Friede H. Kraze
Jahr der Wandlung / 1
Friede H. Kraze

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Drei Tage weiterhin am Spätnachmittag kam der Baron ins Buschwächterhaus.

Er brachte eine Flasche Allasch mit, eine Flasche Benediktiner und Proviant für zwei Tage. Katja brachte er nicht mit. Er bat, ob er mein Gast sein dürfe. Nun – ich hatte eine Rehkeule hängen. Es tat nicht not, daß meine Gäste für sich selber sorgten. Aber ich erschrak anfangs über den Besuch, den Sikras mit beherrschter Freude und leichter Spannung empfing. Sollte meine Einsamkeit angetastet werden? Aber der Baron beruhigte mich bald durch die gelegentlich hingeworfene Mitteilung, daß er in nächster Woche fortreise. Er verlebe jedes Jahr ein paar Wochen bei den Rosanger Verwandten, aber nun mußte er seine Kur in Jalta machen. Von da ging er zu irgendwelchen fürstlichen Freunden mit asiatisch klingendem Namen in den Kaukasus. Eine seiner ersten Fragen an mich war, ob ich Taraß Bulba kenne. Dieses Buch, in dem die Steppe blüht und verdorrt, und Leben, Schwert und Pferd das gleiche sind, und wo die Liebe aufbricht mit der Blüte der Steppe und glüht wie die Sonne der Steppe und verflogen ist, wie der Rausch der Steppe verfliegt und nichts bleibt als das Schwert und das Pferd und die Schlacht und der blutrote Tod . . . Nun, wir verständigten uns schnell genug über unsere Gefühle für dieses Buch.

Wir gingen bald danach mit der Büchse und mit Sikras hinaus. Sikras hatte seine Enttäuschung wegen Katja mannhaft überwunden. Wir ließen die Hirschsuhlen rechts liegen, pirschten uns den Tunnel entlang, so hatte ich diesen Weg, wie eingehauen in die Wildnis, bei mir getauft, glitten zwischen den mannshohen Farnwedeln, Heidelbeerkraut und Machandeln durch wie Eidechsen und saßen doch plötzlich verschnürt in einem Brombeer- und Hopfengerank, und dann überließ ich mich der Führung des Barons, denn auf dieser Seite des Moores war ich vorher noch nicht.

»Es ist nur für den Herbst,« sagte der Baron, »falls Sie dann noch hier sind.«

Es geht mir auf, daß wir einen Hauptwechsel überqueren, und fast in demselben Augenblick bemerke ich einen andern vom Moor, ihn überschneidend, und einen dritten . . . Herr Gott! – Freude versteint mich fast – ich begreife endlich: das ist der Brunftplatz der Hirsche, zu dem mich der Baron gebracht hat. Die Tritonsmuschel fällt mir ein unter dem Erbe Rottmanns. »Viele werden Sie nicht erleben,« sagte Rosen, »es ist zu schmachvoll hier geludert worden von Jäger, Mensch und Raubzeug. Aber zwei, vielleicht auch einmal drei, vier Geweihte um sich her, den ganzen Kampfrausch, die Brunftschreie und alle Urtiefen – das könnte helfen über mancherlei im Leben.« Er sieht mich an, und wieder ist dieser Ausdruck von Trauer in seinen Augen. Dann setzen wir uns an und machen uns geräuschlos fertig.

Wir mußten Geduld haben, und die Schnaken aus den Sümpfen halfen nicht gerade dazu. Aber schließlich hören wir doch einen hohen Diskant. Es poltert und knackt, und gleich danach wechselt ein Alttier mit einem Kalbe zum Moor herüber. Sie verhoffen eine Weile, sichern, äsen von Birke und Gras. Sichern wieder, und die Lichter des Alttieres sehen ahnungslos vertrauend direkt in mein Gesicht. Ein lautes Rätschen. Markwart, der Häher! Und gleich danach fährt ein Windstoß durch die Bäume. Die Tiere bekommen Witterung. Mit einem Satz sind sie im Moor. Von dort kommt der Ricke lautes Schrecken, und das Kitzchen fiept kläglich. Es war nichts dergleichen nötig, weder Warnung noch Windstoß. Heut wäre nichts geschehen. Wir wollten nur auf Vögel schießen. Ich bin noch versehen mit Wild.

Wir bringen zuletzt einen Erpel heim, einen Bussard und einen Falken. Und wir sahen nach einem traurigen Knopfspießer – Hirsche, ein Rudel von sieben Stück, zur Moorquelle ziehen. Es war ein wundervoller Anblick, wie aus Kupfer gegossen, dunkelglühend und regungslos die Tiere gegen den blaßroten Himmel. Aber mein inbrünstiges Jägerherz war trotzdem nur halb beteiligt. Weder die Vögel noch die Hirsche, selbst der Brunftplatz war nicht das, worum es heut gehen sollte. Um all dieses willen war der Baron nicht zu mir ins Buschwächterhaus gekommen. Irgend etwas war in Bereitschaft, etwas ganz anderes. Ich wartete.

Die Nacht hindurch saßen wir dann auf der Birkenbank, die ich mir selber gezimmert hatte, vor der Haustür mit Sikras und Allasch und Rehkeule und allem, was ich sonst noch hatte. Sie war rot und leicht und schwebend, die Nacht, wie Lerchenblut, oder wie der Malinaschnaps in unseren Gläsern.

Zuletzt holte ich auch noch eine der Flaschen, die von Rottmann herstammten. Wir hätten sie nicht mehr gebraucht. Aber irgendeine Dämonie verlangte, daß ich den Namen, der bisher nicht zwischen uns ausgesprochen wurde, erwähnte. Das Gesicht des Barons verschattete sich. Als er den schweren, dunklen Trunk an die Lippen setzte, machte er eine Bewegung, als ob er jemanden damit grüßte. Er schwieg eine Weile. Dann wandte er sich jäh zu mir hin. Die Narbe auf der Wange, die sich bis dahin nur matt abgezeichnet hatte, erglühte plötzlich. »Ich möchte Ihnen etwas erzählen«, sagte er wie unter einem Zwange. »Gut, wir kennen uns kaum. Aber das ist vielleicht gerade dazu notwendig. Ich habe Vertrauen zu Ihnen«, fügte er schnell hinzu. »Ich meine dieses Gefühl, das dem Verstande vorausgeht. Gewisse Dinge müssen einmal gesagt werden. Das Unausgesprochene wirkt zerstörerisch. Wollen Sie hören?«

Ich nickte. Das Gefühl der Zuneigung für diesen mir vor drei Tagen noch Fremden war sehr stark geworden.

»Es ist in diesem Lande immer so gewesen«, sagte der Baron, während seine schlanken Finger einen Papyros drehten, »und es hat vielleicht hier nur etwas länger gedauert als anderswo in kultivierten Ländern, weil wir Asien so viel näher sind; in Schleswig, soviel ich mich erinnere, galt ius primae noctis bis in die vierziger Jahre.

Nun, wir hier, wir waren es nicht anders gewöhnt. Kein Mann unserer Kaste sah darin einen Eingriff in die Menschenwürde eines andern. Keine Frau unserer Kaste fühlte sich verletzt, wenn dieses – andere – neben der Ehe herging. Kein Leibeigener empfand es als Schmach, wenn doch schon alles übrige dem Herrn gehörte. Vielleicht, ich gelte hier als ein wenig aus der Art geschlagen,« ein Lächeln zog die Mundwinkel leicht und bitter nach unten, »aber man macht mir Konzessionen. Nun, das kommt später.« Der Baron reckte sich plötzlich. Und während ich dachte wie beim ersten Anblick im Walde: Welcher Riese! hatte sich die Narbe auf seiner Wange wieder tiefdunkel gefüllt. »Ich behaupte nämlich,« fuhr er dann fort, und seine Stimme klang laut und anklägerisch, »das Schwert und die Grausamkeit gegen die Männer und das Peitschen mit Birkenruten und das Gürtelrecht über die Frauen haben die hiesigen Stammvölker zu dem gemacht, was sie heut sind und was wir an ihnen verachten. Nicht daß sie, wie die Deutschen haben wollen, immer schon dieses lügenhafte, hinterlistige, feige Knechtsvolk gewesen wären! Aber das Herrenblut im Schoße der Magd wird einmal Vergeltung üben!«

Ich atmete tief: »Dann wehe euch deutschen Baronen! Dann wird das Wasser der Terwitte sich abermals blutrot färben. Aber es wird Herrenblut sein!« Dieser Satz von der Hand Rottmanns stand plötzlich vor meinen Augen wie feurige Schrift. Und der andere: Die späteren Kuren entarteten unter dem Joch der Deutschen dergestalt, daß keine Spur von dem Geist, der einst ihre Väter beseelte, übrigblieb. Aus den heidnischen Helden waren christliche Sklaven geworden! Dies war das Endurteil eines aus der Kaste der Eroberer. Dies hatte Otto von Mirbach geschrieben.

»Also, ich will es kurz machen. Vor einem halben Jahrhundert lebte hier in der Gegend ein – Rosen. Ja, wir haben denselben Namen.« Die Stimme des Barons klang gleichgültig. »Es kommt nicht darauf an. Er kam spät zur Ehe. Er verlangte die große Leidenschaft. Als er heiratete, ging ein Aufatmen durch das Spinnhaus. Er betrat es nicht wieder. Aber es gab jetzt auch heimliche Tränen der Sehnsucht dort. Der Baron war hart und herrisch, aber wenige Frauen konnten ihm widerstehen. Die große Leidenschaft war wirklich über ihn gekommen zuletzt. Der Erbe sollte geboren werden. Der Baron war heroisch in der Enthaltsamkeit aus Zartsinn. Aber sein Blut verlangte nach Kühlung. Einmal, es war beinahe noch Nacht, schreit er nach seinem Pferde. Der Reitknecht, halb verschlafen und in Schrecken, schnallt den Sattelgurt nicht fest. Der Rosen gleitet ab. Es ist nicht Brauch hierzulande, zu fragen, wer die Schuld hat. Man schlägt zu. Wen es trifft, gut. Der Reitknecht hat sich schon in Sicherheit gebracht, aber der Stalljunge steht da, ein kleiner, magerer Bursch von dreizehn Jahren. Er muß das Pferd halten. So zieht man dem Stalljungen die Reitgerte quer über die Backe. Was kommt darauf an?«

Ich fühlte eine leichte Kühle im Genick. Die Stimme des Barons war wie Schwert auf Schild. Ich sah nicht hin. Aber ich wußte, das Mal auf seiner Wange, es floß wieder wie Blut.

»Nachher ging alles Schlag auf Schlag«, fuhr der Baron fort. »Wie der Rosen dem Jungen die Gerte überzieht, fährt er zusammen. Das Gesicht soll er doch wohl kennen? Hat es ihn nicht tausendmal angesehen von den Ahnenbildern in Saal und Galerie? Diese Stirn, schmal in den Schläfen; der schöne, geschwungene Mund, die tiefgesetzten Augen? Nur daß sie hier von abgründiger Trauer erfüllt sind.

Nun, dieser kleine, gepeitschte Stalljunge war Benjamin Rottmann, ein Sohn des Rosen und einer Lettin. Sie hatte jetzt fünf Kinder aus ihrer Ehe mit dem Stellmacher auf dem Gut, aber den Baron liebte sie noch immer. Wie der Schmiß die Wange herunterläuft, erkennt der Vater den Sohn.

Er ist zurückgefahren vor dem Lodern der Jungensaugen. Das Herrenblut ist aufgelodert. Aber da hat es auch schon einen furchtbaren Schrei getan über ihnen. Die junge Frau hat gehört, wie ihr Mann heimlich das Zimmer verläßt. Sie ist ihm ebenso fanatisch ergeben wie er ihr. Sie ist ans Fenster getreten, um ihn ausreiten zu sehen. Sie hat den Schlag erlebt und das entsetzte Zurückschrecken des Schlagenden, und sie ist zusammengebrochen. An demselben Datum, zwei Monate später, wurde ich geboren. Meine Mutter starb bei der Geburt. Ich hatte das Malzeichen im Gesicht.«

Der Baron schwieg. Eine Drossel fing an. Der Himmel verblutete sich. Sikras, der bis jetzt zu meinen Füßen gelegen hatte, stand auf. Er ging langsam um den Tisch herum zu dem Baron. Legte den Fang auf das schmale Knie. Ließ mit verlorener Gebärde seinen Kopf tätscheln. Kam zurück zu mir. Sah mich an, fragend.

»Mein Vater ließ meinen Halbbruder Benjamin Rottmann in Riga erziehen«, erzählte der Baron weiter. »Später studierte er im Auslande. Seine Narbe verging. Meine blieb. Aber inwendig trugen wir beide eine. Er kam ein paarmal in die Ferien. Mein Vater konnte seine Gegenwart nicht ertragen, wiewohl er immer von Zeit zu Zeit danach verlangte. Ich hatte eine scheue und schmerzliche Liebe zu Benjamin. Er war immer still und gütig und traurig. Er hatte einen ausgezeichneten Verstand und, wie ich glaube, eine dichterische Veranlagung. Aber er blieb ein Eigenbrödler. Ich war wohl der einzige Mensch, der ihm nahe stand, trotz des großen Altersunterschiedes. Bis auf Lil Seltram. Er hatte eine Leidenschaft zu einer Kusine von mir gefaßt. Sie war aus Estland und kam für lange, uns zu besuchen. Auch sie hat ihn sehr geliebt. Aber – eine Baronesse Seltram . . . und ein Namenloser, vielmehr der Sohn einer früher Leibeigenen – hier konnte man solche Vorurteile damals wirklich noch nicht überwinden. Das Ende war: Lil heiratete einen reichsdeutschen Adeligen. Einen bedeutenden Archäologen. Sie kam noch einmal hierher. Als Rottmann auf dem Tode lag, vor zehn Jahren. Er hatte bei einem großen Brande unseres Familiengutes über dem Retten des Viehes ein paar Rippen gebrochen und innerliche Quetschungen davongetragen. Nach diesem Krankenlager und diesem Wiedersehen wurde mein Halbbruder immer seltsamer und abseitiger. Von dem Vermögen, das mein Vater ihm hinterlassen, behielt er gerade so viel, wie er zum barsten Leben bedurfte. Er hatte glänzende Zeugnisse, und es boten sich ihm ein paarmal Anstellungen an naturwissenschaftlichen Instituten. Aber er schlug alles aus. In Deutschland starb er vor Heimweh nach unseren Wäldern, und hier im Gottesländchen, zwischen Adel und Literaten, quälte ihn seine Abkunft. In Kurland weiß nun einmal jeder alles von jedem. So arbeitete er hier, ganz zurückgezogen lebend, schriftstellerisch. Für Fachzeitungen des Auslandes schrieb er Naturwissenschaftliches und Kulturhistorisches. Er lebte von dieser Beschäftigung, von der Jagd und von seinem Schicksal. Vor fünf Jahren zog er in das Buschwächterhaus. Frau Kroug hatte ein melancholisches Interesse für den Alternden, Heimatlosen. Sie und ich, wir hätten ihm sein Leben gern noch ein wenig hell und freundlich gemacht. Aber er ließ nicht mehr viel an sich heran. Selbst mich nicht mehr. Vor zwei Jahren ist er dann eingegangen. Wie ein Waldbaum. Der Stamm hatte immer eine morsche Stelle. Eines Tages stürzte er zusammen. Ebba Kroug fand ihn tot an seinem Tisch sitzen. Es kann nur ein paar Tage nach seinem Ableben gewesen sein. Aber es war doch entsetzlich.«

Der Baron schwieg. Er drehte sich einen neuen Papyros. »Ich bin auch ein wenig heimatlos«, sagte er. »Das ist nicht zu verwundern. Wer das mitbekam!« Er wies auf die Narbe. »Wenn er auch selber einmal vergessen könnte, alle Blicke sagen es ihm doch immer wieder. Ich bin nicht gern anderswo als unter Menschen, die mich von jeher gekannt haben, oder unter Tieren und Bäumen. Der Kaukasus erfüllt mir diese drei Lebensbedingungen gleichfalls. Meine Schwester ist dort an einen Jugendfreund von uns verheiratet. Wir wurden alle drei zusammen erzogen.« Wieder schwieg der Baron. Die Vögel waren schon alle morgendlich bereit. Überall sang und zirpte und flötete es. Weit im Walde, vielleicht vom Luchs angefallen, schrie ein Hirsch laut und urweltlich. Der Himmel war purpurn.

»Nun habe ich Ihnen dies alles erzählte, sagte der Baron, während ich den Samowar anzündete. »Wie wunderbar ist das! Aber es gibt so viele Unterstimmen, auf die ein Mensch hören muß. Wer so lange in den Wäldern lebte wie ich, bekommt zuletzt einen Instinkt, sicher wie die Tiere. Es ist übrigens sonderbar genug bei einem unserer Kaste. Denn im Grunde sind wir vollkommen überblüht. Wir alle hier. Wir sind nur noch Krone. Unsere Wurzel ist losgelöst. Wie die Wurzel Ihrer Föhre.« Er deutete auf den Wald. »Wie Ihr Zelthaus, vor dem ich Sie neulich traf. Einigen wenigen sind wir noch Deckung und Halt. Wir selber aber sind bereits tot. Wir sind Nährboden für Zukünftiges. Unsere eigene Wesenheit versinkt wieder in den alten Urgrund. Zurück lassen wir nicht so sehr viel.«

Ich wollte einwenden: Riga! Die Hansastädte im Baltikum, ist das nichts? Alles, was der Schwertritterbund schuf und gründete . . . Dorpat, die vielen Gelehrten, ein Baer, Bergmann – und Kayserlingk, sagte ich, Kügelgen, von Gebhard . . .

»Trotzdem,« der Baron lächelte dieses Lächeln, das keins war, »trotzdem! Zu einer eigenen und besonderen Hochkultur dieses Landes haben wir es nicht gebracht. Wir waren nur Eroberer hier, nicht Erzieher. Anstatt noch gebundene Kräfte und Fähigkeiten der unterworfenen Völker zu erwecken und zu entfalten, haben wir mitleidslos alles ausgerottet, was bereits stark und schön und blühend war. Anstatt zur Verantwortlichkeit zu führen, haben wir jeden Funken von mannhaftem Selbstgefühl erstickt. Meine Stammesgenossen gingen von dem Grundsatze aus, daß eine herrschende Kaste geschlossen bleiben muß. Wenn sie fremde Elemente in sich aufnimmt, zerstört sie sich. Sie haben auch vollkommen recht damit. Nur müßte man feststellen, was erstrebenswerter ist: ein ungebrochenes Patriziat, das die Unterschicht mit Kandare, Peitsche und Sporen reitet, oder aber ein Volk. Wer das Volk für das Wichtigste ansieht, kann das Recht der Scheidung in Kasten nicht aufrecht erhalten. Wir hier, die Barone, wir haben niemals daran gedacht, zu kolonisieren im letzten Sinne. Das sollten wir zugeben. Wir haben immer nur daran gedacht, unsere Rasse rein zu halten und auf dem Gipfel zu bleiben. Wir haben Blut und Erbrecht über das Seelische und die Leistung gesetzt. Wir haben die Würde und das Glück der Arbeit in Fron und Schmach umgewandelt. Ja, der baltische Deutsche ist vielleicht ein so vollkommener Typ, wie ihn der Reichsdeutsche nicht aufbringt. Wir haben den Übermenschen Nietzsches, im Sinne der Auslese, in einem Maße verkörpert wie wohl nirgendwo in der kultivierten Welt. Und wenn die Menschheit allein dazu da ist, um den Übermenschen zu züchten, wie viele jetzt es ja haben wollen, so sind wir im Recht gewesen. Aber, sehen Sie unseren Wald. Warum sollte der Mensch eine Ausnahme bilden im Haushalt der Natur, die sich niemals mit der Auslese allein begnügt und die ihre kleinsten und unscheinbarsten Kinder mit der gleichen liebenden Sorgfalt und jedes zu der Vollkommenheit seiner Art erzieht wie die größten und bedeutungsvollsten?«

Wie wunderbar! In der Tiefe eines kurischen Urwaldes, ein kurländischer Baron bekennt sich zu diesen umstürzenden Ideen! Ich war bewegt von Glück. Und zugleich dachte ich: Benjamin Rottmann! Lil! Welche Schicksale! Welche Schicksale! Etwas Geheimnisvolles ergriff mich und verkettete mich mit all diesem.

»Nun,« sagte der Baron plötzlich, »darüber könnte man viele Stunden theoretisieren, wenn man nicht willens ist, es zu ändern. Es ist jetzt auch zu spät«, fügte er hinzu, wie er die sechste Tasse kochenden Tees heruntergoß.» Es regen sich eine Anzahl Stimmen bei uns, die auf neue Bahnen hindeuten. Aber es sind nicht genug. Alles geplante und hier und da auch in die Erscheinung tretende Reformieren hält sich zu sehr auf der Oberfläche. Überdies ist es immer nur Selbstschutz gegen das Kommende. Bis zu den letzten und unerbittlichen Konsequenzen wagt sich keiner. Wir werden keine Umschichtung erleben, keine Umlagerung von Rechten und Pflichten, keine gegenseitigen Befruchtungen oder neue Gemeinschaftsbildungen zu einer wunderbaren Entfaltung und Reife hin, wie noch alle Völker sie hatten, wenn die untere Kaste der oberen sich eingliederte. Wir haben die Zeit dazu versäumt. Oben haben wir zu dünnes Blut infolge Inzucht, und von unten her könnte nur durch Haß vergiftetes sich damit vermischen. Der Erfolg wäre nicht sehr erstrebenswert. Es wird hier sich anders entwickeln. Und der Anfang wird entsetzlich sein. Das Ende weiß nur Gott. Es wird davon abhängen, wie viel Kraft und Wille bei uns vorhanden ist, das kommende Schicksal als Endglied einer langen Kette von Selbstsucht und Verschuldung anzunehmen und als eine Sühne, die befreit. Aber ich fürchte, wir werden wie die Bourbonen aus der Revolution nichts vergessen und nichts lernen. Und wir werden das Schicksal der Bourbonen erleiden und jeder herrschenden Kaste, die ihre Aufgabe nicht gelöst hat, ja, sie nicht einmal erkannt hat, und die glaubte, nur um ihrer selbst willen da zu sein.«

Die rote Nacht war längst zu Ende und der halbe Tag. Wir gingen zum Moorteich und lagen dort ein paar Stunden mit der Angel ohne besonderen Erfolg, weil wir zu unaufmerksam waren. Und am Abend las der Baron die Schriften von Rottmann. Ich zeigte sie ihm jetzt, Bücher und alles. Er verlangte sie nicht, sondern erlaubte, daß ich sie behielte, solange ich im Buschwächterhaus lebte. Sie blieben aber für immer mein Eigentum, da der Baron noch in diesem Sommer im Kaukasus vom Herzschlag getroffen wurde. Es ging mir seltsam nah. Das Bild des kleinen Mädchens mit der blau ausgemalten Schärpe hatte ich ihm nicht gezeigt. Ich wollte es später in die Bücher legen. Jetzt wäre es mir erschienen, als ob ich einen Talisman aufdeckte, der mein eigenes Schicksal wirkte. Als der Baron am nächsten Morgen mich verließ mit dem seltsamen Lächeln, das keines war, schien es mir, ein Freund habe mich verlassen. Am nächsten Abend kam Lil.

* * *

Ich hatte den ganzen Tag im Walde gelegen. Ich vermied die Nähe des Moores. Die Temperatur war schwebend. Man mochte sich nicht bewegen. Sikras hängte die Zunge heraus, so weit er konnte. Eine ungeheure Lethargie schien ihn zu zerschmelzen. Aber sofort wäre Wille und Geschlossenheit in ihn hineingesprungen, wenn nur ein Wort von mir ihn aufgerufen hätte.

Auch mir zerkochte flüssiges Blei in allen Gliedern. Und trotzdem schien in dieser allgemeinen Auflösung ein bestimmtes, fast wildes Warten.

Gegen fünf Uhr nachmittags wurde die Schwüle im Walde so schwer und so vernichtend, als würden über allem Lebendigen ein Sargdeckel schweigend zugeschraubt.

Ich hatte zu keiner Tag- und Nachtstunde das Mysterium des Waldes so gegenständlich empfunden. Sikras hob plötzlich den Kopf. Er horchte angespannt. Seine Haare sträubten sich leicht. Hörte er das Schicksal schreiten?

In diesem Augenblick ereignete sich das Ungewöhnliche: Ein blaues, fahles Licht von irgendwo, überall machte den Wald geisterhaft, und die Stille wurde wie von einem einzigen ungeheuren Axthiebe auseinandergespalten. Ohne jede Ansage durch Sturm und Regen, ohne jedes Krescendo hatte das Gewitter mit seinem Höhepunkt eingesetzt. Aber es donnerte nur sekundenlang, und schon hatte der Sturm diese Übereilung eingeholt. Wie ein Berserker fauchte er hinterdrein.

Leb' wohl, alter Freund! Das hätte ich voraussagen können, daß die morsche Eiche mitgehen würde. Sie hatte noch die alten Götter gekannt. Wie wir um ihren Leichnam herumkommen würden, war ein Problem. Aber es kümmerte mich nicht besonders. Ich stand und hatte mein Hemd aufgerissen. Denn jetzt fing es endlich an. Tropfen wie Haselnüsse rund und voll. Sikras, Sikras, welche Erlösung!

Als kein trockenes Haar und Faden mehr an uns war, schlug ich Sikras den Heimweg vor. Nach diesem Sturzbad mußte es wunderbar sein, wieder in trockenes Zeug zu kommen.

Es war gut, daß wir uns beeilten; denn ich pflegte meine Haustür nicht zu verschließen. Nicht wenn ich fortging, und auch nicht bei Umwandlungen meiner äußeren Person. Für das einfache Zuklinken meiner Tür kam diesmal der Sturm auf.

Aus irgendeinem unterbewußten Zwang hatte ich mir sogar einen weichen Kragen umgelegt. Aus dem gleichen geheimen Zwang verstaute ich mein triefendes Zeug auf der Leine hinter dem Ofen, deckte den Tisch mit der feierlichen roten Decke und ließ den Samowar singen, während die Sturmböen an meinem Hause rüttelten.

Als ich gerade im Begriff war, das Brot aus dem Schrank zu holen – gönnte mir das Wetter noch eine Erfrischung? Die Tür flog aus dem Schloß wie ausgebrochen. Ich hörte einen leisen Ruf wie von einem Vogel oder irgendeinem märchenhaften Waldwesen. Dann stand es auf der Schwelle, stürzte in die Stube, versuchte sich zu halten und die Tür zu erfassen, die fortwährend an die Außenwand geschleudert wurde, – und bei dieser Rückwärtsdrehung des Nackens, dieser leichten Wendung und Biegung nach oben, überkam es mich wie Schwindel.

Da standst du nun auf der Schwelle, Lil, und mühtest dich, die schwere Tür, die deinen Händen immer wieder entglitt, zuzumachen. Du sahst aus wie auf der Flucht vor etwas Entsetzlichem. Aber immerfort mühtest du dich mit der Tür, als hinge deine Rettung mit ihrem Schließen zusammen.

Ich kam dir nicht zu Hilfe. Ich mußte dich immerfort ansehen. Als ob dies alles wäre, was etwa noch jetzt und in Zukunft mein Teil am Leben sein könnte. Du standest wie unbekleidet. Ein kleines, dünnes Gewand hatte der Regenguß wie eine andere Haut um dich her gespannt. Gab es noch einmal in der Welt so schmale Hüften? Gab es noch einmal irgendwo diese Nackenwendung und die Augen dieses Gesichts?

Aber mir schien trotzdem, ich hätte dieses alles schon früher erblickt. Wann? Wo? War es im Traum?

»Ja, ich kann doch aber nicht allein!« riefst du plötzlich und lachtest wie ein Glöckchen. »Wollen Sie mir denn niemals helfen?«

Ich war bei dir mit zwei Schritten und hatte die Tür geschlossen. Wir sahen uns an. Jetzt lachtest du wie ein ferientolles Kind. Aber mitten im Lachen ging eine dunkle Röte über dein Gesicht, dann erblaßtest du und errötetest wieder, und deine achatgrünen Augen schienen sich mit einem zarten dunklen Schatten zu verdecken.

»Es ist so wunderbar«, sagtest du leise. »Wie sehr wunderbar ist es!«

»Ja«, sagte ich. Dann schwiegen wir. Ich wußte doch, was du meintest.

»Hier in diesem kleinen Hause. Mitten in einem Urwald. Und so weit weg von allem!« Du sahst mich nicht an dabei. Du erzähltest dir selber etwas im Flüsterton.

»Sie brauchen keinerlei Befürchtungen zu haben, gnädige Frau. Keinerlei.«

Meine Stimme klang, als ob jemand weit fort, den ich niemals erblickt hatte, redete.

Wir schwiegen. Wir rührten uns nicht. In seltsam gebundenen Stellungen waren wir uns gegenüber, Arme hängend und dennoch gestrafft. Es war fast Nacht in der niedrigen Stube. Nur wenn sie ein Blitz blau aus dem Dunkel herausschnitt, erblickte ich deutlich deine Gestalt und die wechselnden Lichter deiner Augen. Irgend etwas beengte meine Halsmuskeln. Wenn ich herunterschlucken wollte, war es unmöglich. Fortwährend fühlte ich leichte Kälteschauer meinen Rücken herunterrieseln. Oder war es Blut?

Sikras hatte sich zwischen dich und mich niedergelegt. Seine Rute klopfte freundlich den Boden der Hütte.

»Ich befürchte nichts«, sagtest du langsam. »Verzeihung! Aber es ist so wunderbar. Sie müssen es zugeben. Vor drei Tagen,« du riefst plötzlich heftig, »heut vor drei Tagen war ich noch in Weimar! Ja! Ich hörte eine zugereiste Künstlerin, übrigens sehr gut, Goethesche Gedichte deklamieren. Es ist eigentümlich, aber es ist nun einmal so: Jeder von auswärts glaubt, in Weimar dürfe man nur Schiller und Goethe deklamieren, und als sei mit der Klassik für uns die Weltentwicklung abgeschlossen.« Sie seufzte auf. Sanft ergeben.

»Ja, nun bin ich hier.«

Ich empfand wie vorhin wieder diesen eigentümlichen Schwindel.

»Nun sind Sie hier«, wiederholte ich. Und als ein neuer blauer Blitz dich mir zeigte wie eine feine Plastik in dem angegossenen dünnen Kleidchen: »Und wir müssen Sie vor allen Dingen trocken bekommen.«

»Es ist wirklich nicht ganz angenehm«, gabst du zu. »Aber wie? Haben Sie eine Frau?«

»Eine Frau? Allerdings nein! Verzeihen Sie! Aber eine Menge Wolldecken.«

Du lachtest wieder. Dieses Lachen! Dieses klingende Ferienlachen!

»Wolldecken? Welcher Ersatz!« Du klatschtest in die Hände. Du gerietest außer dir vor Entzücken.

»Ja«, sagte ich und trug alles, was ich von diesem Artikel besaß, zusammen und häufte es auf die Birkenmatratze. »Wolldecken und Leinenlaken!« Dabei spürte ich, wie das in meiner Kehle sich plötzlich herunterschlucken ließ. Nun hatte ich es in meinem Körper, wie einen leichten seligen Rausch. »Und ich gehe jetzt in den Stall«, erklärte ich, »und melke Metta, die Ziege. Indessen bitte ich, die nassen Sachen abzulegen. Sobald der Regen nachläßt, hänge ich sie draußen über die Holzplanke, dann sind sie in einer Stunde in Ordnung.«

Du sahst mich eigentümlich an. Wieder wechselte die Farbe deines Gesichtes.

»Ja«, sagtest du dann leise wie ein gehorsames Kind. Ich pfiff Sikras. Wir gingen hinaus.

Als ich mit der schäumenden warmen Milch zurückkam, lagst du in Laken und Decken geschlungen auf der Sofabank. Deine Augen verfolgten mich aufmerksam, wie ich den Tisch deckte und alles zusammentrug. Einmal glitt deine Hand und ein Stückchen nackter Arm aus der Umhüllung, wie du Sikras, der seinen Fang auf deine kleine Brust gelegt hatte, verloren streicheltest.

Plötzlich, etwas durchschoß mich wie glühender Strom, ich hörte tiefe, beruhigte Atemzüge: du schliefst.

Ich hörte auf mit Herumhantieren. Es war auch alles in Ordnung. Ich trug deine Sachen hinaus und hängte sie auf. Das Gewitter war vorüber. Dann setzte ich mich auf den Stuhl, in die Nähe des Fensters. Von dort aus konnte mein Auge dich nicht stören im Schlaf. Und doch durfte ich dich ansehen. Ich hatte das Fenster behutsam geöffnet. Eine Luft, klar und köstlich wie Wein, strömte in die Stube. Über der Holzplanke wehte ein kleines, dünnes Kleidchen, ein wenig feine Frauenwäsche. Der Himmel färbte sich dunkelrot, und die Wäsche schimmerte wie blasse Rosenfarbe. Das ganze Stübchen warf der glühende Himmel voll Rosen. Du ruhtest wie eingehüllt in Schimmer. Und immerfort hörte ich deinen sanften Atem. Ich sah dich an. Es störte dich nicht. Die schmale Wange sah ich an, die sich in den Schläfen zart eindrückte, und den Schatten der langen Wimpern. Die schmale Stirn in der oberen Hälfte sanft gewölbt. Den feinen Nasenknochen mit den leichtgeblähten Nüstern, die selbst im Schlaf zu vibrieren schienen. Die Doppelschwingung des Mundes, alles dies gelöst, hingegeben.

Plötzlich zuckte ich zusammen. Ich wußte, woher ich dies alles schon kannte: das Bild, die Photographie des kleinen Mädchens, das Lil hieß, mit der blauen Schärpe. Griffen gelebte Schicksale hinüber in die Gegenwart?

Ich rührte mich nicht. Ich hörte, wie die Stille herniedertropfte. Oder war es die Zeit? Alles schien sich zu weiten. Alles Wirkliche wurde bedingt. Ein Ring schloß sich. Aber dies erlebte ich nur so, weil du dort ruhtest, und dein Atem ging so sanft. Ask und Embla! Ask und Embla! Wie eine geheimnisvolle und beglückende Strophe hörte ich die zwei Namen immerwährend wiederholt. Irgendwo. Außerhalb meiner und doch im tiefsten Grunde meines Wesens.

Dann dachte ich wieder, ich ginge durch den Wald wie damals im Winter, als die Seele der Gotik sich mir erschloß. Und ich wußte plötzlich, ein Bedeutsamstes hatte mir noch immer gefehlt, etwas, wodurch das metaphysische Gott-Erleben erst sinnlich faßbar wurde: eine Gnade, eine Barmherzigkeit, die zu mir käme und die Diesseits und Jenseits verbinden mußte wie im Sakrament.

Und plötzlich schreckte ich zusammen: Diese Gnade kam über mich. Eben jetzt erfuhr ich dieses Erlebnis einer übermenschlichen Barmherzigkeit. Ich fühlte wieder das von vorhin mir den Hals zusammenpressen. Mein Atem keuchte. Mein ganzer Körper zuckte. Ich ballte die Hände. Dann öffnete ich sie und schlug sie vor mein Gesicht: Ich liebte dich, Lil! . . .

* * *

Ich mag eine Weile so gesessen haben, du schliefst noch immer.

Nachher lehnte ich mich an meinen Stuhl zurück, leicht ermattet und doch wie getragen von einer starken, seligen Welle. Gutsein kam über mich. Lächeln. Dank. Ich hätte neben dir hinknien wollen in der Demut des Glückes. »Gott!« sagte ich. »Gott!« Da schlugst du die Augen auf.

Dein Blick war noch ganz fremd und fern. Du dehntest dich ein wenig und gähntest befriedigt. Recktest einen sehr schmalen, sehr weißen Arm aus den Decken bis zum zarten Flaum der Achselhöhle. Sahst dich plötzlich erstaunt um, erblicktest mich, zogst den Arm zurück, erglühtest sanft und sagtest staunend: »Wie ist es wunderbar! Eben hatte ich einen Traum, den ich einmal als junges Mädchen träumte: Ich war ein Baum, und ein anderer Baum gehörte zu mir. Wenn wir unsere Blätter bewegten, wußte jeder alle Geheimnisse vom andern. Das war sehr süß.«

»Ask und Embla«, sagte ich.

»Was bedeutet das?«

»Oh – nur eine Esche und eine Erle!« Mir war, als ob etwas sich niederließ in der Hütte.

Du schwiegst. »Sie müssen mir das später einmal erklären.« Deine Stimme schien sich plötzlich zu erschrecken. »Wieviel Uhr ist es eigentlich? Müßte ich nicht aufstehen?« Du lachtest wieder dieses klingende, selige Ferienlachen. »Oh, ich wollte eigentlich nach Riga. Ich hatte eine tolle Idee. Ich muß es Ihnen erzählen. Aber könnte ich aufstehen vorher?«

Ich ging hinaus und holte deine Wäsche und dein kleines Kleid. Den roten Abendhimmel hatten sie mit der Sonne verwechselt. Sie waren ganz trocken.

Als ich wieder hinausging, fragtest du noch einmal nach der Zeit.

Es war Mitternacht.

»Oh!« sagtest du, nichts weiter.

Nach einer Weile, ich ging auf der Wiese, die berauschend duftete nach dem Regen von Tymian und von den weißen Linnen des Labkraut, Unserer-Lieben-Frauen-Bettstroh geheißen, – du standest in der offenen Haustür und sahst zu mir herüber, dann kamst du mir entgegen. »Was machen wir nun?« Deine feinen Augenbrauen hoben sich zu ganz hohen, spitzen Bogen.

»Zunächst trinken wir Tee«, schlug ich vor.

Da kam wieder das Ferienlachen. »Wir trinken Tee! Also wir trinken Tee!« Du benahmst dich, als bedeutet dieser Vorschlag das bunteste Abenteuer der Welt.

Ich trug den Tisch in die Nähe der Tür. Einen Stuhl mit Decken holte ich für dich und hüllte deine Füße ein, denn es war empfindlich kalt geworden. Dann schenkte ich Tee auf und legte dir vor. Ich war reich. Wir hatten Rehkeule und kalten Fisch mit Senf. Das Brot war ein wenig altbacken, aber es gab Honig und eine Schale mit Waldbeeren.

»Wie Sie mich verwöhnen!« sagtest du erstaunt. »Männer wissen sehr selten, wie Frauen es gern haben.« Du schwiegst. »Muß ich etwas erzählen?« fragtest du plötzlich. Dabei machtest du eine Armbewegung, als deutetest du nach Amerika. »Nein?« In deiner Stimme war Jubel und Staunen. »Sonst überall braucht man doch eine Besuchskarte und Paß oder mindestens den Steuerzettel. Nun also, ich bin die Prinzessin, die sich im Walde verirrte, nicht wahr? Wenn es schon Mitternacht ist, komme ich doch nicht mehr zur Zeit nach St. Olai. Die erste Post geht morgens um fünf Uhr, und ich bin sicher sieben Stunden herumgelaufen, bis ich hierherkam. So hab' ich Zeit bis Mittag. Dann geht die zweite. Darf ich?«

Ich sagte nicht, daß man St. Olai in drei bis vier Stunden bequem erreichen konnte. Ich sagte statt dessen, es wäre vielleicht schöner, die rote Nacht hindurch zu wandern, anstatt in der Postkutsche zu fahren, und ob wir nicht morgen abend zur Zeit aufbrechen wollten.

Du zogst wieder die Augenbrauen in diesen kleinen, spitzen Winkeln in die Höhe und sahst mich an.

»Ich könnte mir denken, daß es schöner wäre«, sagtest du langsam. Dann betrachteten wir dieses Thema als abgeschlossen. Du aßest mit gutem Appetit alles, was ich dir vorlegte. Es schien dir Freude zu machen, wenn ich alle besten Bißchen für dich heraussuchte. »Wie wunderbar ist dies alles!« wiederholtest du zuweilen.

Aber als wir unser Abendessen – es mochte ebensogut unser Frühstück heißen – vollendet hatten, fingst du an, dich umzusehen in meinem Hause. Alles beglückte dich: der rohe Tisch, die Ofenburg, die Waffen, die Angelhaken. »Was ist das?« fragtest du. Du hattest die Tritonsmuschel entdeckt, mit deren Ton man die Hirsche aufreizt zur Brunftzeit. Ich setzte sie an den Mund, vorsichtig. Aber zuletzt bebte dennoch die Hütte von diesem dunkeln und wilden Orgeln Contra-C abwärts die chromatische Tonfolge. Wie Urschreie aus versunkenen Epochen.

Ich brach kurz ab. Du warst erblaßt bis in die Lippen. »Was ist das?«

Ich erklärte dir flüchtig. Einen Augenblick standest du still und versunken. Dann schienst du entschlossen etwas abzuwehren, was dich bedrängte. Du zogst die schmalen Schultern schnell nach rückwärts und wieder nach vorn. Schütteltest heftig den Kopf, lachtest und vertieftest dich sogleich und völlig in meine übrigen Kuriosa.

»Wie wenn wir als Kinder Robinson spielten«, sagtest du. »Ich war als Kind einmal hier zu Besuch. Ein ganzes Jahr, das heißt in Estland. Meine Mutter hat dort Verwandte. Es war unbeschreiblich! Die Landhäuser, Hoflagen wie kleine Städte! Die Parks, die fremdartige Dienerschaft, die endlosen Wälder! Die hellen Nächte wie heute! Die Flußwiesen mit dem Vieh und den Hirten; die ganze Nacht blieben sie bei ihren Feuern unter dem Himmel! Oh, vor allem aber der Winter! Ich erinnere mich, wie der fabelhafte Schnee mich völlig in Rausch versetzte. Einmal kam ich vom Schlittschuhlaufen. Und ohne mich auskleiden zu lassen, rannte ich in meinem roten Mäntelchen direkt in den Spiegelsaal, wo alle um den Kamin saßen. Die Herren im Frack, die Damen in großer Abendtoilette. Dort fing ich plötzlich an, meinem Spiegelbilde gegenüber zu tanzen. Das rote Mäntelchen sprühte wie eine Flamme, bis Onkel Alexander mich plötzlich aufhob. »Sie hat den Schneerausch«, sagte jemand. Alle lachten. Ich war sehr glücklich, und ich schlief ein auf Onkel Alexanders Schoß.

In dieser Nacht hörte ich zum ersten Male die Wölfe heulen. Sie kamen zu Rudeln aus dem Walde und brachen in die Viehställe und wagten sich durch den Park bis in die Nähe des Hauses. Es war etwas so Wunderbares. Man fürchtete sich, und doch war eine schreckliche Bezauberung dabei. Ich habe später so oft geträumt von all diesem. Ich hatte es im Blut irgendwie. Ich kam nie wieder nach Rußland. Aber diesmal – nun diesmal mußte es sein.«

Ich sah dich an. Ich lächelte wohl. Ich war im Glück. Darum lächelte ich. Aber du verstandest mich diesmal verkehrt. Das einzige Mal. »Ja, nun lächeln Sie«, sagtest du. »Weil Sie denken: Frauen sind immer inkonsequent. Und nun erzählt sie doch. Aber unsere Namen wollen wir uns nicht sagen. Nein? Ich meine: die Familiennamen. Sonst heiße ich Lil.«

Ich hatte es ja doch gewußt: Lil! Ich fühlte, wie etwas in mir die Flügel bewegte.

»Danke!« sagte ich nur. »Ich heiße Ask.«

»Ask? Was für ein sonderbarer Name!«

»Es ist nur so. Weil wir doch verzaubert sind, weißt du.« Ich hatte das Du ganz unbewußt gebraucht, es kam mir als das Natürliche. Ich erschrak und wollte eben um Verzeihung bitten.

»Du sagen wir auch?« Du errötetest. »Nein, man kann wohl nicht anders. Es ist wie Maskenball. Eine Nacht sagt man sich Du – und man ist sich so wunderbar nah. Und dann kommt wieder der Alltag, und alles ist vorüber. Oh, das Geheimnis, Ask! Das Geheimnis ist beinah wie das Wunder. Willst du mir jetzt sagen, was Ask bedeutet?«

»Später vielleicht, Lil. Zu Ask gehört nämlich Embla. Wenn ich das einmal erklären kann, wird aus dem Geheimnis das Wunder werden.«

»Ask und Embla.« Du grübeltest. »Es klingt schön. Wie eine Legende. Bin ich Embla?«

»Vielleicht, Lil. Vielleicht bist du Embla. Aber ich darf Lil zu dir sagen. Ich gewöhnte mich so sehr an den Namen. Ich liebte ihn schon so lange.«

»Lil?« riefst du. »Schon lange liebtest du meinen Namen?« Du schwiegst benommen. Plötzlich fingst du an zu erzählen, wie alles gekommen war.

* * *

Im Winter, wir rechneten später die Daten nach: es war jener Tag im Februar, – hatte Lil plötzlich das Heulen der Wölfe gehöht, das Grauen und die Bezauberung in Deutschland, in Weimar, als »jemand« ihr einen Aufsatz über die Akropolis vorlas. Plötzlich hatte Lil gewußt, sie müsse sterben, wenn sie nicht noch einmal die ewigen Wälder wieder erlebte. Sie hatte nicht Ruh gegeben. Jemand – so verlangte sie – mußte sich auf Vorträge über nordische Backsteingotik vorbereiten. In vier Wochen würde sie sich mit diesem Jemand in Riga treffen, dann wollten sie gemeinsam die norddeutschen Hansastädte besuchen, um Kirchen und Profanbauten zu studieren.

Von heut auf morgen hatte sich Lil dafür entschieden und den Plan bei ihrem Mann durchgesetzt. Die estländischen Verwandten waren zwar tot oder nach Petersburg oder in Weißrußland verheiratet. Aber es gab noch die kurländischen, auch der Baron Rosen in der hiesigen Gegend gehörte dazu. Was den Baron anlangte, konnte ich Lil Bescheid sagen. Wahrscheinlich waren Briefe verloren gegangen, und morgen oder übermorgen würde er nach Jalta fahren. Mit den anderen Verwandten war alles in Ordnung, d. h. ursprünglich gewesen. Sie hatten Lil schriftlich aufs herzlichste willkommen geheißen, aber nun, da sie anlangte, auf dem alten, schönen Besitz in der Nähe von Mitau, fand sie das Haus leer. Allerdings Sommergäste waren da und Dienerschaft genug. Aber Onkel Jakob Johann und Tante Vera hatten plötzlich eine Todesnachricht bekommen, die sie der Erbteilung wegen wahrscheinlich auf eine bis zwei Wochen nach Moskau rief. Lil sollte es sich indessen recht behaglich machen im Hause. Aber sie hatte sich ausgedacht, sie wolle die Zeit benutzen und ein wenig auf Abenteuer ausgehen, das heißt, sie wollte quer durch Kurland reisen. Sie wollte Kap Domesnäs sehen und Mittsommer in Riga verleben.

»Es ist ein Geheimnis dabei«, sagte sie. »Die Mutter der Prinzessin, oh, meine Mutter kam mir wirklich immer vor wie eine schöne, verbannte Königin; sie hat jemand geliebt, der nicht mein Vater war. Ich hab' ein traurig liebes Bild gefunden in ihrem Nachlaß. Benjamin stand darauf. Johannisnacht 1870. Riga.

Mutter erzählte zuweilen von einer Johannisnacht in Riga. Dann war ihr Gesicht so rosenrot wie der Himmel, von dem sie erzählte.«

»Wie der Himmel heut?«

»Ja, Ask.«

»Dann war es wie dein Gesicht jetzt eben, Lil.«

Sie sah mich an.

»Und du glaubst, du könntest Mittsommer allein verleben in Riga?«

Ein Beben überflog sie. Sie faltete die Hände zusammen vor ihrem Schoß. Sie wollte von etwas anderem anfangen, aber in diesem Augenblick bemerkte sie die Gestalten, die ich modelliert hatte. Sie hatten im Schatten gestanden bisher, die verschiedenen Upsaus und Mildas, die Scheusale und Grotesken und der balzende Auerhahn.

»Das ist von dir, Ask?«

»Ja, Lil.«

Lil ging von einem zum andern; ganz lange, eindringlich prüfte sie jede Gestalt. Sie sagte kein Wort. Nur über das Achatgrün ihrer Augen glitten fortwährend goldene Pünktchen. Plötzlich – war das nicht Lil in dem roten Mäntelchen, die der Schneerausch überkam? Sie geriet außer sich. Sie tanzte im Kreise. »Das Wunder!« rief sie einmal über das andere.

Ich berührte leise ihre Schulter. »Lil, was ist es? Was beglückt dich so sehr?«

Ich stand dicht hinter ihr. Sie bog sich zurück. »Ich weiß es nicht«, sagte sie langsam. Ihr schmaler Körper berührte meine Brust. Sie redete über die Schulter weg zu mir herauf. Da war sie wieder, diese Nackenwendung, die mich erschütterte. »Das kann man doch nicht erklären«, sagte sie. »Heut kann ich es noch nicht erklären.«

Dann ging sie wieder zu den Plastiken. Von jeder sagte sie gerade das, was davon zu sagen war. Den Mildas strich sie sanft über den breiten Leib. »Erde«, sagte sie. »Wie viel warme, gute, dunkle Erde!« Zuletzt kam sie zu dem Auerhahn.

Ich mußte ihn in das Licht tragen. Plötzlich sah ich sie wieder erblassen bis in die Lippen. Wie bei dem Röhren der Tritonsmuschel. Ihre Augen weiteten sich und bekamen etwas Starres und Flimmerndes zugleich. Sie ballte die Hände und drückte sie in den Gelenken nach außen. »Das gibt es?« Ihre Stimme war leicht bedeckt. »Es gibt – das?«

»Ja. Lil.«

Lil schwieg. Der Atem stieß ihre kleine Brust. Die Bäume rauschten auf. »Fürchtest du dich, Lil?«

»Nein.« Sie machte sich ganz schmal und hoch. Ihre Nüstern spannten sich.

Nachher machten wir einen Weg in den Wald. Lil war wieder ferienglücklich. Sie erzählte mir, wie sie eigentlich zu mir gelangt war. In St. Olai hatte sie plötzlich die Lust erfaßt, einen Spaziergang in die Wälder zu machen. Sie war nun neun Stunden von der Postkutsche gerüttelt worden. Man könnte eine Post überschlagen, dachte sie. Das Gepäck blieb auf der Station. Das Endresultat dieser Wanderung war mir bekannt.

»War es nicht Schicksal, Lil?«

»Ja«, sagte sie leise und fest. Sie legte ihre Hand auf meinen Arm. Ich sah ihren Ehering. Etwas in mir wurde kalt und leblos. Aber als sie die Augen zu mir aufhob, die ganz dunkel geworden waren und doch voll tausend tanzender Pünktchen, vergaß ich den Ring. Die Demut, die Stille und die milde Wärme des Glücks erfüllte mich wieder ganz.

Als wir weiter gingen, erzählte mir Lil auch noch einiges von ihrem zu Hause. »Jemand« war Privatgelehrter, Kunsthistoriker. Sein Feld war die Klassik. Durch Studium und Neigung, d. h. natürliche Veranlagung. Lil war in Athen sehr viel besser zu Hause als in Berlin. »Ja,« sagte sie, »dies alles ist schön und herrlich, und daß ich bei allem dabei sein muß. Eberhard, nun also, Eberhard, er schreibt kein Wort, das ich nicht mit ihm durchdachte. Dies alles denken wir gemeinsam. Aber . . .«

»Aber, Lil?«

»Ja, eben das andere!« sagte sie.

Sie schwieg.

»Und die Klassik« fing sie plötzlich an, »gewiß, die Klassik wird immer das Endergebnis von Hochkulturen sein. Die geistigen Gesetze triumphieren zuletzt einmal und nehmen Leib und Seele in Zucht und Ordnung. Aber mir scheint, man darf doch nicht die Vorstufen außer acht lassen. Und ebensowenig die Folgeerscheinungen. Das runde Weltbild ergibt sich doch nicht allein aus den Höhepunkten. Und möchte man neben dem vollendeten Gemälde oder der Skulptur den unmittelbaren Reiz der Skizze entbehren wollen?«

»Oh,« sagte Lil, wie sie einen zarten, wehenden Birkenzweig abbrach, »das junge Chaos, wie es mich immer ergreift! All das Suchen und Tasten und Irren und das jünglingshaft Herbe, das Abweisende und das Überstiegene und das Inbrünstige! Es ist einem menschlich irgendwie näher als die Vollendung, wo das alles überwunden ist, wo das Statische – verzeih, Eberhard ist immer so wissenschaftlich in seinen Ausdrücken, das färbt ab – also wo Inhalt und Form eins wurden. Die Vollendung bete ich an, aber das Werdende ergreift mein Herz.

Ach«, sagte Lil, »und ist das Ewige nicht zugleich das ewig Wandelbare? Vielleicht liegt in den großen Zersetzungen schon wieder der neue Aufstieg beschlossen. Man dürfte nichts aus den Zusammenhängen herausnehmen. Nicht wahr?«

»Nein,« sagte ich, »darin liegt wohl das Geheimnis. Die klassischen Zeiten sind wie die Schmucksteine im Ring des Weltgeschehens. Bricht man sie einzeln heraus, sind sie Kostbarkeiten ohne Beziehung und Sinn.«

»Ja,« Lil strahlte vor Glücke »gerade so. Und wenn man nicht in die Epoche eines Klassischen hineingeboren ist, als Stern, als Ziel der Sehnsucht, als Führer sollte man es freilich immer ansehen, aber man sollte doch vor allem seiner eigenen Epoche ganz blutvoll nahe sein. Sie zu verstehen suchen. Ihr gerecht werden. Kann nicht nur auf diese Weise eine neue Vollkommenheit erreicht werden? Eberhard . . .«

Lil schwieg. »Darum ergriffen mich deine Plastiken vorhin bis ins Letzte«, sagte sie dann leise und schnell. »Ich hatte so lange gesucht, ganz für mich allein. Ich hatte einmal meine Hoffnungen auf Ägypten gesetzt und dann auf Indien, und als diese schließlich doch für heut versagten, wollte ich mich der Gotik in die Arme werfen. Aber jetzt sehe ich, ein Zeitalter kann nicht wiederholt werden. Jedes ruht in sich, ganz rund und geschlossen. Nur aufrufen kann es, Kräfte freilegen, bestürmen irgendwie. Und vorhin – ich sah plötzlich einen schmalen, gefährlichen Grat vor mir. Einen neuen Höhenweg. Ich glaube, viel Chaos wird erst lange die Täler füllen. Wir haben gar zu lange von unserer neuen Wahrheit nichts wissen wollen. Aber vorhin, ich sah neue Hochziele! Es war wie Sonnenaufgang.«

Lil wandte mir ihr Gesicht zu. Es war blaß und zuckte. Ihre Augen schimmerten.

»Hab' Dank, Lil!« Ich nahm ihre Hand, die nicht den Ehering trug. Ich küßte sie.

Nachher pflückte ich einen Strauß für sie, Grünes und Blühendes, groß wie ein Haus.

»Wie sonderbar,« sagte sie. »ein Mann pflückt Blumen? Und ordnet sie, gerade wie ich es tun würde. Eberhard pflückte mir einmal einen blauen Storchschnabel. Er ist so rührend komisch zuweilen.« Sie lachte hingegeben. »Einen blauen Storchschnabel ausgerechnet! Ich sehe ihn noch von seiner Höhe zu dieser prosaischen Blume herniederreisen. Sie fliegt noch dazu ab, während man sie pflückt. Aber«, sie errötete, »zu unserm Hochzeitstag bekomme ich immer etwas sehr Pomphaftes, eine Hortensie zum Beispiel. Und zum Geburtstag Georginen. Wie wunderbar«, es fiel ihr eben ein, »lauter geruchlose Blumen! Lauter Blumen ohne Seele!« Sie schien über etwas nicht ins reine mit sich kommen zu können. Plötzlich fing sie an zu singen.

O Lil, du sangest! Mit einer lieben, zarten und glücklichen Kleinmädchenstimme sangst du – die Lorelei!

Dann lachten wir darüber, während doch irgend etwas heimlich auf dem Grunde unserer Seelen weh tat. Und dann merkte ich, wie die Rückwirkung der gestrigen Anstrengung dich plötzlich überkam. Wir kehrten um.

»Nach Hause?« fragtest du.

»Ja, Lil, nach Hause.« Und das letzte Stück trug ich dich in meinen Armen.

* * *

Als du später von einem guten Schlaf auf der Sofabank erwachtest, wagte ich es. Du konntest diese Nacht nicht bis St. Olai wandern. Es ging nicht. »Schenkst du mir noch einen Tag, Lil, oder zwei? Das Leben ist lang. Und mir gehören nur soviel Tage davon, wie du mir schenkst, Lil.«

Du zittertest leicht. Du zögertest. »Wie willst du es einrichten?« fragtest du schließlich.

Aber schlief ich nicht schon seit Tagen im Freien? Es war draußen wieder fast völlig trocken. Mein Bett war bereit für Lil. Sikras würde im Hause bleiben und die Schwelle bewachen. Ich bewachte den Umkreis.

»Und das Gepäck?«

»Wenn es nur ein Handkoffer ist!« Ich konnte ihn sogleich holen. Es war zwölf Uhr mittags. Gegen sieben spätestens würde ich zurück sein. Sikras blieb da als Schutz und Ritter.

Du atmetest tief herauf. Ein Losgebundenes und Geheimnisvolles schaukelte in deinen Augen. So mußten meine Augen ausgesehen haben, damals, in Berlin, unter den Bogenlampen, auf dem glitschigen Asphalt. Als Bergfeld es sagte . . .

Als ich ein paar Augenblicke später in den Wald einbog, sah ich mich noch einmal um. Lil stand auf der Schwelle des Hauses. Sie winkte. Ich ging wie im Traum.

* * *


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