Friede H. Kraze
Jahr der Wandlung / 1
Friede H. Kraze

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Den folgenden Tag verschliefen wir, Sikras und ich. Einmal dachte ich, ich hörte ihn heulen, den andern Hund, und Sikras winselte im Schlaf. Und dann träumte ich von dem, was da draußen vor der großen Weite unter dem brandig zuckenden Himmel neben mich getreten war und mich angefaßt hatte mit unmenschlicher Hand. Gegen Morgen aber hatte ich einen seltsamen, schweren Traum. Über das kleine silberne Herz. Früher in Berlin lag es in seinem verblichenen Sammetkästchen auf dem Grunde meiner Wäschelade. Im letzten Moment hatte ich es entdeckt und mitgenommen. Nun hing es an der Wand unter einem Föhrenzweig. Dieses silberne Herz, so träumte mir, hatte ich verschenkt. Zuvor hatte ich etwas hineingetan. Ich wußte nicht, was es war. Auch wem ich es geschenkt hatte, wußte ich nicht. Nur daß mich meine Brust schmerzte, wie wenn ich es mir herausgeschnitten hätte.

Als ich aufwachte, war es stockfinster. Noch Nacht? Als ich ein Schwefelholz anriß, zeigte die Uhr neun. Es schien mir nicht so warm im Zimmer wie sonst am Morgen. Der mächtige Föhrenklotz war beinahe verkohlt. Sonderbar. Plötzlich – mit einem Satz war ich an der Tür. Draußen am Himmel standen Mond und Sterne, standen, wie sie gestern abend gestanden hatten, als wir nach Hause kamen, Sikras und ich. Ich lachte laut. Dieses war so vorweltlich toll: eine Nacht und einen Tag hatten wir verschlafen!

In diesem Augenblick bewegte sich ein Schatten jenseits der Wiese: ein großer Hund. Und noch einer, und ein dritter. Mein Atem stockte. Mit einem Satz, wie ich herausgesprungen, war ich wieder drinnen und hatte meine Flinte von der Wand gerissen. Trotzdem war es zu spät. Die drei Schatten waren verschwunden. Ich wartete länger als eine Stunde. Ich hatte nur meine kalbfellene Mütze auf und stand in der Hausjoppe. Aber ich spürte keine Kälte vor dem Sieden meines Blutes. An diesem Abend kamen die Wölfe nicht wieder. In der Nacht hörten wir sie heulen, Sikras und ich. Aber es war zwecklos, hinauszugehen. Man hätte doch nichts gesehen. Es hatte aufs neue angefangen zu stieben. Der Mond war hinter die Erde gefallen. Aber dieses Heulen war in meinem Blut wie der Rausch von einem wilden Wein. Zwei Wochen lang heulten sie so an jedem Abend. Metta, die Ziege, meckerte kläglich. Sikras sträubte das Fell, und ich sprang hinaus mit der Flinte. Aber niemals kam ich zu Schuß. Ich habe die Wölfe diesen ganzen Winter nicht wieder zu Gesicht bekommen.

Als ich meinen ersten Wolf schoß, ein Jahr später, ich hatte es mir eigentlich ganz anders gedacht. Den Rausch in meinem Blut, als ich sie in jener Nacht heulen hörte, hat nichts überbieten können, nicht einmal der Schuß, den ich jenem zwischen die grünen, haßfunkelnden Lichter jagte. Nun – es ereignete sich so kurz nach – dem andern. Dieser Wolf war in meinem Leben das einzige Tier, das ich mit kaltem Herzen getötet habe.

Einmal in jenen zwei Wochen, als ich Abend für Abend mit der Flinte hinaustrat, lag etwas Kleines, Dunkles auf dem Schnee. Es war ein Rotkehlchen und fast erfroren. Aber in meinen Händen wurde es wieder lebendig. Nun hatten wir einen neuen, fröhlichen Hausgenossen. Wahrscheinlich nahm es mich für einen Baum. Es blieb ruhig sitzen auf Schulter oder Kopf, ob ich still hielt oder mich bewegte. Meine kalbfellene Mütze war sein Nachtquartier.

Eines Morgens, als ich erwachte, war es wieder vollkommen dunkel. Wieder zeigte die Uhr neun, als ich ein Schwefelholz anriß. Entäußerte ich mich hier so völlig meiner menschlich-bürgerlichen Gewohnheiten, daß ich mich Nacht und Tag zum Schlaf einrichtete? Vielleicht würde ich nächstens anfangen, an meinen Vorderpfoten zu saugen?

Nein, ich hatte mich doch überschätzt. Nur der Schnee war noch einmal gekommen. Richtiger russischer Schnee. Auf der gefrorenen, drei Schuh hohen Untertage des früheren hatte ihn der Wind über die Wiese und gegen die Hütte gefegt. Die Fenster waren zu. Das gab Arbeit. Jeden Morgen hatte ich nun einen Gang um das Haus zu schaufeln und die Fenster frei zu machen. Es kam allerdings trotzdem kaum Licht in die Stube, denn es stiebte unaufhörlich. Als ob die Welt ein einziger, dicker Bettsack sei, der fortwährend geschüttelt wurde. Vielleicht war dieses Helldunkel zuerst der Grund, daß ich so wenig an meine Kunst dachte; denn wem wäre es um jene Zeit eingefallen, anderswo als draußen im flutenden Lichtstrom Studien zu machen! – Nun, ich sollte ganz schrittweise zu meinem Ziel geführt werden.

Aber ich hatte so viel zu tun in diesen Tagen ewiger Dämmerung, daß für die fruchtlosen Grübeleien über meine Begabung wirklich keine Zeit blieb. Dem Schnee, der Ziege, Sikras, dem Rotkehlchen, der Stube, dem Holz, Ofen und Essen galt es, alle Aufmerksamkeit zuzuwenden. Außerdem konnte meine Matratze sehr wohl eine Aufbesserung gebrauchen, und ich dachte, es müsse freundlich aussehen, wenn ich rund um die vorhanglosen Fenster eine Kante aus weißer Birkenrinde nagelte.

Als es getan war, begab ich mich daran, runde, flache Schalen aus Birkenholz zu drechseln. Zuerst wurden sie uneben. Bald aber bekam ich sie glatt und seidig wie Äpfel. Ich hatte eine ausbündige Freude darüber.

Schon am zweiten Tage hatte ich mir auf einem Stück Pappe einen Kalender ausgeschrieben. Jeder Tag wurde am Abend sorglich ausgestrichen. Es war notwendig, wollte man nicht untergehen in der Zeit wie in einem grundlosen See. Heut hatten wir Mariä Lichtmeß. Von diesem Tag an pflegte ich sonst meine völlige Auferstehung zu rechnen. Während der dunklen Monate ging ich ein wie eine Pflanze. Auch dieses mußte mit dem Vorfahren zusammenhängen, von dem ich die Jagdfieber im Blute habe, und der den Winter vor dem Feuer in seiner Holzburg verschlief. Die Menschen von heute sind nicht mehr so abhängig vom Wechsel des Jahres.

Übrigens brauche ich nicht direkt mit dem 2. Februar zu rechnen, an dem die Sonne ihren Hirschensprung am Himmel hinauf tut. In verständigen Zeiten pflegte ich schon am Epiphaniastage ein Dehnen der Glieder und ein bestimmtes Zucken in der Herzgrube zu spüren. Überhaupt, nun ich aus diesem steinernen Großstadtmeer heraus war, fiel mir ein, daß ich als Kind schon in den Rauchnächten mich in meinem Grabe bewegt hatte, wie der Schmetterling in der Puppe. Ja, dies träumerisch leise Lebendigwerden begann schon in der Woche, ehe die Sonne am tiefsten sank. Sobald Advent gefeiert wurde. Winterjul und Weihnachtsbotschaft waren seltsam und tief verschmolzen in meinem Blut. Als sei ich nicht heute geboren, sondern damals, als das kleine Kind im gestickten Hemdchen, den goldenen Erdapfel in der Hand, die vereisten Alpen überwand und in der jenseitigen Winterwelt lächelnd und unbefangen Einzug hielt. Über alle diese Dinge hatte ich nie mehr gedacht. Aber sie waren in meinem Wesen geblieben. Jedes Jahr, wenn die Sonne starb, starb ich mit, und war ihr dennoch voraus irgendwie, hatte schon das Bitterste überwunden durch die Helligkeit und die Wärme, die von dem kleinen Kinde ausgingen.

War es übrigens allein Berlin, das mich so losgelöst hatte vom Erdhaften und zugleich vom Mysterium? . . .

Aber allzulange durfte ich mich solchen Erwägungen nicht hingeben. Metta, die Ziege, hatte durchaus ein Recht darauf, daß ich ihren Stall säuberte, und es würde ja doch gleich wieder finster werden.

Während ich meine Grütze löffelte und mich mit Sikras unterhielt, der Wert darauf legte, dachte ich aber doch wieder darüber, wieviel voriges Jahr um diese Zeit ich bereits durchmachen mußte, ehe ich mich nur rasiert hatte: Bergrutsche, Uraufführungen, unglückliche Liebespaare, Geburten von Thronfolgern, Nordpolexpeditionen, Preisausschreiben für zugkräftige Namen von Zigarrensorten, Börsenspekulationen, Ausgrabungen, unbegreifliche Urteile der Jury, mißhandelte Kinder, Literaturkritiken, Schiffbrüchige und Patente auf Hosenträger. Wie sonderbar war es, wenn man sich vorstellte, daß man bis zur Abendzeitung schon wieder alles vergessen hatte. Das Gute, das Schlimme, das ganz Kleine und das ganz Große! Wieviel Minuten blieben dem normalen Großstadtmenschen für seine Erschütterungen?

»Sikras, Sikras! Welche Gnade, von diesem allem erlöst zu sein! Du weißt nicht, was es bedeutet, Sikras. Aber daß ich vergnügt bin, toll wie ein entwischter Schuljunge, Sikras, verstehst du das?« –

Sikras – oh, er verstand! Weit mehr als man irgend für möglich halten sollte. Er streckte mir enthusiastisch die rechte Pfote entgegen und dann die linke. Und nachher wieder die rechte. Und da das noch lange nicht genügte, seine Empfindungen auszudrücken, sprang er mit beiden Vorderpfoten zugleich auf meine Knie. Sein Schwanz wurde wild, und in seinen herrlichen Augen die Hingabe einer Braut, hob er die schwarzen Lippen meinem Gesicht entgegen.

»Nein, Sikras. Küssen nicht. Alles andere darf man, aber nicht lecken!« – Daß ich seine tiefste Zärtlichkeit, die der Zunge, ihm verwehrte, war der einzige Schmerz, den er bei mir erdulden mußte.

Es konnte eine Weile hingehen, bis Upsau und Milda wiederkamen, wenn es so weiterstiebte. Sie wußten, ich hatte alles, und sie würden sich keine Gedanken machen.

Ich besorgte meine Wirtschaft einen Tag wie den andern, saß an der Drechselbank – denn ich war auf die Idee gekommen, außer den Schalen auch Leuchter zu machen und sie mit einer Kante zu schmücken, obwohl mir als Schnitzinstrument nur mein Taschenmesser zu Gebote stand. Aber war das nicht bedeutend mehr als ein geschärfter Flintenstein, der dem ersten Künstler der Welt vielleicht gedient hatte? Ich begriff den Stolz und das Glück des Handwerkers vergangener Zeiten. Wenn er zehnmal dasselbe Stück geschaffen hatte, so war es doch zehnmal ein neues. Wie die Blätter einer Pflanze alle einander gleichen und doch jedes eine sondere Schönheit hat.

Ein so ungetrübtes kindhaftes Glück erfüllte mich bei meinen Arbeiten an der Drechselbank, daß ich Bücher und Lesen bisher noch gar nicht vermißt hatte. Gerade als es mir klar wurde, daß das Handwerk so naturhaft und vollendet wirkt, weil es einen Bruch mit der Tradition unbewußt ablehnt, weil es weder die Laune noch die Hast der Mode kennt und gar keinen Ehrgeiz hat, um jeden Preis etwas noch nie Dagewesenes zu bringen – gerade bei dieser Feststellung jagte ich mir das Schnitzmesser in die Falte zwischen Daumen und Zeigefinger, daß es eine Art hatte.

Dies ergab eine Arbeitsruhe, die ich wenig schätzte. Ich besann mich auf allerlei nützliche Dinge, einhändig zu verrichten. Beim Herausnehmen der Birkenmatratze, der ich mein ärgerliches Interesse zuwendete, blieb sie an der Wand hängen. Ein Nagel? Nein, ein Knopf. Ein Knopf aus Holz. Nie hatte ich ihn bemerkt. Ich rückte die Bettstelle zur Seite. Mein Gott – eine Tür in der Wand? Ich stürzte mich auf den Knopf. Er drehte sich ganz leicht. Er machte gar kein Geheimnis aus sich. Die Tür saß ein bißchen fest von der Feuchtigkeit. Als sie aufging, stand ich vor einem sehr ordentlichen und fast gefüllten Wandschrank. Ich schrie laut vor Entzücken, daß Sikras losbellte, die Stube absuchte und, als nichts Feindliches zu finden war, auf das Bett sprang, um mir ins Gesicht zu sehen. Dann krochen wir selbzweit halben Leibes in den Wandschrank. –

Er enthielt drei Fächer. Im obersten lag allerlei nützliches Wollzeug, wie ich später merkte, von den Motten früher entdeckt als von mir. Im mittleren, oho, Upsau! Das ist für dich: richtiger Monopolschnaps! Drei schöne Flaschen. Aber auch etliches zur Erhöhung meiner eigenen Feierstunden, Malinalikör, blaßrot und leicht wie ein Lerchenherz, Allasch, und eine Flasche Kurfürstlichen Magenbitter. Außerdem merkwürdige Dinge, wie ein ausgetrocknetes Tintenfaß aus einem Flintstein, eine Lupe, ein Muschelhorn für die Hirschbrunft, eine Rehfiepe, verschiedene Glasröhren und Reagenzgläser, Hirschhaken, ein Sextant, eine Sternkarte, ein kleines Fernrohr, ein Paket Roßhaare und als Letztes zwei verblaßte gerahmte Photographien: Ein kleines Mädchen im getollten Kleide mit langen Hosen. Sein schmales Gesicht war traurig und sehr süß. Die Schärpe um die dünne Taille war blau ausgemalt. Die andere Photographie zeigte einen Studenten in Wichs, schlank, elegant, formgebunden. Auf dem Bilde des kleinen Mädchens stand: Lil.

Ich wollte die Photographien an die Wand hängen, aber ich legte sie wieder zurück. Ich hatte die Empfindung, als sollten sie verborgen bleiben.

Nachher begab ich mich an das unterste Fach; und jetzt schrie ich wieder, so daß Sikras nachsehen mußte, was es gab. Dieses Fach war vollgestopft mit Büchern.

Ich holte sie heraus, armweise. Anfangs war ich etwas enttäuscht, denn die ersten 25 Bände waren alle Brehms Tierleben. Aber später bekam ich eine unbändige Freude gerade über dieses Buch. Dann kamen noch ein paar naturwissenschaftliche Werke, und als ich dachte, damit müßte ich mich abfinden, geriet mir die fromme Helene in die Hände, in herzlicher Nähe von den Predigten des Meisters Eckhard. Schließlich gab es noch die Geschichte des Landes von Otto von Mirbach samt einem Heftchen estnischer Sonnenmythen. »Sikras! Sikras! und Sikras!« Ich schnappte vor Glück. –

Sikras verstand nicht mit dem Verstande, aber wie immer und untrüglich mit dem Herzen. Er erkannte meine Gefühle und teilte sie hingerissen, bellte stark und solange, bis er gleichfalls nach Luft schnappen mußte.

* * *

An diesem Abend saßen wir am Tisch, Sikras und ich. Der Kienspan hätte schon genügt. Aber dies war allzu festlich. Auf dem Tisch lag eine dunkelrote Wolldecke. Zwei Kerzen brannten in selbstgedrechselten Leuchtern. Die Flasche Malinaschnaps leuchtete sanft, das Bild, auf dem »Lil« geschrieben stand, hatte ich in die Mitte gestellt. – Lil – ach Lil! Nicht dein Bild. Aber war es trotzdem die Beschwörungsformel zu dir hin? An diesem Abend kam euch zum erstenmal der Gedanke deiner Sommerreise. In Weimar, in der Belvedereallee, hörtest du plötzlich das Brausen der ewigen Wälder und die Urschreie und die ewige Lockung. Das Blut deiner Mutter, das Blut deiner Ahnen stieg dir in den Hals und benahm dir den Atem, während dein Mann dir seinen neuesten Aufsatz vorlas über die Akropolis. Lil! . . .

Und ich? Nein, Lil, ich wußte nicht, daß meine Seele dich beschwor und mit den uralten Stimmen anrief. Ich wußte nur, daß eine geheimnisvolle Feier über mich kam und die Schauer des Mysteriums. –

Ich war wie berauscht von meinem Buchfund. Ich konnte mich nicht entschließen, wonach ich zuerst greifen sollte. Ich legte die Bücher rings im Kreise auf die Erde, stellte mich in die Mitte, schloß die Augen, drehte mich dreimal um mich selbst:

»Eene peene ping pang
Ming mang
ose pose packe dich.
Eia weia weg.«

Aber gerade, als ich mich mit geschlossenen Augen auf ein Buch stürzen wollte, hatte die Erregung bei Sikras den Steilpunkt erreicht. Er tat einen Satz auf mich los, brachte die Kreisanlage in Unordnung und schob mir ein Bändchen in die Hand, das ich sonst nicht hätte treffen können. Es versteckte sich in dem Mirbach und enthielt Lettische Volkslieder, übertragen von Karl Ulmann. »Danke, Sikras!« –

Als ich dann mit Sikras im Arm auf den frisch geschütteten Kissen meiner Sofabank saß und das Heftchen feierlich aufklappte, sah ich, daß dem Text eine Anzahl Seiten mit einer feinen Schrift bedeckt vorgeheftet waren. Ich las:

»Sacht, sacht fuhr Gottchen
Vom Berglein zu Tale.
Gottchen hatte sanfte Rosse.
Sanft fährt Gottes Schlittchen.

Wer war es, der herritt
Auf rauchgrauem Rößlein?
Den Bäumen schenkte er Blätter,
Grünes Kleechen der Erde.«

Und weiter:

»In Kurland sind schwarze Wälder
Ach, mit viel roten Beeren.
Das waren keine roten Beeren,
Tränen waren es der Sonne.« –

Und dahinter standen wie ein Schrei langausgezogen die drei Buchstaben: Lil! Dann eilte die Schrift, groß hastig:

»Ihre Tochter gab die Sonne
Fort nach Deutschland übers Meer hin.
Brautschatz führten Gottes Söhne,
Alle Bäume reich beschenkend:
Gold'ne Handschuh' nahm die Fichte,
Grünes Wollentuch die Tanne,
Alle Birken gold'ne Ringe
An die zarten weißen Finger!«

Und:

»Schmettre Perkun in den Quell,
Bis in den Abgrund hinein;
Gestern abend ertrank die Sonnentochter,
Als sie die gold'ne Kanne wusch.
Schleudre den Blitz, o Perkun,
In die tiefste Tiefe des Sees.
Dort ertrank die Sonnentochter,
Als sie die gold'ne Kanne wusch.
Schleudre deinen Blitz, o Perkun,
In die tiefste Tiefe des Quells.
Waldteufels Tochter wirst du dort finden;
Sie wäscht die goldenen Kannen!«

Und dahinter wieder dieses: Lil!

Ich konnte nicht mehr ruhig bleiben. Hatte ich ein Recht? Ein Schicksal entrollte sich in dieser Schrift? Die Bücher waren ein Erbstück Rottmanns, von dem Frau Kroug in Riga mit diesem sonderbaren Ausdruck gesprochen hatte.

Um meiner Erregung Herr zu werden, die Fäden spinnen sah von einem gelebten Schicksal zu mir hin, griff ich wieder zu dem Heft, auf dessen Titel geschrieben stand: »Legende und Geschichte der Kuren.« Dies war gerade das, was ich brauchte. Als Milda neulich das Verschen sagte, überfiel es mich schon: wie konnte ein Volk mit so zarten und tiefen Poesien so sklavisch verkommen sein? Man mußte seine Geschichte kennen. Was wir darüber lernen und wissen, ist zu allgemein. Die Handschrift des Heftchens war dieselbe wie die der Verse in dem Ulmann-Buch, hinter denen »Lil!« geschrieben stand.

Ich verträumte mich über diesem Namen. Eine leidenschaftliche und fremde Süßigkeit lag darin. Aber die Legende und Geschichte der Kuren! Nun, also:

Die ersten sieben Seiten waren ausgerissen.

»Jedermann in Kurland«, begann es, »kennt Hofzumberge, den Edelsitz auf einer Höhe des niedrigen, zerspaltenen, uralisch-baltischen Landrückens. Aber nicht alle wissen, daß neben der jetzigen Hoflage ein herzogliches Lustschloß stand. Kein Malzeichen führt in jene verhängte Zeit zurück, da die alte Holzburg Terweten sich auf dem Bergkegel erhob. Aus den ungeheuren Föhrenstämmen ihrer Wälder hatten die Ureinwohner sie aufgetürmt zur Verteidigung gegen den weißen Christ. Mit Feuer und Schwert sollte die Sanftmut seiner Lehre ihnen eingeprägt werden. Wie trauervoll er lächeln mochte über den tödlichen Eifer seiner Anhänger. Die weiten Flächen der Aa waren dem stürmenden Voran seiner Schildträger entgegengekommen. Aber dieser winzige Bergkegel stand wie ein Wellenbrecher. An ihn klammerte sich alle zähe Heimat und Götterliebe der Kinder dieses Landes. Hatten nicht durch den Mund des Kriewe-Kriwaito von überall her die Götter zur Rache gerufen? Aus den ewigen Wäldern Litauens herüber. Von den Inseln des heiligen Sees beim heutigen Libau und vom Dewing Jure, dem Gottesmeer? Der oberste Priester selber war unnahbar in seiner Heiligkeit, aber er sandte seine Diener, die Kriwaiten, und im Namen Perkunos, des Donnerers, verkündeten sie seinen Willen. Es war, als ob die leuchtend weißen Priesterstäbe Gewalt hätten, Schar um Schar aus der Nacht der ewigen Wälder hervorzuzaubern. Wo solch ein geschälter Birkenstamm hinzückte, rauchte Christenblut als Götteropfer. Um die Heimat seiner Götter verblutete ein kleines sanftes Volk in einer Kühnheit über sich selbst hinaus.

Es ging Jahrzehnte so: Kampf, Sieg, Unterliegen. Terweten war der Brennpunkt. Blutrot und hochauf kochte der Terpentinbach, die alte Terwitte, wie sie zur Festung Mitowe herunterjagte. Dort saß Konrad von Mandare als Ordensmeister. So oft die neuen Blutwellen ansprangen, befahl er eine neue Schar Schwertritter. Aber weder ihm noch seinem Nachfolger, dem Rodenstein oder Anders von Westfalen, mochte es gelingen. Erst Walther von Nordeck machte die Senngaller zinsbar. Zinsbar bedeutete allerdings nicht leibeigen. – Nun, wenngleich Kaiser und Papst durch Bulle und Briefe eine so todesmutig erkämpfte Freiheit bestätigt hatten, was half es? Sie waren beide fern, und die Schwertritter hatten anders beschlossen. Das von Kämpfen völlig ermattete Volk wurde so mitleidlos geknechtet, bis selbst seine Schwachheit noch einmal den matten Atem zu einem furchtbaren letzten Aufschrei zusammenpreßte. Dies war der Todeskampf der Kuren. Ein Kreuzfahrerheer von 14 000 Mann erstickte ihn. Der milde Christ verhüllte schaudernd sein Antlitz über dem Blut, in seinem Namen vergossen. Terweten, die Burg, wurde vernichtet. Götter und Priester flohen in die Nacht der Wälder. Leibeigenschaft legte das Joch auf niedergetretene Menschennacken. Ab und zu noch züngelte ein tödlicher Haßgedanke aus der Asche, eine Schwertspitze zuckte. Aber was bedeutete das? Das Herz war zerbrochen, der Harnisch zerhauen mit der Burg Terweten. Konrad von Herzogenstein durfte sich Herrn von Kurland heißen im Jahre 1288. Herrn eines entvölkerten Landes. ›Nie hat ein Volk,‹ schreibt Otto von Mirbach über den Kampf der Kuren um Terweten, ›nie hat ein Volk mit geringeren Mitteln und größerem Mute seine Freiheit verteidigt.‹ Und weiterhin: ›Die späteren Kuren entarteten unter dem Joch der Deutschen dergestalt, daß keine Spur von dem Geist, der einst ihre Väter beseelte, übrigblieb. Aus den heidnischen Helden waren christliche Sklaven geworden.‹« – –

Ich legte das Heftchen hin. Wir in Deutschland wissen so wenig. Wir sind allein stolz auf unsere Brüder, die hohen, schlankgliedrigen, hellhaarigen Ritter, die deutsches Herrentum so rein hier bewahrten wie sonst nirgends in der Welt. Ihre Verschuldungen kennen wir kaum. Und wiederholte vielleicht sich auch nur ein wenig Gleiches? Der kühne, starke Herrenmensch brach auf mit Schild und Speer und unterwarf sich ein Urvolk. Zwang ihm seine Herrschaft auf und seine Religion, seine Kultur, bis . . .

Als ich weiterspinnen wollte an diesem Faden – hier schien ein Knoten, etwas stimmte nicht. Was stimmte nicht? Nun, ich würde die Frage an diesem Abend nicht lösen.

Als ich das Heftchen fortlegen wollte, klappte es von selbst auf, zwei Seiten weiter hin. »Aber die Götter des Gottesmeeres sind nicht tot, wenngleich der Widelsee jetzt 2532 Lofstellen Acker bedeutet. Sie sind lebendig wie die Götter der Tameneeken an der Windau und bei Libau am heiligen See. Ob auch die Inseln Perkunos auf ewig im Gottesmeer versanken, seine Flüche zucken noch schwer und dunkel im Sklavenblut, und die Mysterien der Kriwaiten werden sie an einem Tage furchtbar erwecken. Die Terwitte wird abermals rot rinnen und die Wellen der Windau und der Aa, aber das Blut, das sie färbt, wird Herrenblut sein. Fluch wider Fluch! Dann wehe euch deutschen Baronen!

Warum tut mir mein Herz weh, wenn ich an euer Schicksal gedenke? Hasse ich euch oder liebe ich euch so sehr? – Ach, so werde ich wohl den Haß in meinem dunklen, verfemten Blut tragen müssen, solange ich lebe, und die Liebe in meiner Seele ebensolange. Dieser Haß und diese Liebe – ich kann sie nicht mehr sondern. Sie sind in eins verschmolzen: sie sind die große Traurigkeit, die um mich her steht wie ein luftleerer Raum, daß die Menschen mich fliehen müssen. Lil – war ich schon so voll Trauer, als du zu mir kamst, oder wurde ich es erst, da du gingst? Aber wer vermöchte zu werden, was er nicht war, ehe er war? . . . Woher kam das Schwankende und die Schwäche in meinem Gefühl den Baronen gegenüber? Haßte und verachtete ich sie nicht? Warum quälte ich mich mit tausend Verantwortlichkeiten, die jene lachend mit der flachen Hand zerhieben? Damals, als ich ihm das Pferd hielt, als er mir die Reitgerte über die Wange zog – warum ließ ich es nicht damals aufbrennen? An die Gurgel hätte ich ihm springen müssen wie eine wilde Katze! Es wäre mein Tod gewesen, allerdings. Aber welche Erlösung!

Nun – wozu heut darüber grübeln? Warum Dinge beschwören, Reue um Dinge, die ich mir versagte oder zerstörte? Ist Reue nicht tiefstes Merkmal des Knechtes? Jene andern? Sie kennen nicht Reue. Lil, hast du jemals getrauert um etwas, das deine schmale weiße Hand zerbrach?«

* * *

Ich ging lange mit dem Inhalt des kleinen Heftes. Der Name Lil lebte in meinem Blut wie ein erregender Fremdkörper. Erst als der März begann und der Schnee plötzlich aufhörte, befreite ich mich davon. Vielmehr der Fremdkörper verkapselte sich. Er blieb bei mir. Aber die Beunruhigung hörte auf. Es wurde klarer Frost von heute auf morgen. Die Furt, die ich am Hause entlang zum Ziegenstall geschaufelt hatte, wehte nicht wieder zu. Wenn man auf den Schnee trat, machte er wieder Musik.

Gerade als ich mich fragte, ob man nun bald wieder auf Jagd gehen könnte, ein Hase wäre angenehm gewesen, gerade da hörte ich eine dunkle und eine helle Glocke jenseits der Wiese.

»Wirklich, Upsau! Und Milda, du kommst wieder mit! Welche Freude!«

Ich nahm meine Gäste in die Stube. Das Wasser im Samowar brodelte. Sogleich! Sogleich!

Milda schälte sich heut so schnell aus ihren sieben Häuten, daß ich plötzlich und verblüfft ihrem augenscheinlichen Staatskleide gegenüberstand. Ich lobte es. Sie errötete vor Glück. Sie wußte nicht, armes Kind, daß die Unschönheit ihrer Gestalt dadurch unterstrichen wurde. Sie sah mich an. Sie trug mir ihr Herz entgegen. Wie auf einer Schüssel. Demütig. Unverdeckt. Mich überkam Trauer.

Nachher packten wir aus. Große Körbe voll Herrlichkeiten schickte mir der Vogt. Sikras war völlig entwurzelt, als er mit übermenschlichem Wissen durch Papier und Stroh hindurch die Schätze bereits mit Namen nennen konnte, ehe ich sie auch nur erahnte. Aber er war zu vornehmer Art, um sich irgend etwas merken zu lassen. Nur an seinem schnellen, erregten Atem merkte ich seine Freude.

Nachher deckten wir den Tisch so festlich wie möglich. Ich gab Milda vom Besten, was ich hatte, da ich ihr das andere, wonach sie verlangte, nicht geben konnte.

Upsau war wieder voll Anekdoten, als der Branntwein, den er für mich mitbrachte, sein Wasserglas etliche Male frisch gefüllt hatte und er aus jeder Pore rauchte.

Plötzlich warf er das Messer hin und fing an und stampfte und tanzte. Nun, es wurde nichts Richtiges. Die Letten tanzen kaum noch. Sie versumpften zu völlig. Es war eine Art Kamarinskaja, wie er sie in St. Olai die russischen Grenzwächter hatte tanzen sehen.

Mildas Augen wurden kreisrund vor Entsetzen. Sie hob die Hand. Ich weiß nicht, war Upsau schon einmal in ihrer Gegenwart gezüchtigt worden, oder war dies ein uralter Griff der Not ihrer Kaste und Rasse?

Diese Gebärde Mildas brachte Upsau zur Besinnung. Mitten in einer seiner Grotesken hielt er inne. Er kratzte sich den Kopf, murmelte etwas: »zening kunks« – setzte sich schweigend auf die Kante seines Stuhles und kaute die dicke, harte Pelle des Schweinskopfes. Milda legte hastig ihr schönes Leibchen ab, schlug den obersten Rock hoch auf und kniete sich schweigend hin, den Fußboden zu scheuern. Upsau fragte kleinlaut, ob er Holz hauen sollte, oder was ich sonst für ihn zu tun hätte. Nun, mochte er mir im Ziegenstall ein Brett vornageln. Ich wollte uns über eine peinliche Situation hinwegbringen.

Milda hatte unterdessen den Fußboden überschwemmt. Hernach tranken wir Tee. Übrigens hatten sie auch einen Klumpen Lehm mitgebracht, falls der Ofen dessen benötige. Mein Vorgänger hatte in solcher Ermangelung ihn einmal mit Zwetschgenmus verschmiert. Es roch immer wieder ein wenig nach Muskochen in der Stube.

Milda sah noch immer aus wie ein betrübtes und ängstliches Kind. »Soll ich dir etwas schenken, Milda?« Ihre Augen wurden dunkel und erstarrten. Sie sah auf das kleine silberne Herz. An einer Schlinge aus Roßhaar hing es an einem Föhrenzweige.

»Dieses? Nein, dieses Herz könnte ich dir nicht geben, mein Kind. Aber wenn ich wieder in die Stadt komme, so will ich dir eine Kette kaufen aus blauen oder roten Perlen, wie du willst.« Ich nahm eine der gedrechselten Schalen aus dem Wandschrank. Ich wählte eine besonders gelungene mit einem Efeublattmuster.

»Danke!« sagte Milda leise. Ihr farbloses, flaches Gesicht schien zu zergehen. Wie Rauch. Aber dann lächelte sie. Sie nahm die Schale in ihre Arme wie etwas Lebendiges.

»Übrigens, Upsau, was ist es mit dem Gottesmeer?«

Upsau duckte sich zusammen, wie über schlechter Tat ertappt. »Es ist nicht geheuer, gnädiger Herr. Besser, man spricht nicht davon!«

Aber damit war ich nun allerdings nicht abzufinden. Als ich es nach und nach und stockend aus ihm herausbekam, begriff ich, daß Upsau mir ein unerhörtes Opfer brachte. Das Gottesmeer – der Widelsee – es lag nicht allzu fern. Scharen Weißgekleideter zogen dorthin noch vor hundert Jahren. Die Eiche, die Linde, dem Perkunchen waren sie geheiligt. Kein Mensch wagte sich in ihre Nähe. Kein Lette. Was kann man wissen!? Die alten Götter . . .

Stiegen nicht ihre Inseln noch immer im Sommer aus dem Wasser herauf? Mildas Stimme klang geheimnisvoll: »Einen Sommer lang haben die Götter ihre Lust auf ihnen. Dann versinken sie wieder, und kein Mensch hat sie betreten!«

»Wie komme ich zu dem See?«

»Er ist fort«, flüsterte Milda. Sie sah mich an, als ob sie Mitschuld an etwas Ungeheuerem auf sich lüde.

Upsau sah verstockt in eine Ecke. Plötzlich wendete er sich um, als ob man mir dergleichen wohl anvertrauen dürfe: »Gut – der Dewing Jure – sie heißen ihn den Widelsee – die Rosanger Herrchen hatten alles, Schloß, Menschen, Wälder, Wiesen. Hatten nicht genug. Ist schon lange her. Großväterchen hat noch jeden Winter bis in den April den Holzschlitten über den Widelsee gefahren. Gehörte dem Rosanger. Dann hat der gnädige Herr lassen graben. Was braucht er den Gottessee. Ackerchen wollte er haben, Feld. Hatte nicht genug. – Gut. – Wollen wir das Wasser in die Daugawa schicken. Wollen wir ein tiefes Rinnchen graben, vom Gottesmeer zu der Daugawa hinüber.

Die Götter haben geholfen. Haben nicht wollen bleiben. Tausturm haben sie gerufen. In zweimal zwei Stunden ist das Gottesmeer leer gelaufen. Großväterchen war dabei. War im Holzschlitten mit vielen hundert auf dem Widelsee, wie die Decke anfing zu krachen. Hat sich gerettet mit den andern aus dem Gericht, wie Perkunchen mit dem Hammer die Schollen zerhieb. Großväterchen hat eine weiße Haarsträhne bekommen, quer über die Augen damals. War ein junger Bursch. Ist manchem so geschehen. Wie Perkunchen dahinfuhr im Zorn, hat er seiner Kinderchen Haare versengt! Die Herrchen lachten.« Upsau ballte die Faust. In seine Augen trat Jammer und Blut.

An diesem Abend, als Upsau und Milda fort waren, überfiel mich eine große Unruhe. Ich konnte mich nicht an die Bücher begeben, und ebensowenig an die Drechselbank. Ich suchte etwas. Was ich suchte, hätte ich nicht sagen können. Nur daß Sikras wie mein Schatten immerfort und lautlos mir auf den Fersen blieb. Plötzlich streiften meine Augen die Schüssel, auf die Milda den Lehm für den Ofen gelegt hatte. Mit feuchten Tüchern lag der Klumpen zugedeckt. Wie ein abgeschlagenes Haupt.

Ich wußte kaum, daß ich das Tuch zurückschlug. Daß meine Finger anfingen zu tasten, zu kneten. Es war ein eigentümlicher Zustand. Als ob ich mir selber zusähe. Als ob meine Gedanken in meine Fingerspitzen gefahren wären. Ich dachte sie nicht. Ich paßte nur auf, was sie zu Wege brachten. Dann wieder meine ich, es waren überhaupt keine Gedanken bei diesem Geschäft beteiligt, sondern ein fremder und geheimer Aufruhr in meinem Blut. Wie es auch war, ohne jedes Instrument, nur mit meinen Fingern, hauptsächlich mit dem Daumen arbeitend, sah ich plötzlich Upsau auf dem Tisch vor mir stehen. Ohne Zweifel, es war Upsau. Etwa zehn Zoll hoch. Wie er Kamarinskaja tanzte. Ich weiß es nicht, ob ich schon beim Bilden dieser Figur mich so seltsam gebärdete, jedenfalls, jetzt, während ich mir diesen Upsau von allen Seiten beschaute, merkte ich, wie ich mich selber in dieser grotesken Stellung hielt. Hatte ich auch den linken Mundwinkel heruntergezogen? Die Brauen weit voneinander gerückt, wie bei vergnügten Menschen? Und war in meinen Augen dieser eigentümlich verschlagene Blick von unten herauf, der einen leichten Schauder erregte und so seltsam vom Ausdruck der Kinnladen unterstrichen wurde?

»Sikras!« rief ich plötzlich. »Sikras!« Wie man nach seinem Freunde ruft.

Sikras sprang sogleich herunter von der Matratze, wo nach vielfacher Drehung um sich selbst er es sich zuletzt bequem gemacht hatte. Er stieß seine braune kühle Nase ein paar Mal in meine Hand, und seine schönen Augen waren Hingabe und Staunen zugleich. Schließlich, nachdem er Upsau betrachtet hatte, schob er die Lippenfalte links ein wenig beiseite. Es war ein kleines, beruhigendes Lächeln über eine unnötige Aufregung meinerseits.

Währenddessen war in derselben unterbewußten Weise Milda entstanden. Ich stellte mich ihr gegenüber wie der Gestalt Upsaus und betrachtete sie mit kritischem Staunen. Es war Milda mit den breiten Hüften und den kleinen schlaffen Brüsten echt bis auf das Haar, das ihr immer über die rechte Stirnseite herunterfiel. Und doch war es etwas ganz andres Es war dunkle und schweigende Erdmitte, bereit zu empfangen und zu tragen. Es war ewiger Urgrund, in den die dunklen aufgewühlten Ströme münden, um an anderer Stelle die Ufer zu zerreißen und beruhigt und geläutert eigene, neue, breite Straßen zu ziehen.

Ich ging hin und her in der Stube mit starken Schritten. Sikras immer dicht neben mir. Seine kräftig bemuskelten und kurzen Lenden stießen fortwährend an meine Filzstiefel, im Drang, sich meiner Gangart vollkommen anzupassen. Ich war voll zersprengenden Glückes und doch in grübelnder Frage. Die Groteske, die Karikatur sollte mein Feld sein? Wie wunderbar war dieses. Aber ich erkannte, hier hatte ich zum ersten Male etwas geschaffen, ohne jede Anlehnung oder Anklang an früher Erblicktes. Und übrigens, war es rein grotesk? War nicht irgend etwas darin, das zu einem andern die Brücke schlug? Kam etwas zu mir? War es auf dem Wege? . . .

In dieser Nacht hatte ich sonderbare Träume. Einmal war die ganze Hütte bevölkert von weiß Gekleideten, die mit geheimnisvoller Gebärde mich zu rufen schienen. Dann war ein Fremder in der Hütte, und ich rang mit ihm. Aber der Fremde war eigentlich ich selber. Ich hätte nur sein Gesicht sehen müssen. Aber es war verdeckt von einer schwarzen Faschingsmaske, und es gelang mir nicht, sie herunterzureißen. Als ich in Schweiß gebadet erwachte, brüllte und krachte es um das Haus, und die Bäume stöhnten. Ich schreckte zusammen. Die Scharen Weißgekleideter fielen mir ein, die in der Nacht durch die Hütte wallten wie Nebel. Waren es die Seelen derer gewesen, die einst am Widelsee geopfert hatten? Als der Kriewe Kriwaito den geschälten Birkenzweig aufhob? Stürzte Perkun rote und weiße und graue Stämme durcheinander in dieser Nacht, daß er sich selber bewiese?

Mit einem Ruck sprang ich von meiner Matratze. Ich fühlte, wie jedes einzelne meiner Haare sich aufrichtete: Der Widelsee! Ich hatte ihn schon betreten! Die ungeheure freie Strecke im Herzen der Wälder, ein wenig eingesenkt zur Mitte hin, damals, als ich den Widerschein des Nordlichtes erblickte!

Ich kleidete mich an noch in halber Dämmerung. Ich mußte heut in den Wald. Koste es, was es wolle. Als ich vor die Tür trat, schien mir die Luft verändert. Irgendeine Bewegung, gespannte Unruhe empfing mich. Die halbmeterlangen Eiszapfen, die bisher selbst in der kurzen, grellen Mittagssonne sich nicht verändert hatten, hielten jeder einen großen schweren Tropfen an seinem Ende. War der Tausturm unterwegs? Von Litauen herauf? Es mochten noch viele Tage hingehen, ehe man im Schneemodder bis an den Gurt versinkend den Auerhahn ansprang. Aber die ungeheure Erregung, die ins Blut trat wie ein Fremdes, war sie nicht der Vorbote?

»Sikras – nein, Sikras, heut kannst du nicht mit.« Er hatte sich, als wir die Ziege besorgten, einen rostigen Nagel in den linken Hinterballen getreten. Ich hatte ihn entfernt und die Wunde gereinigt. Aber er lahmte noch stark.

Sikras konnte mir nicht glauben. Er empfand den Abschied wie einen fürs Leben. Er klagte mit einem einzigen langen Heulen, als ich die Türe verschloß. Aber dann, wie ich ihm zuwinkte, als er von der Fensterbank aus mir hinterdrein sah, gab er keinen Laut mehr von sich. Nur seine Seele brannte in seinen Augen. »Auf Wiedersehen, Sikras! Auf Wiedersehen, mein Freund!«

* * *

Diese Wanderung in dem Wald entschied für mich nach der einen Seite hin. Ich mußte ohne Sikras gehen an diesem Tage. Mit seinem hingegebenen Auge neben mir hätte es nicht zu mir kommen können, wie es kam.

Mit Hilfe des Kompasses war ich zuletzt an den Widelsee gelangt. Hier war der ungeheure Kampf einmal ausgefochten worden zwischen Menschen und Göttern. Ich stand und schaute und lauschte in die Totenstille. Das matte Türkisblau der Zweige, das tiefere dunkle Blau der Schatten auf dem Schnee wurde deutlicher in der beginnenden Dämmerung, die jeden Kontur noch sanfter verschwimmen ließ. Alle Schatten bekamen eine schwebende Durchsichtigkeit, wie verklärte Seelen, und da, wo sie in das ganz Dunkle übergingen, schien das letzte Geheimnis zu warten. Die endlose Schneefläche war nicht mehr aufdringlich grell, sondern wie aus einer eigenen inneren Schönheit heraus leuchtend. Und die äußersten Schatten des Waldrandes zitterten über ihr wie bläuliche Nebel, mit Purpur verbrämt. Aber immer schien das Eigentliche erst hinter dem Sichtbaren zu stehen. Und dieses Verhüllte war zugleich das Lockende.

Nun, hier an dieser Stelle begriff ich, weshalb ich Lionardo am meisten liebte von allen. Er war der Fürst des Zwischenreichs. Nur wo wir noch nicht ganz wissen, ist Reiz. Und Sehnsucht und Wunsch wachsen am Versagten.

Ich wandte mich endlich wieder dem Walde zu. Wer es vermöchte, diese Dämmerung im Bilde auszudrücken! Wie das Silber eines alten Kelches, überlaufen vom Hauch des Frauenmundes, der einem andern Munde aus diesem Kelch Liebe zutrinkt.

In diesem Augenblick geschah das Unerwartete. Schon eine Weile hatte ich ein Prasseln und Schroten, Klatschen und Schnauben gehört. Zuerst dachte ich, es sei der Sturm. Aber nun brach es durch die Dickung, das Tier, vor dem die Pferde schaudern: ein uralter Elch! Er hatte keine Witterung. Er lief mit dem Winde vom Süden herauf. Er stampfte.

Unwillkürlich griff ich nach meiner Flinte. Ich legte an. Im nächsten Augenblick setzte ich ab. Wozu? Dies war Mord. Ich bedurfte seiner nicht zur Nahrung. Warum sollte ich ein Leben auslöschen, das niemandem schadet, wenn doch der Tod auch keinem nützen konnte?

Ich stand und starrte ihn an. Er war erschütternd in seiner grotesken Häßlichkeit. Wie ein Scheusal der Urzeit trabte er durch das Grauen. Im nächsten Augenblick, als er sich seitwärts wandte, bekam er Witterung. Jäh warf er den Kopf herum mit dem riesigen Gebäum, äugte und erblickte mich. Sekundenlang standen wir uns gegenüber, und der Ausdruck des wilden Entsetzens in diesen Tieraugen traf mich wie ein Schlag. Gleich danach tat der Elch einen ungeheuren Seitensatz, und wieder hörte ich es krachen, klatschen, prasseln, schnaufen, als sei die Hölle hinter einer verdammten Seele. Ich stand noch immer. Der Sturm kam wieder. Wie ein langgezogenes W–w–w–w–w– ging es über mich hin. Er war dunkler geworden. Was für ein Ding hockte da oben in den Zweigen der Esche und grinste mich an? Wo hatte ich solch ein Scheusal schon einmal gesehen? Während ich noch sann – mein Gott – war der Wald voll davon? Diese Hexe mit dickem Bauch auf dem Besen? Und das Vieh, gebläht, geschuppt, geschwänzt, lang wie die Ewigkeit mit diesem ganz kleinen, flachen, unsinnig schauderhaften Kopf? War die Hölle losgelassen? Ich spürte eine leichte Kühle im Genick. Und dann trat sie mir als Unbeschreibliches in jeden Blutstropfen. Dieses Unbeschreibliche fing an, in meinen Schläfen zu brennen, es schlug in der Schlagader in meinem Hals, es zuckte in jedem Nerv. Es war in keiner Weise einer körperlichen Furcht vergleichbar. Diese hatte ich nie gekannt. Es war der Schrecken vor den Geheimnissen hinter den Dingen. Es war die Angst vor den Geheimnissen der eigenen Seele, ihrem Hin und Wider, ihrem Auf und Ab. Ich suchte nach einem Schimmer von Licht. Auf dem Grunde des Waldes war Nacht geworden; hinter jedem Stamm und die Stämme hinauf hockte und grinste das Grauen. Aber höher, über Stämmen und Kronen und Astgewirr, über alles Erdgebundne hinaus . . . ich fühlte, wie meine rückwärts gekrümmten Nackenmuskeln sich lösten, etwas Verkrampftes löste sich, wurde weich und atmete tief: hoch oben, ganz hoch zwischen dem feinen Geäst der Esche hing ein mattblauer Himmelsfleck. In diesem zarten, kindlichen Blau sah ich drei Sterne sich schaukeln und über ihnen die junge, unschuldige Mondsichel.

Die Esche Yggdrasil! mußte ich denken. Der Windbaum, an dem Odhin hing und sich verströmte. Und plötzlich sah ich ein anderes Holz vor mir; daran hing auch einer, der sein Herzblut schon lange verströmt hatte, ehe der Speer ihm die Seite aufriß. Und wieder spürte ich die Kühle im Genick. Nur diesmal nicht mehr vom Entsetzen, sondern von der Erhabenheit des Unaussprechlichen.

Erst später dachte ich, es müßten die drei Sterne aus dem zweiten Dreieck des W der Cassiopeia gewesen sein, die ich erblickte, mit dem hellen, strahlenden Schedir. Damals dachte ich nicht an Sternennamen und Wunder. Denn plötzlich sah ich sie schweben auf der Mondsichel, die ewige Mütterlichkeit, die ewige Milde neben der Erhabenheit. Ganz Seele, ganz Süße und letztes Erbarmen aus letzter Liebe heraus, letztem Erleben und letztem Erdulden, sah ich die Himmelsmutter auf der Mondsichel schweben, den Gott im Arm.

In diesem Augenblick ging wie ein blauer Blitz das Geheimnis und die Uridee jeglicher Kunst vor mir nieder: Die Natur eines Landes schuf seine Kunst. Die ewigen Wälder hatten die Gotik geboren. Ihre steten Wandlungen im Jahreslauf, die lange, dunkle Bangigkeit des Winters, die eilende Süße des Blühens. Alle Fensterrosen waren Sehnsucht nach lachendem Sonnenrund. Sehnsucht waren die Türme, die sich über das Grauen der Tiefe wie Pfeile in ihre lichtere Heimat emporschnellten.

Ja, stand ich denn noch, die Flinte auf dem Rücken, im Herzen eines kurischen Waldes? Vielmehr ich stand in der Tiefe und im Dämmern eines gotischen Domes. Auf den weitverzweigten Wipfeln der Pfeiler ruhte der Himmel der Heiligen und Verklärten. Es war nicht der Tausturm, der von Litauen herauf jagte, und der die Schnepfe und den Auerhahn bringen würde, es war die dunkle Gewalt der Infrabässe, die in den Wipfeln der Säulen wühlten. Vox humana bebte in flehender Inbrunst, dulcit öffnete den blauen Mantel der Liebe, vox celesta strömte über wie Regen der Barmherzigkeit, und ganz hoch, ganz fern hinter den drohenden Wolken verborgen, war das übermenschlich heilige Gottesauge.

Mir war, als stünde ich auf der Todeslinie zwischen Diesseits und Jenseits. Hier, jetzt eben begann das, was ich meine Wandlung benannte.

Ich verstand, daß ich das Wesen der Gotik in mir trug. Das heißt alle äußersten Gegensätze: das Heilige und das Ruchlose. Die Ekstase und die Dämonie. Alle Reinheit und allen Raub. Das Verlangen nach der Gottesmutter und die Lockung der Lilith.

Ich wußte damals noch nicht, daß jeder echte Künstler diese Phase durchmachen muß. Daß sehr viele aber sich dessen niemals klar bewußt werden oder dazu gelangen, aus Erdhaftem und Göttlichem, aus dem chaotischen Widereinander der Aufströme und Verzweiflungen einmal, nach langen, schweren Läuterungsjahren, in die Einheit oberster Gesetzmäßigkeit einzugehen. Der letzte Sinn des Menschen aber und sein letztes Gesetz ist: der Mensch. Nicht der Gott oder das Tier, nicht der Heilige und nicht der Verruchte, sondern der Mensch, der dieses Leben lebte und erfuhr, dieses ganz schreckliche, herrliche Leben mit seinen sonnebestrahlten Gipfeln und seinen Abstürzen, seinen weiten Himmeln und dumpfen Kellern, seinen Wogenkämmen und seinen Untergängen, seinen Sommergluten und Winternächten, mit allen seinen Schulden und Wundmalen und letzten Entzückungen. – Ja, dieser Mensch, der von allem Dinglichen und Kreatürlichen Besitz ergriffen hatte und von ihm besessen wurde, und dem aus solcher Fülle die letzten Erkenntnisse erwuchsen, die letzte Liebe und der letzte Wille, so daß er frei wurde, dies alles zu haben oder zu lassen, weil er sich mit allem in die Tiefe Gottes hineinbarg: dieser Mensch war das Gesetz des Menschen!

Aber dieses Wissen konnte damals allerdings noch nicht mich beruhigen und zugleich aufrufen. Ich wußte noch immer nicht, daß Kunstschaffen grausam ist wie die alten Heidengötter, die Blutopfer verlangten. Und daß, je stärker und machtvoller die Ströme des Blutes und der Seele rauschen, um so schmerzhafter und tiefer sie ihre eigenen Läuterungsbecken graben müssen. Ich wußte noch nicht, daß, je abgründiger die Marter, um so höher die Flamme aufglüht, bis sie im Werk sich loslöst vom persönlichen Erlebnis und Gestalt wird und ein Neues und eine Vollkommenheit. So ist Passion Ritterschlag zum Menschentum. Aber für den Künstler zugleich der tiefe Quell, ohne den sein Werk niemals erblühen und reifen könnte . . .

Aber wie hätte ich dies alles damals schon wissen können? Lil, du mußtest doch erst kommen und die süße Wunde mir einbrennen. Sieh, soeben ist sie wieder aufgebrochen, und ich blute an ihr, wie ein Birkenstamm im Frühling blutet, wenn man ihn mit dem Messer schnitt. Ach, so soll ich ihn heut noch einmal spüren auf der lächelnden Insel meiner Gelassenheit: Eros, den allmächtigen. Seine Grausamkeit soll ich noch einmal spüren, das Gift und die Geißelhiebe, aber auch das Rauschen seiner göttlichen Flügel, den Duft seiner Rosen und die Schauer der Entrückungen. Lil . . .

Wenn ich aufgeschrieben habe, warum ich das silberne Herz, das mir wieder kam, zwischen die schenkende Mutter Gottes legte und Lilith, dann werde ich es öffnen.

* * *


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