Friede H. Kraze
Maria am Meer
Friede H. Kraze

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Der Spuk und das Grauen der Weihnacht liegen hinter Vinzenz wie in einer anderen Welt geschehen.

Er hat am folgenden Tage in Hamburg noch alles ordnen können, da die Leiche Ewert Jaspersens bei Blankenese antrieb. Die Augenlider des Toten waren fest eingedrückt, wie wenn er sich vor einem Anblick entsetze. Aber um seinen Mund war ein gelöster und kindlicher Ausdruck, als sei, die er so flehend gerufen, bei ihm gewesen in seinem letzten Streit.

Auf der Wange unter dem linken Auge hatte er einen kleinen roten, hochgeschwollenen Halbmond wie von einem Biß.

Vinzenz hat sich noch nicht entschließen können, Elsalill die Wahrheit zu sagen. Sie glaubt, Ewert sei wieder fort. Alle schelten Vinzenz über sein Fortgehen zum heiligen Abend. Vor allem Klaus kann sich nicht beruhigen. Nur Elsalill sieht Vinzenz an, nachdenklich, staunend und stillen Dankes.

Nun ist man beisammen im Sternensaal, wo der Alltag sich nicht hineinwagt.

Alle Feste des Hauses werden in diesem Saal gefeiert. Aber nicht nur, was mit der Familie zusammenhängt an Glück und Trauer, gibt ihm seine besondere Note. Die fernere Vergangenheit, da dieses Haus noch die Kavaliere beherbergte. Diese Vergangenheit mit ihrer Pracht und mit ihren großen Leidenschaften nach Gut hin und Böse ist ebenfalls noch immer zu Gast in diesem Saal.

Er verdankt seinen Namen der Wandverkleidung, einem Brokatstoff von schwerem Blau mit erhaben aufgelegten goldenen Sternen. Aus der Holztäfelung unterhalb des Stoffes wachsen hohe, schlanke, kanellierte Säulen und teilen die Weite der Wände in Ausblicke. Aus der Mitte der tief einbezogenen kreuzgewölbten Decke hängt ein herrlicher Kristalleuchter.

Vinzenz schließt sekundenlang die Augen. Dies ist alles wie Märchen: Die heitern Menschen in Festkleidern auf riesenhaften, breiten Sofas, von vergoldeten Löwenklauen getragen, aufgenommen und vielfältig zurückgegeben von hohen Venetianerspiegeln, gradlinig, schlank gerahmt. Grotten, Liebende, Freundschaftsaltäre auf das Glas der oberen Aufsätze gemalt.

Oder ist es auch Traum? Elsalill, schneeweiß, Licht überrieselt, zum Tannenbaum aufgereckt! Die krachenden Holzscheite des Kamins, dem ein weißer, burgartiger Kachelofen Beistand gewählt. Der Geruch von Wein, fremden edlen Früchten, Süßigkeiten, und der Jubel der Kinder?

Ist es Traum? Ist es Märchen? Ist es auch Heimat?

Welcher Ton! Welcher Ton! Als ob ein riesenhaftes Insekt sonnen- und honigselig über dem Schoß riesenhafter und glühender Blüten surrt.

Vinzenz öffnet die Augen. Er sieht Elsalill an, verstört. Sie lacht. Ihr Lachen ist wie eine tiefe Glocke, in deren Mischung dennoch viel Silber verschmolz. »Rummelpott!« ruft Elsalill in sein verdutztes Gesicht.

»Rummelpott!« Die sieben Raben nehmen den Ruf wie einen Kriegsruf. Sie schießen heraus.

»Und wenn dat Schip von Holland kommt.
Schipper, du mußt wieken . . .«

Klaus faßt Elsalill unter den Arm. Als bringe er ihm ein Geschenk, führt er Elsalill zu Vinzenz. »Sieh, so,« sagt Klaus. »Alter Jung!« Er legt Vinzenz die Hand auf die Schulter. Sein flaumhelles Jungensgesicht ist ergreifend im Glück, das sich weiterschenken muß.

»Schipper, du mußt strieken . . .« geht draußen die alte Melodie zum Brummen des Topfes, eintönig wie die Totenklage um einen Negerhäuptling.

»Rummelpott! Rummelpott!« Die Tür birst auf. Die sieben Raben stürzen sich ins Zimmer. Süßer, heißer Fettgeruch folgt ihnen.

Hernach bringt man so ein geheimnisvolles Wesen, von Arne zu Scherz und Hausgebrauch gefertigt, angeschleppt. »Sieh, so!«

Also, man braucht nichts andres als eine Schweinsblase über einen Topf gebunden! Durch die eng gestochene Öffnung der Mitte bewegt man feuchten Fingers ein dünnes Stäbchen auf und nieder. Nun haben sie dieses erdhaft tiefe, geheimnisvolle Gebrumm im Sternensaal. Wie einen Gruß von Pan.

Schon wieder ruft draußen das alte Lied. »Gott!« Helli Andersen bekommt klare Augen. »Wenn ich einmal im Leben zu Altjahrsabend nicht hier wär!«

»Mein kleiner Klaus!« sagt plötzlich Frau Andersen.

Alle sehen sie an. Die sieben Raben müssen lachen. Dieser ergriffene Ton ist so fremd an Großmama. Er paßt so wenig zu der rundlichen Gestalt in rauschend grauer Seite und dem kleinen Doppelkinn unter dem braunen, weichen Mal wie eine mouche.

»Aber klein Hella!« sagt Klaus. Er hat die Gewohnheit, wenn er zärtlich empfindet, seine Mutter »klein Hella« zu nennen.

Die sieben Raben schreien vor Glück. Auch die andern lachen. Frau Justizrat Andersen sieht hilflos im Kreise. Dann lacht sie selbst, das Doppelkinn bebt. Aber plötzlich nimmt sie die Hand ihres jüngsten Sohnes zwischen ihre beiden festen, gepflegten Hände, in deren Ringfinger das Zeichen der Treue unlöslich eingewachsen ist. »Mein Klaus,« sagt sie staunend, »ich weiß nicht, warum ich eben daran denken muß, wie du geboren wurdest. Sieben Jahr kamst du nach deinen Geschwistern. Unsre Thora,« – Thora war die Ahne von Elsalills Thor – »sie heulte so unklug!«

»Ja, mein Mutter!« Der Justizrat legt seine Hand auf die runde Schulter seiner Frau. »Du warst ganz aufgeregt! Bei allen deinen sechs Kindern kaum ein Seufzer. Aber als Klaus zur Welt kam, hast du bitterlich geweint!«

»Thora war schuld. Dumme Deern!« Frau Andersen hält noch immer ihres Sohnes Hand.

In diesem Augenblick steht Thor auf, der unter dem Flügel gelegen hat, geht steifbeinig, mit eingeklemmter Rute bis mitten ins Zimmer, wirft den Kopf zurück und heult, als ob er einen schauderhaften Anblick habe.

Alle verstummen.

»Aber klein Hella!« sagt Klaus zärtlich. Er gibt seiner Mutter einen Kuß, was außer an Geburtstagen oder zur Abreise nicht Brauch bei ihnen ist. »Thor!« ruft er gleich darnach lachend. »Kusch, altes Fell! Wirst deine Manieren aufgeben wollen mit Jahresschluß?«

»Thor!« ruft Elsalill.

Während der Hund mit eingedrücktem Rückgrat und allen Zeichen tiefen Kummers unter den Flügel zurückkriecht: »Gott, ist Thor verrückt!« sagt Arne.

»Ob er krank ist?« Elsalill sieht groß und fragend von Klaus zu Vinzenz.

»Er muß sich erschreckt haben!« Klaus bückt sich unter den Flügel und hält dem Hund einen braunen Kuchen hin.

Aber mit einer Gebärde, die etwas Trauriges hat, verweigert Thor sein Lieblingsgebäck.

»Er ist krank, armer Kerl!« Klaus deckt einen kleinen Fellteppich über den zitternden Körper. »Morgen geh ich zu Tierarzt Hansen, Elsalill!«

»Ja,« sagt Elsalill, »ja!«

Ihre Stimme klingt wie weit drüben.

Nachher kommen mehr Rummelpottsänger. Man vergißt auf Thor. Elsalill geht einen Augenblick zu Tante Jaspersen hinüber. Sie besucht sie jeden Tag um diese Stunde. Sie sprechen von Ewert, was Vinzenz über seine Abreise erzählt hat, und wie sehr er an seiner Mutter hänge.

»Ich weiß,« sagt Frau Vogt Jaspersen. »Ich weiß wohl. Aber nie seh ich ihn wieder!« Die Tränen topfen still und schwer auf ihre abgezehrten Hände.

Klaus und Vinzenz, die Elsalill hinüber begleitet haben, warten im Schloßhof.

O dies ist Altjahrsabend, wie er sich gehört: Schwanenweiß, mit hohem Himmel, voll klirrender Sterne. Klaus ist weicher Stimmung. Er hat seinen Arm unter den von Vinzenz geschoben. Er redet von Elsalill und von seinem Glück.

Aber während sie so im lichten Schneedunst unter den hohen, klirrenden Sternen auf und nieder schreiten, fährt Vinzenz plötzlich zusammen. Er sieht sich um, nach rechts, nach links, und woher sie gekommen sind. Das, was verblaßt ist, in der Wärme und dem Licht dieser Heimat, steht mit einem Ruck klar und erbarmungslos wieder um ihn her. Er geht durch die Twiete – immer mit einem stummen Gesellen hinter sich. Er sieht »das« in dem fremden Hotelzimmer an der Wand stehn und auf ihn hinstarren.

Seine Haare richten sich auf an ihren Wurzeln, während er in irgendeiner Gegenwehr den Oberkörper kurz zurückwirft. Was geschieht? Was geschieht?

»Hast du was verloren?« Klaus sieht sich gleichfalls um. Nach rechts, nach links und zurückgewendet.

»Nein!« sagt Vinzenz.

»Habe ich auch etwas verloren?« denkt er gleichzeitig. »Etwas, was ich nie besaß?« Er verwirrt sich in Gedanken.

Klaus erzählt weiter von Elsalill, von seinem Glück. Wie ist er jung! Wie er jung ist! Daran muß Vinzenz immerfort denken. Dann sieht er Thor vor sich, diesen herrlichen Hund, wie er auf steifen, hohen Beinen steht und mit einem Blick des Grauens den Kopf zurückwirft und heult.

Aber dann denkt er, es ist ja gar nicht Thor. Nein. Und es ist ein stichelhaariger Rattenfänger, ganz klein und armselig mit einem Gesicht wie ein Kauz, der steif und triefend auf einem Stuhle liegt.

»Hast du einmal von Schädel-Tommy gehört?« fragt Vinzenz plötzlich.

»Schädel-Tommy?« Klaus lacht ausgelassen. »Was ist das bloß wieder für ein Schnack?«

»Ach, das ist so einer.« Vinzenz versucht ebenfalls zu lachen. »Schau, da kommt Elsalill. – Er präpariert so Sachen,« sagt er schnell. »Laß jetzt lieber!«

Sie haben Elsalill erreicht und gehen durch die Gärten und durch die Veranda in den Sternensaal. Man empfängt sie mit Zurufen. Man will zu Tisch gehen. Deichgraf Jeß sitzt bereits am Flügel und spielt Webers Jubel-Ouvertüre.

Das ist Brauch am Altjahrsabend, ehe man sich dem Karpfen hingibt. Mit Schlagsahne und Meerrettig ist er über alles Sagen. Wie jedes Jahr. Und in der festlichen Helle der hohen Wachskerzen auf silbernen Armleuchtern, mit all den strahlenden Kindergesichtern im Kreise, und dem Genuß dieses Festmahles wird das, was vorhin aufgestanden war, wieder blaß und sinkt. Sinkt und schaukelt dennoch heimlich unter einer lichten, bestrahlten Oberfläche. Wartet wie ein abgewiesener Fremdling vor der Tür. –

Ja, nun endlich ist der mystische Augenblick gekommen: Die Füertangbowle!

Wer darf sagen, er erschöpfte das letzte Geheimnis des sinkenden Jahres, wenn ihm das Geheimnis der Füertangbowle verborgen blieb?

»Vinzenz, komm her!« Er muß das vor allem erleben.

Man ist wieder im Sternensaal. Die Kerzen des Lüsters sind ausgetan. Eine einzige Flamme darf blühen auf hohem, silbernem Schaft – das sterbende Jahr.

Eine riesige alte, kupferne Kumme, düsterer Glut, wartet vor dem Kaminfeuer. Wie ein Opferbecken. Der Gletscherbock des zerspaltenen Zuckerhutes steht bereit. Die sieben Raben hocken im Kreis, wie Erdgeister. – Wohlauf, Priesterin! –

Elsalill nimmt die Flaschen, wie man sie ihr zureicht. Leidenschaft, Leben entrinnt dunkel, wie sie den weißen Arm leicht gebogen über das wartende Becken hält.

Nun ist es gefüllt zu zwei Dritteln. Die Kerze des sterbenden Jahres spiegelt sich darin. Abschied! Abschied! –

Mit feierlicher Gebärde legt Klaus Andersen die Feuerzange – die Füertang, – die diesem Getränk den Namen erwarb, über das Becken. Wie ein richtendes Schwert.

Der Deichgraf – denn all dieses folgt einem besonderen Ritus und priesterlicher Ordnung, – hat inzwischen den gespaltenen Zuckerblock mit Arrak getränkt. Er hebt den Gewaltigen gestreckten Armes auf die Feuerzange. Wie ein Opfer.

Elsalill weiß nicht, wie schön sie ist, wie weiß und wie geheimnisvoll, als sie an der Kerze des sterbenden Jahres den Tannenzweig anzündet und mit diesem den arrakgetränkten Block.

O Zauber! O Traum! Stählerne Flammen stürzen sich in purpurne Tiefen. Das Jahr, das zum Sterben geht, wie es noch einmal duftet und glüht! Wie alle sommerlichen Gärten der Erde! Wie alle heißen Traubenhänge der Welt.

Elsalill schöpft mit silberner Kelle Taumel und Rosen und Glut und blaue Verzückungen.

Geheimnis des sterbenden Jahres! Eines geht, wendet nie mehr zurück das Gesicht. Alles, was hold war, wie es schmerzt, es zu lassen! Was bitter war, – o, spät erkannte, verborgene Süßigkeit! Was Last gewesen, – siehst du ihn jetzt, den Keimling kommender Kraft? Und das Unerträgliche – erkennst du's als harten Vollender?

Ja, wir haben dich gekannt, sterbendes Jahr! Gelebt, geliebt, getragen oder überwunden.

Was aber kommt, – ist verhüllt. – – –

So schöpft Elsalill mit silberner Kelle. Ihr Kranz aus rotbeerigem Stechpalmlaub sieht aus wie besprengt mit Opferblut. Und dann werden die blauen Flammen kürzer, spitzer, der taumelnd süße Dunst webt an der Wölbung des Saals, wo die Rosette den Lüster hält. –

Jetzt ist es Zeit. Jetzt schöpft Elsalill in die Gläser. Diesen Trank voll heimlichen Feuers, der freudig macht und stark, ohne den Verstand zu umfloren. Die bösen Geister entwichen in den Flammen der Läuterung. Nur die Kraft blieb. Die Schönheit und die Glut.

Jetzt wird der Christbaum angezündet. Eins der Kinder hat die Kerze des sterbenden Jahres auf die Spiegelkonsole gestellt. Sie erblickt ihr blasses Gesicht wie den fremden andern, der der nächste ist und war. Allein man erschrickt, da man ihn endlich erkennt von Angesicht.

Aber niemand als Elsalill achtet zur Zeit der Kerze.

»Weißt du noch, Arne?« –

Lütte und Helli biegen hin und her vor Entzücken, wie sie Arm in Arm auf dem Teppich sitzen. Nun beginnt das ganz Herrliche dieses Abends: »Weißt du noch, Arne?« –

Gemeint ist damit Onkel Jeß. Die ihn so freundlich befragt, heißt Tante Male. – Aber jetzt sind beide jemand ganz anderes: Sie haben die Macht und halten den Zauberschlüssel zum Jugendland. –

Alles kann Arne im Grunde nun wirklich nicht wissen. Er war seiner Zeit ebenfalls ein kleiner Nachkömmling wie Klaus. Male, die 83jährige Älteste der Familie – alle vierzehn andern sind blühend am Leben – war Braut, als der Jüngste zur Welt kam. »Klein Arne« ist er ihr geblieben.

Nun wohl, man braucht nicht alles bewußt erlebt zu haben. In diesen alten Familien verklammert sich ein Glied ins andere, zäh und gut.

Ja, nun werden sie gleich in die Kähne steigen, alle die schönen Töchter von Hardesvogt Jeß, und ihre Brüder, die Studenten, die Offiziere, die Hofbesitzer und die Freunde der Brüder. –

Seht ihr nicht die ganz zarten, lawendelfarbenen und himbeerfarbenen Reifröcke, mit goldenen Ähren gestickt? Stöckelschuh, tief ausgeschnittene Schnebbentaillen, Lockengebausch vor zierlichen Ohren und hohe Kämme am Hinterkopf? Wohlan, wohlan. Schon liegen die Kähne bereit.

»Kähne, wieso?« Vinzenz wundert sich, ob dies eine Sommergeschichte werden soll.

Nein, nein. Am Altjahrsabend beginnt man wohl nicht mit Nachtigallen und Rosen. – Und dennoch Kähne und Sommer! Vielmehr Frühling. – Denn Jugend ist Frühling, und Hoffnung ist Sonne und Blühen!

Ja, dies war nun Eiderstedt, Vinzenz. Wo die Straßen um Jahreswende unermeßliche Seen sind. – Tante Margarethe – ach nein – heut nichts von Tante Margarethe. Sie saß am Fenster ihrer schönen, stillen Wohnstube in Oldesbüll von Oktober bis März und weinte, weinte, weinte. Solang der Regen herniederging und der Nebel um das Haus stand auf seiner grünen Warft, mußte sie weinen. Tagaus, tagein. Und als ihr Mann, der sie abgöttisch liebte, um ihretwillen den Hof verkaufte und nach Thüringen zog, – ja – da starb sie vor Sehnsucht nach der Heimat. – Laßt – davon heut nichts! – – –

Aber Flüsse sind sie wirklich, die Straßen. Warum dann nicht gleich ein Boot? Ist es nicht auf den Fenngräben soviel näher bis Avetoft? Hört man sie nicht bereits? Die blauen Waldhörner, die silbernen Flöten und das sündhaft süße Girren der Violinen? Ist nicht Silvesterball bei Herrn Etatsrat Krogh? Wo es den glättesten Fußboden gibt, die feurigsten Weine, und die vornehmsten Kavaliere aus Schleswig und Kiel und bis aus Kopenhagen? War es nicht auf Avetoft, wo vor soviel Jahren die Haustochter im Tanz für tot auf die Erde fiel und hernach eines Herzogs Gemahlin wurde?

Ja, und die Schattenspiele! Die Scharaden, die Duette zur Harfe, und wie Kaptän Söderholm und Ebba von Destinon die Balkonszene darstellten . . . . Romeo und Julia . . . »Es war die Nachtigall und nicht die Lerche . . .« Weißt du noch, Arne?

Dies aber weiß er nun wirklich. Hatte nicht sein großer Bruder Boje ihn hoch auf den Arm gehoben? Damals vor dem Gefängnis in Rendsburg: »Sieh ihn dir an,« sagte Boje, »schrei Heil!« Alle Menschen schrien, schwenkten mit Tüchern und warfen Blumen. Und dieser blasse, hohe, harte Mann, der aus dem Gefängnis trat, und so empfangen wurde, war Uve Lornsen.

»Schleswig-Holstein stammverwandt«, fängt Klaus an zu summen bei dieser Geschichte. Wie jedesmal.

»Wanke nicht, mein Vaterland!« bricht stürmisch ein der Chorus der sieben Raben. Alle stehn auf, die Großen und die Kleinen. Sie erheben die Gläser. Sie grüßen die Heimat.

Einen Augenblick ist Schweigen. Nun sieht man, wie klein schon die Lichter des Baumes geworden sind. Man muß aufpassen. Es riecht schon köstlich nach »Baum«. Blaue Qualmsäulchen züngeln über dem schuppigen Gold kleiner, eilender Drachen. – Bald gibt er alles her, der Baum: Glanz und Pracht und süßen Segen. Bald soll er geplündert werden.

Wie spät? Wie spät? – Zehn Uhr? – Jetzt ist Lüttes Hahn an der Reihe. Bei wem er zuerst pickt, der sieht seinen Zukünftigen in diesem Jahr! »Mein' Süße!« Klaus klingt mit seinem Glas an Elsalills, Elsalill sieht ihn an voll Liebe. Von dem feurigen Glase ist ein zarter Schein auf ihren Wangen.

»Vinz!« ruft Klaus. »Mein alter Jung! – Heut siehst du es nun!« Ja, wirklich. Er sieht es. Er kommt mit seinem Glase dem von Klaus entgegen, dann grüßt er ebenso Elsalills.

Wie Vinzenz und Elsalill sich gegenüberstehen, Auge in Auge, erschrickt Vinzenz plötzlich. Was geht in ihm vor? Elsalill sieht ihn an. Staunend. Was geschieht?

Ohne daß jemand es bemerkt, erhebt sich plötzlich Thor unter seinem Fell. Steif, langsam, gesenkten Kopfes steigt er quer durch den Saal. Als ob er blind wäre, tastet er sich durch zwischen Klaus und Elsalill. Klaus muß zur Seite treten. Vinzenz und Elsalill stehn einen Augenblick allein unter dem sternenden Lüster. –

Es ist soviel Erregung im Saal; Lütte bringt ihren Hahn. Niemand hat acht auf Thor. Selbst Klaus ist es nicht ins Bewußtsein getreten, daß er nicht mehr neben Elsalill steht.

Die Kinder haben sich bereits mit gekreuzten Beinen à la turque im Kreise niedergelassen. Lütte geht aufgeregt mit einer Hafertüte von einem zum andern und teilt aus. Auf welches Häuschen wird er sich zuerst stürzen, der Hahn?

Er ist sehr groß, schneeweiß, mit einem herrlichen Kamm. Er heißt Sleipnir, und schüttelt die Flügel. Die Menschen erregen ihn. Die Lichter, die ungewohnte Stunde der Vorstellung. Er kräht laut.

Man jubelt.

Er sieht sich im Kreise um. Wohin ist er geraten? Kein Harem demütig ergebner Frauen. Keine Leiter, die zu seinem chez-soi benutzt werden könnte. Und wenn er scharrt, kein kleinster Wurm. – Da tut der Hahn, was jeder andere Hahn an seiner Stelle ebenfalls getan hätte.

Der Jubel schwillt.

»Chotte Dochen!« Näh-Tine hupft ellenhoch. Mit beiden Händen an der obersten Mütze, eilt sie nach Schaufel und Bürste. Näh-Tine ist zu allen Festen bei Lotte. Alle, auch Jaspersens Mädchen, feiern bei Punsch und Füertangbowle in der warmen, behaglichen Leutestube. Jetzt stehn sie, samt ihren Soldaten, hochrot und feierlich vergnügt an der Saaltür, den Hahn zu erleben.

Also, klein Inga! Von ihrem Körnerhäuschen pickte der Hahn zuerst! Denkt doch nur! Nein, dieses Gelächter! Aber nun ist es auch höchste Zeit. Man reicht sie herum wie einen Ball, schlaftrunken, mit offnem Mäulchen. Auch Sleipnir wird abgeführt. Die Mädchen sind wieder in der Leutestube.

Plötzlich taucht der Kopf von Thor unter dem Sopha auf. Er zieht den Körper schwerfällig. Steht wieder mit diesem elenden Gesichtsausdruck, heult lang und dumpf. »Bist krank, mein Thor?« Elsalill nimmt den Hund in die Arme. Mit einem seltsam menschlichen, gequälten Ausdruck sieht er sie an.

»Schickt ja morgen nach Tierarzt Jansen.« Justizrat Andersen lockt den Hund. »Komm her, mein Jung!« Aber Thor schnappt plötzlich mit bösem, funkelndem Blick. Er macht seinen großen, prachtvollen Körper ganz klein und kriecht wieder unter den Flügel.

»Gott, ist Thor verrückt!« sagt Arne. »Ich glaube, er wollte schnappen, nach Großvater!«

Großmutter Andersen hat inzwischen klein Inga zu Bett gebracht. Als sie wieder eintritt, ist das Bleigießen in vollem Gange: Blumen, Herzen, Kirchen, Schlüssel, Schiffe. Tante Gemiele weiß alles zu deuten. Mit ihrer so eigentümlich knochenlosen Hand, mit den zurückgebogenen oberen Fingergliedern hebt sie die verworrenen Knäulchen dicht unter ihr linkes Brillenglas. Sofort ist die Sache vollkommen klar.

Vinzenz hat eine Flinte gegossen! – Aber natürlich. Ebenso wie Arne, der auf See will, einen Anker, und die kluge Lütte die Eule. Elsalills Schicksal sieht aus wie eine Burg mit einem dicken Turm.

»Also ihr werdet mich besuchen kommen dieses Jahr!« sagt Vinzenz. Der einsame Turm auf der Bergklinge steht vor ihm. Ihn friert plötzlich. »Und Klaus?«

»Klaus geht zu Maskenball!« sagt langsam Gemahle.

»Zu Maskenball? Laß sehn!« Aber wie sie von Tante Male lachend Beweis verlangen, ist nichts zu finden. Gar nichts! Wiewohl mit Obstmessern in Sopharitzen gespürt wird und in den Potpourrivasen auf den kleinen chinesischen Tischen, in deren Nähe die alte Dame wirklich nicht gekommen ist.

Aber Tante Male, die sechsundachtzigjährige, kerzengerade Greisin, denkt: Sucht, sucht! Und irgend etwas bedrängt ihr das Herz bei diesen Gedanken. Sie hat das Klümpchen, das Klaus gegossen, und das sie eine Maske genannt, ganz schnell in ihrer Tasche verborgen. Es sieht vollkommen aus wie ein Totenkopf. – – – Nun – da man Klaus nichts beweisen konnte – die sieben Raben pellen Nußschalen aus für die gelben wächsernen Kerzchen mit süßem Sommergeruch.

Aber – wie sonderbar! Kaum hat man die kleine Flotte in die zinnerne Schüssel gesetzt und einzeln benannt, als schon das Schiffchen von Klaus ruhig und ohne Aufenthalt aus dem Kreise ausscheidet.

Die sieben Raben lachen. »Klaus hat den Bock, Elsalill!«

Elsalill, Vinzenz, alle die andern Schiffchen scheinen sich auf den Weg begeben zu wollen, dem Spielverderber hinterdrein. Aber ehe sie ihn erreichen – . . . Nein! – Die kleine, gelbe Kerze in der Nußschale von Klaus bückt sich, fährt auf, bückt sich wieder – ganz klein – ganz hilflos. –

»Unsinn!« sagt Tante Gemahle mit ihrer tiefen, guten Stimme. »Wenn ihr nun Wasser auf die Kerzchen tropft!« Und – eh man begreift – huii – it! Ihr lieber, feiner, faltiger Mund hat alle Kerzlein ausgeblasen.

»Jung! Klaus!« sagt Lütte, als ob ihm etwas vorzuwerfen wäre. Aber irgendein Betretenes ist in der Kinderstimme.

»Mein Klaus!« Elsalills Augenbrauen ziehn sich merkwürdig hoch. Sie sieht sich fragend im Kreise um, bis ihr Blick Frau Andersens begegnet. Sie läuft hin und küßt sie. Frau Andersen scheint nicht betroffen. »Mein Elsalill!« sagt sie liebevoll neckend. »Ja, paß du nur auf! Klaus ist so einer!«

Alle müssen lachen. Daß Klaus so einer ist! Klaus und Elsalill sehn sich einen Augenblick an. Lachend, zärtlicher Frage.

»Man muß die Gläser füllen!« ruft Klaus im nächsten Augenblick.

»Sind neue Kerzen am Baum?«

»Ja, nun wird es gleich zwölf schlagen.

Der Baum wird angesteckt. Das Licht des sterbenden Jahres, ganz klein und winzig geworden auf seinem silbernen Schaft, gehört vor die Verandatür. Sogleich! – Die Herren haben ihre Uhren herausgenommen. Man wartet. – Lautlos. – Jetzt!

Die Lütte tut die Verandatür voneinander. Im scharfen Luftzug von draußen erlischt das ganz klein gewordene Licht, wie es soll. Das Jahr erlischt. Vom Turm herüber klingt es – anders als sonst – tief, dunkel, geheimnisvoll: Mitternacht! –

»Leb nun wohl, altes Jahr . . .«

Tante Male, die Älteste der Familie, sitzt am Flügel. So ist es Brauch von immer her.

»Heimat,« denkt Vinzenz, wie sie alle stehend dem alten Jahr den Abschied singen.

Elsalill steht wieder unter dem Lüster. Hoch, weiß, den lichten Kopf unter dem rot übertropften Kranz ein wenig zurückgeworfen. Den hellen Blick in Fernen.

Vinzenz will es nicht. Er wehrt sich. Wie vorhin. Aber diesmal ist es stärker als er. Etwas überfällt ihn wie bei Tante Ragnar, beugt ihm den Kopf zu Elsalill hin. Er weiß nicht, ist es seine Seele? Oder ist es sein Blut? Und wie neulich kommt über Elsalill diese Veränderung. Sie regt sich nicht. Aber ihre Augen werden dunkel, durchsichtig, tief und grün wie das Meer. Sie kommen zurück aus Fernen. Sie erkennen . . .

In diesem Augenblick geschieht es. Thor – ob Tante Male ihn bei den Pedalen gestoßen hat, – fährt wie ein Rasender unter dem Flügel hervor, fletscht die Zähne, heult, dreht sich um sich selbst, peitscht mit der Rute den Boden, geifert, schnappt nach jeder Hand, die sich ihm entgegenstreckt, bis es Klaus und Vinzenz gelingt. Sie greifen ihn fest am Halsband und Nackenfell. So schleppen sie den sich wütend Wehrenden aus dem Sternensaal.

»Gott, ist Thor verrückt!« sagt Arne in das plötzliche Schweigen. . . . »Wir haben nicht einmal Prosit Neujahr gerufen.«

»Kommt noch alles, mein Jung!« Deichgraf Jeß wendet sich zu seiner Frau: »Mit Tierarzt Janssen wird das hohe Zeit, scheint mir!«

Tante Male tröstet Elsalill. Thor steht Elsalill nah wie ein Freund.

Klaus und Vinzenz kommen zurück. Sie wirken seltsam betreten. Aber sie wollen es nicht Wort haben. Thor liegt im alten Pferdestall. Er habe alles und sei ganz still.

»Er wird frieren! Die kalte Nacht!« Elsalill drängt hinaus.

»Nein, nein!« Sie haben ihn zugedeckt. Sie beruhigen Elsalill. Man muß doch anstoßen! –

Ehe sie sich verabschieden, flüstert Klaus Deichgraf Jeß etwas zu. Der Deichgraf sieht betroffen aus. Aber er bezwingt sogleich sein Gesicht.

»Süße!« sagt Klaus zu Elsalill. »Mein' Herzenssüße!« Er küßt Elsalill in der dunklen Veranda, wie er sie noch nie geküßt hat. –

Draußen steht Vinzenz und wartet auf den Freund. Er hat Elsalills Augen vor sich, wie sie dunkel, durchsichtig, grün und tief werden wie das Meer.

Er zittert vom Scheitel bis zur Sohle.


O ihr Tage des wachsenden Lichts! Der kochenden, drängenden Säfte, die ihr das Blut so unruhvoll macht!

Noch liegt der Schnee; weiß, glitzernd, unermeßlich dehnt sich die leere Marsch; wie stumpfes Glas knirschen die eisbedeckten Flächen der Watten in die Unendlichkeit. Aber der Sturm peitscht die Wolken am Himmel hin und wieder. Grelle Lichter und Dunkelheiten wechseln miteinander. Wo die heimlichen Wattströme ihren Weg erzwingen, dröhnt es wohl plötzlich wie ein Böllerschuß. Dann klafft eine Spalte und raucht. Langbeinige Reiher stellen sich daneben, schauderhaft anzusehen im Nebel. Wie Männer in schwarzen Mänteln. Mit ihren Schnäbeln wie Spieße warten sie auf ihre Beute, die Fische. Nur noch drei Tage sind hin, bis die Sonne ihren Hirschensprung am Himmel herauf tut. Drei Tage sind hin, bis Mariä Lichtmeß.

Andersens, Elsalills Eltern, Elsalill und Vinzenz, der dazugehört wie ein ältester Sohn, haben im Jeßschen Wohnzimmer alles beraten. Klaus liegt nebenan im Arbeitszimmer des Deichgrafen auf dem breiten Ruhebette. Er ist wieder nach einer dieser sonderbaren Erregungen um nichts in düstre Teilnahmslosigkeit verfallen; meist geht sie über in einen todtiefen Schlaf. Seit einer Woche hat Klaus diesen beängstigenden Zustand.

Dr. Boye, der alte Hausarzt, schiebt es immer auf die starke Erkältung, und alles, was damit zusammenhing. Vor drei Wochen war die ganze Jugend der kleinen Stadt zum Boseln bis nach Südfall, der Hallig mit dem einzigen Haus. Die glatte Bahn lockte zu sehr. Nicht oft stand das Eis in dieser Weise an der Westküste. Sie hatten einen märchenhaften Nachmittag verlebt. Schon fast wieder an Land, war Klaus über das Bett eines Wattstroms geraten, eingebrochen und bis an die Schultern versunken. Es hatte eine Weile gebraucht, bis er sich mit Hilfe von Vinzenz, der als Erster herbeischoß, wieder herausarbeitete. Damit fing es an. – Nun sind die Erkältungserscheinungen längst beseitigt. So ein Hüne wie Klaus nimmt wohl auch eine Lungenentzündung auf die leichte Achsel. Und daß seine Nerven durch diese Sache so angegriffen sein sollten? Niemand, der Klaus kennt, kann es sich vorstellen.

Seiner Hochzeit erwähnt Klaus niemals. Dieses so nah herangerückte und ihn am nächsten angehende Ereignis scheint seinen Gedanken entglitten zu sein.

»Die Maske!« denkt Tante Male, wie sie bei ihm sitzt. »Der Totenkopf!« Sie ist mit Miele bereits seit ein paar Tagen anwesend zur Hochzeit. Sie hat wieder dieses seltsame Ding aus Blei vor Augen, das Klaus goß am Altjahrsabend, und das sie in ihre Tasche versteckte. – Ihr lieber, alter Faltenmund lächelt Klaus zu, während ihr Herz schwer ist wie ein Klumpen. Dies wäre Klaus? Dieses düstre Gesicht wie in Gram versteint?

Klaus liebt es nicht, wenn man sich mit ihm beschäftigt. Selbst Elsalill weist er fort. Dann wieder überfällt er sie mit durstiger Zärtlichkeit. Nie hat sie dergleichen an ihm gekannt. Es entsetzt sie.

Der Einzige, der Klaus wohlzutun scheint, ist Vinzenz. Er kann ihn beruhigen, wenn er um ein Nichts in heftigsten Zorn gerät. Er fügt sich seinen Anordnungen, und ihm gegenüber erweicht sich die Starre seines Gesichts.

Nur einmal wütete Klaus selbst gegen seinen Freund. Gestern, als der fremde Nervenarzt im Hause war. Vinzenz hat den eben nach Kiel berufenen, in der Gegend noch unbekannten Professor als einen Literaten und Freund von ihm eingeführt, um eine möglichst harmlose Beobachtung zu ermöglichen. Aber selbst die Rücksicht auf Vinzenz hat Klaus nicht vermocht, dem Fremden die geringste Höflichkeit zu erweisen. »Er begriffe nicht, wie Vinzenz so widerwärtige Freunde haben könne. Ein Hornochse sei er außerdem.« Die Situation war kaum haltbar. Der Psychiater stand drei Schritt entfernt.

Dem berühmten Mann stieg ein feines Rot unter die Stirnhaut. Seine schmalen, schwingungslosen Lippen schlossen sich zur Linie: Ein Nervenkranker allerdings . . . Über mangelnde Sympathie hätte er sich mit einem nachsichtigen Lächeln hinweggesetzt. Aber ein derartiges Rütteln am Genius . . . Nun – eine Nervenheilanstalt würde wohl das beste sein. Wenn man sich noch nicht dazu entschließen könnte . . . Er verschrieb einige Mittel zur Beruhigung sowohl wie zur Anregung. Von der Hochzeit müsse natürlich zunächst – abgesehen werden.

»Jetzt werdet ihr mich Wohl bald in eine Irrenanstalt sperren,« schnaubte Klaus, als der Professor das Haus verlassen hatte. »Wenn mich der famose Mann nicht fordern läßt, hat er wohl seine Gründe!« Er hieb die Faust auf den Tisch. – Dies war gestern.

Frau Deichgraf Jeß hat heut den ganzen Morgen am Schreibtisch gesessen und alle Geladenen benachrichtigt: Elsalills Hochzeit mit Klaus muß hinausgeschoben werden. Klaus ist erkrankt. – Näh-Tine springt in die Höh auf ihrem Kinderstühlchen und faßt an die oberste Mütze. Sie hilft Lotte Korinthen auslesen: Eine Hochzeit aufschieben! . . . Wenn das gut tut! . . .

Ach, dies ist es nicht! Daran hängt wohl nicht eines Menschen Glück, daß man ein paar Wochen darauf wartet! Was tut es, daß der Pfarrer, die Gäste, die Musik, die Kochfrau, die Gärtner sich anders einrichten müssen! Die Freunde und Freundinnen, die seit Wochen für den Polterabend üben, werden wohl warten können. Die Schlachter, Fischhändler und Gemüsefrauen, der Rahm für das Eis, die Austern aus den neu angelegten Bassins der kleinen Seestadt können abbestellt werden, und für Hamburg und Kottbus, die Kalkuten betreffend und die Baumkuchen, gibt es die Telegraphie. Alles, was Lotte vorbereitet hat, seit Wochen – nun, was sich nicht aufbewahren läßt, kann man im Hause verbrauchen. Hotels sind nicht zu benachrichtigen. Gott sei Dank. Klaus und Elsalill wollten ihre Hochzeitsreise später einmal machen. Jetzt wollten sie zunächst hinaus auf Onkel Gerritts Hof. In dieses liebe, alte, heimliche Haus, hinter die gekappten Linden gestreckt, im Schutz seiner Pferdeköpfe.

Ja, viel Liebe, Sorgfalt und Geschmack hat bequemen, lichten und neuen Hausrat altem, ehrwürdig schweren eingegliedert! Nirgend erscheint ein Bruch in der Tradition! Seht nur diese gesättigten, reichen Töne der Diele mit den geschnitzten Schränken und Anrichten aus alter Eiche, Sylter Arbeit, Wandbehänge und Stuhlkissen an heimischen Webstühlen nach alten Mustern hergestellt! Kupfer und Zinn auf den Wandborten!

Oder wenn man einen Blick in Elsalills Morgenzimmer tut! Zu Süden hin! Soviel Licht über den alten Kirschbaummöbeln, den kolorierten englischen Kupferstichen, den Porzellanen in der Glasservante und über all den hellen Zimmerlinden, Azaleen, Maiglöckchen und Primeln!

O, Trina, die Onkel Gerritt während der letzten Jahre den Haushalt führte. wird schon gießen und zudecken und bohnern und abstäuben und alles wie ein Schmuckkästchen halten! Einmal wird ja unter dem »Willkommen« im Tannenkranz die junge Herrschaft stehn. Nein, dies alles ist es doch wohl nicht.

Elsalill setzt die Tassen vom Nachmittagskaffee auf die Anrichte. Frau Jeß mußte ins Schloß hinüber, obgleich sie ihr Haus nur in Ängsten verläßt, wenn Klaus da ist. Aber man sorgt ernstlich um die alten Herrschaften drüben.

Der Deichgraf hat sich sogleich wieder an den Schreibtisch begeben. Er sitzt mit aufgestützter Hand, sekundenlang. In den hellen, klugen, idealistischen Augen eine schmerzliche Frage. Elsalill, sein Liebling! Und Klaus, ihm wert wie ein Sohn!

Aber als neu erwählter Oberdeichgraf kommt er kaum zur Besinnung. Sein Vorgänger hat unverantwortlich regiert. In mehr als einem Revier sind die Bestickungsarbeiten vernachlässigt worden. Hunderte von Karren Klei sind notwendig, um die ausgewühlte Dossierung wieder glatt zu bekommen. Hier sind die Sielen reparaturbedürftig. Dort wird eine Schleusentür morsch. Tagelang ist der Deichgraf unterwegs. Daheim braucht er dann die Nächte zur Nachprüfung der Deich- und Sielrechnungen.

»Chotte Dochen!« Näh-Tine, beide Hände an der obersten Mütze, steckt ihren Kopf durch den Türspalt ins Wohnzimmer: »Olsen-Großmutter geht zu sterben! Sie schickt nach Fräulein Elsalill!«

Elsalills Tassen klirren leicht gegeneinander. »Bringst du mich bis zu Olsens?« Sie spricht zu Klaus gewendet. Ihre Stimme ist tiefer geworden in den letzten Tagen. In der Mitte ihrer Sätze ist immer ein leichtes Beben.

»Wohin gehst du?«

Klaus hat gar nichts gehört von Näh-Tine. Aber auch seine Frage klingt teilnahmslos. Elsalill fühlt, wie jetzt immer, wenn sie mit Klaus spricht, eine fremde Kühle zwischen den Schultern. Sie erklärt ihm.

»Vinzenz geht mit dir!« – Klaus starrt vor sich hin.

»Und du?«

»Ich?« Klaus scheint zu erwachen. Er sieht sich verstört im Zimmer um.

»O Klaus, Klaus!« Elsalill läuft zu ihm hin. Sie faßt seinen Kopf in die Arme. Ihre Augen, jäh dunkel geworden, fliehen zu Vinzenz. »Was fehlt dir doch nur, mein Klaus?« Sie herzt ihn wie ein Kind.

Klaus macht sich los von ihren Armen. »Dumm Tüch!« Er versucht zu scherzen. »Ich weiß nicht, was los ist!! Gewöhne mir wohl an und steige mit dem verkehrten Fuß aus dem Bett!« Er sieht verwirrter Frage und mit dem Schemen eines Lächelns von Elsalill zu Vinzenz. »Verzeiht nur!« –

Aber schon ist das geisterhafte Lächeln wieder völlig verblaßt. Die Düsterheit, die ihn so fremd und unbegreiflich für die Seinen macht, hat sein helles Gesicht schon wieder wie mit einer Maske bedeckt.

»Hast dir einen Rechten ausgesucht!« Er lacht plötzlich.

Dies ist das erstemal, daß Klaus wieder Bezug nimmt auf ihre Zusammengehörigkeit. Elsalill schreckt auf.

»Fürchtest dich wohl vor mir!« Klaus schreit. Er zittert an allen Gliedern. Seine eingesunkenen Augen brennen. Er zieht sich langsam vom Stuhl in die Höh'.

»O Klaus!« Sie stehn einander gegenüber. Auge in Auge. Plötzlich reißt Klaus Elsalill zu sich hin.

Sie errötet, dunkel wie der Himmel dieses Landes. Klaus küßt Elsalills Gesicht und Hals in dieser durstigen Art. Sie wagt nicht, sich zu rühren. Ihr Kopf liegt in ihrem Nacken, wie eine vom Sturm abgebrochene Blume.

»Deine Kehle!« murmelt Klaus! »Deine weiße Kehle!«

Elsalill versteht ihn nicht. Sie fühlt nur die Verwundungen seiner trocknen, fiebernden Lippen.

Vinzenz steht abgewendet. Beschäftigt er sich mit den Hyazinthen? »Klaus,« ruft er plötzlich, »Elsalill! Seht doch! Schnell!«

Klaus läßt Elsalill los, hastig. Sie stürzt fast. Aber schon steht Vinzenz neben ihr. Sein Arm stetigt ihr Taumeln, ohne daß sie darum gewahr wird. »Bub,« sagt Vinzenz, »wilder Bub!« Er legt Klaus die Hand auf die Schulter und sieht ihn fest und freundlich an. Das Gesicht von Klaus färbt sich.

»Ja!« sagt er. »Ach ja!« Er vermeidet Elsalills Augen. Der Gram verschattet ihn wieder.

»Was war es doch?« fragt er mühsam. »Was sollte da sein?«

»Ach« – Vinzenz führt ihn an der Hand zum Fenster, – »es war – . . . es ist vorbei,« sagt er.

»O so.« Klaus wundert sich gar nicht, noch fragt er, was in dieser Sekunde vorbeigegangen sein könne. Er sieht aus, als ob er wirklich kein weiteres Interesse aufzubringen vermöchte. Er kehrt sich ab und geht zur Verandatür.

»Wirst du mich nicht begleiten?« Elsalill steht noch auf demselben Fleck, wo Vinzenz sie stützte. Ihre schmerzhafte, inbrünstige Stimme will noch einmal hoffen. »Nein,« sagt Klaus. »Ich bin sehr müde, ich bin nicht in Schick. Vinz, du geh' mit.« – Er öffnet die Tür, greift mit langem Arm heraus, kommt zurück mit dem Hut in einer sonderbar schlürfenden Art, als ob es ihm schwer würde, und geht ohne Abschiedswort durch die Veranda.

Elsalill starrt ihm nach. Sie hebt leicht die Hände hinter ihm her. »Klaus!« Ihre Stimme ist wie die eines geängstigten Kindes.

»Laßt mich doch nur in Frieden!« ruft Klaus plötzlich außer sich. Er schlägt die Verandatür zu und rennt immer in derselben mühseligen Art, als ob sein Rückgrat taub wäre, herunter zu der alten Linde, in der sie als Kinder ihre Nester gebaut hatten, wie Vögel. – Er umfaßt mit den Armen einen der mächtigen, tiefen, hängenden Zweige. Man sieht nicht, will er sich hinaufschwingen? Man sieht nur seine langen Beine durch die Luft schlagen. – Plötzlich scheint er abzufallen. Wie eine Frucht.

Elsalill gleitet wie ein weißes Gespenst durch die Stube. Sie reißt die Verandatür auf, und mit Vinzenz fliegt sie zur Linde. Klaus ist schon aufgestanden. In der mühseligen Art von vorhin. Das Gesicht verschrammt, mit verworrenen Haaren und beschmutzt kommt er zurück. »Mußt nicht traurig sein.« Seine Stimme bittet Elsalill. »Ich mein kein Böses.«

»Klaus, ich bleibe bei dir!« Sie wirft die Arme um seinen Hals.

Einen Augenblick sieht Klaus sie an wie früher. Zärtlich. Wiewohl kummervoll. Aber schon wieder erscheint dieses Flackrige in seinen Augen. »Geh' doch nur!« knirscht er. »Vinz, so halt sie doch!« Er wirft Elsalill Vinzenz hin wie ein Ding. – Er stürmt durch den Garten ins weiße Kavalierhaus.

Frau Andersen kommt von der Hofseite her. »Ist Klaus nicht hier?« Sie bricht in Tränen aus. Sie hat die Jacke ihrer Kieler Tochter, Weihnachten von ihr vergessen, versehentlich angezogen. Sie kann sie nicht zuknöpfen über ihrer stattlichen Gestalt. Sie sieht verwachsen und elend aus. – »Klaus – . . .«

Elsalill macht ihre Stimme ganz fest und ruhig. Sie streichelt das weinende Gesicht, das dem von Klaus jeden Zug geliehen hat. »Klaus kommt! Es wird alles wieder gut werden! – Wieder gut! – Wieder gut!« Sie wiederholt eintönig, abwesend und wie man ein Kind tröstet. – Dabei hört sie fortwährend jemand sagen: »Aber kleine Hella!« – –

»Wir sollten Klaus vielleicht doch nicht allein drüben lassen.« Vinzenz tritt herzu.

Die alte Dame schreckt auf. »Nein, nein! Er schläft so unruhig, und sein Atem keucht so sonderbar.« Sie sieht geängstigt von einem zum andern. – »Er hatte sich ja auch zu doll erkältet, neulich, als ihr zum Boseln gingt,« sagt sie schnell, wie man sich beruhigende Geschichten erzählt. »Mein fröhlicher Klaus!« ruft sie plötzlich laut und schmerzlich. –

»Chotte Dochen!« Näh-Tine, mit beiden Händen an der dritten Mütze, steckt wieder den Kopf durch den Türspalt. »Fräulein Elsalill – Olsen-Großmutter geht doch zu sterben. Hat schon wieder geschickt nach Fräulein Elsalill!«

Elsalill sieht verzweifelt auf Vinzenz. »Was soll ich tun?« murmelt sie. »Was soll ich tun?«

»Ich bringe Sie hin,« sagt Vinzenz ruhig. »Mama Andersen geht inzwischen zu Klaus herüber. Ich warte unten vor Olsens Wirtschaft auf Elsalill. Sobald etwas mit Klaus Sie ängstigt, lassen Sie mich rufen!« Er redet mit Frau Andersen wie ein Sohn. Frau Andersen schluchzt trocken.

Er bringt sie durch den Garten, während Elsalill sich anzieht. Der Sturm rast in den Bäumen. Plötzlich gibt es einen ungeheuren Krach. Als ob der Himmel einstürzt. Vinzenz sieht auf und reißt Frau Andersen vorwärts, daß sie meint, sie flöge. Hinter ihnen prasselt und rauscht es. Als sie zu fliegen aufhört, sieht sie sich entsetzt um. Der Ast der Linde, auf dem Klaus und Elsalill ihr Kindernest gebaut haben, ist heruntergebrochen. –

»Nicht, Mamachen! Nicht!« Vinzenz legt Frau Andersens zuckenden Arm auf den seinen. Er bringt sie bis zur Haustür und wartet, bis er weiß, sie ist in der Nähe von Klaus. Während er dann mit langen Schritten zurückgeht zu Elsalill, stürzen seine Gedanken wie Wasser über ein Wehr. »Nervendepression?« So nennt es der hiesige gute alte Doktor Boye. Woher aber so urplötzlich? Keinerlei Gemütsbewegung ging voran.

Aber auch die Kieler Kapazität hat sich nicht ausgekannt. Und außerdem: Ist Sympathie eines Nervenkranken für seinen Arzt nicht soviel wie alles? Ein anderer Spezialist muß konsultiert werden. In München – Vaihinger – jeder redet jetzt von Vaihinger.

Ja, mein Gott – das ist es vielleicht überhaupt? – Ortswechsel, andres Klima, andre Menschen, Eindrücke! Hat Klaus nicht gestern noch in den heftigsten Reden über das hiesige Wetter sich ausgelassen? Über die Gegend, das Land überhaupt. Vielleicht, wenn man . . . Vinzenz stößt fast auf Elsalill. Sie kommt ihm entgegen durch die Veranda. Fliegend. Noch im Gehn ihren Sturmkragen zusammenknöpfend. »Wenn ich nur schnell wieder zurück könnte, Vinzenz!«

Er ergreift ihre Hand. Wie man ein Kind bei der Hand nimmt. Sie gehn durch den Garten, schnell, schwingend, im Takt. Elsalill wendet sich um. Sie pfeift kurz. Dreimal. »Mein Gott,« sie schreckt zusammen. »Immer vergeß ich wieder. Der arme Thor!« Sie schweigt.

»Ich versteh' es doch niemals,« staunt sie nach einer Weile. »So klug war er. So erzogen. Er neckte kaum je ein Pferd!« Und wieder beschreibt ihr Vinzenz, wie Thor am Altjahrsabend, als sie ihn so mühsam herausschafften, im letzten Moment sich losgerissen hat. Er jagte zum Tor heraus. Als Klaus und Vinzenz kamen, klingelte der Schlitten mit dem hochbeinigen Schwarzschimmel aus Schwesing schon weit unten in der Neustadt. Im Schnee lag Thor, alle Vier starr von sich gereckt. Sein Kopf hatte eine klaffende Wunde, wie von einem Pferdeeisen.

»Nein,« sagt Elsalill plötzlich – »es fing schon vorher an. Wenigstens immer scheint es mir so. Den Abend am Deich damals. Als wir uns zuerst begegneten . . .«

Vinzenz empfindet eine Schwere seiner Zunge. Er will etwas sagen. »Nein, nein, nein!« Elsalill gerät außer sich. Sie weiß gar nicht, was sie so heftig abwehrt. »Ich müßte ja sterben jetzt, wären Sie nicht hier!« Ihre Stimme bricht. Sie weint lautlos, wie damals am Hecktor.

Vinzenz hat Elsalills Hand gefaßt. Sie biegen von der Wasserreihe den Deich herauf. Ihre Finger verschränken sich in die seinen. So gehen sie wie nächste Menschen oder Kinder, die sich die Hände geben. Sie wissen es nicht. Elsalill hat das Gefühl, als hielte sie sich an einem Geländer.

Drüben sieht es aus, als stünde eine riesenhafte Esse in Feuer. Der Himmel ist schwarz und brennt zugleich. Das Watt raucht. Krähen, vom Nebel vergrößert und ungestaltet, taumeln wie verdammte Seelen durch den Brand und stürzen sich in den Rauch und das Brodeln.

»Hier war es!« sagt Elsalill. Sie bleibt sekundenlang stehn und sieht in die Ferne., »Der verlorne Sohn!« denkt Vinzenz. »Ja,« sagt sie gleich, als habe er es ausgesprochen. »Aber hier begegneten wir uns!« Ein Lächeln umgoldet schmerzlich ihren Mund. Vinzenz fühlt die feinen, kalten Finger, den seinen sich fester anschmiegend. »Und hier kam die Lütte und die sieben Raben,« sagte er hastig.

»Ja, ja!« Sie erinnern einander an jede kleinste Kleinigkeit. Sie sprechen davon, wie von Dingen vor hundert Jahren geschehen.

»In drei Tagen ist Mariä Lichtmeß.« Elsalill steht still. »Sie können noch glauben, ich würde die Frau von Klaus?«

»Nicht – auf – Mariä Lichtmeß!«

»Niemals!« sagt Elsalill. »Nie–mals!« – Ihr Gesicht versteint. Sie scheint die Worte nur mit dem Rand ihrer Lippen bilden zu können.

»Ich habe einen Plan.« Vinzenz redet schnell, wie um sein Leben. »Denken Sie doch – Klaus leidet so unter der Witterung hier. Die Menschen stören ihn in seiner Angegriffenheit. – Wenn ich ihn mit zu mir nähme! Wir haben eine so klare Luft bei uns. Er braucht keine Seele zu sehn. Er würde die Influenza ganz loswerden und die Nerven beruhigen. Und er hat mich gern. Wir könnten auf Jagd gehn. Ich will ihn hüten, Elsalill – wie meinen Augapfel!«

»Vinzenz – o Vinzenz!« Elsalill zittert am ganzen Körper. Sie gibt beide Hände in die seinen. – – –

Nun sind sie bei Olsen-Großmutter. Elsalill zögert sekundenlang vor der Tür.

»Ich warte,« sagt Vinzenz.

»Aber, es könnte lange dauern!« –

»Und wenn es dauert bis morgen früh! Nur wenn Klaus uns braucht! Dann . . .«

Elsalill sieht ihn an. Sie fliegt die enge Stiege herauf. Durch den Spalt der Tür dringt bläulicher Rauch und der reine Geruch von verbranntem Wacholder. Sie hatten ihn weit von der Geest geholt, um ihr das Atmen zu erleichtern. Olsen-Großmutter liegt langgestreckt und feierlich in ihrem Bett. Sie hat sich waschen lassen am ganzen Körper und ihr Sterbehemd antun. Zwei Kerzen brennen ihr zu Häupten. Ihr Atem stößt kurz und hörbar. Ihr Sohn und ihre Schwiegertochter sind in der Stube.

»Sie möcht' all sterben, und sie hat's so schwer.« Ole Olsens grobe Stimme geht wunderlich in die Höh' und daneben, im Bemühn, sie zu dämpfen. »Sie hat schon Piet gesehn und Momme!« Die Tränen laufen ihm aus den wasserhellen Augen über die breit ausgeflossenen Backen.

»Elsalill!« sagt Olsen-Großmutter mit starker Stimme. »Da bist du, Elsalill!« Ihr gelbes Auge brennt dunkel, das blaue Auge bittet angstvoll und demütig. Sie winkt mit der langen, dürren, edelgebildeten Hand. Die andern gehen hinaus. Die Stimme versagt ihr wieder.

Elsalill sieht, wie ihre Lippen sich quälen. Sie bückt sich ganz nah zu ihr. Die alte Frau faßt ihre beiden Hände fest und röchelt ihr ein paar Worte ins Ohr.

Elsalill wirft ihren Oberkörper zurück. »Ich kann nicht!« ruft sie laut. »Ich – kann nicht!« Sie befreit ihre Hände von denen von Olsen-Großmutter und sieht mit Augen, schwarz vor Grauen, auf die alte Frau, die ganz klein in ihrem Bett wird und wie ein Häufchen Asche zusammensinkt.

Aber dieses winzige Häufchen scheint plötzlich hoch aufgebläht und hingeschleudert, und wieder und noch einmal. Die Hände krampfen sich ineinander wie Krallen. Das gelbe Auge glüht wie dunkler Zunder, und das blaue weint bitterlich. –

Elsalill stürzt in die Knie, neben dem Bett: »Gott,« ruft sie, »lieber Gott!« Die vor der Tür fangen an zu schluchzen. »Sie kann nicht sterben, wenn nicht jemand die Gabe von ihr nimmt!« Ole Olsen jammert wie ein Kind. Aber plötzlich hören sie Elsalill beten. Laut, inbrünstig. »Vater unser, der du bist im Himmel . . .« Ihre Stimme schwillt. Es ist, als müsse sie die ganze Menschheit losbeten.

»Aus tiefer Not schrei ich zu dir.« fährt Elsalill fort, als das Amen noch zögert auf ihrem Munde. »Jesus, meine Zuversicht,« schlingt sich hinein, ein starkes, inbrünstiges Lied in das andere, ohne Zögern, ohne Besinnen.

Eine volle Stunde stehen Ole Olsen und seine Frau draußen vor der Tür mit gefalteten Händen. Sie hören Elsalill beten. Nun spricht sie das Glaubensbekenntnis. Beschwörend. Jeden Satz schleudert sie hin, wie einem grimmigen Wolf einen Stein, an dem er machtlos seine Zähne verbleckt. – »Amen! –« sagt Elsalill. Stark, triumphierend. Und noch einmal »Amen!« Ganz zärtlich und sanft. Dann ist alles still.

Als die draußen nach einer Weile hereintreten, kniet Elsalill noch immer neben dem Bett. Sie hält den grausträhnigen Kopf der alten Frau barmherzig in ihren Armen. Das blaue Auge ist geschlossen, und das gelbe. Ein Ausdruck erhabenen Friedens liegt auf dem Gesicht. – – –

Als Elsalill herunterkommt, steht Vinzenz vor der Tür. Nein, man hat sie nicht rufen lassen.

Es ist dunkel geworden. Vinzenz nimmt Elsalills Arm. Er legt ihn sanft auf den seinen. Sie gehn hinten herum, wie vorhin, am Kirchhof entlang. Sie sprechen kaum.

Als sie zum weißen Kavalierhaus kommen, sagen die Mädchen, Frau Justizrat und Herr Klaus wären drüben.

Sie gehen durch die Gärten zu Jeß'. Aber auch das Jeßsche Haus zeigt keinen Lampenschimmer.

»Wie ungeheuer es ist,« sagt Elsalill leise. »So dunkel und so schwer!« Hat sie es jemals so erblickt? – Sie seufzt. Aber als sie durch die Veranda ins Wohnzimmer kommen, sind alle dort beisammen. Elsalills Eltern, Frau Andersen und Klaus. Im Dämmer kann man sie eben noch erkennen. Klaus habe Kopfschmerzen, das Licht täte ihm weh.

Elsalill geht wie in zwei Welten.

Klaus sitzt am Fenster, wo er sonst nicht zu sitzen pflegt. »Kommst du?« fragt Elsalill banger Zärtlichkeit. Sie hat ein kleines grünes Ecksofa im Sinn unter der Büste der kapitolinischen Venus.

Klaus scheint beruhigt und sanft. Er legt Elsalill den Arm um die Schultern. Sie gehn zu ihrem gewohnten Platz. Sie setzen sich, aneinandergelegt. Es sieht aus wie in alter Zeit. Aber es ist doch: wie über dem Eise. Drunten ist schwerer, grüner, eiskalter Tod.

Sie bleiben im Dämmer. Von dem einen, was ihnen allen – außer Klaus – keinen Augenblick aus dem Sinn kommt, kann man nicht sprechen. Aber sprechen muß man. Sie erzählen. Als könne – das Entsetzliche – Gestalt nehmen und unter sie treten, wenn man nur einen Augenblick schweigt. Es ist wie geheime Verabredung. Als reichten sie einander die Hände zur Kette. Sie erzählen wie die Königstochter in Tausend und eine Nacht um ihr Leben.

So hört man nicht den ängstlichen, kurzen Atem von Frau Justizrat Andersen. Man hört nicht das Knistern der Kleidfalten, wenn Frau Jeß ihre immer fleißigen oder ruhigen Hände nicht eine Minute in derselben Lage halten kann. Man sieht nicht die schwere Sorge in den klugen, hellen Augen des Deichgrafen, die in dieser Woche tiefer hinter die ausgebuckelte Stirn zurückgezogen scheinen. – Die Hyazinthen duften, die in die Wand eingelassene holländische Schlaguhr tickt. Hei–mat – Hei–mat. – Die Vergangenheit geht durch die Stube und staunt bang und süß hinüber zur Gegenwart. –

Nun ist es ganz finster geworden. Man weiß nur noch an der Stimme, wo jemand sitzt. Lotte, die im Korridor die Lampen stehen sieht. kann nicht begreifen, warum die Herrschaft so lange im Dunkeln bleibt. Sie zündet an. Sie tritt in die Tür. O so. Die weiße Lichtserviette liegt noch nicht über der Ripsdecke des Sofatisches. Lotte stellt die Lampe indessen auf die Spiegelkonsole. Gegenüber dem Ecksofa, wo Klaus und Elsalill sitzen.

Elsalill will aufstehen und die Lampe fortnehmen, damit Klaus nicht geblendet wird.

»Elsalill!« ruft in diesem Augenblick Frau Andersen. Es geht allen durch Mark und Bein. »Elsalill! Bitte! – geh' – bitte, hol' mir doch . . .« Es klingt hilflos verzweifelt. Sie ist aufgestanden. Sie weiß augenscheinlich nicht, was sie will. Alle sehen zu ihr hin, wie sie mit aufgehobenen Händen ein paar schnelle, kurze Schritte zu Klaus und Elsalill tut, dann zum Spiegel, wo noch die Lampe steht. Dann wieder zu Elsalill. »Geh' hinaus! – So geh' doch nur!« Sie stampft mit dem Fuß. Sie schreit fast.

Aber wie sie noch alle ratlos zu ihr hinsehen, kommt Vinzenz aus der entgegengesetzten Zimmerecke mit langen Schritten zu Klaus hinüber.

»Klaus,« ruft Frau Andersen, »o, mein Klaus!« Da sehn die andern plötzlich, wie Klaus seinem Spiegelbild die unsinnigsten und scheußlichsten Grimassen schneidet.

»Klaus!« ruft Frau Andersen noch einmal, während sie Elsalills Gesicht zu sich reißt und an ihrer Brust versteckt.

Aber schon hat Vinzenz mit festen Händen Klaus an den Schultern gefaßt. Er kehrt ihn ab von dem Spiegel. »Bub, Bub!« Er lacht. In seinen Augen ist Güte und Strenge. »Willst wohl zur Bühne gehn und übst!«

Jemand trägt die Lampe mit bebenden Händen hinter einen Wandschirm.

Vinzenz nimmt Klaus fest in den Arm. Er streicht mit der Hand fortwährend über dieses entsetzlich zuckende Gesicht, bis es sich beruhigt und versteint in Gram.

»Hör',« sagt er, »Mamachen Andersen, alle, hören Sie doch!« Man geht unauffällig in das danebenliegende Zimmer des Deichgrafen, wo es keine Spiegel und eine grün verhüllte kleine Schreibtischlampe gibt. Dort, immer Klaus dicht neben sich, entwickelt Vinzenz seinen Reiseplan. –

Klaus nickt ein paarmal. Er sieht vor sich hin. Er bemerkt Elsalill nicht. Sie steht hinter Vinzenz. Ihr ist, ihr altes Leben fließt von ihr fort wie ein Strom. –



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