Friede H. Kraze
Jahr der Wandlung / 1
Friede H. Kraze

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An jenem Abend stampfte ich nach Hause wie jemand, der seiner Füße nicht ganz sicher ist und der sich besser auf Flügel verließe. Alles Angstgefühl war im tiefen Glück einer sehr lange und schmerzhaft gesuchten Erkenntnis aufgegangen. Der Gedanke, daß die Natur die Grundlage für die Kunst, ja, bis zu einem Grade auch für die Religionsform eines Landes bildet, ließ mich nicht wieder los. Ich dachte an Ägypten; das tödliche Schweigen und die Erhabenheit der Wüste hatten seine Pyramiden geschaffen. Ich dachte an die Heiterkeit des griechischen Himmels und das heitere Maß und die Vollendung seiner Bauwerke und Bildsäulen. Ich dachte an Indiens Urwälder voller Schönheiten und Schrecknisse, voller Üppigkeit und Fäulnis, und an seine Tempelstädte. in denen sich neben keuschester Inbrunst Sinnlichkeit und Metaphysik ins Groteske übersteigern.

Gut. Alle die folgenden Nächte, beim lodernden Kienspan, und wenn der Atem von Sikras der einzige Lebenslaut war, überkam mich der Rausch. Es war Darbringen und Empfängnis in einem. Das männliche und das weibliche Prinzip verschmolzen in mir. Jede Nacht machte ich eine Figur oder auch zwei. Wenn ich mich gegen Morgen auf meine Matratze warf, war eine sanfte und glückliche Ermattung über mir, wie nach körperlicher Hingabe. Ich schlief sofort.

Aber wenn der Tag anbrach, trug ich die Ergebnisse der Nacht an das Fenster. Das Licht weilte nur kurz, und es war unendlich nüchtern und kühl. Diesem kritischen und schonungslosen Blick mußten die Kinder einer warmen und beseligten Nacht standhalten. Da waren die dumpfen Zweifel schnell genug wieder zur Stelle und der Druck der Niedergeschlagenheit. Aber nicht ein einziges Mal in diesen Monaten verließ mich ein zähes Wollen zu einem noch fernen, verhüllten, aber dennoch bereits im Glauben erfaßten Ziel hin. Dieses Wollen war wie der Kompaß auf meinen Wanderungen durch die Wirrnis dieser kurischen Wälder. Auch dieser Weg zeigte die Spuren von blutigem Schweiß. Aber wenn man nur nicht nachließ, nur niemals ermattete. Die letzte Gnade, die hinter der goldenen Pforte stand, sie würde sich vielleicht einmal schenken. Aber erst, wenn unerbittliches Ringen sie alle überwunden hatte, die Ungeheuer und Scheusale am Wege. Wenn der Wanderer und Kämpfer zuletzt, das blutige Schwert in der Hand, auf der Schwelle kniete vor der goldnen Pforte.

Zehnmal habe ich in jener Zeit vernichten müssen, um neu anzufangen. Das erscheint mir heut beinah als das Schwerste. Weil jede mühsam errungene Erfahrung nur innerlich festgehalten werden konnte. Keine Stufe, die ich erklommen hatte, durfte bestehen bleiben, daß sie mir als Sprungbrett für die nächste diente. Ich hatte so wenig Lehm, ich mußte das Fertige erbarmungslos vernichten und zum Neuen sogleich mit größerem Anlauf ausholen.

Als der Frost nachließ, hatte ich es ein paar Wochen gut. Ich benutzte den Schnee als Material. Einen phantastischen Anblick bot meine Wiese vor dem Hause um jene Zeit! Aber zuletzt kam doch der Augenblick, daß ich sie vor mir sah, wie ich sie in der inneren Schau getragen hatte: die Upsaus und Mildas. Nun waren sie allerdings nicht mehr allein, der Knecht und die Magd, die mir dienten. Es war der Heimtücker, der dort stand, der Rachsüchtige, der Tor, der Mißhandelte. Es war die Demut, die Hingabe, die Unbewußtheit, die Marter. Aber es waren auch andere Gestalten dazwischen: ein Luchs mit bösem, schielendem Menschengesicht, ein Ding wie eine Fledermaus, das wie Nacht und Sturm und Grauen wirkte, eine Hexe auf einem Wolf, die irgendwie selber Wolf wurde, und der Drache mit dem Leibe, endlos wie die Ewigkeit, und dem entsetzlichen, stirnlosen Kopf, der nur Kiefer war. Ich arbeitete meist bis tief in die Nacht hinein. Sikras begriff mich gar nicht mehr. Ich hatte mir ein paar primitivste Modellierhölzer geschnitzt. Ich modellierte auch Sikras. Als er fertig vor mir stand, ergriff er mich. Es war die Personifikation der Treue.

Am Tage gingen wir immer ein paar Stunden heraus, Sikras und ich. Diese wunderbaren zerkochenden Tage waren angebrochen, wenn das harte Weiß der winterlichen Todeslaken brüchig wird, damit das zuckende Leben darunter leichter atmen kann. Noch ist er nicht zur Stelle, der lachende Sieger, von Süden herauf, aber schon brechen seine wilden Atemstöße durch die Kronen der Föhren. Die Polarbirke, die der Elch im Winter krank schälte, reitet er nieder, und immer ist irgendwo ein ungeheurer Herzschlag, der näher kommt, näher, bis er ins eigene Blut tritt, daß es aufsiedet.

Die verhüllte und zugleich aufglühende Schönheit der Landschaft um diese Zeit nahm mich völlig gefangen. Moor und Wald standen vor ihrer Wandlung. Unter den gebräunten Schneefetzen erschien das Gras wie Messing verfärbt, verfroren. Und dazwischen unwirklich grüne Moospolster. Die Birkenstämme standen noch seltsam umdämmert, die steinalten Föhren mit den zottigen Flechtenbärten flammten plötzlich auf wie kupferne Tempelsäulen. Dazwischen kroch niedriger Erlensumpf, blaß umgeistert, elendes Kieferngekrüppel, geheimnisvoll umblaut.

Es war gut, daß Auerwild und Birkwild zu balzen begann, sonst hätte mich das Verlangen nach Malleinwand und Farben toll gemacht. Wie es war, tötete eine Tollheit die andere. Upsau brauchte mir die Balzplätze im Walde nicht zu verraten. Ich hatte sie von selber entdeckt. Dies war überhaupt das Wunderbare und wie ein schwingendes Glück, daß ich mich in die Geheimnisse dieser kurischen Wälder hineinspürte, schnell und tief wie ein Liebender. Oder hatte ich sie auch schon immer gekannt? Das Erlebnis der Wälder war dem der fränkischen Städte sehr nah verwandt. Nur daß dieses hier jeden Nerv und jeden Blutstropfen zur Freude aufrief und alles Lebensgefühl ins Ungemessene steigerte. Wie war es möglich, daß ich alle die Jahre im steinernen Meer der Großstadt gelebt hatte? Hier war zum erstenmal Heimatgefühl für mich. So stark, daß es fast schmerzte. Hatte ich nicht hinter dem Windbruch, wo der schlanke Ebereschensämling aus dem Wurzelballen der herausgewühlten Föhre hervorsproßte, schon einmal beim Lagerfeuer gesessen und träumerisch zugesehen, wie die Bekassinen zwischen den Gabelstöcken hängend, in ihrem eigenen Fett siedeten? Oder riß ich dem weißen Hasen, dem »Lieping« der Letten, den Balg herunter und hieb meine Zähne in sein rauchendes Fleisch, während mein Hund den Aufbruch hereinwürgte? Oder aber stand ich beim Trompeten der Kraniche, als die funkelnden Königsweihen in den Spiralen ihrer Liebesflüge sich immer kühner übergipfelten? Oder wenn der Alte mit den großen Rosen über den Augen und herrlich gespreiztem Stoß bebenden Leibes wetzte, wirbelte und sich verzückte? Und glaubte nicht mein eigenes Herz über seinen Liebesstrophen zu zerbrechen in einer ungeheuren, schmerzvollen Verzückung? Über diesen Strophen, die das Heut und das Uralte und das Kommende zusammenfügen zu einem Unwiderleglichen und Unsterblichen. Ja, wenn die Säulen des Weltenbaues zusammenstürzten, würden diese Strophen noch rauschen, bis dem gleichen verzückten und schmerzhaften Muß die neue Welt sich entrang.

Upsau hatte mir Lederstiefel herschaffen müssen, hochschäftige bis in halbe Schenkelhöhe. Zuletzt waren sie doch noch zu niedrig. Ich hatte die kurischen Wälder doch noch unterschätzt. Als ich den Auerhahn ansprang, lief mir der Schneemodder oben herein. Zu solchem Abenteuer durfte Sikras allerdings nicht mit. Er konnte mich wieder nicht begreifen, als ich in der Nacht um ein Uhr aufstand und ihn nicht rief. Das erstemal wurde doch nichts. Nordwind hatte sich aufgemacht. Leichter Schnee fiel. Die Kälte verhinderte die Hähne zu singen. Um fünf Uhr morgens war ich schon wieder im Bett, und Sikras, der mich in einem völligen Freudentaumel empfangen, legte sich quer über mich wie ein Schiebebaum vor ein Tor, das sich nicht mehr öffnen soll. Nun, schon in der nächsten Nacht mußte ich es ihm wieder antun. Aber auch dieses war umsonst. Ostwind kam auf und kältete den Regen. Das Birkwild hielt sich in Deckung. Einen Auerhahn hörte ich balzen, aber an einer andern Stelle, als wo ich ihn vermutet hatte. Auf dem eigentlichen Balzplatz regte sich kein Laut. Es hieß noch warten. Die Herren waren noch zerstreuter Laune. Das Gesetz der Platzbeständigkeit hatte noch nicht von ihnen Besitz ergriffen. Aber bei meinem dritten Pirschgang, es war in der Nacht zum Gründonnerstag, am April 2/15 alten Stils, da geschah es.

Ich hatte schon zwei Stunden gestanden und gewartet; ich fing an zu frösteln. Die Finsternis hockte noch unter den Büschen. Das Zirpen und Schwirren einer Sumpfmeise zwischen Ellern und Saalweiden und ein Binsenrohrsänger waren das einzig Lebendige an der Stelle, wo der Wald in das Moor übergeht. Plötzlich sprang mir das Blut zum Herzen wie heißer Südwein: kurruh – kokorohtrut – trut kam es wie berauscht von dem kleinen Teich herüber, der im Sommer wie ein fremdes, dunkles Auge mitten im Moor sich auftat.

Ich wußte es damals noch nicht, alle diese Kenntnisse sollten mir erst nach und nach kommen, aber irgendwie trug ich sie schon im Blut. Als ich sie später antrat, schien es mir, als ob uralte Erfahrungen sich nur wieder bestätigten. Fünf Werst südwärts hatten die Kraniche ihren Kultplatz, einen sanften Hügel, der im Sommer mit einem schwellenden Überzug aus dem Gestrüpp der Preiselbeeren, Multebeeren und Moosbeeren ganz bedeckt war. Die Kraniche bereiteten sich zum Tanz, zu diesem wunderbaren Tempeltanz, dem Licht und der Liebe anbetend dargebracht. Es zog mich in allen Gliedern, dieser Lockung zu folgen. Immer heller und hallender luden die Trompetenstöße zum Fest. Aber heut mußte ich ausharren hier. Heut mußte der andere kommen!

Als die Kraniche abgestrichen waren, hörte man das unsichere, höflich verlegene Flöten einer Graudrossel. Sie war wohl erst seit kurzem am Ort. Was so sonderbar miaute wie eine Katze, mußte ein Moorkauz sein. Die Langschläfer, das Birkwild, rührten sich noch immer nicht. Aber der Spielhahn fing an zu rumoren. Drüben auf der kleinen Schilfinsel schiebt er wahrscheinlich wie ein riesiger, sonderbarer und glänzender Wurm langgezerrt den Körper am Boden entlang, oder er wirbelt im Kreise, daß die dürren Halme stieben. Denn fortwährend hört man diese dumpfen rhythmischen Kullerstrophen wie die Musik primitiver Instrumente. Ja, als ob jemand mit dem Leib über einer geblähten Ochsenhaut liegt und abwechselnd Fäuste und Füße hineinstößt, so klingt es. Aber wie ich noch denke: so – und jetzt wird gleich ein Chor in der Fistel anfangen, ganz hoch, ganz unmenschlich, gerade als ich das Mysterium Asien im Blut spürte und die kleinen kühlen Schweißtropfen auf der Rückenhaut, gerade da geschieht es: vom Moor rauscht es herüber, über die Elsen weg, über die Kiefernkrüppel. Wie ich es mir vorher gedacht hatte: in die Föhre fällt er ein wie der Donner, in den Baum, alt wie eine Legende. Er ist da, der König und Herr!

Ich beschaue ihn durch mein Glas. Meine Augen sind Jägeraugen. Aber ich möchte kein geringstes an ihm verlieren, kein kleinstes Merkmal und keine Gebärde. Er sichert nur kurz, äst sich gleichgültig an einer grünen Blattknospe, er horcht. Er ist nicht jung und nicht alt. Er ist nicht dürr und nicht allzu schwer. Er ist auf der Höhe des Lebens. Er ist, was unter den Menschen ein wohltrainierter Vierziger ist, dem niemand seine Jahre nachrechnen kann. Nicht mehr toll ist er und tapsig oder überschwenglich wie ein Junger; aber mit dieser beherrschten und zugleich hinreißenden Glut des Wissenden und Erfahrenen. Er reckt die Ständer, ohne sich zu übereilen. Plustert sich in Siegerstellung. Verhofft wieder eine Weile. Plötzlich, wie sich noch nichts ereignet, neigt er Kopf und Hals und stößt in das grau beginnende Wolkengeschiebe einen Ton wie ein stumpfes Messer, rauh und wild, zusammengepreßt von Leidenschaft. Über diesem Ton müssen Wald und Moor den Atem anhalten.

Aber wie alles um ihn her noch benommen schweigt, fächert sein Stoß klirrend auseinander: klick – klippi – klick – die große Bezauberung beginnt. Ein Lied voll Erinnerungen und Süßigkeit. Ganz leise und zärtlich und trotzdem den Stahlton des Herrn auf dem Grunde der Melodie. Wie dann an Erinnern sich Wunsch entzündet, rundet sich die Stimme, bekommt Glockenmetall. Eine neue Strophe setzt ein. Die trillernde Strophe des Werbens, die Wirbel des Hinreißenden. Der Rhythmus beschleunigt Strophe auf Strophe. Der Körper erbebt. Die Schwingen sind ermattet herabgesunken. Aber die Augenrosen bekommen den Glanz von Korallen.

Und plötzlich hält er wieder inne. Noch – nicht?

Der Wald hat sich in blasses Violett aufgelöst. Die Föhrenstämme fangen hoch oben bereits an zu brennen. In dem hellgrünen Himmel schaukelt der Morgenstern. Die Sonne, selbst noch verborgen, hat die Wolkenränder schon gefärbt. Nun ist die hohe Stunde angebrochen. Der Auerhahn, der wie leblos stand und verhoffte, scheint plötzlich durchströmt von einer Kraft außerhalb seiner. Die Ständer reckten sich aus wie Stahl, der Brustkorb wölbt sich wieder, die Schwingen bekommen Kraft: Jetzt – jetzt! – Das Lied der Leidenschaft jagt dahin. – Ganz kurz werden die Rhythmen, scharfe und zugleich gedämpfte Aufschreie stoßen hinein. Er taumelt, wie er hin und her tritt. Er hört nicht, und er sieht nicht. Seine Augenrosen glühen wie Rubinen. Die große Verzückung hat angefangen.

Im Gebüsch schwirrt es und gackert und lockt leise. Zwei Hennen sind eingefallen. Oben in der Föhre, die in Feuer getaucht wurde von der Sonne, die den Hochwald überstieg, rast noch immer das Lied – das uralte Lied . . .

Ich hätte ja nur die Büchse an die Wange zu legen brauchen. Nur ein leiser Fingerdruck war notwendig . . . Ich war nicht imstande dazu. Ich ließ ihm seine hohe Stunde.

Am nächsten Morgen geschah es dann doch. Irgend jemand stieß mich. Irgend etwas riß mir den Drilling herauf. Ich hatte nun vier Nächte nicht mehr geschlafen. Tausturm war in mir. Irgendein Unerträgliches. Da tat ich es.

Als er dann vor mir lag, so stolz, so schön, die Augen geheimnisvollen, matten Glanzes, die Geschlechtsflecken, eben noch purpurn glühende Kränze, von einer fremden Kühle überstreift – war mein Blut ganz ruhig. Dieses Unerträgliche in mir hatte aufgehört. Trotzdem fühlte ich, als hätte ich gemordet. Nicht totgeschlagen im Affekt. Gemordet mit freiem Willensentschluß. Aber es war keine Trauer in mir. Ich begriff mich nicht. Verzehren konnte ich ihn nicht. Konnte ihn auch nicht in die Stadt schaffen zum Ausstopfen. In der Nacht träumte mir von ihm. Ich sah ihn nicht. Aber er war da. Die ganze Behausung war erfüllt von ihm und seinem Gesange. Ich erstickte. Vielmehr mein Herz brach mir darüber. Ich fuhr aus dem Schlaf mit einem Schrei, der Sikras völlig um den Verstand brachte. Am folgenden Tage modellierte ich den Hahn. Er sah aus, als ob eine Pansflöte seinen Gesang begleitete. Ich begrub ihn, ehe Upsau kommen konnte und den Vorschlag machen, ihn acht Tage in sauren Schmand zu legen. Nachher hatte ich Ruhe vor ihm im Schlaf. Aber im Wachen plagte er mich noch oft. Erst viel später sollte ich erfahren, daß dennoch eine rote, schmerzhafte Flamme bei diesem Schluß in mir gelodert hatte. Eine höchste Instanz würde auf diese Flamme sehen, beim Abwägen der letzten Ja und Nein.

* * *

Mit den Bekassinen und Schnepfen war es dann einfacher. Ich schoß sie zur Nahrung. Auch durfte Sikras mit von der Partie sein. Wenn er wie eine lange Rute aus Stahl über die weite fahlgrüne Wiesenfläche des früheren Widelsees dahinjagte und sie zusammenschleppte, ein Stück braunes, weiches, erloschenes Leben nach dem andern, hatte ich niemals die Empfindung des Tötens, sondern die leicht und glücklich erhöhte Temperatur, wie nur der Wein, die Kunst, die Nähe von Frauen und die Jagd sie verleihen können.

Ich war jetzt fast immer draußen. Früh vor Tag stand ich auf. Es trieb mich um in irgendeiner bangen und seligen Erwartung. Im Walde war es an manchen Stellen so weiß von Anemonen, als sei der Winter noch einmal zurückgekommen. Aber kaum vierzehn Tage später, als der Faulbaum und die wilde Kirsche über Nacht erblühten, irrte ich mich zum andernmal. Ja, dies war das Wunder hier, die Schnelligkeit, mit der Leben und Entfalten sich abwickelten, nachdem die grenzenlose Starre überwunden war. Dies war nicht wie deutscher Frühling. Ich hatte deren genug auf den Gütern der Verwandten genossen. Damals hatte sich jeden Tag eine neue Lieblichkeit enthüllt. Hier schien die Zeit zu taumeln. Als dürfe kein kleinster Augenblick ungenutzt bleiben. Von heute auf morgen hatten die purpurnen Blütenbüschel der Esche und die festem Granatschnüre der Erle sich gelockert. Esche und Erle, nachgeborene Geschwister von Ask und Embla, den ersten Menschen der Erde, von den Söhnen des Riesen Bör aus einem Eschenstamm und einer Erle geschaffen. Nun erfüllten sie wieder den Dämmer des Waldes mit dem goldenen Aufstrom der Liebe, und die Hasel einte sich ihrem Hochzeitsfluge. Von heut auf morgen war die weiße Welle der Anemonen von der lichtblauen der Leberblümchen überströmt worden. Von heut auf morgen wehten die zartgrünen Banner der Birke an freieren Stellen des Waldes im Morgenwind. Lungenkraut, Euphrasia, Siebenstern, Maiglöckchen, Tausendgülden und das geheimnisvolle Salomonssiegel, das die Springwurzel birgt, alles folgte einander in fieberhafter Eile.

Oh, mich verlangte weder nach Schätzen noch Quellen. Sonst wäre es ja ein leichtes gewesen, mir in der Karfreitagsnacht vom Haselstrauch die Wünschelrute zu schneiden. Aber zuweilen, wenn ich an den vermummten Machandeln vorüber kam, fiel mir die gute Agathe ein, die so vieles wußte über die heimlichen Kräfte in Pflanzen und Sternen, die Glück und Kraft und Schönheit verleihen und zur Liebe zwingen. – Ich dachte nicht darüber nach, ob meine Getreue selber solche Kenntnis niemals erprobte, oder ob ihr trotzdem letzte Erfüllung versagt blieb. Ich dachte überhaupt nicht so sehr viel in diesen Wochen. Tausturm wühlte noch immer in meinem Blut. Und ich wünschte . . . wünschte . . .

War es anders möglich hier? War ich nicht den Geheimnissen und Urkräften des Lebens ganz nahe hingegeben? Lil, denkst du daran, als an jenem Morgen nach dem leisen, fruchtbaren Regen der Nacht der ganze Wald voll Trudenbeutel stand? Du kanntest diesen Namen des Bowist nicht, der die Regentrude verantwortlich macht. Aber wie deine Augen groß wurden über ihm, als wir den geheimnisvollen Riesen anschlugen, und er verstäubte sich und sank zusammen! – An dem Abend dieses Tages gingen wir zur Sumpfjagd. Denkst du noch an die berauschte und tanzende Seele des Holzfeuers, als ich am Bug des Schiffes stehend mit der Harpune die drei großen, seltsamen Fische fing? Sie glichen Karpfen, und du behauptetest, der eine wäre bemoost. Denkst du noch an unser Boot? Ganz allein hatte ich den Stamm der Aspe ausgehöhlt. Du lagst darin wie in einem Kanoe, und die wilden Schwäne segelten über uns hin wie eine weiße und bebende Wolke der Sehnsucht. Ja, es war damals, als wir in der Frühe am Rande des dampfenden Waldes unser Lagerfeuer anzündeten und unsere Fische brieten. Als ich dir die Hütte baute! Tränen traten in deine Augen, als die Sonne aufging. Die Nächte waren weiß um jene Zeit. Aber nun, als die Sonne kam, und die Tropfen an den Blättern und in den Spinnennetzen erglühten, jeder im Schimmer eines anderen Steins, und die Föhrenstämme fingen an zu brennen – damals, Lil, sah ich dich zum erstenmal weinen vor Glück.

Es ist noch nicht an der Zeit. Später, später. – Nur dieses noch, Lil, weil mir eben mein Herz davon schlägt wie ein Hammer: wie wir das Wild beobachteten an jenem Morgen aus unserem Versteck! Das ganze Moor war voll davon. Du hörtest zum erstenmal die Birkhähne balzen und das Liebestrillern der Brachvögel, die wie Silber und Gold hoch oben unter dem Himmel kreisten! Und plötzlich glitt das Eichhorn den Eschenstamm herunter. Eilte es auch von dem allwissenden Adler der Krone zu Niedhögger, der Schlange in der Tiefe? Trug es wie in jenen verhüllten Zeiten aus seinem Haupt alles Wissen um Streit und Ungüte der Menschheit dem giftigen Erdwurm zu, daß er, von solcher Kenntnis genährt, frecher an der Wurzel des Weltbaums nage? Deutete die dritte seiner Wurzeln noch immer ins Reich der Lebenden, und die drei Nornen spannen darunter das dunkle Menschenschicksal heute wie damals? Lil, der Weltenbaum, der Lebensbaum, der Menschenbaum! Die Wurzel in der Erde, an der Wurzel die Schlange, aber über den Wolken das Haupt, und die Sehnsucht hoch über den Wolken! Ist das nicht der Mensch? Ask und Embla – Esche und Erle – du und ich – sind wir nicht die ersten Menschen der Erde? Oder aber, es könnte auch sein, daß die Erde schon deinen neuen Tag angetreten hatte. Vielleicht lagen Jahrmillionen, uferlose Zeiten der Entwicklung, Fluten und Untergänge zwischen damals und jetzt? Ask und Embla waren wir noch immer, die zwei miteinander und füreinander Geschaffenen. Aber hatte ich dich auch geraubt und fortgeschleppt aus dem Ring deines Chlans? Brannte nicht etwas in unserem Blut wie die Flamme unseres Lagerfeuers? Wäre er gekommen – er – dem deine Sippe zuvor dich gegeben hatte, mit dem Schenkelknochen des Wisent hätte ich ihm die Hirnschale zerschmettert. Ja, mit dem blutigen Schenkelknochen. Du! . . .

Ich warte ja noch! Ich will ja noch Geduld aufbringen, soviel es mir möglich ist! Morgen schon wird der russische Frühling Sommer sein. Und übermorgen ist der Sommer vergilbt und verweht. Wie mich verlangt nach unserem eilenden Sommer!

Nun, ich darf es vielleicht wirklich nicht übergehen und muß zuvor noch von dem Baron Rosen alles niederschreiben. Wenn ich ihn nicht erwähnte, hätte ich auch Rottmann fortlassen müssen. Dinge und Menschen sind zu unlöslich verkettet in all diesem.

* * *

Es war gegen Ende Mai an einem zeitigen Morgen. Man wußte bereits nicht mehr genau, wann die Nacht aufhörte und wann der Tag begann. Das brausende Blut ließ einen nicht lange in der Hütte. In den Mantel gewickelt, den Drilling im Arm, Sikras neben mir, hatte ich im Schutz unserer entwurzelten Föhre eine Stunde geschlafen oder zwei. Den Wurzelballen, dem der fröhliche Ebereschenstamm entsproß, deckte bereits ein dichtes Polster von Wettermoos, goldenem Frauenhaar, Kronsbeeren und Glockenblumen. Dieser geschmückte Ballen bildete das Zeltdach, und die herunterhängenden, zum Teil noch nicht zerrissenen Wurzeln waren von rankender Waldrebe und Efeu wie mit Tauen aneinandergestrickt und grün umwuchert. Dies wurde einmal unsere Höhle, später, als Lil und ich vom Wetter überrascht wurden.

Nun stand ich neben meiner grünen Tür. Das Hochmoor erstreckte sich vor mir in seiner ganzen Breite, und die Luft war erfüllt von Stimmen der Lust. Bekassinen meckerten, der Kibitz rief, die Rohrammer zirpte, und fern und hoch genug berauschten sich die Brachvögel. Ich achtete aber nicht auf sie; ich wartete auf Birkwild. Mit Volldampf war ein ganzes Geschwader von Westen her über das Moor gesegelt. Wie von einem geheimen Befehl hatten sie sich plötzlich auseinandergezogen, wieder geschlossen, stürzten sich in den Abgrund wie Verfluchte, ermannten sich wieder . . .

Sikras hielt sich bei Fuß. Manchmal ging ein Beben durch seine Flanken, der tiefe, breite Brustkorb erzitterte, und den braunen, gütigen Ernst seiner Augen sprenkelte Fieberrot. Aber niemals verließ ihn nur einen Augenblick diese herrliche Beherrschtheit. Er war vollkommen. – Nur jetzt, er schien zu erstarren. Welcher Frevel geschah? Ein Schuß? Ein zweiter? Und nicht von seinem Herrn? Der erste Hahn kommt herunter wie ein Stein, der zweite himmelt, daß er in die Wolke der Brachvögel hineingerät, die klagend abstreichen; aber dann hilft es ihm doch nicht. Mitten in das Röhricht stürzt er, wo der Moorkauz eben noch keckerte. Der dritte, nun . . .

In diesem Augenblick – allerdings nicht von allen Hunden kann man erwarten, was von Sikras zu erwarten war – aber ohne daß irgendwoher ein Befehl gekommen wäre, die herabgestürzten Stücke einzubringen, noch während das Birkwild durch die Dickung prasselt, bricht ein anderer Hund auf den Plan, ein russischer Barsoi, hoch, schmal, wie aus Glas, rahmfarben, schön! »Katja!« donnert eine Stimme.

Sikras stößt blitzartig den Fang in meine Seite. Dies war die letzte Probe. Mein Freund, ich verzeihe alles. Ich weiß. Jetzt ist es vorbei. Dieses kann weder Gott noch Mensch erwarten. Ich sehe sie schon federn, die Sprunggelenke. Ich sehe schon die breiten, scharfen Zähne am Nackenfell des Fremdlings. Ich spüre selber in meinen Augen etwas Heißes und Rotes. Wie in das Auge des Platzhirsches das Heiße, Rote tritt, wenn der Eindringling sich anmaßt . . .

Aber, was geschieht? Sikras, er schlägt den Boden mit der Rute. Er erlaubt sich nicht, seine Stellung zu verändern, aber irgend etwas scheint seine angespannten Glieder in Entzücken zu lösen; er stößt wiederholt leise und bebend die kühle Nase in meine Hand; er sieht mich an, Beschwörung in den Augen. »Was ist, Sikras?« Ah – die große Lockung! Ich habe begriffen. Allerdings . . .

Und wie ich mit einem Lächeln auf den Lippen Sikras die Freiheit gebe und er mit ausgebreiteten Armen und wie ein Toller der rahmfarbenen Hündin entgegenstürmt . . .

»Verzeihung!« In Schaftstiefeln, bis hoch herauf mit Modder bepatzt, Jagdjoppe und Filz moosgolden, die geprüfte Edelfarbe alles Jagdwesens, tritt Katjas Herr aus dem Haselgebüsch zur Rechten. die rauchende Büchse in der schmalen Hand. Der auffallend kleine Kopf, ein Merkmal alter, vielleicht schon übertriebener Rasse, zwischen mächtigen Schultern. Auch auf seinen Lippen ist ein Lächeln, aber ich bemerke es nur flüchtig; meine Augen werden unwiderstehlich von etwas anderem angezogen: von der breiten Narbe, die über die linke Wange läuft, schräg, wie von einem Peitschenschlag. Dieses seltsame Zeichen, das keine Narbe ist. sondern ein Mal, empfangen im Mutterleibe, muß ich anstarren. Unter meinen Blicken füllt es sich blutrot. Das herrische, anfangs aber liebenswürdige Gesicht entstellt sich in einem Ausdruck von Wut. Ich ermanne mich. Ich gebe meinen Augen eine andere Richtung. Ein elendes Gefühl überkommt mich.

Als ich es wage und den Blick voll in die Augen des Fremden richte: »Rosen«, sagt er ruhig. Die Hand greift leicht zum Filzrand. Das Lächeln spielt wieder um die Lippen, aber es ist Trauer zugleich in den enggesetzten hellgrauen Augen. »Ich habe Sie hier wohl als Revierherrn anzusehen. Pardon! In Kurland nimmt man es weniger genau als in Deutschland. Tritt das Wild beim Nachbarn aus, so schießt man es beim Nachbarn ab. Der Nachbar macht es im umgekehrten Falle ebenso. Ich bin Gast auf Rosangen.«

Ich nenne meinen Namen und den Namen Kroug und das Buschwächterhaus.

Aber kaum habe ich des Buschwächterhauses Erwähnung getan, als eine neue Wandlung mit dem Gesicht vor sich geht. Sie beschreibt sich nicht. Zorn, Kummer, Liebe, Abwehr – alles in einem drückt sich aus. »Standen Sie in irgendeiner Beziehung zu Herrn Rottmann?« Die Frage kommt widerwillig. Ich verneine. »Katja!« In demselben Augenblick wieder dieser scharfe Herrenton, dem die Windhündin zögernd die Huldigungen ihres Kavaliers opfert.

Der Baron tut noch ein paar gleichgültig höfliche Fragen nach meinem Leben. Stellt Rosangen zur Verfügung, wenn ich irgend etwas benötigte. Noch einmal fällt der Name Rottmann zögernd, widerwillig. Ob – noch – ihm gehörige Dinge im Buschwächterhause sich befänden? Bücher . . . Schriften? . . .

Ich sehe den Fragenden nicht an. Ich empfinde es nur, wie auch seine Augen angelegentlich einen fernen, fremden Punkt ins Blickfeld nehmen. Etwas in mir spannt sich seltsam. Bücher? . . . Ich nenne flüchtig einige Titel. Schriften? Kaum. – Ich begreife mich nicht. Aber ich bin nicht imstande, mein Wissen preiszugeben. Das Vermächtnis eines Toten preiszugeben. – Es ist, als ob ein Atemzug den andern befreit.

Während der letzten Worte haben wir unserer Hunde nicht acht gehabt, die wieder den seltsamen Reigen des Liebeswahnsinns begonnen haben. »Katja!« Der Baron greift dem Windspiel ins Halsband. Dann nimmt er es kurz an die Leine. »Diese Verbindung wäre ruchlos. Wir haben genug Mißgeburten zu verzeichnen!«

Ich habe keine Leine mit, aber ich gebe Sikras strengen Befehl. Er gehorcht wieder aufs Wort. Nur seine Augen und sein Herz sind geteilt zwischen seiner Freundin und mir.

Der Baron mustert ihn genauer. »Er ist schlechthin vollkommen«, sagt er. »Er stammt von Fleur bleue. Wahrscheinlich im zweiten Gliede.« Er öffnet Sikras mit leichter Hand den Fang, die Zähne zu prüfen. Und mein Hund läßt es sich freundlich gefallen. »Diese Abkommenschaft ist unverkennbar. Sie war eine Berühmtheit des Rosanger Zwingers. Mein Vetter brachte sie aus Cannstatt. Es ist eine Spezialität. Württembergischer Vorstehhund; auf blauem Grund diese großen braunen bis rotbraunen Platten.«

Er lobt Sikras noch einmal. Tätschelt ihm den schönen Kopf. Streckt mir plötzlich die Hand entgegen mit einem hinreißenden Ausdruck, gestattet Katja und Sikras eine letzte Aufwallung, und so, ungestilltes Verlangen zurücklassend und mit sich führend, verschwindet er zwischen den Bäumen in der Richtung des Widelsees.

* * *


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