Friede H. Kraze
Maria am Meer
Friede H. Kraze

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Maria am Meer

Roman

von Friede H. Kraze

Verlag
Josef Kösel & Friedrich Pustet, Komm.-Ges., München
Verlagsabteilung Kempten
1923

Als Elsalill Jeß ein ganz kleines Mädchen war, hatte sie ein sonderbares Erlebnis. Jemand kam mitten in der Nacht und nahm ihr das Herz heraus. Er machte es auf wie die kleine goldene Kapsel, die sie um den Hals trug, und setzte ihr einen Cherub hinein. Wer das tat, konnte sie nicht sehen. Sie fühlte nur eine große, gute Hand.

Am nächsten Tage saß Näh-Tine bei Deichgraf Jeß in der Kinderstube und flickte. »Ist in deinem Herzen ein Cherub?« fragte Elsalill.

»Chotte dochen, das Kind!« Näh-Tine, die sehr klein war, hüpfte hoch auf ihrem Kinderstühlchen. Sie faßte an die oberste ihrer drei Mützen, die sie immer aufhatte seit der Sache mit der Fledermaus. Nein, von einem Cherub im Herzen hatte sie niemals gehört.

Da wußte Elsalill, daß sie etwas ganz Besonderes hatte. Sie sagte zu niemanden ein Wort darüber.

Der Cherub in ihrem Herzen war in seine Flügel eingeschlagen wie ein Schmetterling, den sie im Frühling aus der kleinen, glänzenden Puppe herauskriechen sah. Wenn er die unteren Flügel entfaltete, schien es Elsalill, als ob sie zu ihren Schultern herauswüchsen. Dann lief sie so schnell, als flöge sie in ihre Heimat. Die oberen hatte er noch nie entfaltet. Manchmal zitterten sie, dann wuchs Elsalills Herz, daß es ihr fast weh tat. Sie mußte die Hand darauf drücken. Wenn Frau Jeß ihre kleine Tochter dann gerade ansah, gab sie ihr jedesmal einen Kuß.

»Was hat dieses Kind für Augen!« sagten fremde Leute.

Elsalill dachte, wenn die obern Flügel sich ganz auseinanderfalteten, würde sie das große Geheimnis wissen.

Viele Jahre später, in der Konfirmandenstunde, erwähnte Herr Propst der Cherubim und ihrer sechs Flügel. Die obersten zwei verdeckten ihr Gesicht, weil sie die Herrlichkeit Gottes nicht ertrugen.

Elsalill wußte schon lange, daß sie das damals geträumt hatte. Die Fibelklasse Tante Ragnars durfte beim Examen der Religionsstunde der Großen beiwohnen. Wahrscheinlich war bei dieser Gelegenheit über Cherubim gesprochen worden. Aber wenn es auch ein Traum war, Elsalill hatte doch den Cherub ihres Herzens sehr lieb. Noch immer bewegte er seine unteren Flügel, dann dachte sie, sie flöge in ferne Heimat. Und wenn die oberen erbebten, lauschte sie auf das ganz große Geheimnis.

»Wo sind deine Gedanken, Elsalill?« fragte damals Herr Propst mit seiner guten Stimme. Er mußte Elsalill immerwährend ansehn. Wenn sie so lauschte, war ihr Gesicht wie von einer andern Erde.

»Ich dachte,« sagte Elsalill und heftete ihre Augen so fest auf Herrn Propst, daß ihm ganz seltsam zu Mute wurde. »Ich dachte, wenn Gott einen nach der Wahrheit fragt, müßte man dann es nicht wagen und ihm ins Auge sehn?« –

Seit jenem waren drei Jahre vergangen. Elsalill war längst eingesegnet. Sie war jetzt die Braut von Klaus Andersen aus dem weißen Kavalierhause. Als kleine Kinder hatten sie schon immer Mann und Frau gespielt.


Elsalill geht den Deich entlang. Sie kann sich nicht vorstellen, daß sie einen Tag leben kann ohne das Meer. Sie ist nicht so schnell, als sie wollte, von Hause fortgekommen. Mutter hat ihr noch einmal den so sehr höflichen Brief gezeigt mit dem unleserlichen Namen darunter. Ein Kunsthistoriker hat gebeten, ob er heute die berühmte alte Schauküche im Jeßschen Hause besichtigen dürfe, nachmittags zwischen drei und vier, wo er gewiß am wenigsten störe. Man würde ihm geantwortet haben, hätte man gewußt, wie er heißt. Man erwartete ihn, aber er kam nicht. Morgen beginnt die große Weihnachtsbäckerei. Elsalill bewegt den Kopf auf dem hohen schlanken Halse in leichter Abwehr.

Im nächsten Augenblick hat Elsalill den Briefschreiber vergessen.

»Sieh! Sieh!« Während sie die Arme im Rücken verschränkt, atmet sie tief herauf und wirft den Kopf in den Nacken. Eine Kette Möwen streicht landeinwärts von den westlichen Inseln her. Es ist hohe Flut, Punkt vier nachmittags. So verlangt es die Fluttabelle.

Vom Deich gesehen schwimmen die Inseln wie Perlenkränze in geschmolzenem Kupfer. Auch der Himmel scheint zu zerschmelzen.

Elsalill macht eine Bewegung, als müsse sie den Möwen entgegenstürmen. Alle die weißen Flügel scheinen ein wenig abgefärbt am himmlischen Weihnachtsgold. Der Wind, schlanker Nachkömmling wuchtender Sturmtage, hält spielerisch Elsalills Rock fest. Er faltet den weichen, dunkelgrünen eng um ihre Glieder. Wenn jemand hinter ihr dreinginge, müßte ihm Elsalill gegen den Abendbrand wie ein schöner, bronzener Knabe erscheinen.

Aber sie hat heut den Deich ganz allein für sich. Onkel Hardesvogt Jaspersen, der um diese Stunde täglich hinauszugehen pflegt, ist von einem Gichtanfall an den Lehnstuhl gebannt. Wer soll sonst kommen in diesen Tagen vor dem Fest? Für Adjunkt Stahl ist selbst der heutige Wind zu scharf.

Wenn Elsalill Adjunkt Stahl begegnet, mit diesem eigentümlichen Blick der tiefliegenden Augen über den roten Backenflammen, empfindet sie jedesmal ein Unbehagen. Sie weiß nicht, ist es Mitleid oder Abwehr. Sie weiß ebensowenig, daß Adjunkt Stahl jede Nacht das aufgeschlagene Gesangbuch zum Kopfkissen nimmt, Seite 74, die Lieder zum Hochzeitsgottesdienst.

Sein pomadisiertes Haar hat nach und nach einen gelblichen, durchsichtigen Kranz darübergelegt. Er denkt an Elsalill, wenn er in dieser Weise einschläft.

Nein, davon hat Elsalill keine Ahnung. Wenn Adjunkt Stahl, wie heut, ihr nicht begegnet, so hat sie seine Existenz vollkommen vergessen.

Elsalill hält plötzlich inne in ihrem stürmenden Voran. Wie von einer Hand aufs Herz geschlagen. Ihr Blick haftet an der Sonne, die sich in die tiefste Nacht des Jahres gibt. Was erschüttert sie so bei diesem Gedanken? Sie steht noch immer unbeweglich. Sie weiß nicht, daß die ganze Zeit jemand sie ansieht wie gebannt.

Elsalill geht weiter. Ihre Bewegungen haben jetzt etwas Verhaltnes. Ihre klaren, grauen Augen sind jetzt grün wie das Meer, durchsichtig und dennoch unergründlich. Ein Flimmern ist um sie her. Es mag mit ihrer Hautfarbe, dem Haar und der Feuchtigkeit der Küstenluft zusammenhängen. Sie hat das erste Heck hinter der Schleuse noch nicht erreicht, als der fremde Herr bei Schleusenwärter Martens, der sie vorhin aus dem Fenster ansah, aus der Haustür tritt. Er muß sich dabei bücken.

Frau Martens vers–teht ihren Zimmerherrn man s–lecht. Sie ist in Nord-Sleswig zu Hause, während Herr Doktor sagt, daß er aus Bayern käme, wo, wie man weiß, die kleinen Kinder schon anfangen mit Bier.

Aber wenn er es so sehr gern wollte, konnte man ihm wohl auf ein paar Wochen ein Bett in die beste S–tube s–tellen. Sie sieht zum roten Heuberg hinüber. Dort schlägt der Teufel seit vielen hundert Jahren immer wieder ein Fenster entzwei. Damit er einfahren kann und die Haustochter zu Tode tanzen.

Allen ihren Bekannten hat Frau Martens schon erzählt, daß die Aussicht dem Herrn Doktor gar so schön gefallen hat. Und die Stubenwände, mit Holz verkleidet und heller Ölfarbe gestrichen, wie in einer Schiffskabine, Christian IV. in seiner Allongeperücke daraufhängend, und Herzog Adolf.

»Das ist Deichgraf Jeß' Elsalill!« Wie aus der Erde gewachsen steht die kleine, blitzblanke Deichwärtersfrau neben ihrem Zimmerherrn. »So 'ne Lüttje war's« – die kleine, rundliche Hand bezeichnet die unwahrscheinliche Höhe einer Miniatur –, »immer schon hat sie nach Deich gewollt. Wie oft die heimlich ausgewutscht ist! Söte!«

»So?« sagte Vinzenz von Lassing. Seine höfliche Stimme klingt leicht bedeckt. Die dunkle Haut bekommt einen noch tieferen Ton. »Auf Wiedersehn, Frau Martens!«

Er schließt schnell und bestimmt die grüne Stakettür des Vorgärtchens. Einem heimlichen Drängen entgegen nimmt er den Weg zur Stadt. Mit seinen langen Beinen ist er schon die halbe Wasserreihe hinauf, ehe Frau Martens ausgewundert hat, wie doch ein s–tudierter Herr so braun gebrannt aussehn mag, als hätt' er sein Lebtag auf dem Wasser gelegen.

Vinzenz von Lassing-Dombühl – die Freiherrnkrone über den Initialen auf seinem Koffer ist abgenutzt wie das ganze Möbel – kommt an den kleinen Hafenkneipen vorüber. Er sieht, wie sie, hinter ihre niedrig gekappten Linden geduckt, bereits gastliche Lampen entzünden. Der überlebensgroße Schleusenwärter Martens kommt an ihm vorüber und grüßt freundlich.

Vinzenz erwidert den Gruß in derselben Weise. Er denkt: Dieser Riese! Daß der Türbalken an seinem Hause noch nicht befleckt ist von seinem Blut! – Aber während ihm nichts entgeht, sieht er immerfort eine Gestalt vor sich, schmal, kühn wie ein Knabe. Unbewußt, verhalten, geheimnisvoll.

»Wie die Engelknaben um die Marien auf Bildern Botticellis,« denkt er. Nein, etwas dabei trifft nicht zu. Nur das in der Knospe Verschlossene bringt ihn auf diesen Vergleich. Dieser herbe, spröde Morgen des Geschlechts. »St. Georg?« denkt er. »Irgendein glühender St. Michael?« – Aber dann, auch hierin bleibt noch ein Rest. Da plötzlich durchzuckt es ihn: Ist er nicht in dem Lande, wo die weißen Waljungfrauen Wotans geboren wurden? Schwanenfittiche an den Schultern? Wo die Weltesche Yggdrasil wurzelt? Und die Nornen am Webstuhl sitzen?

Er wendet sich wieder kurz um. Tiefer, düsterer brennt der Himmel, ganz Blut, ganz Flammen. »Die Waberlohe!« denkt Vinzenz von Lassing. »Muspili!« Etwas reißt ihn. Uraltes bäumt herauf in seinem Blut. Was geschieht? Was geschieht?

In diesem Augenblick tritt ein Mann aus der Wirtschaft von Ole Olsen. Dort pflegen die Kapitäne gern zu sitzen, wenn sie mit ihren Hamburger, Schleswiger und Lübecker Schiffsherren abgerechnet haben und für den Winter heimkehrten von Kalkutta oder Honkong oder Santa Catharina.

Der Mann kam nicht durch die niedrige Fronttür, hinter der bereits die gelbe Petroleumlampe rußt. Auf der Seite, zum Hof hin, hat das Haus einen zweiten Eingang. Alles, was mit dem Geflügel, den Schweinen und Pferden in Verbindung steht, benützt ihn.

Diesen Hof übersieht durch zwei kleine Giebelfenster die steinalte Mutter des Schankwirtes. Olsen Großmutter hat das zweite Gesicht. Sie bespricht Krankheiten. Man holt sie von weither.

Der Mann, der aus der Seitentür tritt, trägt einen breitrandigen Künstlerhut. Er geht wie ein Matrose, breitgestellt. Aber weder diese Seltsamkeit noch das schlecht rasierte, gedunsene Gesicht erregt die Aufmerksamkeit Vinzenz von Lassings. Er begreift nicht, warum er plötzlich das Wild der Wälder vor sich sieht. Tiere auf der Hut.

Übrigens deutet trotz der Reduziertheit des Individuums irgendein Unnennbares auf gute Abkunft.

Ein Hund läuft hinterdrein, ein stichelhaariger Rattenfänger mit einem sonderbaren Kautzkopf, armselig, übler Verfassung, wie sein Herr. Trotzdem ängstlich beflissen wie eine saubere Katze vermeidet er die Feuchtigkeiten des Weges.

Die ganze Begegnung hat für Vinzenz von Lassing im beginnenden Zwielicht etwas seltsam Unwirkliches. Erst später entsinnt er sich jeder Einzelheit, wie mühevoll eingeprägt. Der Mann schlägt den Weg zum Deich ein, den Vinzenz soeben gekommen ist. Als etwa fünfzig Schritt zwischen ihnen liegen, macht Vinzenz plötzlich kehrt. Er gibt sich nicht Rechenschaft, warum.

Elsalill muß sich irgendwie verweilt haben. Sie ist kaum über das zweite Hecktor hinaus. Sie steht jetzt wie Ebenholz gegen die Abendlohe. Nun fliegt sie wieder. Wie am Anfang ihres Weges. Als müßte sie die Sonne ereilen, ehe das Meer sie auftrinkt.

»Hier ist das Land,« denkt Vinzenz von Lassing, »wo die schmerzhafte Liebe zum Licht geboren wurde. Hier wurde Baldur geboren!« Seine Augen können Elsalill nicht mehr verlassen. Plötzlich erinnert er sich wieder des Mannes mit dem Hund. Er weiß jetzt, daß er um Elsalills willen den Deich entlang zurückgeht. Aber der Mann und der Hund scheinen von der Erde eingeschluckt.

»Auch die Gespenster mit dem Pull Seegras als Kopf sind hier zu Hause,« denkt Vinzenz von Lassing. Zu Osten im Porrenkoog ballt es sich bereits weiß wie Wolle. Zu Westen hin zieht der Nebel in breiten Schwaden vom Meer her über das grauschlickige Vorland. Erst ein schmaler Streifen unterhalb der Deichkrone ist bloßgelegt. Auf diesem entdeckt Vinzenz plötzlich den Mann und den Hund. Der Nebel macht sie größer und seltsam glasig. Die Sonne liegt auf dem Meer wie ein kupferner Schild.

Im nächsten Augenblick glaubt Vinzenz seinen Augen nicht trauen zu dürfen: Der Mann steht plötzlich dicht neben Elsalill.

Während Vinzenz seinen Schritt beschleunigt, vermengen sich zwei Hundestimmen. Grell, rasend. Ein dunkler Ball rollt deichwärts in das rote Sieden. Hält sich wieder fest, rollt weiter, hält sich abermals. Fortwährend gellen zwei rasende Hundestimmen gegeneinander an. »Thor, Thor!« schreit Elsalill.

Vinzenz hat die Gruppe erreicht. Elsalill hat ihren Hund errufen. Sie greift ihm ins Halsband. »Thor,« sagt sie staunend und klagend.

»Darf ich meine Dienste anbieten?« Vinzenz verneigt sich hastig und ehrerbietig. Er nennt seinen Namen. Er fügt irgend etwas hinzu über »morgen und vielleicht der Ehre teilhaftig«. Elsalill hat nicht verstanden. Vielleicht hörte sie kaum. Sie sieht Vinzenz an . . . tief, unschuldig, träumend. Ihre Augen sind grün wie das Meer.

»Vielen Dank,« sagt sie langsam und staunender Stimme. »Mein Hund vergaß sich. Es ist noch nie vorgekommen!« Thor drückt sich gegen ihre Knie mit einem eigentümlichen Klageton. »Es ist gut, Thor.« Elsalill spricht wie zu einem reuigen Kinde. Sie neigt sich noch einmal leicht gegen Vinzenz von Lassing. Dann wendet sie sich zur Stadt zurück.

Der stichelhaarige Hund benimmt sich wie irrsinnig. Er rollt im Schlick, reißt an dem verdorrten, kurzen Grase, schnappt und beißt in die Erde. Niemand hat seiner besonders acht.

Als Elsalill sich zum Gehen wendet, starrt der fremde Mann unter seinem tief ins Gesicht gesetzten Künstlerhut einen Augenblick hinter ihr drein.

»Elsalill,« sagt er heiser, »hier, vor diesem fremden Herrn – ich bitte um ein Wort. Du brauchst nicht Furcht zu haben, Elsalill!«

»Furcht, Ewert Jaspersen?« Elsalills Wangen brennen.

Ewert Jaspersen streckt die Hände aus und ballt sie.

»Elsalill Jeß geht zur Nacht allein ans Meer. Ich weiß wohl. Sie fürchtet nicht Menschen oder den hütenden Stier!«

»Ewert!« ruft Elsalill leidenschaftlich. Ihre schmale Gestalt zittert und wächst zugleich.

»Vergib, Elsalill!« sagt Ewert Jaspersen. Sein Gesicht verändert sich. Es tut weh, ihn anzusehen.

Thor stößt wieder dieses wimmernde Heulen aus. Er zerrt plötzlich an seinem Halsband. Er will den fremden Mann begrüßen. Seine Rute schlägt wild und freudig.

Elsalill reißt ihn zurück. Ewert Jaspersens Lächeln ist verhalten.

»Er kennt mich noch. Thor lehnt mich nicht ab. Elsalill, ich meinte, du solltest nicht mit mir gesehen werden in der Stadt. Ich dachte, . . . die Leute . . .«

»Die Leute?« sagt Elsalill hochmütig. »Aber daß du gar keine Ehre hast!« Da knickt der andere zusammen. »Nun gut, Ewert.« Elsalill scheint unter irgendetwas einen Strich zu setzen. »Was hast du mir zu sagen?«

Aber als sei sie ihm Rechenschaft schuldig: »Es ist mein einstiger Spielgefährte,« sagt Elsalill zu Vinzenz.

Vinzenz verneigt sich. Er geht den Deich zurück. Elsalill und ihr Begleiter folgen langsam. Vinzenz hört aufgeregt sprechen. Er versteht nur hier und dann ein Wort: »Mutter«, »krank«, »Olsen Großmutter«.

Aber Vinzenz ist glücklich, daß sie ihm folgen. Ihm scheint, daß Elsalill damit sich seinem Schutz anvertraut. Der Hund des Fremden trottet jetzt vorauf mit hängender Zunge. »Maat!« ruft ihn sein Herr.

Als Vinzenz über das letzte Heck hinaus ist, kommt eine Kinderschar deichwärts: »Elsalill! Elsalill!«

Vinzenz sieht sich um. Der Mann ist verschwunden. Der Nebel steht jetzt wie Milch und Rauch. Elsalill tritt soeben aus diesem Nebel. Ihr Gesicht erscheint noch weißer als vorhin. »Ich danke Ihnen,« sagt sie im Vorübergehen. Ihre Stimme ist dunkel. Ehe Vinzenz noch antworten kann, ist sie von den Kindern umringt.

»O Elsalill! Wir kamen schon mit dem 4-Uhr-Zug. Die Weihnachtsbäume stehen schon im Garten!«

»Elsalill, der Sternensaal ist verschlossen! Es kommt Schnee, und Thor bekommt ein blaues Halsband von mir!«

»Lütte sagt, sie ist König aus Morgenland!«

»O Elsalill, Weihnachten!«

Die Kinder sind Elsalills Geschwister Arne, Gerda, Lütte genannt, und Detlev. Dazu die Enkel von Senator Andersen aus dem weißen Kavalierhaus.

Es gibt zwei Kavalierhäuser. Das schneeweiße hat köstliche Renaissancegiebel, Portalfiguren in Nischen und steht den kurzen Sommer hindurch in einem Rausch von Rosa und Lila und Weiß. Das andre, schon seit anderthalb Jahrhunderten im Besitz der Jeß, liegt schwer, gedehnt und verschwiegen hinten den uralten Baumkronen mit den Mistelnestern. Sein dunkler Backstein verschmäht jede Verkleidung. Ebenso wie seine Ostfassade einem Rosengestämm nur kurz und unwillig Halt gewährt. Ein einziger uralter und ungeheurer Efeu schlingt seine armdicken Seile nach rechts und links und den Mittelbau hoch hinauf bis in den First. Im Frühjahr beziehen unzählige Stare erregt und leidenschaftlich die alten Quartiere.

Dieses Elternhaus von Elsalill Jeß sieht immer aus wie von verwunschenen Prinzessinnen bewohnt. Auch ein wenig Blut auf den schwarzen Eichentreppen und langen Korridoren wäre wohl zu denken. Im Schloß gegenüber wohnt jetzt Hardesvogt Jaspersen. Von den sieben Türmen der dänischen Könige, die dort zeitweilig Hof hielten, steht nur noch der mittlere. Schloß und Kavalierhäuser haben immer Freundschaft gehalten. Alle drei, umgeben von ihren uralten Gärten, bilden eine abgeschiedene Insel im Ring der kleinen, grauen, verträumten Stadt. Ob in den Buchenkronen die Sonne steht wie in goldgrünen Römern der Wein, ob sie rostig brennen oder Rauhreif sie schmerzhaft schmückt, immer scheinen die Schicksale dieser drei Häuser ineinander verfesselt wie zu jener Zeit, als der unterirdische Gang vom Schloß zu den Kavalierhäusern hin noch nicht verschüttet stand.

»Onkel Jaspersen, hat er's schlimm mit seinem Bein? Lütte sagt, Ewert wär in der Stadt, Elsalill?« Helli Andersen, die Nichte von Claus, mit dem Elsalill verlobt ist, drückt sich fester in den Arm der großen, vergötterten Freundin.

»Lütte muß nicht den Leuten nachreden.« Elsalill weiß nicht, daß schnell wie Feuerschein Rot ihr Gesicht überfliegt.

»O Elsalill, und morgen sollst du Maria sein!«

Dieses ist das letzte Wort, das zu Vinzenz herüberweht wie geheimnisvollen Glückes Verheißung. Die kleine Schar taucht unter im schmalen Düster der Wasserreihe.

Es duftet süß und fett um diese Tage in den Gäßchen, die der weiche Nebel mit einem Tuch zudeckt wie Weihnachtsgeheimnisse. Korinthenbrot, weiße und braune Kuchen haben ihr Recht. Der geräucherte Fisch der vielen kleinen Läden, Butt, Aal, breite wichtige Flundern und kleine, zierliche Schollen, die sonst allein hier die Herrschaft haben, mögen zusehen, wie sie sich damit abfinden!

»Pink, pank, pink, pank!« Klempner Iben wohnt in der Wasserreihe. Bei Tischler Pahl unterhält sich der Hobel mit einem großen, eigentümlichen Rahmen, und nebenan wird Holz klein gemacht. Ladenglocken bimmeln, Wassereimer quietschen, Nägel werden eingeschlagen, Kinder lachen und schreien. Wagen holpern über die runden Kopfsteine. Frauen klöhnen unter den Türen, frierende Katzen mauzen; alle diese unzählbaren Geräusche der Kleinstadt verklingen ineinander, werden weich unter dem Nebel wie eine heimselige Melodie.

»Wenn der verlorne Sohn sie hört!« denkt Vinzenz von Lassing. Der Mann auf dem Deich steht vor seinen Gedanken.

»Man braucht nicht verloren zu sein und ist dennoch expatriiert.« Er reckt sich plötzlich hoch. Er sieht ein altes schmales, getürmtes Schloß auf kahler Bergklinge. Andern vielleicht ein baufälliger Kasten – ihm . . .

Der Nebel scheint sich sekundenlang schwerer zu ballen. Aber dann reckt Vinzenz sich höher. Er schreitet kräftiger aus. Wenn man jung ist! Wenn man seine Kräfte beisammen hat! Wenn nicht die Bleikugel einer Schuld einem nachzerrt!

»Wie verrückt der Hund war!« denkt Vinzenz plötzlich.

Dann sieht er Elsalill. – Morgen, morgen! Maria soll sie darstellen? »Siehe, ich bin des Herren Magd!« Sein schmaler, gewölbter Mund lächelt ungläubig. St. Michael mit dem flammenden Schwert! St. Georg auf dem Drachen! Nicht Maria! Oder doch Maria? Er fühlt ihren Blick, fragend, träumend, tief. Er hört den dunkeln Klang ihrer Stimme. Etwas durchzuckt ihn. Wie vorhin am Deich. Glück?

Er geht und weiß nicht wo, durch enge Gassen und Gäßchen. Er ist noch ein Fremder hier. Wieder denkt er: »Maria? Dies ist das Land der Schwanenjungfrauen, der Gottesbotinnen. Und einmal fand eine ihr Herz!«

Unrast fällt über ihn her. Als stehe nicht Weihnachten vor der Tür. Als sei Frühling im Anzug. Tausturm. Er kennt sein tausendstimmiges Konzert. Er kennt es. Das starre Winterherz reißt es vonsammen zu einer unerhörten und süchtigen Wunde. Erste zu Tal stürzende Laanen orgeln die zweiunddreißigfüßigen Bässe. Das Gesicht wird ins Lodern gepeitscht von der dunst- und keimträchtigen Luft! Ihm ist, er hört sie harfen. Sie geigt, sie flötet, sie stößt aus Posaunen. Sie zerschmilzt, sie rast, sie ist todes- und lebenstrunken.

Nur eine Hilfe gibt es dann gegen die Marter des zuckenden Herzmuskels: im Schneematsch versinkend bis an die Brust, den Auerhahn anspringen mit den inbrünstig flammenden Augenrosen. Wenn er um Liebe wirbt vor Tau und Tag.

Aber nun ist Weihnachten! Christfest! Bekommt man nicht beschert zum heiligen Christ? Sein dunkles Gesicht, das sich gelöst hatte, verschließt sich wieder. Es ist lange her, daß ihm beschert wurde.

Aber dann gleich wieder die frohe Unrast. Als ob etwas warte. Hier ist das Land der Julklapps. O Gullinburstis! Wotans goldborstiger Eber wird hier noch gekannt, das Geheimnis der wachsweißen Mistel, der rotbeerigen Stechpalme! Die Heiligkeit der zwölf Rauchnächte lebt hier noch. Wenn Wode durch die Baumkronen rast, Frau Holde den Herd segnet und kein Einspanniger einsam, kein Wegfahrender herdlos ist.

Aber sie soll Maria darstellen! Die selige Mutter des weißen Christ!

Muttergottesbilder seiner Heimat ziehn an ihm vorüber: Dinkelsbühl, St. Georg! Wie das Mittelalter wuchtend. Geheimnisvoll. Mysterienhaft. Dort hat einer, lächelnder Inbrunst, die Liebe seines Blutes und seiner Seele immer neu glorifiziert.

Maria auf der Bamberger Mainbrücke tritt plötzlich aus dem Nebel. Ganz große Dame, in der schweren und doch erregten Pracht des Barock, Krönlein im lustvoll frisierten Haar, Lilienstengel in der schönen verwöhnten Hand.

Maria im Baum! Dorthin gehen die Frauen seiner Heimat, wenn sie Leid tragen um ein Kind. Es gibt Marien der Kreuzigung, erblichen unterm Schwert, Marien im Grab und verklärte Marien.

Riemenschneider grüßt er in Gedanken. Hans Memling, Grünwald!

Um der Marien willen, vielmehr um der niederdeutschen Schneidekunst der vorreformatorischen Jahrhunderte ist er hierhergekommen. Brüggemann rief ihn. Von seinem Altarblatt im Schleswiger Dom trieb es ihn in die kleine Stadt an der Küste. Als ein Blinder, im Armenstock, beschloß hier ein Gewaltiger sein Leben.

Ja, nun ist er hier. Und sie soll Maria darstellen. Wird er sie erblicken? Aber er muß! – Gestern kannte er sie noch nicht.

Die Gassen und Gäßchen verstummen. Abendbrotzeit.

Ah so, der Mensch muß auch essen!

Vinzenz geht in den »Herzog von Augustenburg«. Dort haben die Herren vom Amtsgericht, die Gymnasiallehrer und etliche mehr der Honoratioren ihre Stammkneipe. Sie scheinen nette Leute, ein bißchen vorsichtig zuerst. Nicht gerade entgegenkommend wie alle Nordländer. Aber hat man sie erst irgendwie gefaßt, können sie langsam allerlei interessierende Sachen zutage fördern. Über die Ostenfelder Bauart zum Beispiel, den Swinschen Pesel in Meldorf und das wunderschöne Sakramentshäuschen aus der Hand Brüggemanns, das gleich dem Ritter St. Jürgen, lange Zeit nicht im Wert erkannt, schließlich nach Kopenhagen gewandert ist.

Diese Gespräche haben durchaus nichts Aufregendes. Dennoch kann Vinzenz von Lassing diese Nacht keinen Schlaf finden. Die Betten in diesem Lande der Riesen scheinen der Fronttür von Schleusenwärter Martens angeglichen. Als der Zimmerherr sich wie ein Taschenmesser einklappt, fällt ihm das Bett Schillers ein. Dieses ergreifend kurze Bett in der Mansarde in Weimar. Er ist nicht Schiller. Aber er hat Schillersches Maß. Nun wohl, wenn jener es vermochte!

Gegen Morgen begeben sich zwei Füße einsam, melancholisch und nackt hinaus über einen Bettfirst. Ihr Besitzer träumt von Hunden und Ebern, St. Georg und dem Tausturm, von Schwanenjungfrauen und Marien im Baum.



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