Friede H. Kraze
Maria am Meer
Friede H. Kraze

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ostern! Ostern!

Noch nicht der Auferstehungsmorgen. Erst noch Karfreitag, wenn die Kirche im Tal schwarz verhangen steht. Die Lichter brennen um den hingegebenen Heilandsleib. Die Nägelmale in Händen und Füßen tropfen rot unter den Lichtern. Die Speerwunde in der Seite, wo Blut und Wasser ausging, fließt neu, und unter den Dornen über der Stirn rinnt es dunkel zusammen. Die ganze Kirche ist in schmerzhafte Nacht gesunken. Nur die Wunden strömen und brennen.

Die alte Balbina ist auch gegangen und hat die armen Füße geküßt und die Hände. Nach ihrem runzligen, zahnlosen Munde beugt sich die seine Apothekersfrau und ihr unschuldweißes Kindlein darüber. So fort, so fort. Küsse und Tränen, gemurmelte Gebete, Grabesdunkel. Aber einmal ist die Nacht überwunden. Tod, wo ist nun dein Stachel? Hölle, wo ist nun dein Sieg?

Da möchte Glocken- und Orgelstrom in der Inbrunst des Jubels den kleinen, weißen Kirchenleib gleich zerreißen. Da will er zerschmelzen in der Flut des Lichts: Kein Altar und kein Bild, das nicht in jungem Laube schwimmt. Da blühen alle Wunden wie Rosen. Da duften sie süßer denn Würznägelein. Wo ist noch der Tod? Wenn einer ihn überwand? Leben bricht auf wie Frühlingskeimen. Ewigkeit dehnt sich wie die helle Weite des Frühlingshimmels. Überwundene Winternacht. Überwundene Schmerzensnacht. Ewige Wiederkehr. Auferstehung. –

Frau Jeß hungert nach Gottesdienst in diesen Tagen. Sie weiß keinen Gründonnerstag ihres Lebens, da sie nicht zum Tisch des Herrn gegangen wäre. Im schwarzseidenen Kleide mit ihrer Familie. Aber die nächste protestantische Kirche ist mehr als fünf Stunden entfernt. Sie könnte nicht hinüber über den Mauerring ihres Bekenntnisses.

Vinzenz ist nach seinem Vater lutherisch getauft. Aber seine Mutter hat zu oft in der Talkirche gekniet. Auch Vinzenz tritt dort ein, wenn er ein Rufen spürt, im Vorbeigehn, beugt ein Knie, erfühlt den Gott, der Geist ist und überall sich schenkt, wo man inbrünstig sein begehrt.

Das hätte Frau Jeß nicht über sich vermocht. Sie hat die alte Bibel von Vinzenz vorgenommen am Ostermorgen. Mit den Messingschlössern, den Bildern und herrlich verzierten Majuskeln. Die Predigten des Meisters Eckehart, seines heimlichsten Freundes, hat Vinzenz ihr auch gebracht. Aber Frau Jeß klappt sie wieder zu. Sie sind ihr zu kühn, zu hemmungslos verwegen. Sie kann nicht auf brausendem Grat sich halten in der Todeinsamkeit, nur die feurigen Bernsteinaugen der Bergadler über sich, ihre klafternden Schwingen, ihre Sonnenschreie. Sie braucht die gesetzte Ordnung, die Straße mit den Meilsteinen, die große, feste, führende Hand.

Elsalill hätte mit Vinzenz wohl in die Talkirche gehen können. Aber nicht heut. Nicht heut. – –

Die alte Balbina trägt ein geweihtes Stück Zunder aus der Kirche herauf. Neue reine Glut soll das gelöschte Herdfeuer entzünden. Das Alte ist vergangen. Siehe, es ist alles neu geworden.

»Wie wir uns begegnen im alten lieben Heidentum,« sagt Elsalill. »Wir haben die Vogelgarbe zu Weihnachten, das kluge Herrgottsvöglein, die Schwalbe. Unsere Störche wissen, wenn ein Haus verbrennt! Ihr habt das Osterfeuer!«

»Und um Mittsommer das Julrad die Berge herunter.« Vinzenz sieht sie glücklich an, als ob man vergessen könnte. »Wir streuen Mehl in den Wind, wenn er gar zu arg tut, wir füttern das Feuer, daß es uns treu bleibt, wir haben die Rauchnächte wie ihr!«

Elsalill hat heut früh gesehn, wie die alte Balbina dem neuen Herdfeuer eine schöne, saftige Schinkenscheibe zu essen gab. »Ja,« sagt Elsalill. »Und dann hat der weiße Christ Mitleid gehabt mit den armen entthronten Göttern und hat ihre Feste und Zeichen und Bräuche übernommen. Nun sind sie tiefer und heiliger dem, der darauf achtet!«

»Dem, der darauf achtet! Ist das nicht das Geheimnis aller Dinge?« denkt Vinzenz.

Sie wandern zu zweit den Grat entlang, dem Hochwald zu. Sie wandern die uralte Heerstraße, die Straße, die alle nordische Sehnsucht kennt! Vinzenz hat sie Elsalill gezeigt: die drei Gnomenschüsselchen. Es sind dünne Goldmünzen mit römischer Prägung. Vom Wurzberger Sepp hat er sie gekauft. Der hat sie zuvor den zähen Wurzelfingern einer steinalten, zottigen Rottanne entwühlt, als die Straße ausgebessert wurde. Anderthalb Jahrtausend haben die blanken Dinger hier oben gelegen.

Nachdem die römischen Legionen aufhörten, kamen die römischen Mönche, die brachten den weißen Christ. Hinwiederum drängten die reisigen Scharen von Norden ins Welschland. Die Maultiere der Fugger und Welser trotteten schwer beladen. Schilde krachten an Harnische auf der Fahrt zum Heiligen Grabe. Südlicher Wohllaut, Farbenglut, Form, Gebundenheit, erdhaft sicheres Beruhen zog zur steilen Inbrunst gotischer Dome diese Straße entlang, Kaiser und Heilige, Krieger und Büßer, Helden und Märtyrer, Liebe und Schuld, Gnade und Verdammnis – alle, alle sind diese Straße gewandert. Stimmen raunen im Hochwald. Schemen umflattern die Gipfel, kühl wie Firnenschnee.

Sie reden über alles dieses, Vinzenz und Elsalill. Dabei denkt Vinzenz die ganze Zeit: Der Wald! Wenn Elsalill in den Wald verlangt!

Zur Rechten steht er dunkelblau. Tief. Nicht mehr der alte geliebte Freund, immer der stumme Mahner: Das bist du. – –

Zur Linken, neben dem metallischen Geblock der Sturzäcker, bauscht der Flaum des Winterkorns, grün wie die Marschfennen. Heut spendet nirgend ruhevoll weiter Schwingung die arbeitsschwielige Hand goldenes Hoffnungskorn. Heut ruhen Pflug und Gespann.

»Horch!« – Sie sind dorthin gelangt, wo eine Geröllhalde sich quer durch den Wald bis an die Straße herunterzieht. Hier springt im März der weiße, tödliche Reiter talwärts. Sie stehen still. Es ist als dröhne im Erdinnern Orkan.

»Der Fluß!« sagt Vinzenz. Derselbe Fluß, der im Tal seinen ellendicken, grünen Glaspanzer zertrümmert hat. Unter ihren Füßen, vom Gefels verdeckt, tost er, ein rauher Alpenbub, den Gletschermilch nährte.

Aber dann ist dennoch die Zeit gekommen. – –

Elsalill trägt beide Hände voll Weiß und Gold. Sie hebt sie leicht. All dies Weiß und Gold will sich erbringen. Da führt Vinzenz Elsalill zu der Stelle. –

Elsalill hat ihre Blumen ausgestreut. Sie steht stumm, die verschränkten Hände still vor dem Schoß.

Vinzenz nimmt aus seiner Brusttasche den Trauring. Er gibt ihn Elsalill: »Klaus küßte ihn zuletzt!« Er sieht zu, wie sie den Ring an die Lippen hebt. Nachher steckt sie ihn an ihre Hand unter den andern.

Elsalill sieht Vinzenz an. Ihre Augen erdunkeln jäh in neuer Angst. Vinzenz nimmt Elsalill bei der Hand, wie man ein Kind bei der Hand nimmt. Elsalills Blick beruhigt sich wieder. »Du Guter!« sagt Elsalill. Sie gehen aus dem Walde.» – – –


Sie wollten Tage bleiben, Frau Jeß und Elsalill. Es wurden Wochen.

»Bleib nur, Mutterchen, bleibt!« schreibt der Deichgraf. »Einmal darfst du den Frühling schon anders feiern als durch Gardinenwaschen und Bohnermasse!« Er schreibt vom Fortgang der Arbeit an der neuen Schleuse, und daß er überdem täglich fast unterwegs sei, die Küste herunter und auf die Inseln, und gar keine Zeit habe für seine Frau. Trotzdem denkt Frau Kora Jeß, er wäre nicht unfroh, wenn sie eines Tages unter der Haustür stünde, nachdem sie seinen Schritt erkannte auf den runden Steinklinkern des Hofes.

Auch wenn sie an die Lütte denkt, an Ferne und Detlev, spürt sie ein leises Ziehen in der Herzgrube. Wenn Vater soviel unterwegs ist, so haben sie nur Lotte und Näh-Tine. Bei Andersens drüben im weißen Kavalierhause ist jetzt nicht der Ort für junge Kinder. Und im Schloß braucht man wahrhaftig auch Hand und Zuspruch. Außerdem aber – der Deichgraf hat ganz recht: Frühling ist nun einmal die Zeit für Seife, Fußbodenöl und Bohnermasse. Wenn es einen auch noch so sehr hinauszieht. Wohin soll eine ordentliche Hausfrau wohl sonst geraten!

Aber, wenn Frau Jeß dann sieht, wie Elsalills Wangen sich leise röten, und wie ihren Augen der Glanz wiederkehrt, ja – dann kommt alles andere doch gar nicht in Betracht.

So hat Frau Jeß kurzerhand auf dem bayrischen Berg, der mit seinem rechten Fuß im Österreichischen steht, das Hausregiment übernommen. Mit reichlichem Greinen und spärlicher Hilfe der alten Balbina – die Hübler Gundel braucht man nur noch einmal die Woche – pflegt die Deichgräfin die kleine Wirtschaft zu spiegelblanker Pracht der Küstenleute. Dabei bleibt noch Zeit genug für den Frühling. Sie erlebt ihn wie seit ihrer Brautzeit nicht mehr, wenngleich das Wichtigste dabei fehlt.

Der April ist darüber zu Ende gegangen und der Mai. Nun endlich läßt es sich nicht weiter hinausschieben. Der letzte Tag ist gekommen.

Frau Jeß hat gepackt und geschnürt und hinterher aufgeräumt. Jetzt sitzt sie zum letztenmal unterm Fliederbusch, wo die Amseljungen längst ihre breiten, gelben Schnäbel aufsperren. Sie sieht Elsalill hinterdrein und Vinzenz. Ein leichtes Grübeln tritt in ihre Augen. Erinnerung und Zukunft. Sie errötet. – Sie strafft sich, daß so bald schon ihre Gedanken solche Wege gehen.

Aber dann legt sie entschlossen ihre Hände ineinander. Sollte es einmal geschehen – nun – Vinzenz ist ihr lieb wie ein Sohn. – –


Elsalill und Vinzenz schreiten dem Walde zu. Unterwegs pflückt Elsalill langspornige Akelei, Goldklee, Trollblumen, purpurblauen Enzian. Jeden Tag hat Elsalill einen frischen Strauß gebunden. Jeden Tag haben die Matten eine andere Pracht gespendet. Dies ist ihr Abschied von Klaus. – –

Nie wieder hat Elsalill gefragt, wie das – Letzte war. Sie haben so viel von Klaus gesprochen, aber immer wie am ersten Abend. Von seiner Kindheit, seiner Tübinger Zeit. Und immer war es, Elsalill weiß es gar nicht – als redeten sie von einem jungen und geliebten Bruder, der nur unterwegs ist.

Sie treten wieder aus dem Walde. »Meine Tage!« denkt Vinzenz. »Dies sind meine Tage! Alles, was mir gegeben wurde vom Leben!« Ihm ist, er hat kein Gestern und kein Morgen. Nur das süße Heute gilt für ihn.

»Wenn du erst zu uns kommst!« sagt Elsalill träumerisch. »O, das Meer an Juli-Abenden! Und die Halligen darin wie grüne Heimat! Und die blühende Heide mit dem Grab vom alten König!« Ihre Augen werden groß und geheimnisvoll: »Wenn die roten Nächte sind, rufen Stimmen über'm Meer!«

Elsalill erschrickt. »Nie ging ich mit Klaus zu dem Hünengrab«, denkt sie. »Wo ich badete als Kind und so selig daheim war! Nie konnte ich Klaus von den Stimmen sagen!«

»Wie ich mich darauf freue!« sagt Vinzenz. Zugleich denkt er: »Nie, niemals werde ich dieses sehen oder erleben! Heute ist mein! Heut!«

Sie setzen sich am Rande des Waldes auf das Gras. Es ist feinspitzig, kurz. Wie geschorener Sammet. Das Kind der Küste bedarf der Weite des Blicks. Aber der Wald hinter einem – das spürt man im Blut. Er ist wie die Mauer vor dem großen Geheimnis.

»Alle sind liebe Brüder und Schwestern!« Elsalill deutet auf die ungeheuren Föhrenstämme, die ihre Wurzeln wie Arme verschlingen und ihre Kronen erhaben wiegen. Sie meint die Berge, die Hüter des Tales, die kühne, herrschende Spitze und den leidenschaftlich tosenden Fluß.

»Sie kommen aus derselben Heimat wie wir«, sagt Vinzenz.

»Nur so viel älter ist er als ich, mein großer Bruder! So viel klüger!« Elsalill lehnt sich zurück an den moosflockigen, rissigen Föhrenstamm. Dann geht ihr Blick hinüber, wo die Burg mit dem rundaugigen Turm auf der Bergklinge bröckelt.

»Deine Heimat!« Elsalill spricht die zwei Worte langsam. Ihre Stimme ist zärtlich. Sie legt die Hände um die Knie. »Wie kommt es?« Sie fragt plötzlich und anscheinend ohne Zusammenhang mit dem Vorher. »Immer fühle ich Klaus, wenn ich mit dir bin. Nur als ob viele, viele Jahre Wachstum dazwischen lägen. – Er war noch wie eine Knospe. Du bist schon Frucht. Wie wurdest du so, Vinzenz?«

»Elsalill, – du sagtest es ja eben!« Vinzenz deutet mit ruhiger Gebärde auf die väterliche Burg – »wer das verloren hat und wieder gewinnen will . . . Der muß wohl zusehen bei Zeiten! – Sonst schafft er's nicht!«

Er erzählt ihr von den rostigen Turmfalken, wenn sie wie schmale Dolche die Schatten ihrer Flüge durch die Bogenfenster schleudern. Von Kaiser Konrads Brief erzählt er ihr und von der traurigen, holdseligen Frau, an deren Knie er stand, wie er in den Himmel schaute.

»Heimat!« sagt Elsalill. »Wie stark ist Heimat!« Ihre Augen sehen weit. »Niemals hat Klaus um seine Heimat kämpfen müssen,« fährt sie fort. »Vielleicht ist es das. Sein Weg war so eben. Gar keine Not. Gar kein Überwinden. Davon blieb er so jung!« Ihr Blick fragt tiefer. »Vielleicht müssen wir aber durch das ganz dunkle Tor treten!« – – –

Vinzenz lagert ihr zu Füßen, den Kopf auf den aufgestützten Händen. Sie legt ihm die Hand auf das dunkle Haar. »Wenn man das Wissen um sich selber hat« – sie flüstert – »weiß man dann auch alles andere? – Macht das so reich und so mild?«

Vinzenz nimmt ihre Hand und küßt sie. Seine Kehle scheint ihm zuzuwachsen.

»Ich wußte das nie.« Elsalill spricht leise. »Ich dachte – am ersten Abend hier – du weißt – ich dachte, da . . . Aber ich steh doch immer noch draußen.«

Über ihnen, so hoch, daß sie sie nicht sehen können, wirbeln unzählige graue Lerchen. Der Drang nach dem Unfaßbaren, nach dem ganz Erdelosen scheint ihre kleinen Kehlen zu zerbrechen.

»An Altjahrsabend muß ich immer denken,« sagt Elsalill. »Wie die Kerze des sterbenden Jahres vor den Spiegel gestellt wurde und plötzlich sich selber erblickte! Das erschütterte mich damals so. Ich habe mich selber noch nicht gesehn!«

Vinzenz ist aufgestanden. Ein Brausen ist in seinen Ohren. Er spürt einen leichten Schwindel. Was spielt mit uns? Was spielt mit uns? Was hat uns in Händen? – Was wäre geworden, wenn Klaus lebte? – Und nun? . . . Was wird nun? . . . Er verschränkt die Hände hinter seinem Rücken ineinander, daß es schmerzt. Elsalill ist zu ihm gekommen. Nicht er zu ihr. Aber daß er ihr nicht sagen darf: »Heimat ist einzig, wo du bist! Alles andre ist Fremde, ist Ausgestoßensein. Ist Verdammnis!« – Er gibt keinen Laut von sich. Er steht, wie die Stämme stehen.

»Vinzenz,« – Elsalills Stimme bebt – »ich liebte Klaus!«

»Du liebtest Klaus!« Seine Worte kommen mühsam. Als er ihre Not sieht, überfällt ihn das Erbarmen. Er legt ihren Arm auf den seinen. »Wie liebtest du ihn!« wiederholt er. »Wie liebten wir ihn beide!«

»Gibt es seltsamere Fügung?« muß er dabei denken. »Der den Bräutigam tötete, führt die Braut. Er muß sie behüten vor der großen süßen Unschuld ihres Herzens!«

Sie haben sich abgekehrt von dem Schloß auf der Bergklinge. Bald neu zu Erb und Eigen den Freiherrn von Lassing-Dombühl. Die Stimmen der Aveglocken gehen über die Berge. Von einer kleinen Kapelle zur andern. Sie reichen einander die Hände. Sie tragen die Botschaft von ewigem Leide der Menschheit hinauf zur Barmherzigkeit Gottes.

»Die alte Balbina . . .« lacht Elsalill, oder schluchzt sie? – »Weißt du die Geschichte mit den Nesseln?«

Vinzenz hebt wundernd den Kopf. Die alte Balbina pflegt an jedem Sonnabend dem heiligen Florian ein Sträußlein zu widmen. Sie lebt in heidnischer Angst vor dem Feuer. Gestern aber hat der Heilige ein paar Nesseln in seinem Opfer entdecken müssen. Ließ er nicht die Kohle aus dem Küchenherd fallen? Sie versengte der Balbina die Schürze!

»Du denkst: Was hat sie im Sinn!« ruft Elsalill voll Angst. »Ach, sieh', es ist schwer zu sagen. Sie sind wie die Kinder hier. Die Menschen. ›Unsers Herrgotts Närrlein‹ nennt sie einmal jemand, glaub ich. – Aber das Wunder!« Ihre Stimme bricht.

Vinzenz streicht leise über ihre Hand auf seinem Arm. Seine eigene ist kalt und zuckt. Sie nähern sich der zerspellten Eiche.

Elsalill bleibt stehn. Ihre Worte mühen sich. »Ich meine doch nicht die wächsernen Hände und Füße in der Gnadenkapelle, aber wenn . . .« ihre Blicke wandern gemartert, »wenn man plötzlich nicht weiter weiß . . .« Mit einem Laut der Klage bricht sie nieder auf dem Betbänklein, vor der Maria im Baum.

»Um das Wunder betet sie!« denkt Vinzenz, wie er sie knien sieht.

»Sie verlangt das Wunder von Gott!« Seine Lippen ziehen sich zusammen. Seine Augen erhärten im Trotz des immer Versagten. Was ist sein Leben gewesen all die Wochen von früh bis zum Abend, vom Abend zur Früh'? Ein einziges, lautloses Warten auf das Wunder.

Er tritt hinter Elsalill. Das Brausen fängt wieder an. Das ist sein Blut hinter seinen Schläfen und das Knirschen seiner Zähne. Jawohl, jawohl, die Lassings im Harnisch. Und der furchtlose eiserne Handschuh. Aber gibt es auch Herzen, wilder als eiserne Hand? Sein Herz bäumt auf. Es will leben!

Da weiß er nicht andre Hilfe mehr. So muß man solch ungebärdiges Herz von sich schleudern. Über sich. – Zu jener verborgenen Urkraft reißt er sich hinauf, jenem fernen, gewaltigen Willen und Herzschlag, bis sein eigener darin ertrinkt. – –

Als Vinzenz fühlt, daß das Ungeheure in ihm nachläßt, steht Elsalill auf von dem Betbänklein. »Später muß ich es dir sagen. Wenn es einmal geschieht. Das Geheimnis von Cherub!« Ihre Stimme ist fest geworden. – – Ihr Blick hat den Ausdruck wie damals, als sie bei Tante Ragnar die Maria darstellte: gewärtig des Unerhörten und – – bereit.


Frau Jeß und Elsalill sind abgereist. »War mein Haus immer vordem so tödlich still?« denkt Vinzenz.

Er fängt an zu räumen. Alle die lieben Dinge aus dem Tal, die es heimatwarm machten für eine Zeit, die sollen nun wieder hinaus. Ja, was könnten sie jetzt auch helfen? Wenn eine mit ihnen schaltet und sie ihr dienen dürfen, sind sie lebendig und reden. Aber ohne sie? . . .

Die Leute in der kleinen Stadt – sie sehen Vinzenz sonderbar an: herzlich, verstohlen, forschend. Freilich wohl – es ist noch gar zu bald. Kaum ein Vierteljahr trennt das Heut von dem Grausamen dort oben im Walde. Noch geht die Braut vom Schwarz verschattet. Aber der Herr Baron – nun – sollte man nicht irgend etwas an ihm spüren – wenn . . .

Vinzenz steigt nicht zu Tal, tage- und wochenlang.

Er kann diesen vorsichtig zutunlichen Blicken, den Fragen nach Elsalill nicht standhalten.

Er ist viel im Walde. Wiewohl – schießen kann er nicht. Wird das so bleiben, daß ihm die Hand versengt, wenn er die Büchse anfaßt? – Aber dann – überhaupt der Wald. Wo wäre die Stelle, wo ihm nicht Erinnerungen kämen? Man kann wohl weit genug gehn, in Reviere, wo Elsalill niemals hinkam. – Aber plötzlich: »Meine lieben großen Brüder,« denkt Vinzenz, wenn die uralten Föhrenwipfel über ihm ineinander verrauschen. Jeder Stamm grüßt ihn mit dem einen Namen. – Man kann auch dorthin gehen, wo der Wald aufhört, wo die Geröllhalden anheben. Plötzlich zieht es herüber: schmerzhafter Frage und ewig stiller Antwort: die Aveglocken. –

Kniet nicht Elsalill auf dem Betbänklein? Um das Wunder flehte sie! –

Etwas knirscht in ihm. Er wartet – bald – bald – sie werden schweigen. Diese Botschaft vom ungestillten Leide und der Sehnsucht der Menschheit wird zuletzt verstummen. Er setzt die Zähne hart: Gott hört nicht. Wird man nicht endlich ermüden, ihn erschreien zu wollen?

Ja, – nun schweigen sie schon. Sie schweigen ja. Wie erschreckte Kinder. – Aber gerade, daß sie schweigen! . . . Vinzenz ballt die Faust. Was geschieht mit ihm? Was macht ihn so schlecht?

Seine Augen sind finster aneinandergerückt.

Er hat die Waldbiegung umschritten. Drüben, – etwas entspannt sich in ihm: der alte, zermorschende Kasten! Die Burg der Lassings! Die Heimat! Die Heimat! –

Der letzte Manuskriptbogen ist vollendet. Er ist abgeschickt. In ein paar Tagen wird das Geld da sein. Vinzenz hat längst alles besprochen mit dem jetzigen Eigentümer der Burg und dem Notar in der Kreisstadt: in ein paar Tagen ist sie wieder sein, die Heimat. Sieben Jahre diente er um sie wie Jakob um Rahel. –

Aber nun ist's, als ersticke er an einem Namen, wie einer an seinem Blut erstickt: Elsalill! –

Was soll er in dem Haus seiner Ahnen allein? Er keucht. –

Vor Tag und Morgen hat's ihn herausgetrieben. Jetzt ist Mittag. Es ist die Stunde des verborgenen Grauens, wenn die Zeit den Atem anhält. Alle Felder sind leer. Nicht Mensch, nicht Vieh wacht in der brütenden Schwüle. Der Wald steht lautlos. Der Himmel ist grau von Dunst. Alle Schatten sind scharf und kurz und spitz und das Licht grell und gnadenlos.

Dann geht die Roggenmuhme durch das Korn, das gräßliche Gespenst mit den eisernen Brüsten. Es hockt dem Arglosen auf, bis er niederbricht. – »Elsalill, hilf!«

Vinzenz wirft sich ins Gras. Es hat seine beruhigende Kühle hergegeben. Es ist wie ein Pfühl von Fiebern zerwühlt, und das Moos sticht hart und verwundend. Der Geruch des Harzes, des Thymian, Quendel und anderer Bergkräuter sickert durch die Poren wie Schwindel. Alles umher fängt an zu taumeln. Das Blut siedet wie das Harz in den Stämmen.

Vinzenz gräbt die Hände durch das Moos in die Erdnarbe. Kühle – Kühle! Er verbrennt ja. Soll das so bleiben ein Leben lang? Er weiß ja doch: Nicht am Sommer verbrennt er.

Wie hat er's denn glauben können? – Ja, wie sie bei ihm war – immer in der Gnadenhut ihrer süßen Nähe – immer als eiserner Wächter vor der weißen Unschuld ihres Herzens . . . Ja, da war wohl Stille im Blut.

Aber nun – ohne sie – ganz allein im Jahr, das die Höhe erklomm! Noch sieben Tage – dann glühn die Johannisfeuer! Dann werden die ledigen Dirnen Kränze winden, neunerlei Grün: Allermannsharnisch, Hellebore, Johanniskraut. Am Abend werden die Burschen ihre Liebsten durch die Julfeuer schwingen. Die ganze süße und flammende Sommerseele im Blut werden sie die Feier dieser Nacht begehn. Und er? . . .

Er denkt an seine Reise vor Jahren zu den baltischen Verwandten, an den Sommer unweit Kap Domesnäs am rigischen Strande. Er sieht am Sonnwendfest die bekränzten Schiffe mit den rosenroten Segeln über die rosenfarbenen Wasser ziehen. Wie aus himmlischen Gärten, und unerschöpflich träuft Kranz um Kranz und Glut um Glut. Er hört die alten Opfergesänge an Jan Ligho, den entthronten Gott eines unterjochten Volkes.

Er hört die alten holdseligen Liebesweisen einer verstummten Sprache. Ein Jahr lang gehen sie im grauen Wadmal der Knechte in Verachtung, Armut und Schmach. Heut sind sie Könige. Heut tragen sie Rosenkränze über ihren Kronen. – Heut ist die Nacht, die entrückt, die das ganze, lange, dumpfe Jahresrund durchglüht mit verborgnen Feuern.

Aber er? – Hat sein ganzes Leben keine einzige Nacht der Entrücktheiten?

Hat der hohe Sommer seines Lebens keine einzige Königsnacht? –

Etwas in ihm bäumt auf. Was steht dawider? Was steht dazwischen?

Elsalill liebt ihn. Er liebt Elsalill. Klaus? – Gott allein weiß, was ihn dieses gekostet hat. – Nun – jetzt – Klaus ist tot. – – –

Vinzenz ist aufgesprungen. Warum soll zweier Menschen Glück geopfert werden um einen Schatten?

Er reißt seine Uhr heraus. Eben nach zwölf. – Gut. Wenn er keine Minute verliert, erreicht er den Vier-Uhr-Zug. Was braucht er groß Gepäck? Sein Koffer ist schnell genug fertig.

Heut' abend ist er in München. Morgen – um diese Stunde – um diese entsetzliche Stunde – ist er – bei – Elsalill.

Er taumelt. – Er stürzt fast, wie er die Blöcke überspringt. Nur quer durch die Halde, quer durch den Wald. So ist es der nächste Weg. Seine Glieder zittern und sind dennoch hart wie Eisen. Hin – Hin –

Diese weißglutende Steinwüste ist überstanden. Die Felsbrocken, von den Nagelschuhen abgesprengt, stürzen sich noch talab. Aber die aufgeschreckten grünen Lazerten sonnen sich schon wieder. Die Gasse, gerissen ins Meer dieser betäubenden Gerüche, schloß sich schon wieder. Vinzenz ist in den Wald eingebogen. Der Wald schlägt die Tür' hinter ihm zu.

Vinzenz reißt das Taschentuch heraus. Sein Schweiß strömt. Er kann jetzt ruhiger gehn. Dieser Weg kürzt beträchtlich. Man nimmt ihn selten. Wohlan.

Welche Stille! – Gibt es etwas so still wie Grab? – Vielleicht weil das Licht so unendlich gebrochen ist, daß es nirgend den Waldgrund erreicht. Ganz ganz fern und draußen ist das Leben.

Diese Strecke des Waldes – es ist nicht die, die Vinzenz jetzt immer vermeidet – ist so eigentümlich: Wie in Entsetzen erstarrt. Die eisengrauen Stämme, die Zweige, spärlicher Nadeln von Flechten verhängt wie mit Blei übergossen. Nur stumpfer noch, hechtgrau, wie Totengesichter. Auch der Böden völlig mit dieser toten, grauen Flechte überwuchert. Nirgend eine Farbe, ein verwesender Hauch des Lebens. Nirgend ein zitterndes Tasten des Lichts.

Vinzenz geht weiter durch knisterndes Moos und dürres Geäst. Er hört sein Blut toben wie Wassersturz. Sein tobendes Blut, sein Fuß, der Totes zu Staub zertritt, ist das einzig Lebendige hier.

Plötzlich – was ist? War das nicht ein Ton außerhalb seiner Körperlichkeit? Ein Knarren wie das einer Klapper? – Es wird ein Specht sein. Gewiß. –

Nun wieder? Einer Klapper harter Ruf. – Oder Abwehr?

Vinzenz steht wie zurückgeworfen. Er blickt scharf, mit Weidmannsaugen. – Nichts.

»Der Bannwald!« denkt er plötzlich. »Dies ist der Wald, in den die Aussätzigen vertrieben wurden vor grauen Zeiten!«

Er fühlt den Schweiß zusammenperlen auf seiner kühl gewordenen Stirnhaut.

Dann lächelt er, ein sonderbar hartes Lächeln, das die Mundwinkel herunterzieht: Der Letzte dieser Unseligen war eine Sage bereits. Und da er lebte – in seinem Walde bedurfte er der warnenden Klapper nicht.

»Unkomplizierte Zeiten!« denkt Vinzenz mit demselben Lächeln von vorhin. »Wie einfach das alles war. Man verjagte sie von den Stätten der Gesunden. Wie die Hunde. Wie die bissigen Hunde!«

Etwas in ihm zerrt. Seine Nackenmuskeln schmerzen sonderbar? Was ist das? Seine Augen weiten sich und erstarren. Was strich soeben durch die totgrauen Stämme? Kennt er nicht dieses erloschene Gesicht? – Seine Lippen pressen sich zusammen. Keine Tortur der Erde entriß ihnen ein Ja! – Und dann – sein Atem stößt, er hört sich selber rasselnd atmen: Er erkannte sie doch, die weißen tödlichen Male! – Dieses Gesicht war ihm fremd wie der Bewohner eines andern Planeten. Er atmet kurz. Er schließt die Augen sekundenlang. Er schüttelt den Kopf. »Grausame, gewesene Zeiten!« sagt er hart und fest und laut.

»Und der arme Heinrich?«

Mein Gott, jemand sagte plötzlich deutlich diesen Namen. Vinzenz steht still. Etwas in ihm lauscht, wird sanft und entspannt sich. »Mit Siechheit geschlagen, daß das letzte Ausmaß der Liebe offenbar würde,« redet es weiter, irgendwo; »Leid, entsendet übermäßig, daß einer genese vom Hochmut seiner selbst und seines Herzens Härtigkeit!« Vinzenz geht weiter. Langsam.

Jener Aussätzige kommt ihm plötzlich in den Sinn, der so demütig sich hingab an sein Schicksal, der so heilig lebte, daß Gott die Verdammnis von ihm nahm, und im Leibesleben ihm den Zugang zu den geheimnisvollen Urgründen erschloß, wo Wille und Geschehn das gleiche sind und die Gesetze der kreatürlichen Schöpfung nichts anderes bedeuten als die zarten Linien unter dem Wort, das das Leben birgt . . . Wie ein Quell das Tal, speisten seine Wunderkräfte das Land rundum, so erzählt die Legende.

Wie der Schatten eines fernen, wissenden und barmherzigen Lächelns irrt ein Lichtstrahl durch den grauen Tod des Bannwaldes.

»Welche Zeiten! Welche Zeiten!« muß Vinzenz plötzlich sagen, außerhalb seines Willens. »Gewaltig und süß und wunderbar! – Jahrhunderte bang und dunkel insammengefaltet und verzückt, hochauf blühend. Jahrhunderte voll schwelender Scheiterhaufen und überschwänglich durchglüht von Gott. O knirschende Zeiten der Folter, des Schwerts, der Schilde und Morgensterne, – und dennoch wie überrinnend voll von stolzen und demütigen Liebestaten und Gehorsam zum Tode. O Zeiten der gotischen Dome, der ragenden Burgen, der Heiterkeit und der Pracht der Städte! Ihr wußtet Lieder erdensüß und nah und himmelsgewiß und himmelssüchtig. Ihr wart die Zeiten des großen Ja und des großen Nein, die die Ehrfurcht kannten vor dem letzten Geheimnis. O Zeiten des brausenden Blutes, der glühenden Herzen und der Seelen wie Adler und Tauben! –

»Wie wir dies alles überholten!« denkt Vinzenz, und wieder ziehn sich seine Mundwinkel herunter, herb und hart. »Wie wir's so herrlich weit gebracht! – – Uns schlägt nicht mehr Gott mit Feuer und blutigem Weizen und Pestilenz! Wir sehn keine Sternruten und weiße und nackte Schwerter am Himmel, ehe der Krieg über uns herfällt. – Bei uns ist alles ganz hell und klar und geordnet und erklärt. Wir wissen alles über die Urzelle, wir haben die Bakterien entdeckt und die Maschinengewehre erfunden. Wir impfen gegen die Pocken und reinigen unsere Anzüge chemisch. Wir brauchen keinen Bannwald, Gott sei Dank, denn wir haben die Quarantäne. Den Aussatz lassen wir ruhig in Asien, ebenso wie die Pest. Wir haben nicht einmal mehr die Cholera.«

Cholera? »Die Twietenen!« denkt Vinzenz plötzlich. Dieses Verhängnis wäre also nicht völlig überwunden. Allerdings. – Ihm fällt ein, was man ihm von Hamburg erzählt hat, von diesen verrufenen Gegenden, wo Familien nicht nur wie in Kisten verpackt, zahl- und namenlos in den himmelhohen Häusern über der Erde wohnen – nein – auch unter der Erde. Wie in ihren eigenen Gräbern, zwischen Schimmel und Fäulnis und Moder und Nacht.

Und plötzlich, wer schreit ihm ins Ohr: »Das bist du?« – – – Er späht im Kreise, wie hin- und hergerissen. Wer kommt dort? – Wer? – Dieses Gesicht – nicht ein Aussätziger, Ausgestoßener – dieses zerstörte Gesicht – er kennt es wohl! – Er stöhnt.

Nachher – er stetigt seine Gedanken wieder. Er reißt sich zurück wie vom Abgrund.

Er stellt fest: man konnte sie nicht heilen. So trieb man sie aus von den Lebenden. Man überließ sie Gott. – Ah so. – Man schlug sie nicht nieder. – Leben blieb heilig. Auch damals. Wenn Gott wollte, würde er ein Wunder tun. Wenn er es nicht wollte, man mußte sich beugen unter seinem Ratschluß. Was weiß der Mensch? Gott will und weiß zu einem Ziel hin. – –

Ja – also so: Entweder weiß Gott, warum dies alles geschieht – es gibt einen großen Ring mit dem Stein »Gott« als Urmitte und Ausgang und Eingang; dann ist jedes eigenmächtige Durchbrechen dieses Ringes Frevel. Oder aber wir – wir halten unser Schicksal in Händen. – – –

Vinzenz zuckt zusammen. In dieser Weise hätte er? . . . Sein Gesicht ist unsägliche Verachtung. Sein Leben zieht an ihm vorbei, wie damals in rasendem Sturz – vom Geborgensein an seiner Mutter Knie, bis heut. – So, in dieser Weise hätte er sein Schicksal gestaltet? –

Er lacht laut.

Er weißt nicht, daß er wie ein Rasender voranstürmt. Plötzlich denkt er: »Wozu? Warum rase ich eigentlich? Wohin rase ich denn? – Ach, so . . .«

Er schreit auf. –

Also hat er tun müssen, was er nicht wollte? Er geht nun trägen Schrittes. Warum? –

Mitleid! Mitleid! Mitleid! – Er schleudert die Worte wie Faustschläge jemand ins Gesicht.

Ja, – warum kommt ihm dann nur das leiseste Bedenken? Warum ist Elsalill dann nicht sein, so sicher wie seine und ihre Liebe? – Warum muß er etwas verheimlichen? Sie ist doch wohl groß genug, um das Letzte zu ertragen! Muß er etwas verheimlichen? »Blut!« sagt etwas unnachsichtlich in ihm. »Blut« ist Scheidung. Die große Sicherheit ist angetastet. Das große Beruhen, Leben ist heilig. Wer dürfte einer Frau zumuten, ihr Leben an den zu binden, der den großen Ring durchbrach? – – –

Die Tage – o die Tage mögen wohl angehn. Aber die Nächte? Wenn er nun herausschreit sein Geheimnis aus dem Dunkel der Angst und der Träume!

Er muß sich niedersetzen. Er krampft den Kopf in die Hände. Er lebt das – was er seinen Gedanken immer noch verwehrt hat, zu leben: seine Liebesnacht.

Die ewigen Schauer schütteln ihn. Schwer zuckt sein Blut. Das letzte Geheimnis rauscht die Flügel vonsammen. Aber wie Leben zu Leben drängt, Blut zu Blut – neuen Lebens dunkler und heiliger Anbeginn: – »Mörder« schreit jemand. »Mörder« schreit Klaus Andersen. –

Vinzenz taumelt auf. Gewiß, gewiß, viel öfter hat Klaus gesagt »Du Guter!«. – Klaus hat Unmenschliches gelitten. Vinzenz hat ihm seine Qualen verkürzt. – Dennoch – der große Einbruch in das ewige große Rund ist vollzogen worden durch Vinzenz. Er hat das ganze Leiden dieses Müssen auf seine Schultern geladen. Aber nun – nicht nur dieses verlangte das Schicksal von ihm – sondern auch daß er die Folgen auf sich nehme. Blut verlangt Blut, wenn es zur Ruhe kommen soll. Das eine Leben verlangt das andre hingegeben. Dann sind beide erlöst. Dann ist der Ring wieder geschlossen. Dann weiß Gott, ob es Schuld war oder Verhängnis. –

Vinzenz steht auf. Es ist dunkel im Bannwald. Eine große Gelassenheit überkommt ihn, die letzte Hingabe.

Erschießen sich selbst? – Hier? – O nein. Das wäre allzu einfach. Was im Dunkel steht, wird damit nicht hell und klar. Es bedarf des Bekenntnis, der Gerechtigkeit Erfüllung – frei und öffentlich.

»Elsalill!« Er sagt ihren Namen schmerzhaft, zärtlich. Wie den Namen einer süßen jungen Schwester im Leid.


Die Nächte sind gekommen, die in Flammen stehn.

Das Laub der uralten Bäume um das Schloß her und in den Kavaliersgärten hat sich zu schwerem dumpfem Grün zusammengeballt. Nichts mehr erinnert an die süße Unrast der Maitage, die durch die jungen, weichen, durchsichtigen Blätter spielte. Und des Herbstes goldne Gelöstheit ist ihnen noch verborgenes Geheimnis. Die Bäume stehn dumpf und ermattet. Aber sie haben keine Schuld. Diese Nächte haben alles Leben, alles verborgene Feuer und alle Seele aus ihnen ausgesogen.

Sieben Wochen sind hin, seit Elsalill auf dem Betbänklein kniete vor der Maria im Baum und von Klaus und Vinzenz Abschied nahm.

Elsalill wandert allein durch die Koppel, wo früher der Stier ging. Ein blaßgoldner Streifen trennt in der Ferne Erde und Himmel: das Meer.

Andersens, Jessens, Eltern und Kinder sind auf Beederhof. Jedes Jahr fährt man dorthin, wenn das Strauchobst reif ist. Nirgends gibt es Johannisbeeren, große wie kleine Weintrauben, Stachelbeeren so riesenhaft, zitronengelb und zuckersüß, wie auf Beederhof in Eiderstedt. Der Besitz gehört den Lindholms, seit sie aus Schweden kamen.

Man lebt dieser Fahrt jedes Jahr entgegen wie einem Fest. Sie fällt immer in die erste Ferienwoche. Trina Floor, die Frau des Pächters, bäckt tagelang vorher. Auch rote Grütze und Dickmilch auf durchlöcherten Porzellanplatten angerichtet und gegessen mit Rahm, in dem der Löffel steht, kann niemand bereiten wie sie.

Elsalill hat gebeten, zu Hause bleiben zu dürfen. Man dachte: Klaus! Ohne Klaus will sie nicht hinfahren! Ihre Mutter und Frau Andersen schlugen vor, bei ihr zu bleiben. Aber – nein – nein! Elsalill wurde ganz erregt. Da ließ man ihr den Willen.

Elsalill hat seit langer Zeit mit diesem Tag gerechnet.

Immer hat sie gedacht: »Wenn es erst soweit ist, kommt Vinzenz. Vinzenz kann mich nicht allein lassen dann, wenn die Tage nicht aufhören können, und wenn alles in Flammen steht!«

Vinzenz ist nicht gekommen. Aber heut hat Elsalill einen Brief von ihm. Nicht den üblichen Kartengruß, lieb, warm, brüderlich, wie sie ihn jede Woche zweimal empfängt, nein, einen Brief, einen großen, schweren Brief, den ersten, den Vinzenz ihr schickt.

Ihr ist – daheim in ihrem Stübchen kann sie ihn nicht öffnen. Draußen beim alten König, wenn niemand, niemand in der Nähe ist! – Es war wie ein feiner, scharfer Stich, dieser große Brief. Sie ist dem Briefboten an diesem Morgen begegnet. Schreibt jemand, der kommen will, so ausführlich? Aber dann – es ist doch ein Stück von Vinzenz. Ganz allein kommt er zu ihr, endlich. Nicht in der Öffentlichkeit der Karte.

Sie hat den Brief in den Falten ihrer weißen Bluse getragen, über der Brust, den ganzen Morgen. Bald – bald.

Nun ist es soweit. Die Hände im Rücken verschränkt, eilt Elsalill über den grünen Sammet der Koppel.

»Wie seltsam ist dies!« denkt Elsalill. »Ich liebe sie doch so sehr, die Eltern, die sieben Raben, meine Heimat, die kleine Stadt! So treu hat sie mit mir getragen. Früher meine Freude und nachher mein Leid! Aber –« sie erschrickt, warum ist es manchmal, als sei sie ganz zu Hause dennoch anderswo?

Der Wind nimmt ihren dünnen weißen Schal. Wie ein Segel bläht er ihn um sie her. Elsalills Füße fangen an zu eilen. Sie drückt beide Hände auf ihr Herz. Wie es wächst! Bewegt auch der Cherub seine Flügel? Sie lauscht in sich und in die Ferne zugleich. Ja, da sind die Stimmen überm Meer, die rufen! Wie jedes Jahr. Um diese Zeit der roten, roten Nächte. Rufen die Wellen? Ferne Schiffer? Entthronte Götter?

Vielleicht war einmal das Meer Elsalills Heimat. Irgendeine geheimnisvolle Ferne? Vielleicht trug sie einmal Schwanenflügel an den Schultern?

Elsalill sieht das Meer schon ganz nah. Das Wasser spiegelt den glutigen Himmel. Die Kraniche ziehn in schräger Eins. Nur selten lassen sie sich am Strande blicken. Im Innern des Landes auf den Kiefern des Söder Forstes horsten sie zu Hunderten um die verrufene Geestmühle. Aber heut' kommen sie. Und ehe Elsalill noch denken kann, dies sind die Kraniche: – schon haben sie sich niedergelassen und vollführen wie die Kibitze im Frühling ihre seltsam gespreizten und zugleich inbrünstigen Liebestänze.

Elsalill staunt zu ihnen hinüber. Alles ist heut so seltsam fern und nah zugleich. So schwerer Ahnung. Elsalills Augen werden dunkel. Sie macht eine Bewegung zu den Kranichen hin wie scheuen Gruß. Dann gleitet sie weiter, noch immer getragen von dem geblähten Segel ihres Schals. Es empfängt die Farbe des Himmels. Es wird blasser Purpur.

Nun ist Elsalill ganz nahe am Strand. Sie stemmt ihre schmale, feste Hand auf den Stein, unter dem der alte König von seiner Liebe träumt. Die Heide errötet. Tausende von Bienen und Hummeln werben um ihre erste Süßigkeit. Rottgänse knarren. Ein Strandläufer fliegt auf, einen Fisch im Schnabel wie ein flatterndes silbernes Band. Fern ziehn drei Segel inselwärts. Hintereinander. Lautlos. Tiefpurpurbraun. Goldgesäumt.

Elsalill geht bis dahin, wo das Wasser glatt wie zerschmolzenes Gold den hellen Sand einfaßt. Ihre Bewegungen sind träumerisch. O, kennt sie das nicht schon? All dies? Grade so ist es gewesen einmal: Glut, Blut, fernes Rufen, lautloses Warten und ihr Herz zum Zerspringen groß.

Wann war das? Wann? –

»Ja, könnte man sein Kleid abstreifen!« denkt Elsalill. »So wie damals, als ich ein kleines Kind war. Könnte ich nur wie ein flinker Fisch in diesem roten Golde schwimmen! Dann . . .«

Aber wie sie noch so denkt, seufzt sie: Nein. – Ein Rest würde dennoch bleiben, ein letztes Unerfülltes.

Die Tränen springen ihr in die Augen: Wird er nie die obersten Flügel entfalten? Wird sie niemals das große Geheimnis erfahren? –

Und plötzlich schlägt sie die Hände auf die Brust, als schlüge sie heftig an eine verwehrte Kammer.

Es knistert unter ihren Händen. Elsalills Gesicht wird holder Erwartung.

Sie nimmt den Brief heraus. Sie schaukelt ihn auf der Hand, zärtlich. Warum öffnet sie ihn nicht? Warum wird etwas in ihr sehr bang?

Hat sie nicht schon einmal hier so gestanden und gewartet: vor diesem Himmel, vor diesem Meer?

Nun geht sie zu dem alten Königsgrab. Sie setzt sich in die blühende Heide, langsam, feierlich. Sie öffnet den Brief. Nun liest sie.

Der Brief ist viele Seiten lang und eng beschrieben. Der Himmel ist dunkler geworden, während Elsalill liest. Als verbrenne die alte Erde. Kein Laut ist mehr in der Welt.

Elsalill hält den Kopf auf dem schlanken Halse nach vorn gedrückt. Man sieht den roten Puls in ihrer Kehle zucken.

Was reißt an ihren Wurzeln? Wird sie herausgehoben aus ihr selber? – Vinzenz hat Klaus getötet. – – –

Sie lehnt sich zurück an den Stein. Sie schließt die Augen. Ihr Atem stößt. Ihr Mund bekommt einen geheimnisvollen Zug. Sie versinkt ganz in sich.

So sitzt sie eine lange Zeit. Die Sonne brennt wie eine Wunde. Der Himmel verblutet. Die Kraniche kommen von Süden zurück. Ihre Flügel stürmen wie Schilde.

Elsalill rührt sich nicht. Ihr Gesicht ist weiß und wie ohne Leben. Nur der Zug um ihren Mund gräbt sich geheimnisvoller.

»Elsalill!« Ruft sie jemand? Ruft sie nicht Vinzenz? Er deutet auf den Brief. Elsalills Augen weiten sich jäh. Sie hat den Klang seiner Stimme im Ohr. Sie kam schwer und metallos. –

»Ja,« sagt Elsalill eilig. »Ja, ja. –« Sie hebt den Brief in die Höh'. Sie muß ihn zu Ende lesen.

Unbeteiligt, ganz einfach, fast sachlich schreibt Vinzenz. »Wenn er eines Fremden Schicksal berichtete, schriebe er wärmer,« denkt Elsalill. –

Der alte Kasten auf der Bergklinge, die Burg der Freiherrn von Lassing-Dombühl gehört ihm wieder, vielmehr gehörte. Beim Notar der Kreisstadt liegt sein Dokument. Der letzte Lassing überträgt sein Erbe an Fräulein Elsalill Jeß. Sie soll damit schalten, wie ihr gefällt. Er selbst hat alles abgetan. Er selbst ist . . . nun – da sie dieses liest – ist er bereits in der Kreisstadt. Er hat sich der Staatsanwaltschaft übergeben. –

Mit diesem hört Elsalill auf. Die Hände mit dem knisternden Bogen sinken ihr in den Schoß.

Aber der Brief ist noch nicht zu Ende.

Wieder scheint jemand sie aufzurufen aus ihrer Erstarrung. Wie vorhin. Wieder ruft Vinzenz und deutet auf den Brief.

»Ja,« sagt Elsalill eilig wie vorhin. Sie drückt die Augenlider zusammen, als sei es ihr schwer, die Worte zu entziffern. Sie hebt das Blatt ganz nah an ihre Augen. Nun liest sie: »Elsalill – Du weißt noch nicht alles: Ich liebte Dich vom ersten Tage, da ich Dich sah. – O – Elsalill! Leb wohl!«

Elsalill steht auf. Sie geht wie im Nebel. Sie schwankt. Nein, der Boden schwankt. Es sind doch feurige Wogen, über die sie schreiten muß. Oder sind es rote Eisberge knirschend und scharf?

Ach, es wird glühendes Eisen sein. Sie schreitet über glühend gemachte Pflugscharen, wie beim Gottesurteil.

Ihre Hände möchten nach ihrem Herzen greifen. Aber nun hebt sie beide Arme. Sie geht bis ans Wasser, feierlich. Wie unter Befehl. Sie steht wie ein bronzener anbetender Knabe. Jetzt? – – –

Ja, jetzt. – Elsalill fängt an zu zittern. Ihr Körper fliegt vom Scheitel bis zur Sohle. Sie drückt den Kopf in den Nacken. Ihr Atem setzt aus. Sie greift nach ihrer Brust. Etwas zersprengt sie: Der Cherub? – Ja. – Nun tut er langsam und groß seine obersten Flügel voneinander. Das Unerhörte ist über ihr. Gott fragt sie nach ihrer letzten Wahrhaftigkeit.

»Liebe!« stammelt Elsalill. »Liebe!« Sie sieht in Fernen und Höhen. Sie sieht tief hinein in das verzehrende Feuer der Herrlichkeit Gottes. Ihre weitgeöffneten Augen zucken nicht. Sie hat Weibes Schicksal auf sich genommen. Aber ihr Gesicht ist wie das Gesicht eines kleinen Kindes, dem man lächelt.

Gottes Herrlichkeit verzehrt sie nicht. Ja, lächelt nicht Gott über ihr? –

Elsalill steht lange bewegungslos. Zuletzt macht sie eine weite Gebärde rundum. Als nähme sie dieses ganze Land an ihr Herz zum Abschied.

Als sie dann still und hoch durch die Koppel schreitet: »Wie weit und traumhaft blaß das alles liegt,« denkt Elsalill. »Alles, was hier einmal so jung und süß und lebendig war! – Wie fern sind die hellen Ufer meiner Mädchenzeit!«

Sie lächelt sanft, barmherzig und wissend. Aber plötzlich fängt sie an zu weinen: tief, hingegeben, erlöst. »Mein kleiner Klaus,« stammelt sie. »Mein armer kleiner, geliebter Bruder!« – O, wie tut es wohl, so um ihn weinen zu können zuletzt!

Aber während noch um Klaus ihre Tränen fließen: »Vinzenz! Vinzenz!«

Elsalill trocknet hastig die Augen. Ihre Füße fliegen.


Es ist gegen Abend. Vinzenz tritt aus seiner niedrigen Haustür. Die alte Balbina sieht ihm nach verstört. Sie schlägt drei Kreuze: Mariand Joseph! Fortgehn vom Herrn Baron – das tut sie nicht, solang er hier oben darf bleiben. Nein, das tut die Balbina nicht, und die Heiligen werdens ihr nicht anrechnen, wenn sie weiter hier ihren Dienst versieht, als wäre nichts geschehn, rein nichts. Gott weiß, begreifen kann das ja doch kein Mensch. –

Vinzenz steht einen Augenblick vor dem Fliederbusch. Behutsam biegt er die Zweige vonsammen. So ein leeres, verlassenes Nest! – Nun – Frühling und hohe Zeit sind gewesen!

Er geht weiter. Er lächelt sanft. Dies alles um ihn her ist seltsam ferngerückt. Er ist wie jenseits des Grabes. Die große Absage an das Leben ist vollzogen.

Heut früh ist Vinzenz aus der Kreisstadt zurückgekommen. Zwei Tage war er dort. Man hat seine Aussage zu Protokoll genommen. Zeugen zu vernehmen gab es nicht, außer dem Doktor, der den Befund aufgenommen hat damals. Ja, so blieb es: Der Nervenarzt, den der Rechtsanwalt von Vinzenz beantragte, weil . . . Nun, er mußte unverrichteter Sache wieder heimgehn. Der Herr Baron hatte so traurig gelacht, als er seine Anwesenheit begriff. Alles, was er sagte, war so klar und einfach. So ernst und freundlich und fern zugleich war sein Wesen und Gehaben. – Erkrankt im Geiste war der Herr Baron nicht.

Nun, nun – wie Lauffeuer gings durch die Gegend – dies war anders als Totschlag, – dies war ein noch niemals Erhörtes. Die Kugel des rechten unteren Laufes war in die Brusthöhle gegangen, der Einschuß war kaum sichtbar, die innere Zerstörung ungeheuer und sofort tödlich. Warum sollte es nicht geschehen sein beim Straucheln des Aufstehenden?

Dieses Blut konnte nicht gewertet werden wie ein anderes Blut, und die Hand, die es vergoß, nicht wie eines Mörders Hand. Herrgott nein! Wo man den Herrn Baron hat gekannt von Kind auf. Der? . . .

Vinzenz fühlte ein wunderliches Zerren in der Herzgrube, als er die vielen Blumen sah, die ihn erwartet haben, als er heimkam heut früh. Aber das Gefühl, wie jenseits des Grabes, ist nicht vergangen davon. O nein. – –

Das Gericht hat ihn auf freiem Fuß belassen gegen Ehrenwort, bis das Urteil gefällt ist. – – –

Vinzenz geht dem Walde zu. Er geht leicht und schnell.

Diesmal denkt er nicht, daß er eine bestimmte Stelle lieber vermeiden möchte. Dies ist alles vorüber jetzt. Er sieht fast heiter aus. Etwas ist ihm abgenommen. Aber dann spürt er in der Brust wie einen jähen scharfen Dolchstoß: – Elsalill! –

Ja, nun hat sie längst seinen Brief. – – – Dies war vielleicht das Härteste: daß er es sich versagte. Daß er sie nicht noch einmal sah. – Aber er weiß wohl, warum er schreiben mußte: – Die körperliche Gegenwart – die süße Nähe des Lebendigen – das durfte er ihr nicht zumuten.

Er steht an der Stelle des Abhangs, wo man die kleine Stadt überblickt, wie sie sich im Tal um die Kirche drängt wie Kinder um ihren Schutzengel. Der Zug läuft ein von München her. Die schmale, dunkle, geringelte Schlange mit dem speienden Kopf und der gellen Stimme.

Er liebte sie sehr, diese Stimme, seit damals, als sie Elsalill in das Tal brachte um diese Stunde. Er wartete gern auf sie und sehnsuchtsvoll. Einmal . . . wer weiß? . . . Aber nun ist dies alles vorüber. – – –

Vinzenz geht weiter.

Man wird ihn vielleicht nur zu einem Jahr verurteilen, vielleicht sogar freisprechen. Sein Rechtsanwalt war vollkommen sicher.

Nun – so – oder anders. Ob man ihm die Freiheit nimmt, oder ob man sie ihm läßt – hier ist alles abgeschlossen. Was ist die Heimat hinfort ohne Elsalill?

Dort ragt sie auf der Bergklinge, die alte Burg. Sie ist sein Eigentum wieder. Ein Bild kommt ihm plötzlich in den Sinn. Als Knabe ergriff es ihn zu Tränen: Ein Trüpplein Menschen sieht er, hingekauert an fremdem, gelbem Strande, Hände um die Knie. Dem einen war die Ziehharmonika entglitten. Die Gesichter waren abgekehrt. Aber die Haltung der Schultern, ja, darin lag alles. Sie starrten der sinkenden Sonne hinterdrein. In ein paar Stunden würde sie für Europa aufgehen. In ein paar Stunden würde sie die Bergkogel und Domkreuze der Heimat rot malen. –

»Auswanderer« stand unter diesem Bild.

Es war der Schlußakt eines Münchener Bilderbogens. Aus dem Buch, das er so sehr liebte. Auch Jonas im Bauche des Walfisch war in diesem Buch.

Er fährt zusammen. Die Kacheln der Schauküche, jawohl. Er spürt ein leises Frösteln. Nun – manche Dinge und Tage nimmt man besser noch nicht in seine Erinnerung. – – –

Gut, gut, gut, daß es geschah. Daß er den Brief zwischen sein Heut und sein Gestern legte. Um der Schwachheit willen der Kreatur.

Aber nun ist es vollbracht. Er kann wieder denken: Gott! Es ist keine Schranke mehr aufgerichtet. Nicht Trotz, nicht Lästerung. Es ist ihm verhängt worden, sein Schicksal, herüber von der hohen Schau und herauf aus dem abgründigen Wissen. Er hat es auf sich genommen. Nun wohl, wachse daran, Seele! Dennoch wachse!

Gott – Klaus – Elsalill – er – der tödliche Abgrund zwischen ihnen steht nicht mehr aufgerissen. Der große Ring schloß sich wieder.

Vinzenz kommt zurück. In weitem Bogen führte ihn der Weg. Da er aus dem Walde tritt, ist alles Purpur und Gold und veilchenblau und amethystfarben. Es ist alles unsäglich sanft. O – Heimat! . . .

Die Aveglocken heben an. Sie wandern von Berg zu Berg, von Kapelle zu Kapelle, reichen einander die Hände, schließen die große Gebetskette.

Der Baum, der die Maria trägt, ist wie aus mattem Opal. Schimmernde Flügel breitet er um das unkündliche Geheimnis der Liebe und der Schmerzen.

Wie mit Händen zieht es Vinzenz zu dem Baum. Auf dem Betbänklein kniete Elsalill und flehte um das Wunder. Vinzenz tritt in den Schatten wie Opal –

Er tritt zu dem Betbänklein.

O, – träumt er auch? Es gibt holde Legenden, da steigt die Schmerzensreiche vom Tabernakel. Sie legt dem Sünder und Pilgersmann die Hand auf die heiße Stirn. –

Löst sich nicht eine Gestalt aus dem flimmernden Schatten?

Vinzenz steht wie versteint.

»Maria am Meer!« sagt er wie im Traum. »Du, Elsalill? Du?« –

»Ja,« sagt Elsalill. »Hier bin ich.« Auch sie steht ohne Bewegung.

»Elsalill,« – er stammelt – »sag mir – erkläre mir doch! Ich halluziniere – oder – starb ich auch?«

»Du lebst,« lächelt Elsalill. »Wir leben. Ich bin bei dir.«

Aber wie sie die Arme zu ihm hinhebt, – schreit er auf, als ob er stirbt. So war alles umsonst? Er gehorchte ja doch, bis zum Letzten, zum Unerbittlichen. Ist dies noch nicht genug? Nichts wird ihm erspart? Aber er hat gesehn, wie sie erblaßte über seinen entsetzlichen Schrei. »Elsalill!« Er reißt sich zusammen. Er quält jedes Wort herauf wie brennendes Blut, und dennoch stetigt er seine Stimme. »Elsalill – ich schrieb dir,« sagt er leise. »Verzeih doch nur! Du hast meinen Brief nicht bekommen?«

Da wird das weiße Gesicht Elsalills plötzlich wie eine Flamme. Etwas reckt sie auf. Sie deutet mit der Hand auf ihre Brust. »Hier trage ich deinen Brief, Vinzenz!«

Er tut einen Laut, wie wenn ein Harnisch vonsammen bricht.

»O Vinzenz,« sagt Elsalill fliegender Stimme. »Weißt du nicht, wie es war, als ich ihn las? – Weißt du es nicht? – Bist du nicht schon einmal gekommen und hast mich errufen? Ich stand vermauert in mir.«

Das Aufgereckte ihrer Glieder entspannt sich. Sie seufzt tief und erlöst. »So alt wie die Welt ist unsere Liebe,« murmelt sie.

Vinzenz steht noch immer unbewegt. Er ballt seine Rechte. »Mit dieser Hand, Elsalill.«

»Arme Hand!« Elsalill stürzen die Tränen. Leidenschaftlich hebt sie die Hand an den Mund. »Wer anders als ich nimmt das Blut von dir fort?«

»Vielleicht – du weißt noch nicht – vielleicht muß ich in das – Gefängnis, Elsalill.« Vinzenz spricht hastig, als müsse er sie zurückrufen vom Absturz.

Elsalill lächelt entrückt. »Wo du hingehst . . . Du weißt wohl. Dein Land und dein Gott – –« ihre Stimme jauchzt, – »und dein Schicksal, alles ist meins!«

»Wenn sie einmal erwacht ist –« wer – wer sagte das doch? Vinzenz streicht mit der Hand über die Stirn: »Du könntest ein Mörder sein. Sie risse sich für dich das Herz aus der Brust!«

Derselbe Laut wie vorhin kommt aus seiner Kehle. Wie wenn Stahl zerbricht.

Sie sehn einander an. Ihre zuckenden Lippen verschmelzen, wie der Brand von zwei Fackeln.

»Und hättest du Blut an jedem deiner Finger!« Elsalill herzt seine Hände.

Vinzenz hat den Arm um ihre Schulter gelegt. Sie stehn unter der Maria im Baum. Die Abendsonne bricht rot und tausendfältig zersträhnt durch die opalenen Flügel. Wie Lohe fließt sie um Vinzenz und Elsalill. Sie stehn wie verwachsen in Eins. Wie zwei bronzene Gestalten, im Feuer verschmiedet.

»Elsalill! Elsalill! – So kommt das Wunder zu uns?« Seine Stimme bricht. Er kniet vor Elsalill. Sie steht ein wenig gebückt. Ihre Hände umschließen den Kopf von Vinzenz. Sie drückt seinen Kopf an ihren Schoß.

»Ja, Liebe!« denkt Vinzenz. »Maria,« denkt er, »Gefäß, drein sich die Gottheit schüttet! Gott ist Liebe. Und Liebe ist stärker als Tod.«

Er richtet sein Gesicht auf in Elsalills Händen. Seine Augen gehn von Elsalill zu der Maria im Baum. Beide stehn in Flammen und Gold.


 << zurück