Karl Kraus
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Karl Kraus

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Was es jetzt gibt

Nach einer Fahrt mit Hindernissen ist Kammersänger Bollmann der Goethe in Lehars »Friederike« – Samstag abends in Wien eingetroffen ...
»Ich würde,« sagt Bollmann, »es als Arroganz empfinden, wollte ich den großen Dichter auf der Bühne darstellen. Nur den jungen Studenten Goethe zu verkörpern, habe ich mir vorgenommen. Ich will meiner Gestalt alle schwulstige Würde, alle bedrückende Schwere nehmen. Ich scheue mich keineswegs, im ersten Akt als Goethe sogar das Tanzbein zu schwingen. Dadurch habe ich auch die schauspielerische Möglichkeit, die Entwicklung Goethes vom Studenten zum großen Dichter im letzten Akt, der acht Jahre später spielt, anzudeuten. Mit dieser Auffassung, die ich einem eingehenden Studium des Lebens Goethes verdanke, stehe ich durchaus im Einklang mit der Auffassung Lehars selber. Und die Kritik hat mir bisher auch darin Recht gegeben: Nur so konnte sich der empfindsamste Goetheverehrer nicht verletzt fühlen. Die Rolle an sich macht mir ungemein viel Freude. Ich hatte seinerzeit Unrecht, als ich »Zarewitsch« für Lehars bestes Werk erklärte. Ich ahnte damals nicht, daß es noch eine Steigerungsmöglichkeit gebe. Nun aber sage ich: »Friederike« ist Lehars reifstes Werk ...«


Lieben Freunde, es gab schönre Zeiten,
Als die unsern, das ist nicht zu streiten! –

Sehn wir doch das Große aller Zeiten
Auf den Brettern, die die Welt bedeuten,
Sinnvoll still an uns vorübergehn.

Schiller, »An die Freunde«

»Die lustigen Weiber« können entweder überhaupt nicht mehr oder nur historisch oder, am besten, in radikal bearbeiteter Form gespielt werden: mit Benützung der Figuren und szenischen Grundrisse, aber mit neuem Text.

Herbert Ihering.

Dieser Ausspruch des zweiten führenden Kritikers Berlins muß ohne Rücksicht auf den Umstand, daß er sich in der Sache des noch immer ersten führenden Kritikers anständig und relativ mutig betragen hat, aufbewahrt werden. Er enthält die Doktrin, von der jetzt die Konfektionsgilde, die sich des deutschen Theaterlebens bemächtigt hat, für die Beschmutzung Shakespeares, Nestroys und Offenbachs das reine Gewissen bezieht. Daß der Schmutz, gegen den keine Kulturgesetzgebung Abhilfe gewährt – denn der nationale und staatliche Kretinismus kennt diesen Begriff nur in den Belangen der Geschlechtsmoral –, daß der Schmutz just auf meiner Fährte abgelagert wird, ist eine ungeschriebene Zeittragödie, die noch der Verschandelung harrt. Allerorten spüren sie jetzt, daß die Reprisen meines Theaters der Dichtung irgendwie jenes »Zeitgefühl« ansprechen, dem man zu dienen glaubt, wenn man ihm mangels einer ihm entstammten Produktion den unabänderlichen Kunstwert aufopfert. So kommt nicht nur der Witz der an mich gestellten Zumutungen zustande – und es wäre schon eine abendfüllende Unterhaltung, wenn ich erzählen wollte, welche Pächter von hundert süßen Beinchen nun auf meine Offenbachs spitzen –, sondern auch der Greuel von Erneuerungen, die sich ohne meine Beihilfe abspielen. Die entfesselte Schrulle der Kunstgewerbler führt »Regie« über Nutznießer und Ausgebeutete eines Berufs, den gemeinhin nichts mehr mit der Theaternatur verbindet außer Lampenfieber und Preßfurcht. Was sich da auf deutschen Bühnen unter dem Titel und Vorwand von Werten begibt, die dem Aufmachertum, der Geldgier und einfach der bösen Lust preisgegeben sind, hat Formen angenommen, die das Problem abrücken aus der Betrachtung des künstlerischen in die des sozialen Verfalls als einer Prostitution der mitwirkenden Menschenleiber. Der »neue Text«, den der führende Kritiker noch vermißt, ist beiweitem überboten von der Schmach, die dem alten angetan wird, wobei sich freilich auch die Unwissenheit einer konservativeren Kritik bewähren kann, die die erhaltenen Reste nicht erkennt und dem Bearbeiter zuschreibt. Als sie in Berlin »Troilus und Cressida« (lies: Kessida) aufmachten, staunte diese Kritik, daß da ein Trojanerheld per »Lord« angesprochen wird, und bei den »Lustigen Weibern« hält sie es für Modernisierung, daß von einem Windhundrennen die Rede ist und das Wort »Verkohlen« vorkommt. Im übrigen ist sie aber doch auch der Ansicht, daß dieses entzückendste aller Lustspiele – dessen Falstaff seit jeher als eine Verwässerung der Heinrich-Gestalt verkannt wird – keines der Güter sei, die »gegen Einbrüche dreister Regie umgittert zu werden brauchen«. Gemäß dieser Toleranz der Alten wie jener Diktatur der Jungen lebt sich der Unfug einer Theaterreformerei aus, die die Erkenntnis befestigen konnte, daß »die Spree noch mehr Dreck hat« als das Donauwasser, freilich nicht ohne Berücksichtigung des Umstandes, daß eben dorthin ein Abfluß aus der Brigittenau erfolgt ist. Unverwirrt von der Betrachtung dieser Dinge und von dem Widerwillen, der mich beim Betreten eines Berliner Theaterraums erfaßt – denn dort gehe ich noch ins Theater –, gestaltet sich das »Theater der Dichtung«, von welchem das der Vernichtung sein Repertoire bezieht. Es gestaltet sich vor einer kleinen Welt, der eine Kunstführung, die zugleich Lehre und Beispiel bot, den Zusammenhang mit lebendigen Dingen bewahrt hat. Sie wird darum nicht, gleich jenem neudeutschen Wesen, an dem zu allerletzt die Kunst genesen wird, »Pathos« dort beanstanden, wo eine Welt jenseits der Zeitkommis die Sprache ihrer höheren Natur spricht, und wird es nicht durch eine »Sachlichkeit« ersetzt wünschen, deren Fläche Raum für jederhand ornamentalen Unfug hat. Was die Bearbeitung Shakespeares für das Theater der Dichtung anlangt, so kann dem »Zeitgefühl«, von dem die Aktualität allen Rückstands besessen ist, nach wie vor kein anderes Zugeständnis gemacht und kein anderes Opfer dargebracht werden als dasjenige, das in der Reduktion des Dramas auf einen Theaterabend besteht. Solcher Bearbeitung – und jede andere scheidet aus dem Kulturbereich als Blasphemie am Original, als Frechheit gegen den Sprachbesitz der Schlegel-Tieck'schen (Mommsen'schen) Übersetzung – habe ich bisher zehn Shakespearedramen unterzogen: König Lear, Hamlet, Macbeth, Timon von Athen, Coriolan, Troilus und Cressida, Das Wintermärchen, Maß für Maß, Verlorne Liebesmüh, Die lustigen Weiber von Windsor (nebst Teilen von König Johann und der Heinrich VI.-Trilogie). Geringfügige szenische Umstellungen und Vereinfachungen, gelegentliche Verwendung von eigenen und Zeilen der Vossischen Übersetzung – es bleibt unerheblich neben dem, worauf es einzig ankommt: von hundertzwanzig Seiten dreißig zu streichen, und so zu streichen, daß kein »szenischer Grundriß« berührt, kein edlerer Teil des sprachlichen Organismus verletzt und nur das entfernt wird, was an dieser hypertrophischen Welt dem heutigen Erfassen als Wucherung erschiene. Solche Arbeit von Vers zu Vers und durch alle Verschlingungen der Prosa durchzuführen, setzt den wahren Regisseur des Worts und der Szene voraus. Keiner der Auslagenarrangeure, die auf den heutigen Bühnen mit der Notzucht am Geiste betraut sind, wäre zu dieser Arbeit fähig, keiner der Theoretiker, die ihnen Mut machen zur »Benützung der Figuren«, wäre auch nur des sprachkritischen Gefühls fähig, wie es nur geschehen mag, daß der erhaltene Wert die Verminderung der Quantität nicht spüren läßt. Ganz gemäß diesem Zustand wird kein Besucher des Theaters der Dichtung es bemängeln, daß dessen Direktor, Regisseur und Mitwirkender vorläufig darauf verzichtet, Shakespeare mit neuem Text zu spielen. Und vollends keiner, daß er auch auf die Theaterkritik verzichtet.


Ob die Christlichsozialen nicht vielleicht doch ebenso gut sind? Ein Hakenkreuzler, auch ein Nürnberger, hatte anläßlich der Münchner Aufführung des Traumstücks geschrieben, der Autor gehöre »einem teilweise syphilitisch verseuchten Kreise« an, in dem geschlechtliche Ansteckung von Frauenspersonen alle Tage Übung sei. Das Nürnberger Gericht erster Instanz sprach – vielleicht mit Berücksichtigung des Zugeständnisses, daß der Kreis nur teilweise syphilitisch verseucht sei – den Kritiker frei, da er in Wahrung berechtigter Interessen gehandelt habe: offenbar, weil er die Frauenspersonen warnen wollte. Die zweite Instanz fand dieses ethische Motiv nicht gegeben, sondern verurteilte den Angeklagten, und die dritte hat die Verurteilung nunmehr bestätigt. Das schien ihnen also denn doch nicht zu gehen. Durch den Freispruch des Zeichners George Grosz ist nun diese Justiz der berechtigten Interessen von Hakenkreuzlern, der einstweiligen Verfügungen für Kriegslyriker und der fahrlässigen Falscheide im Allgemeinen vollends für eine Woche rehabilitiert worden. Nur die 'Reichspost' ist mit ihr, gerade wegen dieser Unterbrechung ihrer Praxis, unzufrieden und hat das schwere Unrecht, das mit dem Freispruch des Gotteslästerers, und insbesondere mit der Begründung des Freispruches, der Christenheit zugefügt wurde (die den Segen über Giftgase schmerzlos erduldet hat), durch eine gelungene Parallele zum Ausdruck gebracht. Sie schrieb wörtlich:

... Aber hier gibt es auch für den Künstler Grenzen, die er nicht überschreiten darf. Vor allem jene Grenzen, die durch das Gesetz der Ehrfurcht vor Göttlichem und Erhabenem gezogen sind. Was würde der Zeichner Groß dazu sagen, wenn ein ihm feindlicher Kollege den geschmacklosen Einfall hätte, etwa seine Mutter oder wer ihm sonst das Teuerste ist, karikaturistisch zu verzerren, und so »symbolisch« ihn (Groß) selber zu verspotten? Als vor einiger Zeit in Wien Bekessys »Stunde« in ihrem Kampfe gegen den Schriftsteller Karl Kraus dessen Jugendbildnis in übler Verzerrung brachte, reagierte der Verspottete in Artikeln flammendster Entrüstung und mobilisierte die Gerichte gegen den Attentäter, bis dieser den Frevel durch ein richtiggestelltes Bild sühnen mußte. Und alle anständigen Kreise haben damals mit diesem Ausgang der Affäre durchaus sympathisiert. Aber das Bild des gekreuzigten Gottmenschen soll gegen den Zuggriff eines symbolebedürftigen Spötters ungeschützt bleiben müssen? Wenn nächstens ein zweiter Bekessy für seine Technik der Verspottung vor Gericht den Freispruch des Zeichners Groß – »Es gilt, die Kunst vor den Mißverstehenden zu schützen« – reklamieren würde, welche Verlegenheit für die Linkspresse, die keine göttliche Majestät gelten läßt und für jede Blasphemie die Entschuldigung der »Kunst« hat, aber bereitwilligst der beleidigten irdischen Majestät etwa eines Schriftstellers die Unantastbarkeit zuerkennt!

Die Stupidität des Gedankenganges ist labyrinthisch. Die 'Reichspost' hat sich damals zwar nicht sonderlich strapaziert, die Sympathie der »anständigen Kreise« – denen ich den Bekessy von ganzem Herzen zurückwünsche – zum Ausdruck zu bringen, aber sie hat von dem Meister der Kunst, Sachverhalte durch Tonfälle zu fälschen, profitiert. Natürlich trifft sie's aus purer Dummheit. Von der Verzerrung eines photographischen Sachverhalts ist sie – da sie die »Artikel flammendster Entrüstung« weniger verstanden hat als den »Kampf« des Herrn Bekessy – mit einem Satz im Problem der künstlerischen Karikatur. Als ob George Grosz ein vorhandenes Christusbild unter der Fiktion, daß er das Original wiedergebe, verschmiert hätte. Oder: als ob ich beim Gericht Schutz des Rechtsguts der Ehre oder gar der Heiligkeit gesucht und erlangt hätte. Zur Anerkennung eines photographischen Sachverhalts als einer berichtigbaren Tatsache habe ich die Justiz wohl gebracht. Leider hält sie noch nicht so weit, daß man auch der Verschmierung geistiger Sachverhalte mit dem § 23 begegnen könnte. Lüge in Wort und Bild läßt sich berichtigen, Dummheit noch nicht; mit der kämpfen die ungeschützten Götter selbst vergebens.

Kerrs Enthüllung

Im kleinen Finger der Hand, mit der er fünfundzwanzig Verse der Ammerschen Übersetzung von Villon genommen hat, ist dieser Brecht originaler als der Kerr, der ihm dahintergekommen ist; und hat für mein Gefühl mit allem, was ihn als Bekenner dem Piscatorwesen näher rückt als mir (ja was mir weltanschaulich zuwider ist als die Mischung von Nieder- und Aufreißertum, als eine betonte Immoral sanity) mehr Beziehung zu den lebendigen Dingen der Lyrik und der Szene als das furchtbare Geschlecht des Tages, das sich nun an seine Sohlen geheftet hat. So wenig ein Zweifel darüber bestehen kann, daß eine geistige Existenz ausgelöscht wäre, die auch nur mit einem einzigen fremden Vers zu glänzen versuchte, so ausbündig ist die Trottelei, die einem weismachen will, dieser so geartete, so begabte und so sichtbar abwegige Autor hätte es nötig gehabt und für möglich gehalten, die Verse, die ihm für den Bühnenzweck praktikabel schienen wie Versatzstücke und Personen, und deren autorrechtliche Fatierung er für den Druck verschlampt hat, als literarische Kontrebande auf die Seite zu bringen. Eine Bewußtseinshandlung, die hier noch ein »Copyright« anbringt, zu unterstellen, ist nicht die Bosheit der Satire, sondern der Idiotie, oder gar die Gesinnung, die deren Anschein nicht verschmäht, um auf Idioten eine Augenblickswirkung zu erzielen. Annähernd so stupid wie etwa der Versuch, Altenbergs Fluch über Freunde als Zeugnis zu werten, ihn, da er Geld sammelte, der Korruption, oder, wenn er Verse genommen hätte, der Dieberei zu beschuldigen. Wenn es heute in der Literatur einen Fall gibt, wo eine Tat, die Unterlassung ist, durch den Täter entsühnt wird – der mindestens den Anspruch hat, daß man ihm biologisch so gerecht werde wie er den Lebenserscheinungen, und der gewiß mit der gleichen Unbedenklichkeit und Verwahrlosungssucht über sein eigenes Gut verfügen würde –, so ist es der Fall Brecht. Das kann ich aus einem lyrischen Wust herleiten, in dem doch Echteres enthalten ist als die heutige Literatur zu bieten hat, was aus einer Theaterbesessenheit, die ich am Werke gesehen habe und an der auch nicht die Spur eines Spekulantentums ist, das ihn von meiner dramatischen Sphäre ausschließen würde. Die Schufterei wird natürlich sagen, daß mich seine Neigung zu eben ihr befangen macht; aber ich würde diesen Regisseur im Falle der Nichtbewährung mit der vollen Unbefangenheit ablehnen, mit der ich jedem Versuch der heutigen Theaterwelt gegenüberstehe, sich mit mir einzulassen. Mit größerem Recht weise ich den schäbigen Beweggrund solcher Verknüpfung dem Herrn Kerr zu, dessen Drang, hier zu enthüllen, nicht allein in dem Bedürfnis der Ablenkung wurzelt, sondern auch innerhalb des Machtbereichs der kritischen Repressalien spielen dürfte. Wäre Bert Brecht trotz der Verdächtigkeit der Anzeige ein Dieb, so könnte ich natürlich auch seine Originalität der Regieführung nicht brauchen. (Auf die ich auch verzichten müßte, wenn ich ihn der konjunkturpolitischen Lumperei fähig hielte, deren ihn die Ehrlichkeit Franz Pfemferts beschuldigt.) Da er es nach meiner Überzeugung nicht ist, bin ich umso mehr verpflichtet, diese geltend zu machen, als ihm sein Vorhaben, durch keinerlei Furcht und Rücksicht gehemmt oder bestimmt, die Verfolgung offenbar zugezogen oder doch einer alten Ranküne auf die Beine geholfen hat. Verpflichtet also, dem Opfer eines Kesseltreibens beizustehen, das ich, wie so oft in diesen Bereichen der Gewalthaberei, als Vergeltung meiner Schuld empfinde und dessen Gefährlichkeit zum Glück von seiner Dummheit paralysiert wird. Was den Rädelsführer betrifft, so habe ich schon in Einleitungen zu dem Vortrag »Der größte Feigling im ganzen Land« darauf hingewiesen, daß »Kerrs Enthüllung« eine für die Sprachlehre erhebliche Genitivbeziehung vorstellt. Es wäre nur noch zu sagen, daß er im Vergleich mit Brecht insofern mehr Pech hat als dieser, als es noch niemand eingefallen ist, zu enthüllen, daß die Gottlieb-Gedichte nicht von ihm seien, und ich glaube, daß er heute eine weit größere Summe, als er mir mit Hilfe der deutschen Justiz für »einstweilige Verfügungen« abgenommen hat, dafür geben würde, daß sie nicht von ihm wären. Ja, es besteht die Vermutung, daß hier einmal ein rechtmäßiger Eigentümer durch den Ruf »Haltet den Dieb!« ablenken wollte. Und wie er zu dem ersehnten Resultat, daß die Gottlieb-Gedichte nicht mehr von ihm seien, gelangen könnte, diesen Weg werde ich, Friedmensch der ich bin, ihm gelegentlich weisen. Brecht hätte sich geschickter als mit der »grundsätzlichen Laxheit in Fragen des geistigen Eigentums« durch den Hinweis auf einen lyrischen Autor verteidigt, der so penibel ist, seine eigene Produktion zu verleugnen, und sich mit Hilfe der Zivilgerichte gegen jeden Versuch wehrt, sie ihm mit Quellenangabe zuzuschreiben, ja nicht weit von dem Wunsch entfernt ist, daß sie ihm gestohlen würde. Was der Kerr da ins Werk gesetzt hat, als er erfuhr, daß Brecht sich für die Regie der »Unüberwindlichen« oder der »Letzten Nacht« interessiere, ergänzt derart das Bild seiner moralischen und intellektuellen Beschaffenheit, daß man darauf nur das Mot anwenden kann, mit dem er kürzlich dem Kurfürstendamm zu Lachkrämpfen verhalf: »Saudurnm und Gomorrha.« Nun, er ist, um weiter in seiner Sprache zu reden: ein Enthüllerich. Aber was wäre ich erst für einer, wenn ich wieder einmal einen Strafprozeß in Deutschland – sie sind so schwer zu führen! – abbrechen wollte, um (im Falle Wolff-Kerr) die Beute eines unbezahlbaren Schriftsatzes und eines, der noch die bekannten übertrifft, zu präsentieren. Und daß Herr Kerr, der die englische Herkunft eines Gedichtes gewissenhaft schon nach zwei Wochen nachgetragen hat, Plagiate enthüllen darf, ist ganz in Ordnung und in der Linie seiner Gerechtsame, vor der meine Apokalypse, die bis heute der Quelle des Johannes entbehrt, und mein Lichtenberg-Zitat nicht bestehen konnten. Aber was soll man dazu sagen, daß sein freundbrüderlicher Nachdrucker aus Gottlieb-Tagen, der Lippowitz, dessen Geschäft, von Bordellgewinsten abgesehen, keineswegs der heimliche literarische Diebstahl, sondern der offene Raub des geistigen Eigentums sämtlicher deutschen Tagesliteratur ist, ein Geschrei erhebt, als ob zum erstenmal ihm etwas abhanden gekommen wäre! Das Neue Wiener Journal kann es einfach nicht ertragen, daß man sich zur Laxheit in Fragen geistigen Eigentums bekennt und schreibt:

Früher nannte man solche Dinge »literarischen Diebstahl« oder belegte sie mit irgendeinem anderen unliebenswürdigen Ausdruck.

Nämlich damals, als die Frankfurter Zeitung den Lippowitz einen Dieb nannte und er, um solcher Unfreundlichkeit zu begegnen, die Artikel, die er ihr entnahm, mit F. Z. Unterzeichnete. Damals, als sich in der Fackel die geplünderten Autoren meldeten, kriminalistische Fachblätter über die spezifische Technik des Diebstahls beim Neuen Wiener Journal Essays brachten und der Fall heiteres Aufsehen erregte, wie der Artikeldieb durch die stehengebliebene Wendung von Eduard VII, als dem »Onkel unseres Kaisers« die Selbstanzeige erstattet hatte. Dieses nämliche Neue Wiener Journal nun – an der diesbezüglichen Identität dürfte Schober nicht zweifeln – scheint es dem Autor der Dreigroschenoper zu verübeln, daß er die Herkunft der paar Verse, die er nicht leugnen konnte, ausdrücklich zugab, und eben darin eine Laxheit in Fragen geistigen Eigentums zu erblicken, in welchen es, sooft es auch erwischt wurde, dem starren System gehuldigt hat, sich nichts wissen zu machen und weiter zu stehlen. Er setzt den Titel: »Brecht antwortet auf Kerrs Plagiatbeschuldigung«. Derlei hat Lippowitz nie getan – das heißt, plagiiert schon, aber nicht geantwortet! In der durch Zörgiebel ausgebauten (und durch Schober vertieften) Bundesbrüderschaft mit dem 'Vorwärts' hat er aber gar die Frechheit, das Folgende zu drucken:

(Dem Plagiator Brecht ins Stammbuch.) Der sozialdemokratische 'Vorwärts' widmet dem kommunistischen Plagiator Bert Brecht, der bekanntlich gestanden hat, zahllose Verse der »Dreigroschenoper« gestohlen zu haben, die folgenden spitzen Verse ...

Kein Zweifel, er verübelt ihm hauptsächlich das Geständnis. Aber die Verse des sozialdemokratischen Blattes, das von der Chefredaktion des alten Liebknecht bis zu der Tauglichkeit, vom Lippowitz mit Quellenangabe benützt zu werden, herabgesunken ist, sind nicht spitz, sondern dreckig. Die zahllosen Verse jedoch, die Brecht unter sechshundert mit einer Planhaftigkeit übernommen hat, die den Lippowitz zum Hort der autorrechtlichen Moral machen würde, entsprechen genau der ominösen Zahl, die das Leitmotiv dieses Heftes der Fackel bildet. Sie wäre für einen journalistischen Hinterteil fällig, wenn dessen Platz nicht von dreimal so viel Bordellannoncen okkupiert wäre, die die einzigen sauberen und originalen Beiträge des Neuen Wiener Journals bilden.

Die Räuber in Salzburg

Das Inszenierungsproblem. der »Räuber« hat seit Piscator die deutsche Kulturwelt bewegt. Man war auf Reinhardts Lösung gespannt. Ich habe ihr zwar nicht beigewohnt, aber ein lebendiges Bild durch den die Eindrücke zusammenfassenden Bericht der Neuen Freien Presse erhalten. Er lautet:

Die Reinhardt-Inszenierung von Schillers
»Die Räuber«
Telegramm, unseres Korrespondenten

Den Höhepunkt der heutigen Festspielsaison bildete die gestrige Premiere der Reinhardt-Inszenierung von Schillers »Die Räuber«. Zu diesem Ereignis hatte sich im Festspielhaus ein glänzendes Publikum eingefunden, das alle Räume füllte. In dem ausverkauften Haus gaben die herrlichen Toiletten der Damen dem Bilde eine farbenprächtige Note. Man sah zahlreiche Vertreter der Theaterwelt des In- und Auslandes sowie die Spitzen der Behörden von Stadt und Land Salzburg mit Landeshauptmann Rehrl, Bürgermeister Ott und viele bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Der Premiere wohnte auch der frühere Handelsminister Dr. Heinl bei.
Nach der Vorstellung fand im Schloß Leopoldskron ein Empfang bei Max Reinhardt statt, zu dem sich eine große Anzahl von Personen in den herrlichen Räumen des Schlosses eingefunden hatten.

Lumpazivagabundus

Das Gefühl der Beseligung, das sich aller Parteien einschließlich der Opposition beim Regierungsantritt Schobers bemächtigt hat, prägte sich schon in den Aufschriften aus. Während es nach der bürgerlichen Presse »ein Kabinett des Vertrauens« oder gar eines der Kapazitäten war, hat sich das »Kleine Blatt‹, in welchem sich seiner radikaleren Richtung entsprechend ein Umschwung der Sozialdemokratie radikaler ausprägt als im Zentralorgan, zu dem Titel entschlossen:

Eine Regierung gegen den Staatsstreich!
Hainisch und drei Professoren im Kabinett

Der »Abend‹, der in den Titel die Meinung von einer

Absage an die Putschisten und Staatsstreichlüsternen

aufnahm, teilte diese Meinung insofern nicht ganz, als er schon auf der nächsten Seite mit, einigem Bedauern feststellen mußte:

Besser wäre natürlich gewesen, wenn Herr Schober sich ausdrücklich gegen die bekannten Putschpläne und ihre Urheber gewendet hätte. Aber das durfte und wollte er ja nicht.

Die erbittertsten Gegner waren sich jedoch mit Recht darüber einig, daß kein Grund mehr zu einem Putsch vorhanden sei, und man hatte den Eindruck, daß sie nach dem Genuß der Zankäpfel auch nicht verschmäht haben, die Grausbirnen miteinander zu teilen. Schobers Versicherung, daß er mit den Putschmächten, deren Treuhänder er ist, gegebenenfalls fertig würde, hatte die Ankläger des Julimordes bis zu dem Opfer versöhnt, ihm »Freundschaft!« anzubieten. Ach, ein Schmerz ist mir gestohlen worden! Es gibt kein Problem mehr zwischen mir und sozialistischen Hörern. Kein Grund mehr zum Pathos: daß deren Partei vor einem bürgerlichen Gericht aus »gutem Geschmack« es ablehnt, die Polemik gegen jenen »in der Literaturrubrik fortzusetzen«, da sie sie ja nunmehr auch in der »eigentlichen Politik« sistiert hat. Daß »zwischendurch« Herr Seipel behaupten konnte, die Wiener Polizei verwahre die Waffen der Heimwehr so sicher wie die Tiroler Landesregierung – was diese zugab und jene leugnete –, mochte die Freiheitskämpfer wohl beschäftigen, doch nicht bis zu dem Entschluß, den Korrespondenten des englischen Blattes einfach zu fragen, ob er, der jedenfalls die Wahrheit gesagt hat, nicht geneigt sei, Herrn Seipel noch einmal zu interviewen. Aber wer hätte in einer Region, wo die verdorbene Sprache zum Schlupfwinkel der korrupten Gedanken taugt, noch Mut und Lust, bis zu Sachverhalten vorzudringen. Schlägt doch jeder dieser durch die Solidarität der Unehrlichkeit verbundenen Gegner im Ernstfall die Kastentür zu wie der Ehemann in der Anekdote, der den Nebenbuhler überall sucht und endlich findet: »Da ist er auch nicht!« Wenn nur die Sorte nicht von den eigentlich Betrogenen erwischt wird! Die wahre politische Arbeit besteht in eben deren Beruhigung. Wie steht man am andern Tag wieder oppositionell auf, wenn man sich besänftigt ins Bett gelegt hat – sein oder nicht sein, das ist hier die Frage. Ganz einfach, man trägt den Sieg davon, den der Feind errungen hat. War durch die Drohung schon erreicht, was sonst nur die Gewalt erreicht hätte, war ein Staatsstreich gelungen, ehe er gemacht wurde, war es klar, daß der »Schleichende Bolschewismus« nun mindestens durch einen schleichenden Faszismus abgetan sei – so konnte doch die Berufung von drei Professoren ins Kabinett den Arbeitern

der sinnfälligste Ausdruck der Niederlage der Heimwehren

sein. Denn:

Wie immer sich die Regierung Schober zu den sozialen Bedürfnissen unseres Volkes verhalten mag

sagte schlicht und befriedigt das 'Kleine Blatt' (das beigibt und sich wendet) – also von dieser Geringfügigkeit, über die man später einmal sprechen kann, abgesehen:

eine Staatsstreichregierung ist sie keinesfalls.

Und der nämlichen Meinung ist das Neue Wiener Journal, das nach wochenlanger erpresserischer Drohung mit den Karabinern der Heimwehr auf die Kapazitäten verweist, die das Vertrauen des Auslands zurückgewinnen werden:

denn mit Universitätsprofessoren, mit Gelehrten wird wohl kein Bürgerkrieg, kein Putsch frei nach Hitler und Kapp gemacht!

Das sollen sich diejenigen, die man schon durch die Drohung kirre gemacht hat, nur ja aus dem Kopf schlagen. Nun, es wäre ganz unvorstellbar, daß das Abenteuer, das sich in einem Wald begibt, wenn der Wanderer dem Räuber begegnet, jemals in die Pointe verlaufen könnte, die die Verlogenheit dieses politischen Wesens in Österreich immer noch zur Verfügung hat. Jene würden einander doch nicht hinterdrein versichern und sich jeder auf seine Art des Erfolges rühmen, daß nach der unblutigen Entscheidung der Alternative »Geld oder Leben!« nicht der geringste Grund mehr zu einer Beunruhigung vorhanden sei. Aber in dieser Politik wird noch, wo's ans Leben geht, gemogelt und nachher erst recht. Man hat den Eindruck, daß zwischen den Parteien nicht nur volles Einverständnis herrscht, bis zu welchem Grad sie einander gefährlich werden dürfen, sondern daß sie auch das Maß der Lüge zur nachträglichen Irreführung des Publikums gegenseitig bestimmen. Die Sprache ist unter den prostituierenden Händen einer Publizistik, die diese Interessen betreut, ein derartiges Schindluder geworden, daß sie fast wiederum Wunder der Ausdrucksfähigkeit offenbart: wie sich die pure Lüge einer Zeile schon in der nächsten ins Gegenteil wendet, ohne das geringste Risiko, zur Wahrheit zu entarten. Immer wieder ist man vor gehirnlähmender Zumutung versucht, wie Lear zu fragen: »Wie war das?«, aber man kommt nicht dazu und nicht dahinter, weil das Absurde doch so plausibel ist und der Tonfall mit dem Einwand fertig wird, bevor er sich regt. Diese ganze Debatte etwa über ein Ausland, das die inländische Unschuld in Verruf bringt, war bei aller Stupidität ein schöner Beweis dafür, daß sich das durch Bekessy ersonnene laufende Band des Standpunkts heute schon für jede Argumentation und für das Bedürfnis jeder Gesinnung bewährt. Aber den Triumph dieser technischen Neuerung bedeutet doch die Kunst, die allgemeine Zufriedenheit über den Umschwung der Dinge mit sämtlichen Überzeugungen in Harmonie zu bringen und in camera caritatis immer noch so viel Freiheit zu behaupten, um etwas zum Fenster hinaussprechen zu können. Diese ganze österreichische Politik, die nie etwas anderes als ein Wirtshauskrakeel war, schrumpft zum Konflikt zwischen Schuster und Schneider im »Lumpazivagabundus« ein: »Wann ich einmal anfang, wann ich einmal anfang – aber ich fang nicht an«. Und nach eingetretener Entspannung – dem biederen Leim ist es gelungen – grollt noch jener: »Den Schneider zerreiß ich in Lüften, wann er sich rührt«; worauf dieser noch einmal in die Höhe schnellt: »Schuster fangt schon wieder an!« Aber das Vertrauen des Auslands ist wiederhergestellt.

Eine Hoffnung

Künstliche Steigerung der Hirnfunktion

– Um das Ergebnis der Versuche vorwegzunehmen: die Steigerung der Hirnfunktion ließ sich tatsächlich durch die unverletzten Knochen hindurch hervorrufen. Und zwar durch Durchwärmung des Gehirnes mittels Diathermie – Zunächst wurden die Versuche am Kleinhirn vorgenommen, weil die Tätigkeit gerade dieses Gehirnteiles besonders gut erforscht und durch Beobachtung bestimmter Gliedmaßenbewegungen exakt überprüfbar ist. Eine solche vom Kleinhirn ausgelöste Bewegung ist zum Beispiel das Auseinanderweichen der vorgestreckten Arme bei geschlossenen Augen. Bei Einschaltung des Diathermiestromes durch das Kleinhirn hindurch tritt nun eine entgegen gesetzte Wirkung ein, ein Nachinnenweichen der Arme. Es gelingt somit tatsächlich, mit der Diathermie eine Beeinflussung der Hirntätigkeit zu erzielen: also, bestimmte Gehirnabschnitte durch den Knochen hindurch zu erwärmen und damit in ihrer Tätigkeit zu fördern. Es handelt sich hier offenbar um direkte Erwärmung der behandelten Hirnteile, da die Reaktion, je nach der beeinflußten Hirnpartie, typisch verschieden ausfällt. – Sollten weitere Versuche ergeben, daß diese Funktionssteigerung auch für das Großhirn, also den Sitz der höheren intellektuellen Fähigkeiten, möglich ist, dann würde die Diathermiebehandlung des Gehirnes ein unbegrenztes Anwendungsgebiet finden.

Was es für die politische Entwicklung Österreichs, die man schon in den schwärzesten Farben zu sehen gewohnt war, bedeuten würde, braucht nicht gesagt zu werden, und es wird wohl kaum einen Patrioten geben, der sich nicht, wenn sich die Methode einmal bewährt hat, für Diathermiebehandlung erwärmen würde. Von medizinischen Dingen verstehe ich nichts, aber das Auseinanderweichen der vorgestreckten Arme bei geschlossenen Augen habe ich an tatkräftigen Politikern oft erlebt, die sie dann freilich sinken ließen. Wie dem immer sei, so sind doch Aussichten eröffnet, und wenn das ganze Land mal erst tüchtig durchdiathermisiert ist, wollen wir sehen, was sich hier noch machen läßt.


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