Friede H. Kraze
Maria am Meer
Friede H. Kraze

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Eines der wichtigsten Dinge im Leben sind kleine Kalender. Solche, die man im Portemonnaie immer bei sich trägt. Damit jemand nicht in Versuchung kommt, Freitag für den 18. Dezember zu halten, wenn Donnerstag schon dieses Datum beansprucht. Und dann – ein deutlicher Namenszug ist eine Gabe Gottes.

Das ist nun wirklich, um in Verlegenheit zu geraten. Für den Donnerstag holt man die Erlaubnis ein, und am Freitag tritt man an. Alles wegen des mangelnden Kalenders.

»Verzeihung, Verzeihung!«

»Und heut, gnädigste Frau?«

Die imposante Gestalt von Frau Deichgraf Jeß macht eine leichte Bewegung der Abwehr, wobei es sie stört, daß sie unter dem linken Arm einen zugebundenen Topf und in der Rechten eine Flasche hält. Sie ist noch im einfachen Hauskleid. Das ist ihr vor diesem Herrn, der Bücher schreibt, nicht angenehm. Die verblichne Freiherrnkrone auf dem Koffer hätte Frau Kora Jeß weniger gestört. Sie entstammt einem der ältesten und reichsten Marschhöfe. Ihre Verwandtschaft greift nach Schweden hinüber, wo die Bauern zum Könige »du« sagen. Aber man weiß nie, was so gefährliche Leute, die Bücher schreiben, da hineinbringen.

Frau Deichgraf Jeß – Freunde nennen sie im Scherz die »Gräfin« – richtet sich trotz Topf und Flasche stolzer in die Höhe. Wahrhaftig, sie pflegt sonst nicht Besucher in diesem bescheidenen Kleide zu empfangen. Es kommt auch nur einmal im Jahr vor, daß sie um diese Stunde des Tages darin erblickt wird. Eben am Tage der Weihnachtsbäckerei.

Sie hat aus den unteren Küchenräumen hinaufsteigen müssen, der kandierten Nüsse wegen und des Orangenwassers. Den Dienstboten vertraut sie nicht gern die Schlüssel an. Lotte, die Getreue, die seit fünfundzwanzig Jahren im Hause ist, sitzt vor dem Backofen. Elsalill steckt in Puderzucker bis über die Ellenbogen.

Gerade als Frau Deichgraf heruntersteigen will, steht der fremde Herr in der Diele. Denn dieses ist eine Gegend und eine Zeit, da die Fronttüren vieler dieser alten Häuser mit den glänzenden Messinggriffen den ganzen Tag unverschlossen bleiben. Genügt es nicht, wenn eine Glocke mit heller Freude den Kommenden meldet? Es mag geschehn, daß jemand bei seiner Heimkehr im Wohnzimmer einen Strauß Astern vorfindet, ein Buch oder einen Korb Äpfel, wie ein getreuer Freund sie hinterläßt. Niemals ist es bisher vorgekommen, daß auch nur das kleinste Stück vermißt worden wäre.

Also niemand hat die Glocke gehört. Die »Gräfin« steckte mit dem Kopf zwischen Honigtöpfen und Eingemachtem. Der Deichgraf ist auf einer Inspektionsreise die Küste hinauf. Die übrige Familie samt Dienstboten, Nachbarskindern und Näh-Tine sind in der Küche.

Nun steht da der fremde Doktor, der sich alle alten Dielen und Apotheken und Höfe ansieht, um sie zu beschreiben. Man hatte ihm herzlich gern den 18. Dezember für die Schauküche bewilligt. Gerade noch, ehe die Weihnachtsbäckereien begannen. Aber nun kommt er heut.

Frau Kora Jeß kann wirklich auch im Hauskleid ruhig den Freundestitel »Gräfin« vertragen. Man heiratet auch nicht umsonst in ein Haus, das in jeder Kunstgeschichte abgebildet steht. Die Küche dieses Hauses – schließlich denkt der Fremde, sie befinde sich in einem Zustande, in dem sie nicht preisgegeben werden kann. Wohlan! Frau Deichgraf bohnert nicht gerade wie Näh-Tine jedes Frühjahr und jeden Herbst die Blätter ihrer Efeuwände. Aber trotzdem! Nicht allein die Holländer, die das Privileg besitzen, haben die Sauberkeit gepachtet. Darin sind alle Küstenvölker verwandt. Gerade wie alle Seeleute einander verstehen und von einem steifen Trunk etwas halten. Kurzum, wenn Herrn Doktor die Küche auch in diesem Zustand interessiert . . .

Vinzenz von Lassing denkt: Weihnachten, bescheren! Die lange verbotene Tür wird für ihn aufgeschlossen. Die Küche darf er sehn in ihrem intimsten Reiz. Vielleicht in der Küche . . . Schweig stille, mein Herze!

Ja, und dann geschieht das ganz und gar Märchenhafte.

Wie denn? Blauweiße Kacheln sind ja vielleicht denkbar. Aber der Prophet Jonas! Sieh, hier verschluckt ihn der Walfisch. Auf der nächsten Kachel schon speit er den bösen Bissen wieder heraus.

Vinzenz von Lassing sieht plötzlich einen Münchener Bilderbogen vor sich, der ihn als Kind begeisterte. Dort fand der Prophet im Bauche des schalkhaften Fisches ein nettes kleines Wohnzimmer hergerichtet, mit Ripsmöbeln. Er saß vor der Zeitung im Schlafrock und mit der Pfeife. Aber diese reizvolle Erinnerung ist schon wieder versunken.

Mein Gott – die drei Männer im feurigen Ofen! Und Abraham, gesegnet von Melchisedek. Beide in holländischer Kaufherrntracht des siebzehnten Jahrhunderts.

Ja, aber der Herd! Ich frage, wer bekommt seine Schnitzel gebraten auf einem Herd, riesenhaft getürmt zwischen gotischen Säulen und Spitzbögen? Wer hat steinerne Butterfässer herumstehn wie anderswo Emaillekasserollen? Und ebensolche Gewürzmühlen als Streitobjekte für Museumsdirektoren?

Vielleicht ist es gestattet . . . Allerdings . . . Schweig stille, mein Herze! Dort am Fenster!

Die schlanken Arme, weiß wie Lilienstengel, bis an die Ellenbogen in Puderzucker, das Gesicht hingegeben irgendeinem schweren, süßen und kostbaren Geheimnis, von Rosenwasser umflossen und dem bläulich ermattenden Geruch bitterer Mandeln – St. Georg?, St. Michael?

Vielleicht auch Nanna verstand das Geheimnis des süßen Methes. Sie wußte, wie man Mondhörner bäckt und wie man ihn röstet am Spieß, den heiligen Goldborstigen!

Elsalill, Elsalill! Es war einmal ein kleiner Bub. Der stand an seiner jungen, schönen Mutter Knie. Er schaute durch ein bogig gesteiltes Fenster in einen rosenfarbnen Himmel. »Christkindlein bäckt,« sagte die junge Mutter glückselig und herzte den Buben.

Und dann einmal – es war um die Zeit, wenn die Nebel aus den Wäldern treten und am Morgen als glitzernden Schmuck an den Wiesengräsern hängen, an so einem Tage ging derselbe Bub in einem herrlichen Mantel aus schwarzem Sammet mit seiner Mutter durch einen Wald, ganz aus Gold gemacht. Vorsichtig führte er die Mutter – sie mochte wohl müde sein – zu einer Bank aus Stämmen. Dort fing sie an: Stiel in Blatt, Stiel in Blatt. Einen Kranz. Er sammelte die Blätter. Den goldnen Kranz hängten müde, schöne Mutterhände über sein Mäntelchen aus schwarzem Sammet.

Elsalill, sonst weiß der Bub weiter nichts von seiner Mutter! –

Vinzenz von Lassing tut einen schnellen, behutsamen Schritt zu dem weißgescheuerten Tisch. Riesenhaft wie der Herd. Wie ein Plan. Sein Herz schwillt ihm irgendwie in Bedrängnis.

Zweimal sieben Kinderhände wirken rundum. Zweimal sieben Wangen glühen rundum. So tief versenkt in schaffendes Glück stehen die Kinder aus dem roten und die Enkel aus dem weißen Kavalierhause drüben überm Weg, keiner merkt den Zuschauer. Soll nicht Gullinburstis geboren werden? Aus süßem braunen Teig? Siebenmal soll er versinnbildlicht werden, der heilige Goldborstige. Es mag nichts ausmachen, wenn Hellis Wotanseber unendlich lieblich und mehrfach sein Schwänzlein ringelt. Oder daß Arne einen Drachen bildhauert. Detlev, der Sextaner, trifft ihn beängstigend ähnlich. Aber Annemie formt eine siebenbeinige Kuh. Was macht das aus! Wenn doch der kostbare Zuckerguß bereitsteht, Pinsel und Krähenfeder. Wenn erst die Borsten gemalt sind, die greulichen Hauer – wem wird es dann noch einfallen, ihn zu mißdeuten?

Plötzlich schreit Näh-Tine: »Chott!« Sie sitzt wie immer auf einem Kinderstühlchen. Sie schreit: »Chott!«, hüpft rätselhaft und wie von einer Feder geschnellt zwei Spannen hoch, sinkt zurück und greift mit den Teigfingern nach der obersten ihrer drei Mützen. Niemals wird Näh-Tine überwinden, daß die Fledermaus sich in ihrem gelben, falschen Zopf verfangen hat.

»Mensch,« sagt Detlev, der Künstler, mitleidig groß, »Mensch, Tine, wat hättst all wedder!« Er vollendet soeben ein Dromedar.

Aber Näh-Tine antwortet nicht. Sie hüpft abermals zwei Spannen hoch über ihr Stühlchen. Erhebt sich völlig und knixt errötend zu Vinzenz von Lassing gewendet. Da sehen ihn auch die sieben Raben.

»Schockschernot!« Die süße, hohe Stimme der ganz kleinen Inga zittert ein wenig. Wenn sie verlegen staunt, gebraucht sie Worte, irgendwo draußen erhascht, und von fremdem und geheimnisvollem Klang.

»Klein Inga, das darf man nicht!« Alle lachen. Tiefrot und wortlos flüchtet das Kind zu Elsalill. Sechs Raben betrachten noch immer den Eindringling.

Elsalill entsteigt zuletzt der Unzahl ihrer süßen Herzen. Bald sollen sie im Backofen ein köstlich gebräuntes Käntchen erhalten. »Wo sind die gezuckerten Früchte, Mutter?«

»Klaus, Klaus, Klaus!« Die sieben Raben flattern auf. Vinzenz von Lassing spürt einen sonderbaren inwendigen Ruck.

»Tag, ihr Bütten! Tag, Mutter! Tine! – Tag, Lilla, min söte Deern!«

Eine riesige und zugleich merkwürdig jungenhafte Gestalt tritt durch die Tür, wirft eine ungeheure Last rotbeeriger Zweige auf den Estrich, grüßt herzlich im Kreise und nimmt ohne besondere Umstände Elsalill in die Arme.

»Klaus!« Elsalill steht überflammt.

»Nanu!«

Die hellen Blicke des riesigen jungenshaften Mannes schweifen staunend.

»Dübel ook!« Er läßt Elsalill aus den Armen. Er reibt sich die Augen unter dem hellen strebenden Schopf. »Klaus! Elsalill!« Frau Deichgraf Jeß fängt an mit dem Datum und dem Irrtum und der Küche – aber ehe sie zu Ende kommt: »Mutter« schreit Klaus Andersen – »Elsalill.« Er faßt Vinzenz von Lassing an den Schultern. Man denkt, man hört die Armkugeln knirschen: »Bist du's jetzt – oder bist du's nicht?«

»Ich werd' es am Ende sein!«

Vinzenz von Lassing begreift nicht, warum die Walfische, Melchisedek und die Männer im feurigen Ofen diesen ganz wilden Indianertanz beginnen, in den sich die gelben Messingkieken und Leuchter, die kupfernen Pfannen und Kessel ungebührlich und blank vermengen. – »Lilla!« hört er. »Lilla!« War auch einmal eine Zeit, da er den Neckar kannte, grün geschlungen wie ein Band um den holdseligen Strauß einer Landschaft? – Tübingen! Scharfer Mostgeruch! Ein blonder, bärenhafter und jungenshafter Ankömmling unter den Studenten – ganz ungehörig für einen Fuchs einem älteren Semester gegenüber – machte ihm Bekenntnisse – über dem Neckar, als das Weinlaub brannte. – Sie hieß: »Lilla!« – –

»Junge, Junge!« Klaus Andersen ist hochrot vor Glück. »Elsalill,« ruft er. »Tübingen! – Von wem hab' ich dir am meisten erzählt? Bloß ein Semester waren wir zusammen! – Mensch!« schreit er. – Er schmettert dem Wiedergefunden die Rechte auf die Schulter, wie sein Ahn dem Wisent die Keule aufschmetterte. – »Mensch!«

Aber mehr ist nun wirklich nicht notwendig. Alles ist nun vollkommen klar. – Klar und hell und warm. – »Oder auch klar und kühl?« denkt Vinzenz. Wie ein Wintermorgen auf seiner Bergklinge so klar und so kühl. Wenn die bange Sehnsucht und die lodernden Träume der einsamen Nacht im Morgen zerknirschen. Wenn die Leonhardspitze mit dem kühnen Profil schmerzhaft silbern in den Himmel stößt. Wenn die Luft blänkert wie ein Schild, und ihre Schärfe ist wie eines Schwertes? – Lilla und Elsalill bedeutet dasselbe!

»Freilich, so werd' ich's wohl sein. Klaus, dein alter Freund!« Eine gefaßte Stimme spricht irgendwoher und irgendwie wehrlos diesen strahlenden Jungensaugen gegenüber.

»Vinz!« schreit der Riese. Behutsam wie eine Kostbarkeit dreht er die wirklich nicht kleine, nur in den Schultern wie Stahl zusammengeschweiste Person des Freundes, den Frauen zu Anblick und Schätzung. »Also, das wäre der Vinz! – Hast dich selber als Weihnachtsgeschenk für mich ausgesucht! Hallo, Julklapp! – Überraschungen sind immer doll gut. Aber das ist die beste! Was, Elsalill? Ist noch etwas zu erklären?« Er nimmt Elsalill in den Arm, zart. Sieht ihr in die Augen. Sieht Vinzenz in die Augen.

Nein. Nein. Zu erklären ist nun wirklich nichts mehr. –

Also drei Briefe sind abgeschickt worden in den letzten drei Jahren aus der kleinen Stadt an der Westküste. Im ersten, zu melden, daß der Referendar gestiegen. Im zweiten, daß das Jus trotz aller begründeten Aussichten auf den Ministersessel soll doch an den Nagel gehenket werden. Onkel Gerrits Hof in Eiderstedt braucht einen Herrn. Und zum dritten: Dr. Vinzenz von Lassing-Dombühl wird zur Hochzeit geladen von Klaus Andersen-Avetoft und Fräulein Elsalill Jeß, Tochter des Oberdeichgrafen und Landtagsabgeordneten Rasmus Jeß und seiner Frau Gemahlin Kora, geborene Lindholm.

Aber alle drei Briefe sind als unbestellbar zurückgekommen.

»Weiß Gott, irgend etwas aber hat dich doch gezogen!« Klaus nimmt den wiedergefundenen Freund bei den Händen. »Und jetzt bleibst du gleich bis zum 2. Februar. Denn daß sie an Maria Lichtmeß Hochzeit feiern will, hat Elsalill sich nun einmal in den Kopf gesetzt!«

Also wenn das Herr Dr. von Lassing ist . . . – Frau Deichgraf Jeß schließt auf das Tor der Mauer, die sie wie jeder Nordländer stark und fest um ihr Inneres gebaut hat. Neue Leute – aus Gegenden zumal, wo sie die spitzen, sauberen s–t– so weich ausbuttern . . . Vorsicht! – Aber Freunde der Kinder, oder Schwiegerkinder – das ist beinah wie eigen Fleisch und Blut. – Die Bäckerei ist ja nun auch getan. – Wenigstens das, was die Hausfrau selber dabei angeht. Das übrige – nun wenn man einen Schatz besitzt wie Lotte . . . die jedes Geschmack und jedes Gewohnheit besser auswendig weiß als der Betreffende selbst . . .

»Dann, bitte Herr Doktor, es wird gleich Kaffee getrunken.«

Frau Jeß eilt, sich vorher noch umzukleiden. Desgleichen Elsalill.

»Um fünf geht's an bei Tante Ragnar! Elsalill!

Elsalill! . . .« Die sieben Raben stürmen davon. Weihnachtsselig. – – –

Dr. von Lassing würde vielleicht gern die Schulfeier mit erleben? – Frau Jeß im schwarzen, schleppenden Tuchkleid, alte, schöne, geldliche Spitzen um den vollen Hals, ist jetzt ganz Gräfin am Kaffeetisch. Sie lädt Dr. von Lassing zu dieser Feier, wie man jemanden zu dem einmaligen Auftreten eines Stars einlädt, oder zu der Premiere vom Dichter des Tages.

»Wie liebenswürdig!« Vinzenz dankt tausendmal. Obwohl diese helle Kühle, die vorhin plötzlich um ihn aufstand wie ein schmales, blankes Messer, irgendwo in ihn hineinschneidet.

Sekundenlang ist sein Blick unbeherrscht und verloren durch dieses Wohnzimmer. Es gibt der Küche nichts nach, wahrhaftig! Die Wände sind von tiefem, weichem Grün, schlank heruntergezogen von den weißen Deckenbogen. Sie sind ruhvoller Hintergrund für die Madonna del cardelino, eine gute Kopie in altem, goldnem, florentinischem Rahmen, und zwei oder drei Originalbilder aus der Schule Lionardos.

Der älteste Bruder Elsalills – er starb in der Blüte seiner Jahre, ein feiner, künstlerisch gerichteter Mensch – brachte die Bilder von ein paar Italienreisen. Auch zu den Mahagonimöbeln edler Form, mit eingelegten Bronzestrichen, passen sie gut, und zu den Reliefs nach Thorwaldsen, ohne die ein nordisches Patrizierhaus schwer zu denken ist.

Wiewohl Weihnachten vor der Tür steht, sitzt man wie im Frühling. – Es herrscht ein Rangstreit in der kleinen, winterdunklen Stadt, wer seine Hyazinthen zuerst zum Blühen bringt. Sie verschmelzen ihren zarten Wohlgeruch dem von Kaffee und Weihnachtsgebäck. Und Öfen wie in diesen alten Häusern, diese gewaltigen weißen oder braunen Burgen, so genügsam und so treu, ja solche gibt es nur noch sehr wenige in der heutigen Welt! –

»Heimat,« sagt etwas zu Vinzenz von Lassing, während er doch zugleich in der Brust diese feine, kühle und bohrende Spitze empfindet. – Dann wendet er seine Augen entschlossen auf den Freund. Man muß sich umstellen, das ist alles. – Man hat ja kaum angefangen zu träumen. Gottlob! Dieses wird wieder überwunden werden.

Klaus, dessen Appetit dem Körpermaß nicht widerspricht, kann sich nicht genugtun in Erinnerungen. Wirklich, dieser warmen Herzensgüte ist nicht zu widerstehen!

»Ich bin am Gymnasium vorübergegangen,« sagt Vinzenz. »An der alten Lateinschule, wie Storm immer sagt. Hier hast du dein Abitür gemacht!«

Klaus Andersen lacht. So lachte er immer, wenn Vinzenz nach der Weise der Süd- und Westdeutschen Abitür sagt. »Ja, damals!« Er unterbricht sich jäh. Feuer überfließt seine helle Haut. Die blonden Wimpern heben sich ab wie weißer Flaum.

Frau Deichgraf Jeß sieht ihn an. Wie besondere Wege gewiesen von seinem Erröten: »Onkel Jaspersen hatte einen ganz schlimmen Anfall gestern! Elsalill war spät nach dem Tee noch drüben. Hast du etwas gehört, Klaus, Ewert soll hier herumspöken!«

»Kann nicht angehn!« Klaus ist aufgesprungen. »Das wäre ja eine dolle Sache! – – Wie steht's mit Tante Bina?«

»Das Herz! Das Herz!« Auch Frau Jeß ist aufgestanden. Es wird hohe Zeit, daß man sich aufmacht. »Wenn da noch Verkalkung dazu kommt!« Sie hat schon die Hand auf dem Türdrücker. Ihr Gesicht verrät ernste Besorgnis. – – –

»Komm, wir warten im Garten auf Mutter. Elsalill ist schon hin mit den sieben Raben!«

Die Freunde treten aus der Veranda, in die hineingezogen, jeden Herbst ein blauer Weinstock köstliche, großbeerige Trauben reift. Der Garten liegt wie im Traum. Weder Mond noch Sterne durchdringen den Nebel. Die Bäume und Büsche verdämmern ineinander. Aus dem Schloß, über den alten Wallgraben hinweg, fließt der Schein einer Lampe.

»Dort liegt nun Tante Bina und grämt sich.«

Mit einem plötzlichen Entschluß wirft Klaus die eben angerauchte Zigarette in das feuchte Gras. »Vinz, warum muß ich dir gleich wieder Bekenntnisse machen?«

Vinzenz staunt weniger darüber als Klaus. Er ist Beichtiger vieler junger Menschen gewesen. Wie die Starken, die mit sich allein ihr Schicksal abmachen, immer von den anderen noch dazugelegt bekommen.

»Es gibt Dinge, über die man nicht weg kann.« Klaus spricht hastig. Man schämt sich so. »Ewert Jaspersen, erinnerst du noch den Namen? Wir sind ja alle verwandt hier herum. – Er ist unser Vetter. Der einzige Sohn von Onkel Hardesvogt und Tante Bina. – Es war eine greuliche Sache. Ewert – sie hießen ihn Ewert Dusendschön. Er war so eitel auf sein Mädchengesicht. Auf seine Weise – vielleicht – hat er Elsalill geliebt. Jedenfalls – was er konnte, hat er versucht, uns auseinander zu bringen!« – –

Die gute, helle Stimme ist einen Moment hart. »Wir wußten ja nie anders, als daß wir zusammengehörten, Elsalill und ich,« fährt Klaus dann leise fort. »Den Sommer, als wir uns wirklich verlobten, am Johannistag war's – Gott« –

Das übrige mußte Vinzenz in der Hauptsache erraten. Ewert Jaspersen machte dann allerlei Andeutungen, seufzte, tat skeptisch, war schwermütig, verlor sich in Erinnerungen an den schönsten Sommer seines Lebens. Ja, die hellen Nächte, draußen am Wasser, wo die Heide anfängt . . . Wenn da so ein blanker Mädchenkörper gegen den roten Himmel steht und gegen das rote Wasser . . .

»Und plötzlich ein Blick, sag' ich dir« – Klaus stößt die Worte heraus »zu Elsalill 'rüber. Die steht draußen im Garten. Ganz still, ganz hoch. Wie eine Bildsäule gegen den Himmel.«

»Schuft!« bäumt etwas auf in Vinzenz. »Also so einer bist du!« Er weiß, wie das ist: Gegen den Himmel! Wie eine Bildsäule! Er hat ihn wieder im Ohr, den Ton leidenschaftlicher Empörung, den gestern abend Elsalill Ewert Jaspersen hinwarf.

Aber er hält sich ganz fest. »Und du, Klausle?« sagt er ruhig. »Bub, und du? – Denn darauf allein kommt's an!«

»Ich?« Klaus bricht los: »Halb totgeschlagen hab' ich ihn. Aber hernach . . .« Er stottert in Scham.

»Sieh, wenn man so rasend verliebt ist! – Jetzt, das ist ganz anders. Jetzt hab' ich sie täglich. Aber ich hatte Elsalill so lange entbehrt damals. Ich war halb verhungert. Andere Deerns – nee, danke! Gegen Elsalill! – Aber Elsalill war . . . Sie ist . . . In dem Punkt . . . Sie ist noch – nicht – erwacht!« – Er bricht kurz ab. Er atmet tief.

Vinzenz hat ein Gefühl von Schlafgebundensein. Alles dies geschieht ganz fern. Und ist doch irgendwie nah wie sein eigen Blut. – Er legt die schmale, langgliedrige Hand auf die mächtige Schulter, wie er früher oft getan. – Klaus nimmt sie zwischen seine Bärentatzen. Er lacht verlegen. »Kurz, halb war ich Ungeheuer, halb war ich ein Esel. Es fraß eben weiter das Gift. Elsalill fragen, ging nicht. Mutter Jeß – so heikle Dinge versteh' ich nicht zu deichseln. Sie begriff gar nicht. Ich dachte. ob der Kerl vielleicht mal beim Baden . . . –

Schluß, Schluß!« befiehlt sich Klaus heftig. »Nur weil Mutter vorhin Ewert erwähnte! Gut. daß ich's los bin, Vinz. Bei dir ist's gut aufgehoben.«

»Ja, Klaus, ja.«

»Was ist aus diesem Menschen geworden?« fragt Vinzenz dann.

Immer noch ist alles so seltsam fern und nah zugleich.

»Er hat nicht gut getan. Bei der Westholsteinschen Bank. Böse Sache! – Sieh, da kommt Mutter,« unterbricht sich Klaus. »Das seh' ich immer so gern, wenn das Licht die Treppe herunterwandert. Nach der Feier mußt du gleich mit zu meinen Leuten. –

Ja, Mutter, hier sind wir! –

Vinzenz« – er faßt den Freund plötzlich am Arm, seine Stimme ist heiser – »Elsalills Herz, das ist noch wie eine Knospe. – Wenn einmal . . . Dann kannst du ein Mörder sein, und sie reißt sich's für dich aus der Brust.« –

»Ich weiß nicht, was mit Thor eigentlich ist,« sagt in diesem Augenblick Frau Jeß. »Er kommt mir so sonderbar vor.« –

Vinzenz horcht auf: Thor? – Er weiß nicht, warum das Schicksal des Hundes ihn irgendwie betrifft. »Du kannst ein Mörder sein!« denkt er im nächsten Augenblick. »Wie sonderbar, daß Klaus sagte: Du!«


Die höhere Mädchenschule »Auf der Neustadt« wird von einem Fremden sicherlich immer vergeblich gesucht werden. Auch Dr. von Lassing ist, ahnungslos seiner Bedeutung, schon etliche Male an dem kleinen Häuschen vorübergegangen. Drei Fenster neben einem Tor und unter einem schiefen, zweifenstrigen Giebel bestreiten die ganze imposante Schulfront. Das müde Tor über dem holprigen Gang ist allerdings breit genug, daß ein tüchtiger Ochse sich dadurch nicht beengt zu fühlen braucht. Was zuweilen auch nottut. Die schmale, stark belebte Straße, die an ihrem Norderende hauptsächlich aus Wirtschaften besteht, führt zum Viehhof. Es geht hoch her an Marktagen! Hü und Ho und Peitschenknall!

Ja, es soll vorkommen, daß Sommers plötzlich ein prachtvoll gehörntes Haupt durch die geöffneten Fenster der kleinsten Klasse hereingrüßt, zur hohen Freude der Fibelhelden. Erschreckt hat es noch niemanden. Den Kindern dieser Stadt sind die Ochsen vertraut wie Laterne-gehn im Herbst, wie die Porren aus dem Watt, die Lämmer in den Fennen und die steinernen Rebellenköpfe an der Brauerei überm Schloßgang.

Wenn man nun weiß, daß die zwei Fenster links des Tores die beste S–tube von Tante Ragnar bedeuten, so ist man imstande anzunehmen, das winzige Häuslein beschäftige sich nur mit den drei oder fünf Fibelhelden. Aber es gilt, wie bei vielen guten Dingen, erst den Anfang zu überwinden. Der Anfang aber hier ist der holprige und wenig verlockende Torgang.

Hinter der besten S–tube Tante Ragnars, wie die Schulvorsteherin, Fräulein Mommens, von ihren Schülerinnen genannt wird, befindet sich das rote »Bordeaux«. So hat Scheuerfieken das handtellergroße, auch bei Tage von einer rosenfarbenen Ampel erleuchtete Gemach getauft. Sein Fenster blickt auf einen rabendunklen, zwei Schuh breiten Hausgang. Tante Ragnar nennt es ihr Boudoir, oder auch die Bibliothek. Dieser Name scheint vollkommen gerechtfertigt in Anbetracht seiner zwei einzigen Möbelstücke, einer Couchette und eines in Schnüren hängenden Bücherbords. Auf dem Bord stehen: Schiller, Goethe, Storm, Walter Scott, Oehlenschläger und die Frithjof-sage. Letztere beide in Goldschnitt.

Hinter der Bibliothek befindet sich das Schlafzimmer Tante Ragnars. Es ist von gleichem Format und gleicher Belichtung von außen her. Aber ohne die Verklärung der rosenfarbenen Ampel.

Hinter dem Schlafzimmer – ja dahinter liegt nun die Schule.

Die drei Klassen sind weder übermäßig groß noch übermäßig hygienisch. Aber sie sind hell und vergnügt. Sie sehen teils auf kleine Hofplätze der Nachbarschaft, wo sich weiße und rote Wäsche im Winde bläht, teils auf das kleinwinzige Schulgärtchen.

Vielleicht darf der Rasenplatz, drei Meter im Geviert, auf dem sich tagaus, tagein zwanzig bis vierzig Paar Kinderfüße tummeln, nicht gerade wohlgepflegt genannt werden. Aber – o –der Zauber dieser alten Schule, mit ihrem Garten! Und mit dem Birnbaum! – Es sind Beurre gris. Und dieser gesegnete Baum geizt nicht.

Eine Holzplanke trennt den kleinen Garten von einem Seitensträßchen. Wie reizend ist es, über die Planke hinweg seine Freunde, die Schüler, zu begrüßen! Ein Butterbrot zu empfangen oder einen Spickaal am Markttag! Wie reizend ist es, gleichen Wegs entwischen zu können, nach einem vergessenen Buch oder zu Kaufmann Jansen mit den fabelhaft schillernden Bonbongläsern an der Ecke! – Und es scheint, als ob zu allen Zeiten der Flieder dufte, die Nelken und die uralten Linden des uralten Friedhofes jenseits des Sträßchens.

Ja, und dann Tante Ragnar! Die so sehr feiner Manieren ist. So schlank, um nicht zu sagen – dürr! So herzensgut und so sehr, sehr sonderbar!

Sie spricht viel und gern von ihrer Heimat, dem hohen Norden. Allerdings liegt er vier S–tunden Bahnfahrt von dem Schauplatz ihrer Tätigkeit entfernt. Früher hatte sie zuweilen Besuch von einem Neffen Alph, der rothaarig war und gesprenkelt von Sommersprossen, groß wie halbe Groschenstücke. Er trug so sehr aparte Schlipse, und ein Stück Fensterglas in sein eines Auge geklemmt. Er sprach durch die Nase von den Kopenhagener Kasinobällen. Die Mütter sahen es nicht gern, wenn der dumme Bengel auf Besuch war. Denn keine Schürze hatte Ruhe vor ihm. Aber einmal betrank er sich wie ein Stint, und dann durfte er nicht wiederkommen.

Außer dem Neffen Alph hat Tante Ragnar noch vielerlei Merkwürdiges und Anziehendes. Zu allen Stunden des Tages und des Jahres kann man bei ihr rote Grütze bekommen. Sie versteht eine besondere Art Likör aus Ebereschen zu bereiten. Sie hat Rezepte für die köstlichsten kleinen Kuchen, kroß, süß und bekömmlich. Und sie ist mitteilsam gegen jedermann mit Likör und Kuchen. Wiewohl der hektische Adjunkt Stahl entschieden den Vorzug besitzt. Überdies kann sie Blumen aus Vogelfedern herstellen. Aber wenn man zum Lohn des Fleißes ein solches Federbukett verehrt bekommt, ist man tief unglücklich. Denn erwartet nicht Tante Ragnar, daß man es zum Abtanzball vorsteckt? Dann sieht man aus wie aus Minnesota oder wie die Gegenden heißen, jenseits des Mississipi. Die Schüler lachen und bieten rote Tinte an zur Vervollständigung der Toilette.

Einmal adoptierte Tante Ragnar ein Negerkind. Ehe Adjunkt Stahl in die Stadt kam. Daß er sein aufgeschlagenes Gesangbuch als Kopfkissen nehmen, Seite 74 Lieder für den Hochzeitsgottesdienst und dabei an Elsalill Jeß denken könnte, ahnte Tante Ragnar nicht.

Das Negerkind hatte irgend jemand in einer Zeitung ausgeboten. Es war vom Schicksal nach Hamburg verschlagen, Gott weiß, warum. Es hatte ein Pappschild auf seine Brust gebunden, worauf sein ganzer Lebenslauf geschrieben war. Nur die Hauptsache war nicht zu entziffern: nämlich, wo es hin sollte.

Ja, und so mußte doch Tante Ragnar das Kind haben. Sie strickte ihm lange wollne, knallrote Strümpfe, daß es aussah wie der Teufel oder wie ein schwarzer afrikanischer Storch. Es hieß Drullah nach seinem Pappschild. Wenn es den Katechismus betete, so sagte es: »Du sollst deinem Nächsten an seinem Bauch keinen Schaden noch Leid tun.« Aber Tante Ragnar liebte es zärtlich, und später heiratete es einen lichtblonden Bahnwärter, und steht noch irgendwo auf der Strecke Hamburg–Hvidding und salutiert, wenn die Züge passieren, und sein Mann sitzt gerade bei Frühstück.

Ja, das ist nun Tante Ragnar! – Irgendwelche Examina hat sie nicht absolviert. Aber wie sie ist, und mit Propst Diekmann, diesem lieben, herrlichen alten Herrn, und Kantor Heß, dem es auf seiner Orgel und in Imkereiwissenschaft einmal jemand nachtun soll, und mit Fräulein Bydekarken für Sprachen und Musik lernt man doch eine Menge. Wunderschöner aber als in der kleinen Schule auf der Neustadt ist es schwerlich anderswo in der Welt, wo die Examina und die gestempelten Zeugnisse ganz allein den Ausschlag geben.

Heute feiert Tante Ragnar Weihnachten mit ihren Kindern. Elsalill Jeß ist schon vor drei Jahren konfirmiert worden, schulentlassen und war in Weimar in Pension. Aber heut scheint sie keinesfalls entbehrt werden zu können.

Die zweite Klasse – die erste befindet sich in dem kleineren Raum, weil ein so bedeutender Bildungsgrad nur von einer beschränkten Elternzahl als notwendig für ihre Kinder erachtet wird – die zweite Klasse dient als Aula und Festsaal zugleich.

Es ist ein mäßig großes, dreifenstriges Zimmer und bereits stickend voll, als Frau Deichgraf mit ihren beiden Begleitern sich in der Türe zeigt. Es erscheint heute noch kleiner, als es tatsächlich der Fall ist. Das mag den zwei mehrteiligen Bettschirmen zuzuschreiben sein, die ein Drittel des Zimmers geheimnisvoll absondern.

Die beiden Freunde, der allgemeinen Bedrängnis ansichtig, äußern die Absicht, sich im Türrahmen zu halten.

Oha, denn doch! Tür offen zum Gang hin!? – Frau Klempner Matthies fängt an: von Mandelentzündung, Zahngeschwüren, Gelenkrheumatismus, wo jemand, und hatte nur Zoch an sein' Füße bekommen! Es ist wirklich nicht ganz angenehm. Frau Jeß, aus der grünen Würde ihres Plüschsessels direkt vor den Bettschirmen, winkt zur Türe hin.

Soll man sich nicht lieber zurückziehen? »Du mußt bleiben, Klaus!« Es ist überhaupt unbescheiden. Diese Feier, die doch besonders den Eltern gehört . . . Vinzenz von Lassing tritt in den Gang zurück.

Aber jetzt gerät Tante Ragnar ganz außer sich. Sie verneigt sich fortwährend in das Zimmer hinein und aus dem Zimmer heraus. Das kann doch wohl nicht angehen? Sie wäre gegen zwei Herren, und der eine davon fremd, jemals im Leben unhöflich gewesen? – Wer mochte doch ihr etwas dergleichen nachsagen?!

Nein – etwas dergleichen kann gewiß von niemand Tante Ragnar nachgesagt werden. Und so finden Klaus Andersen, dem die fadendünne ältliche Dame errötend, wissend und schalkisch zublinzelt, und sein Freund, den sie Herr Graf tituliert, wie im Traum, nach unübersteiglichen Hindernissen, sich jählings fest und sicher in eine Ecke gekeilt. Vorausgesetzt, daß der gefährlich benachbarte und glutschnaubende eiserne Ofen ihrer Laufbahn kein vorzeitiges Ende setzt, dürfen sie erwarten, von diesem Standpunkt aus die Feier besonders wirkungsvoll sich entfalten zu sehen.

Vinzenz, im Gedanken an das Beispiel der drei Männer im feurigen Ofen, ist kühn entschlossen, alles zu erdulden. In Wahrheit nimmt die ergreifende Lieblichkeit des Raumes ihn so völlig hin, daß er den Feuertod kaum bemerkt haben würde.

O Tante Ragnar! Wie du dergleichen verstehst! – Die Wände, ganz und gar mit Tannengrün überkleidet, sind mit Sternen, Lilien, Rosen und bebenden Goldfäden geschmückt. Von der Mitte der Decke, im flimmernden Dunst der Kerzen, schwebt ein Engel. Er ist alt, holzgeschnitzt, bunt gemalt und schön. Er bläst die Posaune aus vollen Backen und hätte dem Meister des Schleswiger Altarblattes nicht zur Unehre gereicht. Nimmt man hierzu das geheimnisvolle Rascheln hinter den Bettschirmen, die schweigend hochrote Spannung der erhitzten Gesichter, ein klein wenig Blattgold an Tante Ragnars vorgestrecktem vierten Finger, den Geruch von Wachs, Äpfeln, Leim und Gewürzkuchen, und das Stimmen der Geige von Herrn Kantor, – ja, es ist wirklich ein rührendes kleines Himmelreich.

Wie im Fluge gleiten an den Augen des hierher an die Wasserkante verschlagenen Fremden Bilder früher gelebter Weihnachtsfeiern vorüber. Glocken brausen tieftönig, silbern oder sammtner Zärtlichkeit. Abgründe alter Kathedralen brechen auf, in ihren Fernen bebende Lichtfunken wie goldne Bienen. Im altersdunklen Gestühl hingekniet die ergreifenden Gestalten verrunzelter Betweiblein, nimmer müde, dem Himmel anzuliegen mit Bitte und Dank und Lob und Preis. Neben ihren großen Andachtsbüchern glimmt die stille Innigkeit eines winzigen gelben Wachsstocks! Wie kleine Inseln schwimmen sie tröstlich durchhellten Lebensodems im Dämmern versteinter Jahrhunderte, versteinter Menschensehnsucht. Hoch in den erstarrten Baumkronen wühlt Orgelsturm. Aus dem tiefen, erdhaften Dunkel des Schiffes langt es hinauf, inbrünstig, menschenklein:

»Gaudete in Domino semper: iterum dico gaudete!«

Und dem Begreifen lächelnd entrückt, trägt der Hochaltar in bläulichen Schleiern verborgen das Strahlenherz. Schimmerndes Behältnis jenes abgrundtiefen Geheimnis:

Der Menschwerdung Gottes aus Liebe.

»Dies ist der Tag, den Gott gemacht!« bricht es plötzlich aus. Mehrstimmig, hell. Unendlichen Jubels. Greift nach Vinzenz von Lassings Mysterium wie eine warme, lebendige Klein-Kinderhand.

Vinzenz lächelt. Er streicht über die Stirn, in den Schläfen schmal und in der oberen Hälfte stark und schön gewölbt. Wer hat das einmal gesagt? – Vetter Heinrich? »Die Friesen, das sind die protestantischen Bayern!« Er scheint jemandem zuzuwinken. Tief inwendige Weisheit enthält dieses seltsame Wort.

»Die großen Kontraste!« sagt etwas in ihm. »Das Ungeheure! Das ergibt die Verwandtschaft! Es ist gleich, ob Gebirgsstöcke die Unendlichkeit bestürmen, ob die Ebene zu ihr wandert und wandert, oder ob das Meer sie donnernd umdrängt. Der letzte Rand, die letzte Schwelle, das Grenzenlose – darauf kommt es an.«

Ach, wie fremd sind sie ihm geblieben die kleinen Lieblichkeiten und Geschäftigkeiten, die Zäune und Geschütztheiten der Mittellage jeder Art. Auch die Landschaften der Seele sind eingeborene Gesetze! Hier droben am Meer ist er zu Hause wie auf den heimischen Bergschroffen.

Lächelnd wie ein Märtyrer auf dem Rost, schweißbeperlt und sich allgemach auflösend, versinkt er in das Mysterium hinter den Bettschirmen, daran er gläubig ist ohne Schauen.

Die Lütte im weißen Kleid, geflügelter Schultern, fromm und unschuldig, hat inzwischen das Podium bestiegen, woselbst sie den Engelsgruß betet. Ihr folgen die Fibelhelden im Festgewand, lieblich verschämt und zugleich stolz und verlegen, gehorsam höherem Gesetz und tröstlicher Elternnähe gewiß, nur so weit zitternden Stimmleins, daß es ans Herz greift.

Es folgen Lied auf Lied, Gedichte und Chöre. Zu dem holden Geheimnis des Advents, der bald zur heiligsten der Nächte herabdunkeln wird, tritt das ebenfalls holde Geheimnis der kleinen Stadt.

Vielleicht sind nicht mehr alle kleinen Städte gleichen Zaubers voll. Sie müssen weit ab liegen von Maschinen und Handelszentren. Auch die Nähe von Brennpunkten des Geistes sind der Erhaltung ihrer Art nicht förderlich, und nicht verschwenden darf die Natur in ihrer Umgebung. Dann aber webt über diesen kleinen Städten – sie sterben heute aus wie der Elch in Masovien – die Innigkeit eines verschollenen Liedes. Sie erinnern an den Geruch von Veilchen im Herbst, an ein Bild von Schwind oder Richter im Zimmer eines sanften und liebevollen Menschen.

In diesen kleinen Städten kann der Bürger nicht sagen, wo der Bauer in ihm aufhört oder der Gärtner anfängt. Auch bedeutet Besitz noch nicht alles. Die Unterschiede sind nicht so ungeheuer. Und einmal doch hat Deichgraf Jeß mit Guschen Bahnsen, der jetzt Koffer zur Bahn schafft, auf der Schloßfreiheit Pickpahl gespielt.

Wie viele haben auf derselben Schulbank gesessen! Wie viele sind an Himmelfahrt zusammen ausgezogen, Maililien zu pflücken und im Herbst nach Glockenheide. Und dann Vogelschießen! Oder die weißen, heißen Sommernächte! Und das Meer im Oktober wie zerschmelzendes Gold und jedes Ruder Gold und jede Hand, die man ins Wasser taucht.

Ja, sieh, die Gärten stoßen doch aneinander irgendwo. Oder mindestens die Höfe! Chotte dochen, als klein Nuti ertrank von Böttcher Jebsen! Bei Porrengehn! Trauerte nicht die ganze Stadt? Und wie man feierte, als Ingwer Ingwersen heimkehrte! Mit einem Walfischfänger war er ausgezogen vor fünfzehn Jahren, und alle dachten: tot und gestorben. Nur seine alte Mutter nicht und machte saure Rollen auf jeden 10. Oktober für Ingwer sein Geburtstag. Und an einem 10. Oktober war er denn auch richtig da; nahm seine Mutter um den Hals, setzte sich an den Tisch, aß die sauren Rollen und sagte: »Da hört Appelmoos too. Der Mensch lebt nicht von Brot allein!« Mit welcher Lästerung er schon vor fünfzehn Jahren seine gute Mutter erschreckt hatte.

Ja, man muß einander doch wohl beistehen! Ob nun geschlachtet wird oder Kinder kommen oder ein schweres Sterben. Einer hilft und gibt auf diese Weise und der andere auf die andere. Aber jeder gibt und tut oder freut sich mit oder trauert mit nach seinem Vermögen und Kräften. Wie es schon Väter und Mütter und Urväter und Urmütter gehalten haben, immer weiter zurück. Nie ist es anders gewesen. Immer griff ein Glied ins andere. Und das Wissen um das feste Verfügtsein der einzelnen Glieder der Kette in Schlecht und Recht, in Freud und Leid gibt so viel warme Sicherheit. Man ruht in der Zeit, die sich zur Ewigkeit auswächst, ohne daß man groß darum gewahr wird.

Freilich nicht alle bleiben daheim. Das Meer lockt und ruft. Aber so tief verwurzelt ist man im Heimatgrund, wohin man auch sich wendet, ein Bröcklein Erde trägt man inwendig mit sich und zwingt die Fremde, dies Bröcklein anzuerkennen. Ein Friese bleibt, wer er ist. Zeitweilig mag er untertauchen in Farbe und Glut, die die Kargheit der Heimat nicht kennt. Sie, die Heimat, bleibt dennoch die Stärkere!

Von den Inseln her die Nestflüchter aus den kleinen Städten der Westküste – wenn die Schwalben heimkehren, ziehen sie aus als Schiffsjungen, Matrosen, Kapitäne, im Sold der großen Handelsherrn der Hansestädte. Kommt aber der Winter, dieses sanfte, nebelnde norddeutsche Grau, kommt Weihnachten in Sicht, dann drehen sie alle bei, backbord, Seele und Leib.

Vinzenz von Lassing röstet an seinem Ofen, ganz umsponnen von Weihnachtszauber, Heimatzauber. Plötzlich schlägt es ihn: Hat er etwas versäumt in seinem Leben? Gerade da aber tut sich der Himmel voneinander:

»Es ist ein Ros' entsprungen . . .«

Die Bettschirme sind verschwunden. Die Urnacht der liebesehnsüchtigen Menschheit ist angebrochen. Maria hält ihr Kindlein im Schoß. Sie ist die Gebenedeite unter den Frauen.

Nein, dies hat Tante Ragnar nun wirklich bezaubernd gemacht! Geradezu selbst übertroffen hat sie sich.

Also das war der Sinn des Hämmerns gestern abend noch in der Hohlen Gasse! Dieser Holzrahmen in Form eines Tryptichons! Mit Tannen und rotbeerigen Stechpalmen umwunden sieht er aus wie der Eingang zum Paradies. Das mittlere, breite feierliche Hochtor trägt einen Spitzbogen zur Bekrönung. Die schmaleren Seitentüren schließen flach und bescheiden. Vermöge einer verborgenen Maschinerie von Fensterleitern und Blumentreppen auf lebensgefährlicher Höhe der Querbalken baumeln lauter süße kleine Unschuldsengel mit den Beinchen. Durch das rechte Tor erblickt man die demütige Inbrunst der Hirten. Links bringen die Weisen aus Morgenland Opfer und Schatz. Der Stern schwebt hoch und selig. Irgendwo knattert es, riecht brenzlich nach Pulver, und ein sanfter rosenroter Schein fließt wie Morgen.

Maria?

Heilige sieben Christrosen haben sie ihr ins Haar geflochten. Ihr Gesicht steht wie Perlmut unter der Aureole ihres Haares. Dennoch – Maria?

»Sie sieht aus wie eine junge Heidin aus Königsblut,« denkt Vinzenz. Der herbe, spröde Morgen ihres Geschlechts umweht sie wie Schwanengefieder. Nur der Arm, der das Kindlein hält, ist zärtlich gerundet.

Sie sitzt nicht geneigt über ihren gesegneten Schoß. Auch blickt sie nicht auf das Kindlein wie andere Marien. Sie sieht gradaus, klar, unbewußt, großäugig, in Richtung auf Klaus und Vinzenz, wie sie beide am feurigen Ofen stehn. Aber ihr Blick geht durch sie hindurch, über sie hinweg, weit hinaus. Sie sieht sie nicht. Da beugt sich Vinzenz ein wenig vorüber. Nicht er – etwas beugt ihm den Kopf zu Elsalill hin. Er weiß es nicht, ist es seine Seele oder sein Blut.

In dem Augenblick geht es durch die atemlose Versammlung wie ein Seufzer des Glücks. Niemand kann mehr etwas anderes an dem Bilde betrachten als die Maria.

Elsalill sitzt noch immer ohne Regung. Aber sie hat die Empfindung: ihr Herz zerbricht. So leidenschaftlich beben die obersten Flügel des Cherub. Werden sie sich völlig entfalten? Wird sie das letzte Geheimnis erkennen?

Ihre Augen haben sich verändert in diesem dunkeln Lauschen. Sie sind selbst dunkel geworden und durchsichtig, tief und grün wie das Meer. Sie haften auf Vinzenz. Nicht auf Klaus. Und sie haben Vinzenz erkannt.

Das letzte Geheimnis steht noch immer verhüllt. Aber das ist nicht mehr die Schwanenjungfrau, nicht St. Georg oder St. Michael. Dies ist Maria. Nicht die Maria der heiligen Nacht, sondern die Maria der Verkündigung: »Mir geschehe, wie du gesagt hast!« – überschauert vom Unerhörten und – bereit.



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