Ernst Kratzmann
Das Lächeln des Magisters Anselmus
Ernst Kratzmann

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Es wurde dunkel, es kam die Nacht. Ich saß im Zimmer am runden Tisch, die Christel gegen mir über, neben ihr das Jakobele, das mich ängstlich anschauete, 167 als wüßte es nicht recht, ob ich sein Vater sey oder ein fremder Mensch. Nun war ich still, mein Herz ging ruhig einen Gang. Jetzt war's entschieden, so oder so.

Die Zeit schlich hin. Da stand die Christel auf und sah von ungefähr durchs Fenster hinaus und schrie leis auf: »Meinrat, schau – was ist das?«

Ich sprang zu ihr und blickte hinab: da kam langsam ein Wagen gefahren, ein Bauernwagen, neben dem Kutscher saß ein Mann mit einer lohenden Fackel, und hinterher gingen ein paar Männer nach.

Ich stürzte hinab vors Haustor. Da kam just der Wagen. Auf einem Bündel Stroh lag ein toter Mann, zugedeckt mit einem Mantel, die Füße sahen darunter vor und die rechte Hand hing schlaff herab zwischen den Sprossen. Das rote Fackellicht lag wie Blut auf dem Stroh und der Hand.

»Wer ist das?« rief ich laut.

Die Männer hinter dem Wagen sagten, und die Stimmen zitterten ihnen.

»Es ist der Herr Kaspar Bollmann – er ist draußen gefunden worden mit einem Stich im Herzen . . .«

Ich taumelte gegen die Wand.

Nach den Dienern des Magistrates kamen noch etliche Männer und Weiber, die Gesichter voll Angst 168 und Grauen, und das Fackellicht huschte über sie hin, dass sie zu tanzen und zu zucken schienen im Dunkel der Nacht wie wilde Gespenster.

Der Zug war vorbey – ich sah, dass er vor Kaspars Haus stillstand. Da rannte ich hin in wilder Angst um Linde, drängte die Leute zur Seite und schrie:

»Laßt mich hinein – ich habe den Toten gekannt, ich will seiner Hausfrau beystehen!«

Ich sah noch, wie sie den Leichnam ins dunkle Tor trugen. Es war totenstill. Aber da auf einmal schrie im Volk, mitten drin, eine grelle Stimme:

»Mörder, Mörder! Packt ihn!«

Und eine Weiberstimme überschlug sich:

»Packt ihn – den Ehebrecher! Er ist der Mörder!« Und wieder eine:

»Jetzt ist's heraus, wer die Hure ist! Packt sie und reißt sie heraus aus dem Schandbett . . .!«

Ein Stein flog neben mir an die Mauer. Ich sprang auf die Türstufe und kehrte mich um. Ich tobte vor Wut.

»Kuscht euch, Gesindel! Da drin liegt ein Toter!«

»Den du erschlagen hast! Mörder! Frecher Hund!«

Und sie drangen auf mich ein. Da packte ich den Vordersten an der Brust und riß ihn zu mir herauf 169 mit aller Zornwut und schleuderte ihn mit solcher Wucht zurück gegen die andern, dass etliche mit ihm zu Boden stürzten . . . Da wichen sie feige zurück.

Ich aber sprang hinunter und schrie:

»Schert euch zum Teufel, scheinheiliges Heuchelpack!«

Es war jetzt ganz still. Ich sah mich um – die Fackel lohte am Wagen – das Volk hatte sich verlaufen.

Aus der Tür kamen die Amtsdiener.

»Der Tote liegt in seiner Kammer, Herr,« sagte einer. »Berühret ihn nicht, bis das hohe Gericht kommt.« Sie grüßten mich und gingen.

Ich trat ins Haus und schloß das Tor hinter mir. Durch den finstern Flur tappte ich zur Treppe. Von oben schwankte ein Lichtschein herab. Ich stieg mit zitternden Knien hinauf – eine alte Dienerin leuchtete mir entgegen, die Hand, in der sie das Licht hielt, bebte ihr so, dass es ihr beinah entfiel.

»Was wollt Ihr, Herr?«

»Den Toten sehen und die Frau Elisabeth . . .«

Sie erkannte mich und führete mich in ein Zimmer, darin ich vor einem Jahr oft geweilt, und ging hinaus.

Da stand mitten im Gemach die Linde in einem weißen Kleid und sah mir entgegen. Ihre Augen 170 waren so groß offen, dass ich zu Tode erschrak. Ihr ganzes Gesicht war nur Auge . . .

Ich blieb an der Schwelle wie festgebannt und starrte sie an – ich weiß nicht, wie lange wir also standen und uns anblickten . . . Und da endlich sprach sie leise:

»Hast du's um mich getan, du mein Geliebter?«

Ich warf mich vor ihr auf die Knie. »Linde, Linde, ja und nein! . . . Ich hab das Schicksal herausgefordert und es hat's angenommen – nun bin ich ein Mörder! Jag mich hinaus in die Nacht, dass ich die Luft nicht verpeste, drin du atmest!«

Da kam ihre Stimme zu mir, wie von hoch, hoch oben, wie vom Himmel! Singend, rufend, leise, ganz leise, bebend, überfließend von Liebe und Licht:

»Meinrat . . . du mein Geliebter! . . .«

Wie damals, am ersten Tag! Das erste Wort!

Ich sah auf zu ihr, ungläubig und ohne Begreifen.

»Gib mir dein lieben Hände, Meinrat . . .«

Sie faßte nach ihnen und hob sie empor und beugte sich und küßte sie.

»Ihr armen, lieben Hände, ihr habt tun müssen, was die meinen hätten sollen . . .«

»Linde!«

»Ja, Meinrat – es wäre mein Amt gewesen, mein Teil an unserm Weg . . . nun hast du auch 171 das noch getan für mich zu dein allen, vielen Leiden und Qualen und Peinen . . .«

»Linde! . . . Linde? Du jagst mich nicht fort?«

Da kniete sie vor mir und schlang die Arme um mich:

»Dein bin ich tot und lebendig, in Ewigkeit, Amen!«

Wir hielten uns umfangen und von mir sank langsam, langsam, Stück um Stück die Todesangst, die Todesnot, die Todesschuld.

Leise standen wir auf, ich nahm das Licht und ging nach der Kammer, darin der Tote lag. Die Linde schritt neben mir, sie ließ sich nicht abhalten durch meinen Wink. Ich schloß die Tür auf und bebte zurück, als hätte ich einen grausen Spuk gesehen:

Da lag auf dem Bette der bleiche, tote Mann mit seinem schwarzen Bart, die Augen starrten ihm offen. Und vor ihm stand in einem weißen Hemde, mit bloßen Armen und nackten Füßen, die Luise, das Kind, hielt ein brennendes Licht hoch über ihm und blickte ihn starr an, ruhig und gelassen, wie ein Arzt etwa einen Leichnam ansiehet und forscht, ob er in seinem Antlitz die Ursach des Todes fände.

Wir blieben stehen wie erstarrt, das Grauen floß uns durchs Gebein. Und jetzt – wahrhaftiger Gott im Himmel – sie sang! Sie sang, mit ganz leiser, 172 hoher Stimme, kaum dass sie die Lippen regte, es war wie das Lied der Todesparze!

Geboren, gestorben, wer weiß es, warum?
Gelebt und geliebt, wer rät es, warum?
Es dreht sich das Rad, rundum und rundum!
Muß kommen und gehen, drehen und fliehn –
die Sterne leuchten und sterben und ziehn – –
Weit ist die Welt, die Sonne so weit!
Und scheinet, scheinet so weit,
so weit über die endlose, ewige Welt . . .

Uns schüttelte Frost und Grausen. Ein leises Murmeln tönte aus der dunkelsten Ecke: dort kniete die alte Magd und betete den Rosenkranz . . . die Perlen klapperten unheimlich in den gefalteten Händen . . .

Da kehrte sich das Kind vom Toten ab und schritt auf uns zu, die gebannt standen in einem stummen Entsetzen.

»Lindelein, Linde . . .« flüsterte sie, »es hat ihn erreicht und gerichtet . . . Wann das Schicksal kommt, muß man zur Seite knien und beten, nicht trotzig ihm entgegentreten . . .«

Sie schlang den Arm um die Linde und küßte sie, kam zu mir und tat mir das gleiche. Dann ging 173 sie lautlos in Lindes Schlafgemach und leise summte sie im Gehen:

»Es scheinet die Sonne so weit,
so weit über die endlose, ewige Welt . . .«

Ich trat zum Bett des Toten und stellte ihm das Licht zu Häupten und drückte ihm die Augen zu. Ich fühlte kein Grauen und keine Furcht dabey, denn was ein Mensch an Entsetzen und Schaudern erleben kann, das hatte ich an diesem Tag erfahren. Mein Herz war tot dafür . . .

Die Linde saß im andern Zimmer. Ich schloß die Tür der Totenkammer und kniete vor ihr nieder und sagte ihr alles, wie es gekommen. Sie streichelte immerzu mein Haar. Und als ich fertig war, lächelte sie – bey Gott ja, sie lächelte!

»War es so? Ach du, wie magst du noch von Schuld und Reue reden! Nein, laß seyn! Du hast getan, wie es hat kommen müssen . . .«

Es war still. Das Licht brannte herab und erlosch.

Da hörten wir draußen im weißblühenden Garten die Amsel singen und sahen, dass es tagete . . .

Als ich vor meinem Haus anlangte und eben eintreten wollte, kamen um die Ecke zwo Diener des Rates. 174

»Herr Meinrat Maurenbrecher – der hohe Rat der Stadt fordert Euch vor sich.«

Also doch!

»Was will er von mir?«

»Wir wissen es nicht . . . Kommt mit uns!«

»So laßt mich von meinem Weib Abschied nehmen!«

Sie nickten. Ich ging hinauf, aber die Christel fand ich nicht. Die Magd sagte mir, sie sey in der Nacht noch zu ihrer Mutter gelaufen, mit dem Jakobele.

Ich ging in meine Kammer, steckte ein geladenes Pistol in mein Gewand, umgürtete mich mit dem Degen und setzte den Hut auf. Dann stieg ich hinab und folgte den Dienern aufs Rathaus.

Sie führten mich in ein kleines Gelaß und die Tür ward hinter mir versperrt.

Ich legte mich auf ein Bett, das da stand – es mochte schon mancher da genächtigt haben – und schlief sogleich ein. Ich war müde zum Sterben.

Und ich schlief ohne Träumen und gut und fest. Als ich erwachte, hörte ich meinen Namen rufen und sah vor mir wieder die Diener stehen.

»Folgt uns vor den hohen Rat!«

Ich stand auf und trank einen Humpen kaltes Wasser aus und ging mit ihnen. 175

Ich fand den Rat und das ganze Gericht versammelt. Mein Vater fehlte in der Reihe. Es dämmerte schon.

Ich verneigte mich sehr lässig und fragte kurz:

»Warum verhaftet man mich?«

Der Bürgermeister erhob sich:

»Seyd Ihr der Bürger Meinrat Maurenbrecher?«

»Ich denke, Ihr kennet mich!«

»Antwortet mit ja oder nein!«

»Ja!«

»Ihr wisset, dass der Ansbacher Bürger Kaspar Bollmann in verwichener Nacht ermordet wurde. Das Volk bezichtigt Euch als den Mörder. Was habt Ihr zu Eurer Verteidigung zu sagen?«

Ich trat vor. »Wie –? – Und ein so albernes Geschwätz nimmt ein hoher Rat als Ursache, einen Bürger in Haft zu setzen? Das tut mir leid! – Was ich zu sagen habe? Wann wurde der Bollmann ermordet?«

»Gestern, am frühen Abend.«

»Und wo?«

»Eine halbe Stunde vom Nördlinger Tor, in einem kleinen Busch. . . .«

»Nun wohl: seit vorgestern abends kam ich nicht 176 vor meine Tür! Man befrage meine Hausfrau und mein ganzes Gesinde!«

»Das ist geschehen. Sie haben das alle bezeugt –«

»Nun also!«

»Wir behaupten auch nicht, dass Ihr den Bollmann mit eigner Hand erstochen habt! Es liegt ein andrer Verdacht vor. Es ist stadtkundig, dass Ihr der Hausfrau des Bollmann, Anna Elisabeth, zugetan seyd – dass Ihr den Bollmann gehaßt habet. Man bezeichnet Euch als den Anstifter des Mordes . . .« ^

»Und dieser grundlose Verdacht genügt, mich einzuziehen?«

»Er ist nicht grundlos!«

»Weiß man, wer den Bollmann getötet hat?«

»Man vermutet, ein Knecht des Bollmann, ein sicherer Veit Knoll, der seit vorgestern verschwunden ist und vorher bei einem Bauren ein Pferd kaufte, wiewohl er nicht aus eigenem dazu vermögens war!«

»Und warum soll er's getan haben?«

»Das sollt Ihr uns sagen!«

»Nun wohl, ich werde es Euch sagen, Ihr Herren!«

Und ich berichtete ihnen alles, was mir mit dem Veit geschehen; aber ich schwieg von dem, was ich dabey gedacht. Der Rat saß in einigem Staunen. 177

»Was der Veit getan hat, weiß ich nicht. Wir werden es erfahren, wann es dem hohen Rat beliebt, einen Eilboten nach Augsburg zu senden, ob und wann jener dort war. Aber dass ich alles versucht habe, den wilden Menschen von seinem Vorhaben abzubringen, wird mir der hohe Rat zubilligen. Ich wollte auch den Bollmann warnen, obwohl ich mich keines guten Empfanges versehen konnte – allein es war zu spät, ich sah ihn von weitem schon ausreiten, da ich am Morgen zu ihm gehen wollte.« Das sagte ich, weil ich von der Linde wußte, dass er schon morgens verritten war.

»Und endlich noch eines, Ihr Herren. Ich leugne nicht, dass ich der Frau Anna Elisabeth Bollmann zugetan bin –; das ist keine Schuld und ich warne einen jeglichen, mir dies zum Vorwurf zu machen! Aber was konnte mir der Tod des Bollmann helfen? Ich bin katholisch verheiratet und meine Ehe ist vor Gott und den Menschen unlöslich – mochte Bollmann leben oder sterben, mir bringt es keinen Nutzen! Im übrigen aber war Bollmann willens, sich von seiner Hausfrau zu scheiden – der lutherische Prediger kann es bezeugen . . .«

Man hieß mich abtreten und warten. Ich mußte wohl eine Stunde harren, bis sie mich neuerdings riefen. 178

»Herr Meinrat Maurenbrecher – Eure Aussagen sind als wahr befunden worden, bis auf die respektive der Sendung des Veit Knoll nach Augsburg. Ein Eilbote gehet noch heute ab. Bis zu seiner Rückkunft müßt Ihr in Haft bleiben.«

Man führete mich wieder in das kleine Zimmer. Ein Diener brachte mir ein reichliches Essen, ich speiste geruhig und legte mich dann zu Bett und schlief bis in den hellen Tag.

Dann schellte ich dem Diener und bestellte mir ein gutes Frühstück. Ich aß und trank mit Behagen, denn nun fühlte ich nach den furchtbaren letzten Tagen einen tiefen Frieden und eine große Ruhe in mir. Ich wußte, dass man mir nichts anhaben konnte – und ich war so glücklich, dass ich still und allein in dieser Kammer sitzen durfte und dass niemand mich sah und ich mit mir selber zu Rate gehen konnte. Während der drei Tage, die ich hier verbrachte, entwarf ich bis in alle Einzelheiten einen Plan zur Flucht, der uns wohl gelingen mußte. In kurzer Zeit war ich frei, ich hatte alles hinter mir, was man mir antun konnte an Bitten, Weinen, Fluchen, Liebe und Haß – nun lag offen die Welt vor mir für mein Glück.

Noch jetzt bedünkt es mich seltsam, wenn ich mich erinnere, wie ich doch damals so ruhig und gelassen 179 seyn konnte. Aber die Wahrheit ist, dass ein Mensch, der jeglichen Tag mit der Hand ins Feuer greifen muß, am Ende es nimmer merket, wenn ihm ein Funke auf die Haut fällt. Mein Gemüt war also verhärtet, dass ich durch die Welt ging, ohne Sorgen, dass ich wem wehe täte oder nicht. Ich sah nur mehr, wie sie alle gegen mich waren und mich hetzten – dass ich ihnen die erste Wunde geschlagen, wußte ich längst nicht mehr.

Ich ruhte mich köstlich aus in diesen dreien Tagen.

Am vierten rief man mich wieder vors Gericht.

»Es ist erhoben worden, dass wirklich ungefähr zur Zeit des Mordes ein Bote bei dem Herrn Ehinger in Augsburg anlangete und selbigem Eueren Brief aushändigte. Auf Befragen des Herrn Ehinger nannte er sich Veit Knoll.«

»Nun sieht der hochweise Rat, dass ich in allen Stücken wahr gesprochen.«

»Oh nein, Herr Maurenbrecher! Denn Herr Ehinger beschreibet den Boten als einen langen Menschen mit hellem Haar – der Veit Knoll aber war den Aussagen der Zeugen nach ein untersetzter Mann mit schwarzem Haupthaar. Es ist also sicher, dass er nicht selber gen Augsburg ritt, sondern einen Helfershelfer schickte! Und da er geflüchtet ist, so ist weiters klar, dass er den Mord begangen hat.« 180

Da sah ich mich jetzt erst recht in der Schlinge, denn daran hatte ich nicht gedacht! Aber ich verteidigte mich:

»Ihr Herren! Meinet Ihr wohl, dass der Veit Knoll den Bollmann erschlagen hätte, so er nicht selber Ursach gehabt hätte dazu? – Nein! Von mir erbat er sich Hilfe zur Flucht – ich aber drohete ihm und schickte ihn nach Augsburg, dass er den Zorn vergesse. Er täuschte mich, bewegte einen andern zum Botengang und vollbrachte selber die Tat. Bin ich nun des Mordes schuldig?!«

»Insoferne ja, als Ihr den Bollmann hättet warnen und den Anschlag dem Gericht angeben sollen.«

»Ihr Herren: ich wollte den Bollmann warnen, kam aber zu spät, wie ich bereits gesagt. Und den Veit anzeigen? Wohl, ich war zuerst erschrocken, – aber dann, als wieder heller Tag war, lachte ich selber über meine Angst und nahm den ganzen Handel nicht mehr schwer. Ich konnte nimmer glauben, dass ein jachzorniger Mensch, wie es der Veit ist, einen langüberlegten Plan ausführet. Er tötet im ersten Zorn – aber nicht zwo Tage nachher! Schließlich dachte ich sogar, dass der listige Bursch mir nur habe Geld herauslocken wollen, es zu vertrinken, und habe mich tüchtig geprellt!

Und endlich, Ihr Herren, noch einmal: 181 cui bono? – Wer hatte den Nutzen davon? Der Veit allein, der wollte Rache nehmen – mir half der Tod des Bollmann nicht einen Deut – ja, ich mußte sogar Schaden davon haben, wie sich auch jetzt gezeigt hat . . . Also saget mir nun, wo Ihr noch eine Schuld findet an mir?!«

»Der Tod Eures Feindes konnte Euch schon nutzen. Denn Ihr mochtet fürchten, dass er Euch Schwierigkeiten machen könnte, dass er Euren Umgang mit seiner Hausfrau nicht dulden werde und was solcher Sorgen mehr sind.«

Ich lächelte. »Nein, Herren – den Bollmann hatte ich nicht zu fürchten – der ging mir wohl aus dem Weg . . .«

»Habt Ihr ihn etwa bedroht?!«

»Oh nein – ich hatte es nicht not, dem armen Sünder zu drohen!«

»Was wollet Ihr damit sagen?«

Gelassen zog ich aus der Tasche meine Schreibtafel, nahm sehr gemächlich das Geständnis des Bollmann hervor und legte es vor die Richter auf den Tisch.

Sie steckten die Köpfe zusammen. »Ist die Unterschrift echt?« – Ich schrie den Frager an:

»Herr – ich bin kein Fälscher! Seit wann ist es in einem hohen Rate üblich, gegen einen 182 ehrsamen Bürger einen Verdacht um den andern zu fassen, wann man sieht, dass er unschuldig ist und man ihn nicht fassen kann?!«

»Mäßiget Euch, Herr! – Die Frage ist wohlgegründet, denn ein solches Geständnis ist höchst absonderlich.«

Sie flüsterten wieder und einer ging hinaus.

Ich erzählte, wie ich zu der Schrift gekommen, aber so, dass es für mich nur günstig seyn konnte.

Nach einer Weile kam jener wieder zurück mit etlichen Papieren und sie prüften die Unterschrift.

»Der Namenszug und die Schrift sind echt. Danach war also der Kaspar Bollmann selber ein Mörder. Aber warum habt Ihr ihn nicht angezeiget?«

Ich zuckte die Achseln. »Was ging es mich an? Wurde dadurch die Tote lebendig? Brachte es mir Nutzen? Sollte ich gemeine Rache nehmen?«

»So zeiget man einen Mord nur dann an, wenn man davon Nutzen hat?«

»Nein. Aber in diesem Fall hatte es wahrlich keinen Sinn, und Ihr Herren, die Ihr jetzt so beflissen seyd, mir einen Strick zu drehen – Ihr hättet mir als erste den Vorwurf gemacht, ich übe gemeine Rachsucht an meinem Feind! Und endlich – Bollmann war ein Ansbacher Bürger – seit wann ist ein Dinkelsbühler der Büttel für den Ansbacher, 183 der uns so wohlgewogen ist?! Aber jetzt habe ich genug von diesem Spiel, Ihr Herren!«

»Ihr führet eine stolze und hochfahrende Sprache, Herr Maurenbrecher! Jetzt tretet ab!«

Ich ging hinaus. Nach kaum einer Viertelstunde ward ich wieder gerufen und man kündete mir an, dass das Gericht mich ohne Schuld befunden habe und dass ich frei sey, zu gehen, wohin ich wolle.

Ich verneigte mich nicht, sondern stand stolz und gelassen da.

»Ich bitte, dass das Urteil des hochweisen Rates öffentlich ausgerufen und kundgetan werde, meinen Leumund wieder zu reinigen.«

»Dazu ist für uns keine Pflicht.«

»Es ist aber schon geschehen in früherer Zeit.«

»Präcedentia verpflichten zu nichts.«

»Ich danke, Ihr Herren – ich merke, wie ich daran bin!« Verbeugte mich und ging.

Draußen lag heller Sonnenschein und es war sommerlich warm. Ich schritt ruhig durch die kleine Gasse, die zu meinem Haus führete. Es war versperrt, man tat mir auf mein Klopfen nicht auf. Bei den Nachbarn zeigten sich Gesichter am Fenster, blickten staunend und erschrocken herab und verschwanden, da ich sie fest anschauete.

Ich ging zum Haus meines Vaters. Ein alter 184 Diener trat mir auf der Schwelle entgegen – ich merkte, dass er auf mich gepaßt. Er gab mir die Schlüssel zu meinem Haus und weinete.

»Was ist dir, Andreas? Darf ich denn nicht in das Haus meines Vaters treten?«

»Lieber Herr Meinrat, nehmet es mir nicht übel auf – ich muß tun, was mir Euer Herr Vater heißet – ich darf Euch nicht einlassen!«

Ich pfiff durch die Zähne. »So, so! Stehet es so? Gott zum Gruß, Alter!«

Ich ging wieder zu meinem Haus. Im Stall fand ich meine Pferde und das Vieh wohlgewartet, aber keinen Knecht. Der Vater hatte in meiner Abwesenheit das Nötige versehen lassen, hielt aber sonst das Haus versperrt.

Nun aber hatte ich genug des Spiels. Ich sattelte mir selber mein Reitpferd, sprengte hinaus auf meinen Hof und befahl einem Knecht, sogleich in mein Haus zu kommen. Als es dunkelte, kam ich zurück, stieg ab und ging zur Linde.

»Ich komme zu dir, Geliebte – frei und der Fesseln ledig,« sprach ich ernst. »Nun hält uns nichts mehr zurück in der Stadt, wir wollen fort, sobald sich nur die Leute ein wenig beruhigt haben – es drängt mich schon, die Stadt hinter mir zu sehen, dass nicht ein neues Unheil über uns komme . . .« 185

Die Linde schüttelte lächelnd den Kopf. »Könnte ich dir doch meinen Glauben geben, Geliebter! Sieh – ich gehe so ruhig und sicher meinen Weg, ich kenne keine Furcht. Als sie dich einzogen, war ich keine Stunde lang in Angst um dich . . . Einmal hat sich etliches Volk vor der Haustür zusammengerottet –«

»Linde! Ist dir was geschehen?«

»Sieh nur, wie du schon wieder erschrickst, da doch alles vorbey ist und du mich heil im Arm hast! – Nein – sie warfen ein paar Steine und drohten und lästerten, und als sich niemand im Haus rührte, zogen sie wieder ab. Ich habe gar nicht Angst gehabt, denn ich weiß, dass wir nicht sterben können, eh wir gelebt . . .«

Am andern Morgen ging ich zur Stadtmühle, nach der Christel zu sehen. An der Tür trat mir mein Schwähervater entgegen, der alte Lenhart. »Was wollt Ihr?« sprach er unwirsch.

Ich staunete ihn an. »Seit wann ist es üblich, dem Eidam das Ihr zu geben?«

»Dem Eidam nicht – aber einem ehebrecherischen, mordverdächtigen Gesellen saget man nicht du!«

Ich trat ganz nahe zu ihm heran und sagte sehr ruhig und leise:

»Jetzt hör, alter Mann: wenn du mich einen Ehebrecher und Mordesverdächtigen schimpfest, so schützt 186 dich nur dein graues Haar vor meiner Faust, verstehest du? Die Christel, auf die alles Leid und Jammer ist kommen, die hat mir verziehen als ein Engel – du schweig! – Wo ist die Christel?«

Ich stand so drohend vor ihm, dass er klein beigab. Er konnte es wohl kaum fassen, dass ein so stadtkundiger Sünder noch so stolz und aufrecht einem ehrlichen Manne ins Gesicht schauen könne.

»Die Christel lieget im Wochenbett . . .«

»Wie? – Jetzt schon?«

»Ja – aus Entsetzen und Angst über Eure Schandtaten ist sie vorzeitig niedergekommen, das arme Weib – sie hat ein Mädchen geboren, es ist schon tot – eine halbe Stunde hat es kaum gelebet – das ist dein letztes Bubenstück!«

Ich stand so betroffen, dass ich ihm sein Schelten und Schimpfen nicht verwies. Aber dann begehrete ich zu ihr. Der Alte stellte sich mir in den Weg:

»Da – greif mich an, so du dich getrauest – so lang ich leb', kommst du nimmer zu meiner Christel – du hast kein Recht mehr auf sie!«

Ich sah hinten im Gang neugierig die Müllerknechte lugen und spähen.

»Auch gut! Die Christel, wie ich sie kenn, wird dir's nicht danken, alter Mann. Es wird auch für dein eitel Gerechtigkeit und Heiligtum noch die 187 Stund kommen, da du wirst einsehen, dass alles nur ein Hochmut und Dünkel war! Leb wohl. – Noch eins: so ich hör, dass du mir übel nachred'st – wahr' dich! Da kommst du vor die Richter! Vogelfrei bin ich noch lang nicht, Ihr Pharisäer!«

Und ich ging weg. Um die arm Christel ist mir wahrlich bitter weh und leid gewesen; ich weiß, sie ist damals in ihrem Bett gelegen, wund und zermartert, und hat um mich geweinet und die Mutter gebeten, dass sie mich sollten zu ihr lassen, wann ich komm. Aber sie waren so verstockt alle und dünkten sich so gerecht in ihrer Ehrbarkeit, dass sie glaubeten, sie alle dürften Steine auf mich werfen. Freilich – damals hat mir das wohl meinen Weg leichter gemacht, es hat mir gerechten Zorn und Groll wider sie gegeben und hat mich gestärkt und fest gemacht; aber dann, später? Ach ja, da ist dann die Reu und der Jammer zehnfältig und tausendfach über mich kommen, wie es zu spät war!

Ich hätte damals wohl gern mit meinem Ältervater Jakob geredet; aber der wohnte zu jener Zeit schon im Haus meines Vaters und ich konnte nicht zu ihm; und der andre, der alte Kuntz, war im letzten Winter verstorben, was ich oben hab vergessen zu schreiben; so tu ich's jetzt. Einzig das gute Rikele stand noch zu mir. Sie wies mich nicht aus 188 dem Haus, da ich zu ihr kam! Ich saß an jenem traurigen Tag wohl manche Stunde bei ihr und sie hielt meine Hand zwischen ihren lieben Händen und weinete herzlich. Ihr sagte ich noch einmal, wie alles gekommen sey und wie ich nicht anders gekonnt, schwieg auch nicht, was ich gelitten und erduldet in meiner Seele.

Sie glaubte mir's gern; denn wer mich ansah und seine Augen waren noch nicht ganz verblendet und blind, der konnte mir's wohl aus dem Gesicht lesen, blickte ich auch ruhig und kalt gelassen! Und sie allein von all den Meinen, die arme Christel noch ausgenommen, verzieh mir und erkannte mich frei von Schuld. Und immer wieder klagete sie: »Was soll nun werden, Meinrat!«

»Ja, was soll nun werden,« fragte auch ich. Und das war so schlecht von mir, das war das Furchtbare an meinem Schicksal, dass ich gerade die, so mich am innigsten liebten, am ärgsten mußte täuschen und hinters Licht führen! Den andern begegnete ich wohl leicht mit kaltem Stolz – denen konnte ich Rede und Antwort weigern, und betrog ich sie, geschah es ihnen recht. Aber Rikele und Christel? – Denen zweien wäre ich offene Sprache schuldig gewesen, damals und früher noch, ach wie oft! – und doch durfte ich's nicht, sie hätten ja alle meine 189 Pläne zuschanden gemacht, nicht aus Bosheit, nein, aus Liebe allein! Und so schwieg ich und log damit schändlich.

Ich saß etliche Tage still, bis ich merkte, dass man in der Stadt über anderm Klatsch und Nachrederey auf mich vergessen hätte. Da ritt ich dann nach Augsburg, hielt mich dort in einer kleinen Herberg, und ging zu einem, der sich auf Schliche und Pfiffe wohl verstand, schmierete ihm gut die Hand und nach zwo Tagen hatte ich seine Pässe. die lauteten auf den Bürger von Frankfurt, Gabriel Klinkhart geheißen, seines Zeichens ein Kaufmann, seine Ehefrau Ludovica Maria, und deren Schwester Lotte Schmiedin, eine Waise, die bei uns lebte, seit dem Tode der Mutter. Und es trugen die Pässe gute, echte Unterschrift und Siegel und konnte ihnen kein Auge was Unrechtes ansehen. Ich zog das Geld ein, das mir von Herrn Ehinger noch zustand, und damit ritt ich heim.

Ich schaffte zwo gute Reisewagen, und die Linde, die alles bereitet hatte, packte, was ihr und der Luise vonnöten war, und reisete ab. Ihr Vater, der Prediger, gab ihr das Geleit zum nächsten Dorf, sie vor dem Pöbel zu schützen. Er hatte der Schwester nach Ulm geschrieben, dass sie kommen würde, aber er wußte wohl, dass das niemals seyn werde . . . 190

Da der Kaspar keine Anverwandten mehr hatte, so gehörete ihr das Haus, ich verkaufte es unter der Hand um ein gutes Geld. So tat ich auch mit dem Meierhof. In dieser Zeit hielt ich mich meist draußen auf dem Hof, verritt bald dahin, bald dorthin, blieb auch bisweilen länger aus, ganz wie ich mir vorgenommen. Manchmal nur kam ich in die Stadt.

Und als es Zeit war, ging ich noch einmal, zum letztenmal, in mein Haus. In einem langen Briefe bat ich die Christel und die Meinen um Verzeihung, sagte, dass ich mit der, der nun mein ganzes Herz gehörete, in die Fremde ginge, in ein fernes Land, und bat innig, dass sie uns nicht nachforschen mögen – lebend sähen sie uns nicht wieder, wenn sie unseren Frieden störeten. Mein Haus samt allem, was darinnen war, schenkte ich mit Brief und Schrift der Christel, später meinem Sohn Jakob. Und ich bat sie und das Rikele herzinnig, dass sie ihm sollten begreiflich machen, dass in des Menschen Leben bisweilen das Schicksal also furchtbar eintritt, dass wir sündigen müssen, so oder so, ob wir wollen oder nicht, und dass man den, der solches erdulde, mit stillem Mitleid achten müsse als einen von Gott Gezeichneten, nicht, dass man ihn lästere und ausspeie vor ihm. 191

So nahm ich Abschied von denen, die mir bis vor einem Jahr noch die Liebsten waren. Ich sperrte den Brief in meine Lade, dass sie ihn später einmal finden sollten, wenn sie merkten, dass ich nimmer wieder kam. Noch einmal ging ich durch alle Räume des Hauses, berührte jedes Gerät und wunderte mich, dass ich so ruhig war und gar nicht mehr weinen mußte. Es war so tot und still in den Zimmern, nichts regte und rührete sich.

Vor dem Hause hielt mir der Knecht mein gutes Pferd. Ich sagte ihm, dass ich für etliche Tage nach Stuttgart verreite, einen großen Handel abzuschließen, er solle das Haus wohl wahren. Und bald trabte ich zum Tor hinaus . . . An der Stadtmühle vorbei konnte ich nicht. So nahm ich den Weg durchs Wörnitz-Tor.

Bei der letzten Erhebung des Bodens, von der aus man noch die Stadt sehen konnte, hielt ich an, nahm den Hut ab und blickte zurück auf mein liebes Dinkelsbühl. Da lag die vielliebe Stadt im prangenden Sommersonnenschein, fest und trotzig, rings umhütet von Mauer und Wehr, stark und auf sich allein vertrauend, war sie auch noch so klein. Und hatte sie niemand bezwingen und niederbrechen können bis auf den heutigen Tag! Und ringsum dehnten sich die gelben Kornfelder und saftige Wiesen und 192 verhießen alle Frucht und Reichtum zur Ernte. Das nahm ich mit fort als ein Sinnbild und Wegspruch auf meine schwere Fahrt!

Vor dem nächsten Dorf wartete auf mich mein Verwalter vom Meierhof, ein graubärtiger, ehrlicher Mann, dem ich wohl vertrauen konnte. Er hielt ein starkes Packpferd bereit, dem ich alles aufgeladen hatte, was ich mitführen wollte. Er nahm herzlichen Abschied von mir und küßte mir weinend die Hand.

»Herr Meinrat,« sprach er, »nehmet es nicht übel auf, wenn ein einfacher Knecht, denn das bin ich doch wohl, Euch ein freies Wort sagt! Aber ich bin schon ein alter Mann und könnte Euer Vater seyn und habe Euch als Kind gekannt. Ich weiß, dass man in der Stadt übel von Euch spricht, und weiß auch warum! Aber ich weiß auch, dass Ihr ohne Schuld seyd, lieber Herr, ich wünsche Euch Glück und Segen für Euer künftiges Leben! Seyd gesegnet!«

Und er hob die Hände wie ein Priester, wenn er das Volk segnet. Ich aber war wunderlich bewegt, kniete vor ihm nieder und bat:

»Segne mich, alter Mann, es tut meinem verfluchten Haupt gar wohl!« Und er legte mir die Hände auf den Scheitel und wir umarmten uns und 193 ich küßte ihn. Dann schritt er schnell davon und weinete bitterlich im Gehen . . .

In Günzburg an der Donau harrete meiner die Linde mit der Luise. Oh – nie werde ich's vergessen, wie ich damals in der kleinen Herberge zu ihr in die Stube trat und sie mir mit weitgebreiteten Armen entgegenkam! Ich kniete nieder vor ihr, sie hob mich auf und wir küßten uns unter heißen Tränen. Und das Kind trat zu uns, schloß die Arme um uns beide und lächelte fein und still dazu.

Aber es litt mich nicht länger und war mein Pferd auch schon müde, wir brachen auf und reiseten weiter, mieden die Stadt Ulm und kamen über Biberach nach Ravensburg. Da mußten wir zwo Tage rasten.

Dann reiseten wir weiter nach Lindau. Ich war schon ruhiger geworden, da ich sah, wie unsere Pässe überall für gut und echt galten, und niemand uns Hindernisse und Schwierigkeit machte.

Und wie schön war die Fahrt durchs sommerliche Land! Da war es mir eine Lust, die helle Freude der Linde und des Kindes zu sehen, die beide ja bisher nie weiter gekommen waren als bis Ansbach, wie sie sich über Berg und Tal vergnügten und oft vom Wagen stiegen und neben der Straße auf den Wiesen und Fußwegen hergingen, Blumen pflückten und sich haschten in Übermut und Scherz. Und wie 194 fühlte ich mich beglückt, wenn wir des Abends in die Herberge kamen und ich mein Lindelein durfte sicher und unbesorgt die ganze Nacht in meinen Armen halten und herzen, mußte nicht horchen und passen auf Wächterruf und Glockenschlag und mich davonschleichen wie ein Dieb, eh' dass der Tag grauete.

Noch konnten sie in Dinkelsbühl keinen Verdacht haben und schon trafen wir auf der Lindau ein.

Nun, da machten wir wohl alle drei Augen! Ich hatte niemalen das Meer gesehen, auch keinen so großen See; aber als wir jetzt unvermutet an das Seeufer kamen – da schrien wir alle drei auf vor hellem Staunen und Entzücken, also, dass die Leute uns ansahen und lachten. Ungeheuer, hellfunkelnd in der Sonne, lag das riesige Wasser vor uns, es schien in die Höhe zu steigen gegen die Ferne zu, und weit, hinter den Dünsten des heißen Sommertages, lagen die Schweizer Berge. Segel schimmerten hell auf der schier endlosen Flut, und gegen Westen hin sahen wir kein Land mehr.

Unsere zwo Reisewagen und meine Pferde wurden mit etlicher Mühe auf ein großes Schiff gebracht und wir fuhren bei schwachem Winde vom deutschen Boden ab, hinüber nach Rohrschach. Die Linde saß in einem lichten Kleid am Hinterdeck, an der Bordwand, lässig zurückgelehnt auf einer 195 Bank, ihre Linke hielt einen Strauß Feldblumen, die letzten, die sie auf deutscher Erde gepflückt. Die Rechte ließ sie über den Schiffsrand hängen, dass sie die Wellen bisweilen netzten wie im Spiel. Unter dem großen, hellen Strohhut, der das grelle Sonnenlicht abhielt, schien ihr wunderschönes Angesicht milde zu leuchten, wie eine mattgelbe Blume im Wiesengrün. Sie blickte irgendwo vor sich hin ins Blaue hinein, die Augenlider leicht gesenkt, und dazu lächelte sie leise und ganz wundersam rätselhaft, man wußte nicht recht, ob sie bloß mit schwach geöffneten Lippen die angenehm kühle Seeluft einatme oder ob ihr Mund die Freude zeigte, die ihr Gemüt erfüllete.

Ich stand mitten im Schiff, bei den zwo Wagen, und hielt mein Pferd, das etwas unruhig war ob der ungewohnten Fahrt, beim Zügel, und streichelte es, dass es stille bliebe. Aber unverwandt blickte ich zur Linde hin und über den Rand ihres breiten Hutes sah ich das Ufer mählig in grauem Dunst verschwimmen und verschwinden . . . Was ich in dieser Stunde empfand, weiß ich nicht zu sagen – ich glaube wohl, dass alles an meiner Seele vorüberzog, was seit kaum mehr als einem Jahr mir begegnet war, so vieles, wie sonst bei anderen Menschen kaum in einem ganzen Leben. 196

Am Bug des Schiffes saß die Luise, sah dem Schweizer Land entgegen und sang halblaut vor sich hin. Einmal verstand ich ein paar Worte und schauerte, dass es mich kalt überlief:

. . . Gelebt und geliebt – wer rät es, warum? . . .

Während der ganzen Überfahrt blieb die Linde unbeweglich, kaum, dass das Lächeln von ihren Lippen schwand. Die Schiffsknechte schielten mit scheuen Blicken zu ihr hin, und wagte es einer, sie offen anzuschauen, so schlug er schon wie geblendet die Augen nieder . . .

Rohrschach kam uns näher und näher, wir steuerten dem Anlegeplatz zu. Da stand die Linde auf, kam langsam, immerzu lächelnd, auf mich zu und gab mir die Hand. Oh Gott, sie war schön in diesem Augenblick wie kein anderes Weib auf Erden, sie schien zu leuchten in einer unversieglichen Jugend, ihre Gestalt war so hell und wie eine Flamme, dass ich glaubte, ich müßte durch sie hindurchblicken können, wie man durch eine zarte, feine Wolke den Mond siehet. Ich zog ihre Hand an die Lippen und küßte sie. Aber sie lächelte und leise sagte sie:

»Meinrat – nun will ich dich ins Reich der Seligkeiten führen . . .«

Hinter uns, die verdämmernde Küste, war verschwunden und vergessen . . .

 


 


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