Friede H. Kraze
Jahr der Wandlung / 1
Friede H. Kraze

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Der Bekannte von Bergfeld, das Stadthaupt von Riga, hatte uns aufs zuvorkommendste ein paar Zimmer des Gutshauses von Gedingen zur Verfügung gestellt. Er selbst wohnte mit seiner Familie Winters über in der Stadt. Zur Zeit der großen Herbstjagden war er draußen. Unsere Verpflegung und Bedienung machte keine Schwierigkeiten. Der Verwalter, Kutscher und einige Leute waren doch immer dort. Aber während wir die Angelegenheit besprachen bei einem ausgezeichneten Frühstück, erhöht im Reiz durch die Anwesenheit einiger schöner und geistvoller Frauen, schien plötzlich wieder dieser seltsame Ton aus der Ferne zu kommen, wie ich ihn empfunden hatte ein paar Tage vorher unter den elektrischen Bogenlampen auf dem schwarzen, glitschigen Berliner Asphalt. Dieser harfende und gellende Ton. Und ein verhülltes Ungeheure schien sich plötzlich aufzurichten. »Gibt es nicht irgendein Forsthaus in der Nähe?« fragte ich. »Eine Jagdhütte? Ich meine, irgendeine verlorene Einsamkeit?«

Die Dame des Hauses, die bisher nur gesellschaftliche Liebenswürdigkeit zur Schau getragen hatte, sah mich plötzlich aufmerksam und nachdenklich an. Während der Bürgermeister bedauerte. »Das Buschwächterhaus, Cäcil«, sagte sie unvermittelt: »Beim Widelsee, im Dumbrower Forst!«

Unser Gastgeber wollte sich nicht einverstanden erklären. Es sei allzu abgelegen und wirklich etwas unmöglich für mehr als ein bis zwei Tage. Seit den Zeiten Rottmanns habe niemand mehr dort gehaust, und selbst Rottmann . . .

»Ich glaube, es ist ganz das, was Herr Olph sucht«, sagte Frau Kroug. Und wieder traf mich dieser aufmerksame, nachdenkliche Blick.

»Ich glaube wirklich, es ist es ganz!« wiederholte ich. Mir schien, ich antwortete niemand am Tisch, sondern einem fernen dunklen und bestimmenden Schicksal.

So wurde ausgemacht, daß Bergfeld und ich eine Woche auf Gedingen verleben würden. Wenn er abreiste, mochte ich es halten, wie ich wollte, Gutshaus und Buschwächterhaus, beides stand mir zur Verfügung.

Während dann Bergfeld in Riga seine Geschäfte abwickelte, durchstreifte ich die Stadt und machte ein paar Einkäufe für meine Klausur, zu der ich fest entschlossen war. Dabei war fortwährend dieses seltsame Gefühl über mir, das entspannte und zugleich bis ins letzte erregte. Alles, was ich hinter diesen Meilen und Meilen voll glitzernder Schneemassen zurückgelassen hatte, schien jetzt bereits so völlig versunken, als wie in einem andern Leben geschehen. Aber das Eigentliche, das Ausschlaggebende würde doch erst beginnen.

Ich ging in einem eigentümlichen Zustand durch die Stadt. Traumgebunden auf der einen Seite und zugleich geschärft in allen Aufnahmefähigkeiten, als hätte ich Absinth getrunken. Nicht nur Auge und Ohr, jede Pore empfing und jeder Nerv. Aber ich selber schien alledem sehr ferne.

Diese Stadt war wie ein Märchen im blauen Schneelicht verwolkter Mondscheinabende. Aber man konnte sich entsetzen, wenn die wahnwitzige Blendung einer eilenden Mittagssonne sie in zwei Hälften zerspaltete und die obere jäh in den Raum riß. Dann erschien sie wie ein seltsames und unergründliches Doppelwesen. Denn selbst diese Mittagssonne war nicht imstande, die Sohle dieser engen, schluchtartigen und gewundenen Gassen zu berühren, die wie eingewühlt in den Erdgrund erschienen, und wie der Bauch der Erde uralten Fluch heimlich nährten oder ausspien unter die Menschen: Das Gold! –

Die Spitzen der Giebel bestürmten mit ihrer Sehnsucht den Himmel. Aber hinter jedem Fenster des Erdgeschosses brannte selbst um Mittag eine trübe Gasflamme, und Zahlen, eilig und widerwärtig wie Insekten, rannten die Seiten der riesigen Bankbücher herunter zum Gesang des Goldes.

Ja, dieses alte Europa war krank zum Sterben. Selbst hier, wo es sich mit Asien berührte.

Wo war das Land der Erde, aus dem die Erlösung der Menschen kommen könnte? Oder war es vergeblich, Schiffe der Sehnsucht nach ihm zu entsenden? War es vielleicht ein Land der Seele, das allein in Betracht kam? Das jeder für sich selber entdecken mußte? –

Dann drängte ich mich aus dem Gewühl der engsten Gassen, um im Strom und Gefäll der ein wenig breiteren beinah den Boden unter den Füßen zu verlieren. Aber ich kämpfte um meines Schicksals Auswirkung. Hier waren die Läden. Ein Pelz aus Schaffell, Vlies inwendig, mußte erhandelt werden; desgleichen ein Fußsack, Schillersches Maß. Denn es schien mir genügend, wenn Bergfeld die Güte unserer Gastgeber nach dieser Richtung hin für sich allein in Anspruch nahm.

Nun brauchte ich noch hohe Filzstiefel, Eßvorräte, Tabak, Lichte und was sonst noch benötigt werden mochte in einem Buschwächterhause, fünf Stunden Fahrt vom nächsten Menschenwesen.

Am dritten Morgen, gerade als vor dem Hotel Petersburg, unserm Absteigequartier, das Gepäck verstaut wurde, kam das Telegramm; Bergfeld mußte noch an demselben Abend nach Berlin zurück. Seinen Vater hatte der Schlag gerührt.

Ich bestieg meinen Schlitten allein. Es war ein Tarantaß, auf eisenbeschlagene Kufen gesetzt. Als ich die Ohrenklappen meiner kalbfellenen Mütze zuband, wie ähnliche aus Sammet die gute Agathe mir oft genug unter dem Kinn zugebunden hatte, als ich ein kleiner Junge war, spürte ich wieder dieses seltsam Lockende und Losgebundene, das mich in Berlin überfallen hatte, als Bergfeld zuerst »davon« sprach. Ich zog den Fußsack aus Schaffell bis an die Brust herauf und setzte meinen guten Doppelbüchsdrilling mit hinein wie einen Kameraden. Irgendein Urweltliches in mir hörte ich ganz laut und tief Atem holen. In diesem Gefühl, das ich gar nicht beschreiben kann, dachte ich kaum noch an Bergfeld, wiewohl sein Schmerz vor kaum einer Stunde mir wirklich nahegegangen war. Ich wußte, daß eines guten Sohnes Trauer ihn ganz erfüllte. Aber mir war alles versunken, was dahinten lag. Nichts war in mir als Jubel, daß ich dieses Neue sogleich und allein antreten würde: die Schlittenfahrt, das Buschwächterhaus, die Wälder, die Wölfe und das ganz Undeutbare, was dahinter stand.

* * *

Daß ich im Gutshaus nur für eine Nacht absteigen wollte, war bei mir ausgemacht. Der Schlitten, der mich nach Gedingen gebracht hatte, sollte nach Riga zurückkehren. Der Krougsche Kutscher würde mich weiter fahren. Seine Tochter mochte uns begleiten und die erste Reinigung vornehmen. Auch eine Ziege sollte ich mitbekommen und einen Hund. Einen Rüden aus dem Zwinger. Ein Keiler hatte ihm die Weiche aufgeschlitzt bei der Novemberjagd. Er war von der deutschen Verwaltersfrau lange gepflegt worden und hatte sich an Menschennähe gewöhnt. Er hieß Sikras. –

Der Kutscher, ein Russe, versicherte, sein Pferd würde mit dem Schlitten fünfzehn Werst die Stunde machen. In der Glocke am Krummholz schienen alle Glocken meiner Kindheit zu läuten: dunkel wie Abgrund, verwirrend wie ein Hagelsturm, armselig wie zum Sterben und ganz hold und unaussprechlich hoch und fern. Je nachdem der Traber, der Schlitten mit dem Kutscher, allen Vorräten und mir selber durch seetiefe Pfützenlöcher sprangen, auf deren Grund eine grüne Schlange scharfe kleine Schreie ausstieß, ob wir ein verschneites Eisgebirge im Sturm nahmen oder wieder beruhigt in pfeifender weißer Unendlichkeit einherflogen. Denn kurische Wege sind, wenngleich nicht beschotterte und gestampfte Chausseen wie bei uns, dennoch gut und durch Granitschüttung widerstandsfähig. Aber ich weiß nicht aus welchem Grunde, es wäre denn ein langer heller Flaschenhals gewesen, der aus des Kutschers Schafpelz heraussah, in jedem Falle waren wir auf einen wenig befahrenen Nebenweg geraten, den es zu überwinden galt. Der kleine struppige Fuchs, der zuerst wie ein Waschkessel gedampft hatte, war wie mit einer Glaskruste überzogen. Seine Mähne starrte in Zacken, und aus den Nüstern ragten lange weiße Zapfen wie Zähne. Er sah vorweltlich märchenhaft aus. Sein Herr gab ihm allerlei ehrenvolle Beinamen wie Student oder Ispravnik. Als er sich bis zum Gouverneur verstiegen hatte, war es gelungen: das schwer arbeitende Tier stemmte die Vorderhufe auf den richtigen Fahrweg, und die versprochenen fünfzehn Werst in der Stunde wurden zur Wahrheit.

Gegen Abend waren wir in Gedingen. Ich wurde höflich empfangen. Meine Ankunft verursachte kein besonderes Aufsehen. Vom Stadthaupt, das zuweilen einen Jagdgast draußen hatte, waren wir gemeldet.

Als ich das Buschwächterhäuschen als Ziel angab, versuchte man, mich von diesem Gedanken abzubringen. Warum ich nicht im Herrenhaus bleiben wolle? Im Winter sei es unmöglich dort draußen für jemand, der Land und Witterung und Jägerleben nicht gewohnt war.

Aber ich bestand darauf, aß gut zu Abend, schlief fest und traumlos, machte am nächsten Morgen mit Hilfe des deutschen Verwalters und seiner Frau meine Vorbereitungen, und gegen zehn Uhr verließ ich Gedingen.

Sie hatten mir einen großen, sechssitzigen Schlitten gegeben. Er wurde ganz gefüllt von Menschen, Ziege, Hund und Gepäck. Der lettische Kutscher hieß Upsau. Seine Tochter Milda sah aus wie ein kleines graues Tier. Nur ein wenig Wange, Nase und Mund waren sichtbar zwischen ihren Mützen und Tüchern und ein Paar Augen, stumpf wie Multebeeren. Sikras, der Hund, drückte sich fest gegen meine Knie. Die beiden Mitfahrenden lehnte er ab. Er war noch nicht wieder eingelebt im Zwinger. Ich weiß nicht, war es meine Sprache, oder spürte er die Rasse, die ihm wohlgetan hatte. Es war ein kurzhaariger Vorstehhund, mittlerer Größe. Der trockene Kopf mit der breiten, klugen Stirn, der kräftige, im Nacken leicht gebogene Hals in den strammen Rücken übergehend, die tiefe Brust, die kräftige Hinterhand und der gütige Ernst seiner braunen Augen waren Zeichen seiner reinen Rasse. Eine Eigentümlichkeit war sein Haar: braune Platten auf blauem Grund. Erst sehr viel später sollte ich erfahren, von welcher erlauchten Ahnfrau er abstammte. Zwischen uns war die Liebe auf den ersten Blick. Wie viel später einmal zwischen Maida und mir. Maida war anschmiegender. Wie es sich für eine Hündin gehört. Aber Sikras . . . nun, davon zu sprechen, hat noch Zeit.

* * *

Das Buschwächterhaus lag etwa fünfzig Werst von Gedingen. Wir hatten wieder ein stolzes Dreigespann. Den Traber in der Mitte und zwei Seitenpferde. Wir zerrissen die Unendlichkeit weißer, verschneiter Äcker und das sanfte Graulila kleiner entlaubter Arischniaks. In den Dörfern, armselig wie ausgestreute Bettelmünzen und zugleich märchenhaft durch die seltsam irisierenden Fensterscheiben, kläfften ganze Rudel wütender Hunde hinter uns drein, und schon wieder hatten die weißen Schauer der wie von tausend Brillantsplittern durchzuckten Unermeßlichkeit uns aufgenommen.

Gegen zwölf Uhr war es, als ob das Licht plötzlich ausgelöscht wurde. Dicke Wolken, trächtig von Schnee, krochen mühselig am Himmel herauf. Wenn sie zerplatzten . . . Gerade in dem Augenblick, als sich am Horizont ein dunkler Strich abzeichnete, von Geheimnis umblaut, gerade da begann es: der Schnee stiebte. Er stürzte sich über die Welt, wie ich es noch nie erlebt hatte. Er fegte von oben herunter, biß ins Gesicht, stieß in Nacken und Flanken. Ja, kam er nicht aus der Erde heraufgesprungen wie einer, der völlig den Verstand verlor? Nun war die Welt ein großer grauer Sack, der zugeschnürt wurde. Wir in unserem Tarantaß waren das Lebendige in diesem verschnürten Sack. Wir und die Scharen kleiner funkelnder scharfer Nadeln. Dies war Winter im Baltikum!

Aber was konnte Upsau wohl meinen, als er fragte, ob wir nicht doch noch umkehren wollten. Umkehren? Dicht vor dem blauschwarzen Strich am Horizont? Nun mußten wir doch schon ganz nahe sein! Die Wälder! Die Wälder!

Ich hatte wohl lange in der steinernen Stadt gelebt. Aber meine Augen waren die meilenscharfen Jägeraugen jenes fernen Urahn. Es dauerte noch eine Weile. Aber – nun sind wir da. Das blauschwarze Geheimnis mit seinen Schneelasten rauscht über unserem Schlitten zusammen.

»Das Buschwächterhaus, Upsau?«

»Eine Stunde, Herr!«

Es dauerte allerdings beträchtlich länger. Wer konnte wissen, daß die uralte Föhre wie ein müder Kämpe sich quer über den Weg gelegt hatte?

Aber nun: da ist es! Da ist es! Das Haus wie eine Höhle in die eisenstarre Waldwand eingesprengt! Die Wiese davor, wie hätte ich ahnen sollen, daß sie einmal so leidenschaftlich blühen könnte? – Wohlan!

* * *

Das Buschwächterhaus bestand aus einem Ofen, groß wie eine Festung, umgeben von einer Stube. In der Stube befand sich ein rohgezimmerter Tisch aus Föhrenholz, eine Bank mit Matrazen aus Birkenblättern, desgleichen ein Bettschragen, ein buntgemalter Schrank mit Geschirr und allerlei Geräte und Werkzeuge, wie ein Mensch in der Einsamkeit sie wohl gebrauchen kann. Was mich am meisten interessierte, waren verschiedene Angelruten, ein paar Flinten wie aus den Zeiten des schrecklichen Iwan, ein Fernrohr und eine Drechselbank.

Die Stube hatte etwas seltsam Verwunschenes und Höhlenartiges. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch kleine blasige und irisierende Fensterscheiben. Zu öffnen waren die Fenster nicht, man hätte sie herausreißen müssen; jede Ritze war fest verklebt. Die Luft in der Stube war säuerlich und Übelkeit erregend, wie in dem kleinen Kruge unterwegs, wo wir angehalten hatten. Der letzte Bewohner schien den Machorka zum Gefährten erwählt zu haben. Als ich mich noch mit dem Öffnen der Fenster abplagte, kam Upsau herein, den Arm voll Holzkloben. Eigentlich wollte er eine junge Föhre fällen; aber er hatte hinter dem Hause noch einen schönen Holzvorrat entdeckt. Ein Strom Kälte kam mit ihm hereingesprungen wie ein großes weißes und ausgelassenes Tier. Er brachte mich fort von meinem Fenster. Wir ließen die Türe auf. Milda und Upsau kauerten vor dem riesenhaften schwarzen Maul des Ofens. Obgleich er mit Kienholz, gelb wie Honig, versucht wurde, blieb er verstockt. Plötzlich schien ein Krach seine störrischen Eingeweide zu zerreißen. Maßlos wie alles hierzulande, spie er eine Wolke schwarzen Ruß mitten in die Stube. Dann bekannte er sich zu seiner Bestimmung.

Ja – nun begann in meinem Leben die Epoche der uralten Föhrenklötze. Wenn statt meiner die große Flut über diesen Wald hergefallen wäre, viele hundert Pfunde Bernstein hätten einmal von ihm berichtet. Nun ging allein die Seele dieses Bernsteins im Hause um. Wie heilige Dämpfe aus einer Schale voll Ambra.

Als Milda aus ihren ungezählten Jacken und Tüchern sich herausschälte, bemerkte ich das Schlaffe ihrer Brüste trotz ihrer Jugend und die Breite ihrer Hüften. Ihre Gestalt war wie die einer Frau, die viele Kinder geboren hat; Kinder, in Dumpfheit empfangen, in Mühsal getragen, in Not gesäugt und früh begraben. – Das Schicksal aller ihrer Elternmütter schien bereits vorgebildet in diesem halben Kinde. Auch die Haut des Gesichts war matt und schlaff. Ihre Augen von dem stumpfen Schwarzblau der Multebeeren hatten etwas Ergreifendes. Trotz der Schwere ihrer Gestalt bewegte sie sich schnell und nicht anmutlos auf ihren Schuhen aus Birkenbast. Sie erzählte, daß die Kälte in diesem Winter sehr früh und sehr schnell eingesetzt habe. Schon im November seien die Wölfe rudelweise bis an die Dörfer gekommen, allerdings nur in der Nacht. Ihr Heulen ging einem durchs Herz. Einmal am Morgen fehlte ein Stierkalb, ein schöner schwarzer Motschenstier mit einem weißen Augenfleck; ein andermal eine Stute oder Schafe.

»Menschen? Auch Menschen, Milda?«

»Nein, Herr, Menschen nicht.« Ihr unschönes Gesicht lächelt sanft ergeben; wie sie mich ansieht! Täusche ich mich? Oder ist etwas vom Leiden der Kreatur in diesem Blick?

Ja, nun aber kocht das Wasser im Samowar. »Nicht so dünn! Laß mich selber! Du bist zu vorsichtig mit den Teeblättern, Milda! So. Nun wollen wir uns stärken für die lange Einsamkeit!«

Ich wußte damals noch nicht, daß Upsau ein Wasserglas voll Branntwein heruntergießen konnte als wäre dieses siedende Feuer ein Honigsud. Ich füllte ihm das kleine Glas von der Sorte, wie die Verwaltersfrau mir drei Stück eingepackt hatte, als ob ich Gäste traktieren sollte, schon wenigstens zum zehnten Male. Als er sich ein rundes Dutzend einverleibt hatte und die Grütze, das Brot und ein Stück gesulzten Schweinskopf, genügend zum Wochenbedarf für mich, fing er an die Geschichte vom Dickwanst. Dies ist ein lustiger Lettenschwank von einem, der, soviel ich mich erinnere, einen Bottich mit Grütze verzehrte, dazu einen Kübel Erbsen, einen großen Fisch, drei Liespfund Heringe und vier Laib Brot, und der es grade eben aushalten konnte vor Hunger.

»Ja, Upsau, und wenn nun die Zeiten erbärmlicher waren?« Upsau zwinkerte mit den Augen. »Nicht doch, gnädiger Herr! Dann schlug er die Falten von seinem Bauch wie einen Mantel zusammen und schnürte ihn fest, daß er nicht heruntersackte.«

»Noch ein Stück Schweinskopf, Upsau?«

»Drauf und dran, gnädiger Herr!« sagte Upsau und erzählte die Geschichte vom Herrn und vom Vogt, und wie die Litauer Salz säeten. Als er das letzte Gläschen Branntwein aus der Flasche bekommen hatte, fing er an zu singen: »Wer weiß, wie nahe mir mein Ende . . .« Sein rotes Gesicht bekam etwas Klägliches. Die dicke Unterlippe hing herunter wie bei einem weinenden Kinde. –

»Um des Himmels willen, Upsau!« – Er ließ sich nicht unterbrechen. Aus dem heiteren Fluß der Schwänke war er in das Meer uferlosen Kummers eingefahren. Aber als ich noch dachte: welcher Wind treibt mir dieses Schiff wieder in frischere Wasser? – Was blitzte da plötzlich unter den buschigen Brauen wie die Schärfe eines Äxtchens, warum überlief es mich plötzlich vom Scheitel bis zur Zehe, als schlage eines ungeheuren Schicksals unerbittlicher Flügel? Nun, es geschah dreimal in jenem Jahr, daß ich glaubte, in einem Lettenauge das Äxtchen blitzen zu sehen. Noch dreizehn Jahre waren hin bis zum Ausbruch der Revolution.

Ich schenkte frischen Tee auf. Als Upsau wie eine Badestube dampfte, vergaß er sein Sterbegelüst. Ich bat Milda um ein Lied.

Milda sah mich furchtsam an. Sie zog die Stirn zusammen, während sie aufstand. Dann sang sie eintönig mit gefalteten Händen wie ein Schulkind:

Sonne, die tanzt auf
Silbernem Berge;
Hat an den Füßen
Silberne Schuhe.
Einfuhr die Sonne
Zum Apfelgarten;
Neun Wagen zogen
Wohl hundert Rosse.
Schlumm're, o Sonne,
Im Apfelgarten,
Die Augenlider
Voll Apfelblüten.

Dann meinte sie, daß sie hinter dem Ofen vielleicht noch nicht gründlich genug ausgefegt hätte. Aber die Sehnsucht nach Einsamkeit hatte mich plötzlich fast schmerzhaft überfallen. Und mußte nicht ein geheiligter Winkel für die Spinnen bleiben? Nur, wie war es mit den Schwefelhölzern? »He, Upsau, was fehlte doch noch? Ja, so, der Zylinder der kleinen Lampe ist zerbrochen. Aber Lichter haben wir ein paar Dutzend. Und nun behüt euch Gott! Vor einer Woche braucht ihr nicht wieder zu kommen!«

* * *

Als die Schellen der Schlittenpferde schon lange in der Ferne verstummt waren, es war gegen sieben Uhr nachmittags, stand ich noch immer vor meiner Tür. Sikras stand neben mir, den schmalen schönen Fang in meine Hand gedrückt. Er hatte nicht den geringsten Versuch gemacht zurückzureisen, als die andern sich im Schlitten verstauten. Er hatte sich mir ergeben, Seele und Leib.

Es war eine ganz klare, stille Kälte geworden. Man empfand sie kaum. Der weiße Fleck vor dem Hause, der im Sommer eine Wiese bedeutete, mochte etwa einen Acker messen. Dahinter stand der Wald. An den andern Seiten trat er bis dicht an das Haus. Ich starrte über die Wiese, durch die Bäume, die riesenhaft, wiewohl ganz unregelmäßig in Alter, Gestalt und Art an einer Stelle sich schwarz bedrängten, an anderer sich phantastisch verschlangen oder weiter auseinandertraten. Ich unterschied noch eben die grauen Stämme der Fichten von den roten Föhren und den verknorrten Eichen. Dies Schwarze dort rechts mochten Ellern sein. Die weißen Birken wirkten wie Schneelasten zwischen den anderen Bäumen. Bergfeld fiel mir plötzlich ein, der leidenschaftliche Nimrod. Er hatte voriges Jahr zu einer Jagd sich einen weißen Anzug machen lassen, um die Rehböcke hinters Licht zu führen. Um ein Haar wäre er selber von einem Freunde erschossen worden.

Plötzlich, als ich durch die Bäume starrte – irrte ich mich? Funkelten nicht dort ein Paar grünliche Lichter? Ich sprang zurück ins Haus nach meiner Flinte. Sikras war dicht auf meinen Fersen. Er gab nicht Laut. Nur seine Flanken wurden schmal, und sein Brustkorb wölbte sich. Er richtete die Ohren auf und starrte mit mir in gleicher Richtung. Sikras, was denkst du? Ist das einer von denen, die den Motschenstier mit dem weißen Augenfleck schlugen? Oder hatte ihm plötzlich davon geträumt, dem großen Naschhaften, wie süß und gelb der Honig dort drüben der Eiche aus der breiten Brust gequollen war, als er aus Litauen herüberreiste im vergangenen Sommer?

Aber wie ich noch hinstarrte, meine Hände um die Büchse gekrallt, merkte ich plötzlich, wie mein brausendes Blut mir den Atem versetzte. War auch in meinen eigenen Augen dieses heiße und grüne Licht?

Im nächsten Augenblick stieß mich Sikras mit der Schnauze sanft in die Seite. Als ich ihn ansah, merkte ich es: Nur aus Zartgefühl hatte er mit mir zwischen die Bäume gestarrt. Er hatte niemals geglaubt, daß dort drüben etwas Beachtenswertes vor sich ginge. So feinfühlig war Sikras.

Als er schon lange, Kopf auf den Läufen, zwischen halbgeöffneten Lidern jede meiner Bewegungen verfolgte: Was sah ich dort nur vorhin? Mußte ich denken. Was war es doch nur, das in meinen eigenen Augen gebrannt hatte? Was suchte ich doch nur? Ein ganz Nahes oder Fernes? Gott weiß es. Aber ich suchte mit meiner letzten Kraft.

Nachher, als ich die Tür des Buschwächterhauses verrammelt hatte, überfiel mich der Rausch der Einsamkeit. Ich sperrte die Ofentür auf, einen kleinen Spalt, daß sich ein roter Schein lebendig auf den Fußboden legte. Wie eine Korallenschnur spielte er um den schmalen Hals von Sikras, wie um den Hals einer zärtlichen Dame. Sikras schlief und träumte und murrte sanft, wie wenn er sich von vergangenem Glück erzählte. Aber als ich die Ofentür wieder zugesperrt hatte und der Frost wie Gewehrfeuer in den Balken krachte, zuckten seine Vorderläufe unruhig, und er warf den Kopf ein paarmal heftig zur Seite. Das war der Keiler, gegen den er sich aufs neue zur Wehr setzen mußte.

Was ich in diesen ersten Tagen tat, weiß ich nicht deutlich zu sagen. Mir war immerfort, als ob ich die Einsamkeit schmeckte. Ich ging mit ihr im Arm, wie mit einer Geliebten.

Ich tat tausend kleine Verrichtungen, um meine Höhle wohnlicher zu machen, besorgte meinen Ofen, kochte mein Essen, zerkleinerte Holz, versuchte einen Riß in meinem Ärmel zu flicken, der an einem Nagel hängen geblieben war, unterhielt mich mit Sikras. Und jeden Mittag zog ich meine Filzstiefel an und wanderte mit ihm und meiner Flinte in den Wald.

Dieser Wald! Seinen letzten Charakter erschloß er allerdings erst, als der Frost das Land aus der harten Umarmung freigab. Das schweigende Grauen der Moore gehörte dazu. Die mannshohen wogenden Wedel der Farren-Urwälder im Urwald, die schneeweißen Linnen der Faulbaumblüten und der berauschende Geruch von Verwesung und neuem Leben. Es gehörte dazu, daß ein elendes Pilzweiblein oder ein Kind sich über eine Brücke tastet, die aus einem oder auch zwei vermorschten Baumstämmen besteht, und plötzlich, gerade da, wo über den weißwolkigen Blättern des Porsch die hohen gelben Dolden schaukeln, gerade an dieser Stelle sinkt die Brücke vonsammen, wie ein Tor in die Unterwelt. Ein Schrei, ein Zupacken der Arme und verzweifeltes Suchen der Füße und – schon ist alles vorüber. Stumm, wie vorher, liegt die braungrüne Moordecke. Nur die Blüte des Porsch, die so berauschend duftete, hängt abgebrochen, und die Brücke ist verschwunden.

Aber all dies werde ich später aufschreiben. Ich spürte sie eben wieder, die Kühle im Genick, wie damals, als Lil mir lachend erzählte, welchen Weg sie gekommen war.

* * *

Ich schoß nicht sehr viel in diesen Tagen. Die kurischen Wälder wurden zu lange mißhandelt von den fliegenden Jagden der deutschen Barone und den heimlichen Klappertreiben der Letten, die noch bis vor kurzem den Wald ebensowenig schonten wie Jung- und Mutterwild. Auch mußte ich zuerst und zu lange die perlmutternden Lichtscheine beobachten, das seidene Grau der Nähe, das sanfte bläuliche sich Verwolken der Ferne.

Einen Spielhahn brachte ich heim. Schön wie ein Märchenvogel. Mit der Brust aus schwarzem Jett, metallisch lasiert. Die Augenrosen heller Karmin. Der Schweif wie eine Apollonszither! Einen Luchs brachte ich heim, mit der fremden Kühle über den eben noch bernsteingelben heißen Lichtern. Einmal hätte ich zwei Schneehühner schießen können. Vom Frost getrieben, hatten sie sich bis auf die Wiese vor dem Buschwächterhaus gewagt. Aber wie ich sie mit ihren kleinen zottigen Füßen so mühselig und vergeblich scharren sah, brachte ich es nicht übers Herz. Statt der Ladung Schrot, die für sie gedacht war, schüttete ich ihnen von den eingequollenen Erbsen hin. Sie sind sehr scheu, und an diesem Tage kamen sie nicht zurück. Aber am nächsten Morgen waren die Erbsen verschwunden, und ich tat öfter einen Speiserest an diese Stelle.

Ja Sikras, und wann werden wir ihm begegnen, mit dem ich hierher gelockt wurde? Dem großen Hund mit dem spitzen Maul und dem abfallenden Rückgrat, der sich wie der Schatten eines Verfemten bewegt? »Schabbah« rufen die Letten den Wolf.

Sikras sah mich an und klopfte mit dem kräftigen Schwanz: an ihm sollte es gewiß nicht liegen, wenn ich in meinen Erwartungen getäuscht wurde.

Gut, wollen wir ein paar Tage warten. Was kann man wissen!

* * *

Als wir das letztemal vorher aus waren, Sikras und ich, war der Himmel noch unermeßlich hoch, wenn ich auf der Wiese stand. Ich wußte damals noch nicht, daß es der Syrius war, der sein junges, weißglühendes Schwert gegen das orangene Altersfeuer des Arktur im Bärenhüter herausriß. Ich verstand allenfalls die Linie zu verlängern, welche die Hinterräder des Wagens verbindet und damit den Polarstern im kleinen Bären trifft. Aber wie hätte ich denken können, daß der Schweif des Drachen sich zwischen den beiden Bären hindurchwindet, und daß dicht neben seinem dreieckigen Reptilkopf schon Herkules bereit steht? Wie hätte ich Alkor, das Reiterlein, über der Deichsel des Wagen benennen können, wenn ich den herrlichen Schedir, die Kapella im Fuhrmann und die Wega in der Leyer nur dem Namen nach kannte? Ich hatte damals weder Rottmanns Sextanten, noch seine Sternkarte entdeckt.

Ich wußte nur, wenn Sikras und ich uns in Schweiß gebadet ein Stück den Weg, der eigentlich kein Weg war, heraufgeplagt hatten, so hingen dieselben funkelnden Sterne von vorher über uns im Astgewirr wie sanfte rosa und grünliche Lampen.

»Sikras! Gib acht! Heiliger Hubertus und Lukas! Ja, siehst du es nun? Um ein Haar wäre ich zu spät gekommen, und mein neuer Schutzpatron hätte samt dem alten auch nichts dafür gekonnt, wenn du die Jugend dieser haushohen Schneewehe durchaus nicht anerkennen wolltest!«

Er pustete und schnaufte wild, aber ich merkte, es war mehr Verlegenheit als ein Erstickungsanfall. »Nun also, wir wollen es vergessen, mein Freund!«

Als wir uns nach dem Abenteuer ein Stück weiter gekämpft hatten, kamen wir zu einer Stelle, wo zwischen den Stämmen in der Ferne eine sonderbare zitternde Helligkeit erschien. Ein brandiges Grau. Eine qualmende Röte, die fortwährend zuckte. Brannte der Wald? Stürzte irgendwo die Welt zusammen? Wir hasteten voran. Plötzlich standen wir vor einer ungeheuren baumlosen Weite. Der Schnee schien von mattem Himbeer. Der ganze Himmel zuckte in einem qualmenden Rot. In diesem Augenblick schreckte ich zusammen. Stieß nicht ein ungeheures Herz sein Blut in schweren, kurzen Wellen über den Himmel? Ich fühlte, wie etwas mich anfaßte wie eine riesige Hand: Nordlicht! sagte etwas. Das ist der Widerschein von Kaskaden von Blut, die den Himmel überstürzen, wo die Eisburgen ewig und ungeheuer den Weg zum Geheimnis des Pols verteidigen.

Ich hatte meine Hand im Fäustling Sikras auf den Kopf gelegt. Ein Ungeheures und Jenseitiges hieß mich ein Tier anfassen wie einen Freund, daß die arme, kleine Menschlichkeit nicht zersprengt würde. Wie war dem zottigen Urmenschen mit dem Greifdaumen an breiten Füßen und den behaarten und hängenden Armen zu Mute, da er zum ersten Male hier heraustrat aus der Nacht seiner ewigen Wälder und den roten Brand über der weiten weißen Fläche erblickte! Wenn er vielleicht nicht einmal einen Hund bei sich hatte, dessen warmes Blut und dessen hingegebenes Auge ihn schützte vor dem Allein-Gegenüber mit dem Ungeheuren? Stürzte er nicht zur Erde wie ein gefällter Baum?

Wir standen lange unter dem roten Schein, Sikras und ich; aber dann mußten wir doch wieder auf die Heimkehr denken. Es würde nicht so einfach sein, den Weg wieder zu finden, der wie eine rettende Furt durch das Meer des Waldes lief. Es ging ein Brausen durch die Wipfel der Föhren. Es harfte nicht mehr so gleichmäßig. Es begann zu stieben. Der Sturm riß an uns. Wenn die Spur zuwehte, mochten wir sehen, wie wir nach Hause kamen.

Plötzlich – was ist, Sikras? Er stellte die Beine steif und bekam einen hohen Rücken, wie er eine Spur beschnupperte, die quer über die seine kreuzte. Ist ein anderer Hund über den Weg gelaufen? War es der – andere – Hund? . . .

Einmal glaubte ich, ein Schatten trabte durch die Stämme dort drüben. Aber Sikras tat nicht dergleichen. Das Schneelicht hatte getäuscht.

Nun, so hatten sie mich also nicht umsonst gewarnt: ein fremder Reichsdeutscher in einem kurischen Walde!

Sikras, habe Geduld! Noch ein wenig, Sikras! Hinlegen darfst du dich nicht! Wenn wir das wollen, das hat noch Zeit. Denn mir, dem alles über gewesen war in diesem Berlin, mir war in den kurzen Wochen der Wildnis und Einsamkeit ein unbändiger Wille zum Leben gewachsen. Irgendwo hier im Grunde dieser Wälder stand das Geheimnis meiner selbst vermauert. Ich würde die Mauer berennen, bis ich diesem Undeutbaren sein eigenes Herz herausriß.

Nach ein paar Stunden, nein, es waren viele Stunden, und sie dampften zuletzt wie ein blutiger Schweiß, aber dann standen wir plötzlich doch vor der Wiese mit dem kleinen Hause. Dies war Heimkehr.

* * *


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