchaus nicht zugeben, daß man eine so gewagte und grausame Kur mit dem Kranken vornehme.

Eben kam der Arzt wieder, und nachdem er die Kopfwunde untersucht hatte, erklärte er, man müsse, ohne länger zu zögern, »mit der Katz' durch den Bach«.

»Nimmermehr!« rief das Mädchen. »Eher sollt Ihr mir selbst den Kopf zersägen. Ihr habt Eure Freude daran, die Menschen zu martern, aber so lang ich ein Wort zu sagen habe, soll er Euch nicht preisgegeben werden. Ich glaube es nimmermehr, daß dieses schreckliche Verfahren nötig ist, ich weiß vielmehr gewiß, er wird zu sich kommen, er wird ohne Sägen und Schneiden und Brennen gerettet werden.«

»Zu Grunde gehen wird er durch diese Bedenklichkeiten! Ich will noch einen Tag warten und mit den alten Mitteln fortfahren, aber dann muß er dran!« so sagte der Arzt und ging verdrießlich hinweg.

Katharina glaubte nur schwach an das, was sie gegen den Arzt ausgesprochen hatte. Sie trat an das Lager ihres Lieblings und beugte sich weinend über ihn, sie fühlte ihre Liebe durch die Gefahr besiegelt, sie war sich bewußt, auf Leben und Tod mit ihm verbunden zu sein, und gelobte sich fest, wenn er genese, keiner Rücksicht mehr zu folgen, sondern was sie längst schon war, die Seinige zu werden unter jeder Bedingung und die Härte der Welt oder die Abneigung seiner Verwandten freudig zu tragen um seinetwillen; sie war bereit, seine Religion zu der ihrigen zu machen; war doch seine Treue die ihrige! Mit diesem Entschlusse beging sie im stillen ihre feierliche Verlobung und drückte dem Ohnmächtigen einen langen Kuß auf die blassen Lippen, Da schlug Franz die Augen auf und sah verwundert umher; er konnte sich nicht besinnen, was mit ihm vorgegangen war.

Katharina erzählte ihm den Unfall, der ihn betroffen hatte, dann berichtete sie ihm, wie das Feuer gelöscht und die Ruhe des Hauses bloß durch seinen hoffnungslosen Zustand bis jetzt getrübt worden sei. Sie gestand ihm, daß sie sich mit stillen Schwüren ihm verlobt habe, und reichte ihm die Hand zum Zeichen ihrer unauflöslichen Verbindung. »Ach,« sagte sie, »du hast mich nicht recht verstanden; ich habe nicht deshalb geschwiegen, weil ich unüberwindliche Bedenklichkeiten hatte, sondern bloß, weil ich nicht wußte, wie ich's angreifen sollte, um den Vater nicht zu beleidigen, und dein finsteres Wesen hat mich vollends ganz ratlos gemacht.«

»Verzeih mir mein blindes Ungestüm,« erwiderte Franz. »Von jetzt an wird nichts mehr zwischen uns treten. Um die Zukunft bin ich ohne Sorgen, denn die Hauptsache, nämlich daß wir zusammengehören, ist im reinen, und was Gott so vereinigt hat, das kann der Mensch nicht scheiden.«

»Aber sage mir nur, Herzliebste,« fuhr er fort, nachdem sie eine Weile stumm ihr Glück genossen hatten, »was hat sich denn Sonderbares mit dir begeben? Ich dachte dich während des Brandes sicher untergebracht und ging ruhig dem Löschen nach, ohne die mindeste Furcht für dich zu haben. Daher glaubte ich zu träumen, als ich dich so allein in dem brennenden Haus gewahrte; und dazu sahst du so seltsam aus.«

Nun erfuhr er von Katharina jenen wunderbaren Zustand und das Gesicht, das ihr erschienen war. Er wurde immer aufmerksamer und griff nur von Zeit zu Zeit nach dem Haupte, wo er einen schmerzhaften Druck fühlte, »Also ein goldener Engel stand oben auf dem Turme?« fragte er tief bewegt.

»So deutlich sah ich ihn mit meinen innern Augen,« antwortete Katharina, »daß ich gewiß bin, ihn auch schon vor meinen äußeren gesehen zu haben. Ja, Franz, laß dir sagen: ich weiß es fest und klar, daß diese Erscheinung kein leerer Traum, sondern eine Erinnerung aus meiner frühesten Kindheit war. Nun kann ich mir mein ganzes Schicksal erklären: bei einem großen Brande bin ich als ein hilflos umherirrendes Kind verloren gegangen, und in meinem Gesichte habe ich die Stadt erschaut, in der ich geboren, die Kirche, in der ich getauft worden bin. Alle jene längst verlöschten Bilder sind in ihrer ganzen Kraft vor meine Seele zurückgekommen; ich sehe wieder die brennenden Häuser meiner Vaterstadt, ich höre das Wehgeschrei und den Jammer der Flüchtenden und erinnere mich, wie ich als kleines Kind in dem Gedränge herumgestoßen werde. Jeden Augenblick bin ich in Gefahr, zertreten zu werden, niemand kümmert sich um mich, jeder ist nur mit der eigenen Not beschäftigt, ich weine, ich schreie nach meiner Mutter – ach, meine Mutter! welchen Schmerz muß sie um mich erlitten haben! und noch jetzt! gewiß lebt sie noch, gewiß härmt sie sich um ihr verlorenes Kind.«

»Erinnerst du dich deiner Mutter noch, kannst du mir sie beschreiben?« rief Franz in der höchsten Aufregung.

»Nein,« erwiderte sie, »ich meine zwar einen Eindruck von ihr behalten zu haben, doch nur ganz innerlich, lauter Liebe und Güte, aber nichts von persönlicher Gestalt und Aussehen. Vielmehr ist es etwas ganz anderes, was mir vorschwebt, ach, eine Kreatur, die man sich Sünden fürchten sollte neben einer Mutter zu nennen, und ich muß mich wundern, was es für ein unverständiges Ding ist um die Erinnerung, die das Wichtigste vergißt und das Geringste behält. Und doch muß ich mir immer wieder den Kopf zerbrechen, wie er hieß.«

»Wer denn?«

»Sieh, wie ich von der Menschenmenge hin und her gestoßen wurde, schoß auf einmal ein schwarzer, zottiger Hund denen, die mir zunächst waren, zwischen den Beinen durch und gerade auf mich zu. Ich schrie laut auf vor Schrecken, denn ich kannte ihn wohl; er gehörte einem Nachbar, und wir Kinder fürchteten ihn sehr, weil er immer so grimmig und bissig war, wenn wir in der Nähe spielten, wo er an der Kette lag; nun glaubte ich fest, er werde mir ein Leid antun, aber die allgemeine Angst war auch über ihn gekommen, er hatte den Schweif zwischen die Beine geklemmt, heulte kläglich und strich, ohne mich anzusehen, an mir vorbei. Dieser Hund steht mir jetzt wieder so lebhaft vor dem Gedächtnis, ach! und er hatte einen so spaßhaften Namen! Wie hieß er doch nur?«

»Pfauser!« rief Franz, und beide brachen in das lustigste Gelächter aus.« »Pfauser!« rief sie, »ja wahrhaftig, so hieß er! Aber sage mir nur« – und mit großen Augen sah sie ihn an – »woher weißt du denn das?«

»O ich weiß noch viel mehr, und du sollst alles erfahren, aber zuvor sage mir, weißt du denn gar nichts mehr von den Gespielen deiner Kindheit? Kannst du dich auf keines besinnen, das dir besonders lieb gewesen wäre?«

»Die Wahrheit zu sagen,« erwiderte Katharina, »habe ich keine bestimmte Erinnerung, weder an meine Mutter, noch an sonst jemand, und doch bringst du mich mit deiner Frage auf manches, was mir schon wie ein leichter Nebel vor der Seele geschwebt hatte. In meinen Träumen habe ich mich manchmal als ein Kind gesehen und mit einem andern Kinde selig gespielt; wenn ich dann erwachte, so glaubte ich, es sei mein Schutzengel gewesen, und betete zu ihm, und dann mußte ich immer an etwas recht Liebes, an ein recht großes Glück denken, das ich mir aber nicht deutlich vorstellen konnte. Ich wußte auch nicht, ob ich es schon einmal besessen habe, oder ob es mir noch bevorstehe, bis du kamst, Franz, und alle meine Wünsche und alle meine Träume in dir erfüllt waren.«

»Und du ein altes Eigentum wieder fandest, das du in früher Kindheit verloren hattest! Nun will ich dir sagen, wer du bist: meine Landsmännin, meine Base, meine Braut, die mir von Anbeginn zugedacht war! Jetzt wird das Weib, das ich heimführe, keine Fremde mehr sein im Hause meiner Eltern, und dich, Katharina, dich bringe ich zu einem guten Vater und zu einer guten Mutter. Mein Traum ist erfüllt, ich habe mein verlorenes Lamm wieder gefunden!«

Er umschlang sie und drückte sie in tiefer Rührung an sich, Katharina sah ihn mit unverwandten Blicken an und sprach kein Wort, sie war wie im Traume. So hielten sie sich lang umfaßt, als auf einmal Franz erbleichte und bewußtlos zurücksank; ein Strom von Blut schoß ihm über das Gesicht.

Alles eilte auf Katharinens Hilferuf herbei, der Arzt war sogleich bei der Hand, und unter seinen Bemühungen kam Franz wieder zu sich. »Wie ist mir nur?« sagte er: ich fühle mich so wohl, der Schmerz in meinem Haupte hat völlig nachgelassen, mir ist so leicht, ich meine, ich könnte fliegen.«

»Das ist der Tod!« jammerte Katharina. »Mit nichten, schöne Jungfrau,« sagte der Arzt, »vielmehr ist es das Leben und die Genesung. Irgend eine große Gemütserschütterung, von der in meinem Kompendio nichts, aber vielleicht in Eurem Herzen einiges geschrieben steht, muß die Kopfwunde noch einmal aufgesprengt und die materiam peccamtem ausgestoßen haben. Der bedenkliche Druck, der auf dem Gehirne lag, ist jetzt beseitigt, und wenn Ihr, verehrungswürdige Kollegin, den Kranken noch etliche Tage, so viel es Euch möglich ist, in Ruhe laßt, so wird er schneller, als Ihr Euch vorstellt, wieder disponibel sein und unter den Lebendigen wandeln.«

Er gab die nötigen Verordnungen und entfernte sich.

Die Prophezeiung des Arztes traf ein. Franz erholte sich schnell und war bald im stande, ausführlichere Nachweisungen über Katharinens Herkunft zu geben. Name, Alter und Ahnung trafen wunderbar zusammen, und der lustige Ausschlag, den der Name des Hundes gegeben, ließ gar keinem Zweifel mehr Raum. »Dieser Name,« erklärte Franz dem Meister, »ist ein Eigentum meiner Vaterstadt und wird Euch deshalb völlig unbekannt sein; man braucht ihn von einem, der da schmollt, trutzt oder mault, und er paßte zum Lachen gut auf das weinerlich zänkische Gesicht des Köters, das mir noch ganz lebhaft vor Augen steht.«

»Wie geht's ihm, dem bösen Pfauser?« fragte Katharina. »Aber der wird nicht mehr am Leben sein.«

»Nein,« sagte Franz, »er nahm nach dem Brande seine alte Natur wieder an und wurde nach und nach so schlimm, daß sein Herr genötigt war, ihn totschlagen zu lassen; wir müssen ihm also die Wurst, die er wahrscheinlich sehr gegen seinen Willen an uns verdient hat, schuldig bleiben.«

Auch Meister Woltmann ließ sich durch dieses Zusammentreffen so vieler Umstände überzeugen. »So habe ich also meine Tochter verloren,« sagte er, »und sollte billig darüber traurig sein. Doch habe ich dich viel zu lieb, Katharina, als daß ich dir dein neues Glück nicht von Herzen gönnen sollte und deinen neuen Glauben dazu, der ja ein älteres Recht hat. Denn über die Religion kann jetzt kein Streit mehr sein, da es sich von selbst versteht, daß du zu der deiner Eltern zurückkehrst, in welcher du geboren bist.«

»Natürlich!« sagte der anwesende Arzt mit Lachen. »Das wird ganz nach dem instrumento pacis gehalten: cujus regio, ejus religio »Es ist gut, daß sie nicht wissen, was ihnen bevorsteht,« fuhr der Meister fort, »denn sie müssen sich noch eine Weile gedulden. Ich bin nämlich gesonnen, mit Euch hinzureisen und ihnen ihre Tochter zu bringen, damit ich sie gleich wieder mitnehmen kann, falls sie mir heimgeschlagen wird.«

»Warum denn erst in einiger Zeit, Vater?« rief Franz »warum nicht morgen, heute noch?«

»Herr Doktor, Ihr müßt ihm noch einmal für das Fieber tun,« sagte der Meister. »Meinst du denn,« wandte er sich zu Franz, »ich werde vor meinem – beinah hätt' ich gesagt, vor meinem Ende – ich werde nach den langjährigen Diensten, die ich dieser Stadt geleistet habe, die Krone meines ganzen Wirkens aus den Händen lassen? werde nur so davonlaufen, ohne das neue Geläute zu gießen, das meinen Namen noch bei den späten Enkeln in Ehren erhalten soll?«

»Das dauert aber eine Ewigkeit!« meinte Franz.

»Es dauert nicht so lang« sagte der Meister. »Ich habe gestern neue Gesellen angenommen, die sich bei mir gemeldet haben, und will deren noch mehr verschreiben. Aber auch du hättest allen Grund, dabei Hand anzulegen und der Stadt, in der du dein Glück gefunden hast, den Dank mit der Tat abzutragen.«

»Ein zweifelhafter Dank!« bemerkte Franz, den sein Verdruß über den Aufschub etwas spitzig machte. »Wo man zum Gewitter läutet, da hat der dankbare Gießer auch gleich den Wetterstrahl mit hinterlassen. Aus der Gefahr wenigstens wirst du befreit,« setzte er gegen Katharinen hinzu: »in unserer Kirche läutet man nicht den Blitz herbei.«

»Nur nicht so hitzig!« sagte Meister Woltmann. »Wenn du meinst, die Glocke habe mit ihrer Wetterbeschwörung den Strahl angezogen, wofür doch den Gießer keine Verantwortung träfe, so solltest du ihr und dem alten Brauche, statt zu sticheln, alle Ehre erweisen, denn ohne diesen Strahl würde es bei dir und uns vermutlich finster aussehen. Und kurz und gut, es bleibt bei dem, was ich gesagt habe. Willst du aber allein vorausziehen, so bist du dein eigener Herr; ich komme dann mit dem Mädchen nach. Mitgeben kann ich sie dir nicht, denn wenn sie auch deine Braut ist, so würde das doch nicht angehen.«

Franz sah ein, daß er sich fügen mußte. Die Arbeit ging jedoch rasch vonstatten; der Meister selbst trieb redlich zur Eile. Er ließ sich nur seine Auslagen erstatten, die Arbeit lieferte er unentgeltlich. Während dieser Zeit sah man ihn oft auf das Rathaus gehen, aber niemand wußte, warum. Franz, der ihn einmal befragte, erhielt die kurze Antwort, er werde es schon noch erfahren. Als man an die Herstellung des Turmes ging, befand es sich, daß die alte Sage diesmal die Wahrheit gesprochen hatte: man fand nämlich beim Wegräumen des Schuttes in dem geschmolzenen Erze eine beträchtliche Menge Goldes, das sich leicht ausscheiden ließ und hinreichend war, um den Turm wieder aufzubauen und mit Blei zu decken. Da hierdurch der größte Teil des Schadens ersetzt war, so beschloß die Bürgerschaft, die übrigen Verluste gemeinschaftlich zu tragen und die wenigen Abgebrannten auf Kosten der Stadt zu entschädigen. Franz wollte vor Ungeduld vergehen, als die neuen Glocken gegossen waren und nun noch die Vollendung des Glockenstuhls abgewartet werden mußte; aber Katharina wußte ihn mit manchem holden Worte zu beschwichtigen. Endlich war auch das Letzte vollbracht; die Glocken schwebten an ihrer Stelle, und unter ihrem wohltönenden Geläute wurde ein Fest begangen, bei welchem dem Meister und seinem ersten Gesellen viele Ehre widerfuhr. Die Umschrift am Kranze der größten von den neuen Glocken hatte Franz erdacht; sie lautete:

»In Freud und Leid
Bin ich bereit,
In Not und Tod
Bin ich der Bot.«

Nun endlich schloß der Meister sein Haus, und die Reise wurde angetreten. Sie eilten sehr und hielten sich nirgends länger auf, als nötig war; denn Franz wollte die monatelange Verzögerung durch die Wahl eines bedeutungsvollen Datums gut machen und Katharina am Jahrestage des großen Brandes, der sie entführt hatte, in die Arme ihrer Eltern zurückbringen. Je mehr sie, am Rhein hinauf, gegen Süden kamen, desto heimischer fühlte die Jungfrau sich; sie meinte, alle diese Gegenden, diese alten berühmten Städte schon gesehen zu haben.

Als sie über den Neckar gekommen waren, fragte Katharina: »Was sind dies für Berge?« und deutete auf eine waldbewachsene Gebirgskette, die grün und sonnig vor ihren Blicken emporstieg.

»Es sind die Berge der Heimat, die Wächter deiner Kindheit, denen du, böses Kind, entlaufen bist.«

»Ach, da ist er!« rief sie wieder und deutete auf die Stadt, die sich am Fuß des Gebirges entfaltete; die dunkle Gestalt des Turmes ragte aus ihrer Mitte empor, und in der Abendsonne leuchtete der goldene Engel, dessen Fahne eben ein frischer Südwind gegen die drei Reisenden wendete.

»Da ist er!« jubelte Franz, »Grüß dich Gott, Katharina, du bist daheim!«

Nun trafen sie ihre Verabredung. Franz nahm es auf sich, das Schauspiel des Wiedersehens anzuordnen; er versprach, ihnen einen vertrauten Mann entgegenzusenden, der sie in Empfang nehmen sollte, und eilte voraus. Er trat durch das Tor, aus dem er vor zwei Jahren gezogen war, die Ringmauern der Vaterstadt schlossen ihn wieder ein. Durch die alten Straßen, an wohlbekannten Häusern vorüber, aus deren Fenstern schon gastliche Lichter winkten, schritt er der Kirche zu, in deren riesigem Schatten das Vaterhaus lag. Um seine Rührung zu dämpfen, hatte er einen Scherz ersonnen: als reisender Handwerksgesell wollte er auftreten und sich bei seinem Vater zur Arbeit oder zur »Ausschenk« anmelden; denn das Handwerk war eines von den »geschenkten«, das heißt von denen, die an wandernde Gesellen aus der Lade Geschenke erteilten.

Die beiden Eltern saßen in der großen Stube bei Licht und sprachen von dem fernen Sohne; eben sagte der Vater: »In Attendorn darf er mir jetzt nicht lang mehr bleiben, entweder muß er zurück zu mir oder –«

Da klopfte er an die Türe, »Alle guten Geister!« rief die Mutter und schmiegte sich ängstlich an den Vater; denn bei Nacht, glaubte man, klopfe nichts Geheures an.

»Sei nicht so einfältig, Weib! wer wird's sein? vielleicht ein Reisender, der nicht weiß, was man hier zu Lande für Aberglauben hat. Nur herein!«

Die Türe ging auf, und herein trat der Fremdling.

Er begann den üblichen Spruch und sagte bescheidentlich: »Mit Gunst, Meister. Ich bin ein fremder Glockengießergesell und begehre bei dem Meister in seiner Werkstatt zu arbeiten, seinen Schaden zu wenden und seinen Nutzen zu fördern. Kann mir solches widerfahren, so wäre es mir ein guter Dienst,« Die Mutter hatte ihn sogleich erkannt und drohte ihm hinter des Vaters Rücken mit dem Finger.

Der Vater aber erkannte ihn nicht und antwortete ihm in derselben Weise:

»Mit Gunst, Fremder. Ich bedanke mich für diesmal ganz freundlich. Was ist Euer Begehren weiter?«

»Es ist mein Begehren eine frische, freie und redliche Ausschenk, wie es einem ehrlichen Glockengießergesellen gebührt und zusteht, der sein Handwerk ehrlich und redlich erlernt hat. Kann mir solches widerfahren, so wäre es mir lieb. Kommt mir von Euch oder sonst woher ein anderer ehrlicher Glockengießergesell wieder zuhanden, so will ich ihm dasjenige wieder erweisen, nach Handwerksgewohnheit und Gebrauch, nach ihrem Begehren und nach meinem Vermögen.«

»Mit Gunst, Fremder. Wo seid Ihr zu einem Gesellen gemacht worden?«

»Mit Gunst, in Wien.« – Ein Scherz, dachte Franz, ist keine Lüge.

»Wo habt ihr zum letzten gearbeitet?«

»In Nürnberg.«

Der Vater fühlte sich geschmeichelt, daß ein Gesell von solchen Städten her zu ihm komme. Er fuhr fort: »Mit Gunst. Was ist Euch anbefohlen worden?«

»Es ist mir anbefohlen worden von Meistern und Gesellen in Nürnberg, ich soll Meister und Gesellen allhier fleißig grüßen von wegen des Handwerks.«

»Sei Dank von wegen Meister und Gesellen. Ist Euch sonst nichts anbefohlen oder mitgegeben worden?«

»Mit Gunst, es ist mir anbefohlen und mitgegeben worden ein kleiner Zettel, den soll ich mir so lieb sein lassen, als mein eigen Leib und Leben und ehrlichen Namen, und soll ihn aufweisen bei Meister und Gesellen, wo das Handwerk redlich und ehrlich ist. Wo es aber nicht ehrlich und redlich ist, da soll ich's helfen ehrlich und redlich machen, soll strafen, was strafen heißt, soll strafen, daß ihnen der Beutel kracht und mir mein junges Herz im Leibe lacht. Mit Gunst, Meister, seht, ob die Kundschaft gut ist.«

Nachdem Franz diesen Gesellengruß, der die löbliche Verbindung der Handwerksgenossen zu gegenseitiger Förderung und Unterstützung so treuherzig ausspricht, in der üblichen eintönigen, halb singenden Weise vorgebracht hatte, zog er das Zeugnis von seinem Meister hervor. Der Vater ging damit ans Licht und fing mit Erstaunen an zu lesen:

»Attendorn, den – –«

Da vernahm er den Schall eines herzhaften Kusses. Er wandte sich um, und nun erkannte er den Sohn, der in den Armen der Mutter lag. »Was,« rief er, »gottloser Junge, deine alten Eltern so zu betrügen!« und faßte ihn wohlgefällig, um ihn ebenfalls ans Herz zu schließen.

»Da bin ich wieder, liebe Eltern,« sagte Franz. »Vergebt mir, daß ich Euch so unangemeldet über die Schwelle springe, aber ich will mich noch darüber rechtfertigen; daß ich nicht mutwillig davongelaufen bin, beweist der Zettel dort.«

Der Vater nahm eifrig das Papier wieder auf und las. »Du bist ja ein wackerer Bursche geworden!« sagte er hierauf vergnügt.

»Nun, wenn Ihr mit mir zufrieden seid,« erwiederte Franz, »so könntet Ihr mir gleich eine Bitte erfüllen.«

»Es soll geschehen, wenn's nichts Unstatthaftes ist.«

»Richtet noch auf diesen heutigen Abend einen kleinen Nachttrunk an und ladet, ich bitte Euch inständig, den alten Bürgermeister, den Herrn Matthäus Baur, auch seine Frau und noch einige andere Verwandte und Freunde dazu.«

»Was soll das? jetzt, da es schon so spät ist?«

»Fraget nicht, lieber Vater, Ihr werdet alles erfahren. Glaubet nicht, es sei eine sündliche Eitelkeit von mir, und ich wolle aus meiner Ankunft ein Fest machen; nein, es hat seinen guten Zweck, ich habe etwas auf dem Herzen, etwas Wichtiges, was ich da entdecken will. Ich bitte Euch, Vater, tut mir die Liebe.«

Der Vater sah wohlgefällig auf den männlich gebildeten Sohn und gewährte seine Bitte. Während er nach seinen Gästen umhersendete, wollte die Mutter den Sohn ausforschen; er vertraute ihr jedoch nur einen Teil seines Geheimnisses an, so weit er ihrer Mitwirkung bei seinem Vorhaben bedurfte.

»Aber da fällt mir auf einmal ein,« fügte sie, »die Bürgermeisterin wird schwerlich kommen; es ist heut' der Dreiundzwanzigste, weißt du? und den feiert sie immer noch in tiefer Trauer um ihr verlorenes Kind.«

»Dann,« erwiderte Franz, »tut mir den Gefallen, Mutter, und sendet noch einmal ausdrücklich zu ihr: es sei mein liebster Wunsch und meine höchste Bitte.«

Der Eintritt seiner Geschwister, die sich jetzt herzufanden, unterbrach die Beratung, und die Mutter eilte, ihm seinen Willen zu tun.

Die Gesellschaft hatte sich versammelt. Franz saß zwischen seinem Vater und seiner Mutter, gegenüber hatten Herr Matthäus und seine Frau, die nur mit schwerer Überwindung gekommen war, ihren Platz genommen, Franz bemerkte mit einigem Schrecken, daß auch Regine zugegen war, um so mehr, da ihm seine Mutter zuflüsterte, sie sei noch zu haben, und man sage sich ins Ohr, seine Abreise sei ihr sehr zu Herzen gegangen, zumal nachdem sich eine andere Aussicht, die sie vielleicht vorgezogen haben würde, zerschlagen habe. Durch die Verheiratung eines Bruders war sie der Gefreundschaft einverleibt worden, und daher kam es, daß man sie eingeladen hatte. Sie däuchte ihm aber nicht mehr so schön wie einst, sie war etwas magerer geworden, und ein grabender Unmut war in ihrem Gesichte zu lesen, der ihr einen unangenehm scharfen Zug an die Mundwinkel geschrieben hatte und ihre Nase über Gebühr hervortreten ließ.

Eine neugierige Base, welche fest überzeugt war, den Nagel auf den Kopf zu treffen, sagte im Verlauf der fröhlichen Unterhaltung zu ihm: »Jetzt wird man dem Herrn Vetter bald gratulieren dürfen.«

»Wozu?«

»Zur Brautschaft.« – Dabei sah sie Reginen an, die über und über rot wurde.

Franz wollte eben etwas erwidern, als seine Mutter aus der Stubenkammer, wohin sie von Zeit zu Zeit gegangen war, zurückkam und ihm ein leises Zeichen gab. »Also zu einer Brautschaft wollt Ihr mir Glück wünschen,« wandte er sich nunmehr zu der Base, »und wen habt Ihr mir zugedacht?«

»Ei ja,« gab sie zurück, das sind Eure Sachen, Vetter, in die ich mich nicht mische; aber es sind hübsche und vermögliche Mädchen genug in der Stadt, und ich glaube, Ihr braucht Euch nicht weit umzusehen, um die rechte zu finden.«

»So meine ich auch,« erwiderte Franz, »und wenn meine lieben Eltern nichts dagegen einzuwenden haben, so bin ich heute noch gesonnen, mir eine Braut zu wählen.«

Die Frau des Bürgermeisters wischte sich die Tränen aus den Augen, seine Eltern saßen wie auf Kohlen, und der Vater blickte ihn zornig an, aber Franz fuhr fort: »Und doch würdet ihr diejenige schwerlich erraten, der ich mein Herz zugewendet habe, wiewohl meine Brautschaft schon sehr alt ist. Nur diese einzige könnte ich zum Weibe nehmen, wenn ihr Vater, der Herr Bürgermeister, meinen Wunsch erfüllen und mir meine längst verlobte Braut heute wieder bestätigen wollte.«

»Bist du wahnsinnig, Junge?« rief sein Vater, »oder willst du diesen meinen achtbaren Herrn und Freund mit Fleiß betrüben?«

»Weder das eine noch das andere,« versetzte Franz, »meine Absicht ist gut, ich will ihm seine Tochter und mir meine Braut wiedergeben. Ich habe in Westfalen eine große Zauberkunst erlernt, ich kann die Toten wieder lebendig machen und verspreche, die verlorene Katharina auf der Stelle hierher zu beschwören, wenn ihre und meine Eltern mir zusichern, daß sie dann mein Weib werden soll.«

Ein allgemeines Staunen folgte diesen Worten; alles schwieg und blickte auf den kecken Jüngling, der so toll zu scherzen wagte. Nur Katharinens Mutter sagte schluchzend: »Ach ja, von Herzen gern!« Aber Franz erhob sich und rief, indem er in die Hände klatschte: »die Toten stehen auf! herbei, Katharina, herbei!«

Eine Seitentür öffnete sich, Katharina trat an Meister Woltmanns Arm herein.

Nun entstand ein großer Aufruhr; einige der Weiber glaubten im Ernst, Franz könne hexen, und hielten die Fremde in ihrer ausländischen Tracht für ein Gespenst; aber Franz eilte ihr entgegen und führte sie zu ihren Eltern. »Hier, Vater,« sagte er, »hier, Mutter, ist Eure Tochter; Ihr hofftet sie in Eurem Leben nicht mehr zu sehen, aber der Himmel hat sich ihrer angenommen und ihr in diesem Manne einen liebevollen Pflegevater beschert.« Darauf stellte er den Meister Christoph Woltmann seinem Vater vor. Die beiden Jugendfreunde weinten vor Freude, als sie einander, mehr aus Erinnerungen der vergangenen Zeiten und Begebenheiten als an der Gestalt, erkannten. Katharina aber lag ihrer Mutter an der Brust und sah ihr unverwandt ins Angesicht, bis Herr Matthäus sie ihr aus den Armen nahm. »Es ist meine Tochter,« rief er, »ich erkenne sie an der Ähnlichkeit mit dir; so sahst du aus, als wir beide noch jung waren und ich um dich freite.« Die Anwesenden schwankten zwischen Glauben und Zweifel, und die Ankömmlinge mußten immer wieder von neuem und ausführlicher erzählen.

»Was man wünscht, das glaubt man,« bemerkte endlich Regine mit bittersüßem Lächeln.

»Ja, ich glaube es, aber ich will's gewiß wissen!« rief Katharinens Mutter zitternd vor Spannung, »Unser Kind hatte ein Muttermal am linken Knöchel; wenn auch das noch zutrifft, dann ist alles sicher wie das Evangelium.«

Sie nahm das tief errötende Mädchen bei der Hand und führte sie hinaus. Franz, dessen Überzeugung bis jetzt unerschütterlich gewesen war, schwebte in peinlicher Angst. Nach wenigen Augenblicken aber traten beide wieder herein, und die Mutter rief: »Sie ist es, sie ist unsere Tochter, sie hat das Zeichen!«

Nun war ein allgemeiner Jubel, Vater und Mutter stritten sich um die Tochter und wollten sie liebkosen, alles drängte sich herzu und bewillkommte die Wiedergefundene. Franz sah seinen Vater an, dieser erhob sich, nahm ihn bei der Hand und trat mit ihm zu den glücklichen Eltern. »Ich mache unsere alte Übereinkunft wieder geltend,« sagte er, »und komme zu euch als Brautwerber für diesen meinen Sohn; wir können, glaube ich, nichts mehr als ja sagen, denn die Hauptsache ist, scheint mir's, zwischen den beiden jungen Leuten schon ins Reine gebracht.«

»Er soll sie haben!« rief Herr Matthäus, zog seinen Ring vom Finger und gab ihn Katharinen; ebenso tat Franzens Mutter mit ihrem Sohne. Die Verlobung wurde geschlossen, und Franz drückte seinem lieben Mädchen den Brautkuß auf die Lippen.

»Nun sich alles so glücklich gefügt hat,« sagte Meister Woltmann, »entsage ich hiermit allen Vaterrechten auf meine Pflegetochter, trete sie ihren wahrhaftigen Eltern ab und gebe sie ihrem angeborenen Glaubensbekenntnis zurück.«

»Und was Euch selbst betrifft, lieber Vater,« sagte Katharina zu ihm, »so dürft Ihr uns nun und nimmermehr verlassen. Ich kann es mir nicht denken, daß wir so weit auseinander leben sollten, und muß Euch wenigstens einmal täglich sehen.«

»So geht es mir auch,« rief Franz, »und ich erbiete mich, Euch nach Westfalen zurückzubegleiten und Eure Übersiedlung bewerkstelligen zu helfen.« »Wir brauchen uns beide nicht so viele Mühe zu geben,« erwiderte der Meister mit lachendem Munde: »ich habe für den Fall, daß Ihr mich bei Euch behalten wollt, das alles schon im voraus besorgt und in den letzten Wochen mit dem Magistrat von Attendorn abgeredet. Die Stadt kauft mir mein Haus, meine Güter und mein Privilegium ab und hat sich verpflichtet, wenn ich nicht zurückkommen sollte, dem Boten, den ich senden würde, die ganze Summe nebst dem Testament, das meine Tochter Katharina zu meiner Erbin einsetzt, auszuliefern. Ich darf sie doch noch so nennen? Es wäre gewiß unbillig, wenn bei dieser wunderbaren Fügung ich allein leer ausgehen und mein Kind auf meine alten Tage verlieren sollte. Um dem Müßiggang zu steuern, will ich mir Güter und Weinberge kaufen, die mir etwas Neues sind, und an Regen- und Wintertagen hat vielleicht mein alter Freund eine Gießpfanne übrig, an der er mich als freiwilligen Gesellen beschäftigen mag.«

»Von Herzen gern!« rief dieser, und der Entschluß des Meisters wurde von den beiden neuverbundenen Familien freudig begrüßt.

Nach wenigen Wochen feierten Franz und Katharina ihre Hochzeit. Wie sie in der fröhlich teilnehmenden Schar der Gäste dort am Ehrenplatz unter dem Schmettern der Musik und dem Klingen der Gläser so selig Hand in Hand sitzen, ein schmuckes junges Paar! Und doch kostet es mich eine einzige Formel, und ich streue ihnen jene zauberhafte Asche auf die blühenden Häupter, vor der sie selbst in Asche zerstäuben. Und dieses Zauberwort heißt: es war mein Urgroßvater und meine Urgroßmutter. Sanft ruhe ihre Asche!


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