Ernst Kratzmann
Das Lächeln des Magisters Anselmus
Ernst Kratzmann

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Unter all dem ging die Zeit hin und das dritte Jahr, das ich zu Augsburg verbracht, war bald zuend. Da war's mir fast leid, Abschied von der schönen Stadt zu nehmen und von meinen lieben Hauswirten, insonders von der Ehingerin, die ich vor meine zweite Mutter achten gelernt und die mir so viel Gutes erzeigt, dass es gar nicht zu sagen ist. Meine Vaterstadt Dinkelsbühl schien mir zu mancher Stunde wie ein armselig Dorf, in das ich nimmer recht heim wollt; ich hatte zu mancherley Dingen geschmeckt, die im Frankenland nicht gediehen, und Lust daran gefunden. Aber ich hütete mich, davon zu reden, denn ich wußte, dass sie mich sonst alle persuadieren würden, dass ich doch sollte in Augsburg bleiben und mich hier etablieren, erst als eine Filiale von meines Vaters Geschäftshaus, später, wenn ich einmal der Herr, sollte ich's umdrehen. Aber davon wollte ich doch nichts wissen und so schwieg ich fürsichtig. Aber ich fragete den Herrn Ehinger, wie ich mich könnte dem Magister Anselmus dankbar erzeigen vor seine Unterweisung durch fast zwo Jahre hin; denn dass er nicht wollte Geld nehmen von mir, war mir klar, auch hätte ich mich geschämt, ihm solches anzubieten. Da riet er mir an, ich sollte 48 bei einem Bücherhändler ein sehr kostbares Werk kaufen, des englischen Gelehrten Newton »Principia«, die selten zu haben seyen und sehr teuer. Der Händler habe sie ihm angeboten, aber er hätte keinen Gebrauch für sie, wohl aber Anselmus, der sich oft jenes Buch gewünscht. Da ging ich denn und erstand es.

So kam die Zeit meines Abschiedes und ich bereitete mich für meine Heimfahrt. Ich fand die Gesellschaft von etlichen jungen Kaufleuten, die bis gen Rothenburg reiseten und die Straßen nicht kannten. Denen schloß ich mich an und konnte ihnen zum Führer dienlich seyn.

Am vorletzten Tag ging ich mit meinem Geschenk zu Anselmus. Es war mir recht absonderlich zu Mute; nun hatte ich lange mit ihm Umgang gehabt, aber ich wußte von ihm nicht mehr denn am ersten Tag, ich fürchtete mich noch genau so vor ihm wie ehedem auch, aber ich war sogar noch schlimmer dran als früher; denn da hatte ich nur Angst und Abscheu vor ihm, aber nun mußte ich ihn fast wider meinen Willen auch noch lieben und wertschätzen. Und so war ein Zwiespalt in mir.

Ich dankte ihm in wohlgesetzten lateinischen Worten, um ihm Freude zu machen, vor seine Mühe und Güte und überreichte ihm das Buch. Er wollt' 49 es kaum nehmen, dann schlug er's doch auf und ich sah, dass es ihn sehr erfreuete und wollte mir auch seinen Dank sagen. Aber ich schlug ihn aus und sprach, dass ich ihm viel zu sehr obligieret sey und dass mein kleines Geschenk nur solle ein Zeichen meiner Dankbarkeit seyn, aber kein Dank. Da lächelte er freundlich, wurde aber gleich wieder ernst und sprach:

»Nun wohl, lieber Freund, es könnte seyn, dass Ihr mir einmal noch abstatten könnet, was Ihr glaubet, mir schuldig zu seyn – dann will ich mich an Euch wenden.«

Er reichte mir seine weiße, kühle Hand mit dem blitzenden Smaragd und ich ging und war ehrlich betrübt.

Dann nahm ich auch Abschied von Herrn Ehinger und seiner Hausfrau, die beide sehr traurig waren und mich für jede Zeit, wann immer ich kommen würde, zu Gast in ihr Haus luden, und dann ritt ich zu meiner Gesellschaft und wir reiseten ab.

Nach dreien Tagen kamen wir wohlbehalten in Dinkelsbühl an. Oh, da klopfte mir doch das Herz recht sehr, als wir beim Nördlinger Tor einritten! Und ich konnte mich nicht halten und sprang ab vor der Stadtmühle und rief hinein nach dem Meister Lenhart; aber anstatt des Meisters kam die 50 Jungfer Christine und hätte nicht viel gefehlt, sie wäre mir vor meinen Reisegefährten und deren Knechten um den Hals gefallen. So aber gab sie mir bloß die Hand und wurde sehr rot vor Scham und sagte bloß: »Wie bist du doch stattlich und vornehm worden, Meinrat – da wirst du ja gar nimmer –« und schon lief sie davon. Aber da kam der Müller Lenhart und seine Hausfrau und begrüßten mich froh, und ich stieg wieder auf und wir ritten durch's Tor. Wie freuete ich mich denn nun doch so sehr, dass ich die lieben Gäßlein wieder sahe nach so langer, langer Zeit, wenn sie auch eng und krumm, und keine reichen Paläste drin prangten wie zu Augsburg. Stolz ritt ich voran und grüßte die Leute zierlich, und sie gafften lang, eh dass sie mich kannten, denn ich war fast noch größer worden und reich gekleidet, wie ich's zu Augsburg war gewohnt worden, und ritt ein sehr schönes, stattliches Pferd. So führete ich meine Gefährten auf den Platz und hieß sie halten vor der Herberge meines Ältervaters, des Wirten Kuntz, der stund grad unter der Tür und redete mit einem Bauren. Und wie er mich kannte, lief er mir entgegen und ich sprang vom Roß und er umarmte und küßte mich und hieß mich willkommen. Aber nun ließ ich mich nimmer halten, sagte den Reisegefährten Valet und ritt stracks die 51 Gasse zurück, zum Vaterhaus. Da mußte ich fast weinen, als ich unter dem Tor schon der Mutter in die Arme lief, und da kam auch mein lieber Vater und alle küßten und herzten mich und waren voll Glück und Freude. Und der Vater hielt mich mit beiden Händen an den Schultern von sich ab und sprach lächelnd: »Groß und stattlich bist du worden, Meinrat, ein ganzer Mann! Zwar ein wenig zu vornehm und reich gehest du einher für unseren Stand, aber besser zu ansehnlich als zu armselig. Doch brav und rechtschaffen bist du auch blieben, das sehe ich dir an, und das ist mir das erste!«

Und da hörete ich auch schon die Stimme meines lieben Rikele und sah mich um und hätte sie kaum gekannt: denn sie war schon in guter Hoffnung und sah nicht gar wohl aus. Sie schämte sich ein wenig, da sie meinen Blick verstand und fiel mir um den Hals und küßte mich herzinnig und weinte ein wenig. Ich aber fragte sie gleich, wie es ihr ginge in der Ehe und ob sie auch gut hause mit ihrem Mann, den kannte ich wohl, es war der Gottfried Rott, der Sohn des Tuchhändlers, und jetzt schon selbständig; er war mein Geselle gewesen in der fröhlichen Jugendzeit, und wie ich wußte, grad nicht einer der allerbesten. Aber sie sagte, daß sie ihn gern habe und er sie auch und dass sie sich sehr freue auf ihr Kindlein. 52 Und das sagte sie so lieblich und mit solcher Anmut, dass ihr schmales Gesichtlein sich unter dem Reden verwandelte und wieder ganz das Rikele war, mein liebe, vielliebe Schwester aus der Kinderzeit.

Am Abend saßen wir alle froh zusammen in der großen Stube und es kamen der Vater Kuntz und das Rikele und ihr Eheherr, der Gottfried, und wir grüßten uns lachend als Schwäher. Aber die Mutter hatte auch den Lenhart und seine Hausfrau und die Jungfer Christine geladen und nun gab's am Schluß noch ein fröhlichen Verspruch und Verlobung mit der Christine und ich schenkte ihr einen kostbaren Ring, den ich hatte von Augsburg mitgebracht für sie und wir setzten fest und beschlossen, daß über ein Jahr sollte die Hochzeit sein.

Mein Vater war nun auch schon dreiundfünfzig Jahre alt und war er auch noch in der vollen Kraft des Mannes, rüstig und stattlich, so fiel es ihm doch beschwerlich, so oft über Land zu reisen, wie es das Geschäft mit sich brachte; so übergab er mir nun seinen Meierhof schon bei seinen Lebzeiten, daß ich ihn sollte verwalten und führen als mein eigen, und im Geschäft gab er mir Prokura, und ich sollte alles leiten und machen, was weit auswärts sey, denn er selber wollte nimmer viel reisen, sonderlich auch deshalb, weil ihm die Ratssachen viel Arbeit und Mühe 53 gaben. Er war allezeit ein ernster und gründlicher Mann, so nahm er auch dies Amt so und nicht bloß zu Putz und Titel, wie so viel andre. So fing ich also an und wurde wieder heim in Dinkelsbühl.

Mit dem Rikele saß ich oft zusamm, wann es anging, und sie gab mir Bericht von allem, was geschehen, während ich weg war in Augsburg. Die Lise Bognerin war auch verheiratet worden an einen Auswärtigen, und war aus der Stadt verzogen. Ihr Mann, ein sicherer Kaspar Bollmann, ein Wittiber. der schon eine Tochter aus erster Ehe hatte, war ein reicher Roßhändler und wohnte in Ansbach. Doch wollte er bald nach Dinkelsbühl siedeln und das Rikele freuete sich schon recht sehr, daß sie die Freundin wieder sehen würde. Auch die Goldschmiedstochter, die ehdem nach mir geangelt, war unter die Haube gekommen und hatte schon ein Kind, einen Buben. Und so war der eine und die andre von den Gespielen der Kinderzeit fort aus der Stadt oder in die Ehe getreten und ging seiner eigenen Wege. Es dünkte mich oft in der ersten Zeit. daß ich viele, viele Jahre von daheim fortgewesen und daß ich ein ganz anderer und schier ein fremder Mensch geworden in der Fremde und war doch wirklich nicht weit gewesen. Ich wußte aber nicht, was da die Ursach sey.

Im folgenden Jahr, 54 eintausendsiebenhundertdreiundsechzig, ward ich kopulieret in der St. Georgskirche am 1. Majalis und gab uns zusammen der hochwürdige Herr Stadtpfarrer selbst. Ich war fröhlich und guter Dinge und ahnete nicht, wie bald ich sollte ein trauriger Mann seyn. Oh mein arme, liebe Christine! Wie warst du doch damals ein schöne, liebliche, lachende Braut und wie hab ich Unglückseliger dein Leben verwüstet und zerstöret als wie ein kroatischer Reiter ein Kornfeld zerstampfet! Und oft habe ich in späterer Zeit darüber nachgedacht, wie es doch seltsam sey, daß oft die Menschen, wenn sie einander mit allem Fleiß wollen Leides und Böses tun, sich nicht können so weh tun, als wenn sie nichts Übles meinen oder gar glauben, daß sie's recht klug anstellen und sicher gehen. Oh menschliche Weisheit! Wer fahret dir immer inzwischen wie ein tollwütiger Hund und wirft über'n Haufen, was du geplanet? Die einen sagen, es sey Gottes Hand, die andern sprechen vom Geschick. Allein mir will beides nicht eingehen. In meinem Schicksal hab ich wenig verspüret von Gottes Finger und das Geschick, will mich dünken, ist nur Rederey und nichts anders denn wir selber! Nun bin ich bald achzig Jahr und hab's noch immer nicht zuend gedacht! –

Ich zog mit meinem jungen Weib in ein Haus, das ich vor etlichen Wochen gekauft, an der 55 Stadtmauer, unweit vom Nördlinger Tor und dem grünen Turm. Von dort war ein feiner Anblick auf die Stadt, denn es ist der Boden da viel höher und man sah auch über die Mauer weg in den Graben, in dem schon lang viele, schöne Obstgärten waren, im Frühling alles weiß von den Blüten.

Wir hausten so glücklich miteinander und hatten uns sehr lieb und ich konnte meinem jungen Ehweib nicht genug tun, ihr meine große Liebe zu erzeigen. Wann ich mußte verreisen über's Land, so trieb ich meine Geschäfte in Hast und Eil' und tummlete mich, daß ich nur recht bald wieder heimkäme zu ihr.

Das Rikele hatte nun auch schon seit bald einem Jahr ein Kind, ein liebliches Mägdelein, und wir beide hofften recht sehr, daß auch uns bald ein solches Glück wolle beschieden seyn. Und am dritten Junius des Jahres vierundsechzig schenkte mir meine liebe Christine einen gesunden Knaben, den ich nach dem Vater und Ältervater Jakob Ulrich ließ taufen. Wie war ich da stolz und hochgemut und ging froh dahin und meinte, es müßten's mir alle Leute ansehen am Gesicht, daß ich nun erst ein ganzer Mann sey, da ich auch Vater geworden.

Herr Krafft Ehinger, dem ich oft in Geschäften schrieb, gratulierete mir herzlich und schickte mir für meinen Knaben ein stattliches Taufgeschenk, wiewohl 56 er nicht Pate war, ein silbernen Becher, innen ganz vergoldet, und mit den Wappen von Augsburg und Dinkelsbühl gar zierlich gestochen. Auch vom Magister Anselmus hörte ich bisweilen, bald ließ er mich durch den Herrn Ehinger grüßen, und einmal schrieb er mir selber, bald nachdem ich Vater geworden, einen freundlichen, aber wie mich dünkte, etwas kühlen und recht artigen Brief. Wie ich ihn las, glaubte ich, ich sehe wiederum sein unheimliches Lächeln vor mir und ich stellete mir vor, wie er am Tische gesessen und mir jene Epistel schrieb, zierlich mit seiner feinen Hand, und wie um seine Lippen dabei das verborgne, unbegreifliche Lächeln gezuckt.

Da wurde es mir ganz seltsam zu Mut. Denn mir war plötzlich, als käme dieser Brief aus einer ganz andern, fremden Welt, in der ich einmal für kurze Zeit als ein erstaunter, ratloser Gast zu Besuch geweilt und mich recht unheimlich gefühlet. Ich hatte es ganz vergessen, wie ich damals schwer von Augsburg fortgegangen und wie wohl es mir dort im Grunde gefallen. Und nun mußte auch ich heimlich lächeln über meine vielen Beschwernisse, die ich damalen gehabt, und mit einmal stieg ein heißer Dank in mir auf, daß der Allmächtige mein Gebet, das ich an jenem Maiabend vor dem Roten Tor gesprochen, so gütig erhört und erfüllet. Nun war es 57 wirklich gekommen, wie ich ihn gebeten, nun war ich mit meiner Christine vereiniget und glücklich und führete ein ehrbares, geruhiges Leben und dachte nicht mehr an all die Sünde und Wirrnis des Dante Alighieri, die mir einst so viel Kümmernis macht'. Ein friedlicher, liebvoller Ehstand ist doch allemal der sicherste Port auf Erden und ich faltete wie damals die Hände still vor mich hin und sprach ein recht herzliches Gebet, aber diesmal Dank an den Herrn, nicht Bitte.

Nur eins verdroß mich in diesem Jahr: ich mußte nach Mainz verreisen und große Summen eintreiben, die uns dort ausstanden, und mußte drohen und mahnen, denn unsre Schuldner waren zäh und voll Ausflüchten und Kniffen. Ich war an die acht Wochen von Hause fort und sehnte mich recht herzlich nach Weib und Kind zurück. Mit großem Staunen sah ich, wie am Rhein die Sitten leicht und locker seyen und es für gar nicht unehrbar gehalten ward, wenn Jünglinge und Mädchen sich oft auf dem Lande zu mancherley Kurzweil und Ergötzung trafen, ja ich hörte sogar oft reden von allerley Buhlschaft verheirateter Frauen mit fremden Männern und lachten die Leute noch gar darüber, wenn ich mich darob entsetzte, und sagten nur, dies sey jetzt Mode, daß man empfindsam wäre und auf die Triebe des Herzens sorgsam acht hätte. Ich aber bedankte mich 58 vor solche Triebe und pries im stillen mein liebes, abgelegenes Dinkelsbühl, wo man solche feine Mode nicht kannte und hätte den empfindsamen Herzen wollen mit einem Stecken kommen. Und ich war heillos froh, als ich wieder einritt in mein Haus und die stattlichen Wechsel, die ich den Schuldnern herausgezogen, auf den Tisch legte.

Ei, wie froh war ich in jenem Jahr! Es stehet mir noch heut vor Augen, seltsamerweise immer unter einem schönen Bild: alleweile, wenn ich daran denke, sehe ich ein weites Kornfeld mit Ähren, die leise auf den Halmen schwanken und viel Frucht verheißen. Mein Söhnlein gedieh und war munter und Christine blühete auf und war schöner noch denn als Jungfer. In meinem Hause war Wohlstand und Glück und wir alle gesund und voll Zuversicht. Es war Friede im Land und unser Handel ging gut vonstatten und es gelang dem Vater und mir manch gutes Stück. Es war ein reiches, gesegnetes Jahr und wir dankten dem Herrn oftmals aus ganzem Herzen.

Im folgenden April ward mein Ältervater Jakob achzig Jahr alt und wir stellten ein großes Fest an in seinem Haus. Unser Stamm war nicht stark. Mein Vater war sein einziger lebender Sohn, ich und mein Rikele dessen einzige Kinder. Aber es kamen 59 noch seine zwo Neffen und ihre Frauen und Kinder und viel gute Freunde und fernere Verwandtschaft, dass eine große Tafel gedeckt ward für beinahe siebzig Menschen. Es ward ein fröhliches Schmausen und Pokulieren von Mittag an bis gegen drei Uhr, da gingen die meisten weg und auch wir, denn der Ältervater wollte sich zeigen mit seiner ganzen Sippe und ein wenig lustwandeln vor dem Rothenburger Tor, am Teich. Dort war schon damals ein schöner Weg zwischen der Mauer und dem Wasser. So gingen wir denn gemächlich dahin, voran ich mit dem Rikele, dann der Ältervater mit meinem andern Ältervater Friedrich Kuntzen und dann die andern. Es war ein warmer, schöner Tag und viele Sträuche und Bäume schon ein wenig grün und im Gras an der Mauer blüheten gelbe und blaue Blümlein. Da kam uns ein Fremder entgegen, den ich nicht kannte, mit einer jungen Frau, die ich auch nicht gleich kannte, aber Rikele rief froh: »Da ist ja die Anna Bollmannin!« So hielten wir an und grüßten uns und ich musterte heimlich den Herrn Kaspar, ihren Eh'herrn, von dem ich wußte, dass er vor etlichen Tagen wirklich in die Stadt gekommen und sich niedergelassen; nicht zu meiner Freude! Denn ich hatte gehöret, dass er auch mit Korn und Weizen wollte handeln und dass er ein geriebener Kaufmann sey – nicht 60 gar sonderlich fein im Gewissen. Da konnte es allerley Händel geben und denen war ich feind aus ganzer Seele. Der Kaspar war kein unschöner Mann, trug einen schwarzen Bart und es hieß, dass die Weiber ihn gern sahen und er allzeit viel Glück bei ihnen gehabt. Aber sein Gesicht gefiel mir nicht sehr. Es wollte mir scheinen, als wäre er ungut und roh. Mit dem wollte ich nichts zu schaffen haben im Geschäft.

Wir gingen eine Weile mit ihnen auf und nieder am Teich, auch ein wenig die Höhe hinan gegen das Segringer Tor. Die Frau Anna Elisabeth war ein wenig größer geworden, seit ich sie das letztemal gesehen vor sechs Jahren, und schien mir noch schlanker und ein wenig blaß. Sie plauderte froh mit dem Rikele und ich sah, wie sie sich freute, die Freundin wieder zu haben. Herr Bollmann redete indes höflich mit mir, aber sehr vorsichtig, wie mir schien, als wollte er aus mir was heraushorchen, das ich doch nicht erriet. Da hörten wir auf einmal ein lautes, jubelndes Rufen: »Linde, Linde!« und ich sah mich um.

Da kam ein halbwüchsig Mädchen gesprungen, mit einem Sträußlein erster Blumen und grüner Baumzweige, die es hoch emporhielt und damit winkte. Sie lief herzu und warf sich der 61 Bollmannin an die Brust, die sie umhalste und küßte, und gab ihr die Blumen.

»Eure Tochter?« fragte ich.

»Ja. Meine Tochter Luise aus meiner ersten Ehe mit meiner seligen Gattin Katharina Leonore, die nun in Gott ruhet . . . Sie ist ein närrisches Kind und liebt meine Hausfrau ganz absonderlich, aber es ist mir sehr recht, dass sie sich also gut vertragen, denn ich bin viel unterwegs auf Reisen und da hat sie Gesellschaft und Kurzweil an dem Kind.« Er redete immer langsam und sehr feierlich, wie es die lutherischen Prediger pflegen zu tun im Gottesdienst.

Wir verabschiedeten uns von einander und gingen zum Segringer Tor wieder in die Stadt hinein, in unser Haus, denn es begann kühl zu werden. Am Abend waren wir wieder beisammen, aber nur die nächsten Verwandten.

Als wir heimkamen, mein Weib und ich, schlief der kleine Jakob schon in seinem Bettlein, und wir standen eine Weile davor und freueten uns, wie er so rosige Wänglein hatte und so gesund und tief atmete voll ruhigen Friedens. Mein Weib ging zu Bett, aber ich setzte mich noch für eine kleine Weile an meinen Tisch, einen Brief nach Ulm zu schreiben. Wie ich nach Papier kramte, siehe, da fiel mir unversehens ein kleines Büchlein zur Hand und ich mußte 62 leise lächeln, da ich's ansah: es waren die Oden des römischen Dichters Horatius, die mir Magister Anselmus zum Andenken verehrt, da ich von Augsburg schied, und die ich seither nie aufgeschlagen. Aber jetzt nahm ich's vor und blätterte darin und begann versuchsweis zu lesen, ob ich's denn noch vermöchte. Und ich freuete mich, dass es mir noch so wohl ging, nach so langer Zeit, und las zwei oder drei Oden, die mir gar wohl gefielen, besser als früher. Mein Herz pochte lauter, des Vergnügens halber, dass ich nichts vergessen von meiner Gelehrtheit. Den Brief ließ ich seyn und ging zu Bett. Mein Weib schlummerte schon, da ich mich neben sie streckte, aber da ich kam, erwachte sie halb, und legte den Kopf an meine Brust, wie sie wohl zu tun pflegte, und schlief weiter. Ich küßte sie noch einmal und bald entschlief ich auch, freudig im Herzen nach dem heutigen Fest.

Die zwo folgenden Tage war ich in einer seltsamen Unruh und Unrast und wunderte mich darob sehr; denn ich hatte zwar um diese Zeit einen Streit wegen eines Ackers auf meinem Meierhof mit einem Nachbar, und wir wollten am dritten Tag nach jenem Fest auf dem Feld zusammenkommen, die zwo Partheyen mit Zeugen und Schöffen, aber ich war doch kein Feigling, dass ich mich so erregte um eines Handels willen, der mir im Grund nicht einmal sehr 63 wichtig war. Es kam denn auch ein guter Vergleich zustande, mit dem ich zufrieden seyn konnte, aber demohngeachtet wollte jene Unruh nicht von mir weichen, ja sie nahm noch immer mehr überhand und beängstigte mich also sehr, dass ich zu meinen Geschäften und Verrichtungen mich ganz untauglich fühlte, und unstet von einem Ort zum andern lief. Noch einen Tag quälte ich mich also ab, dann ritt ich in den ersten Stunden wieder hinaus nach meinem Hof, denn es war mir immer, als drohe dem eine Gefahr. Aber ich fand alles, wie es seyn sollte, die Knechte und Mägde bei der Arbeit und alles wohl bestellt. Da ritt ich wieder heim, aber auf einem kleinen Umweg, denn es war gutes Wetter und ich wollte mir ein wenig Motion schaffen, vielleicht, dass mir dann ruhiger wurde.

Nun war damals der Frühling eher denn sonst ins Land gezogen, die Bäume schlugen schon aus, die Weiden an der Wörnitz waren allbereits ganz grün, auf den Wiesen blüheten vielviele gelbe Himmelsschlüssel und andere Blumen und der Himmel war ganz hellblau mit ein paar weißen Wölklein und die Sonne schien so warm wie im späten Mai. Ich ritt gemächlich dahin und freuete mich der schönen Jahreszeit und mit jedem Schritt, den mein Roß tat, ward es mir ruhiger und besser. Oben im 64 blauen Himmel hörte ich viel Lerchen trillern und tirilieren und es lag ein seltsamer würziger Duft rings in der Luft, von der frischen Erde der Ackerfelder und dem jungen Laub und Gras. Wie ich nun so dahinritt und mehr mein Pferd sich den Weg suchen ließ als ich es lenkte, sah ich plötzlich nicht weit von mir bey ein paar Bäumen die Gestalt eines Frauenzimmers stehen, groß und sehr schlank gewachsen, in einem lila rötlich gelben Gewand, wie sie leicht hinaufhorchte in den Himmel und das Gesicht emporgewendet hatte und die beiden Arme ein wenig erhoben, wie man wohl steht, wenn man achtsam lauschet. Ich konnte ihr Antlitz nicht sehen, aber seltsamerweis schien es mir, daß sie lächle, leise und traumhaft, wie aus Freude über den schönen Frühling ringsum. Und jetzt auch erkannte ich sie – es war die Frau Elisabeth Bollmannin, die hier stand, in der Linken ein Sträußlein Himmelschlüssel. Und es war mir plötzlich, als sey sie gar keine Frau, sondern eine schlanke Frühlingsweide, und es wehten ihre langen, grünen Zweige wie loses Haar im warmen Wind und ihr Stamm neige und biege sich ein wenig, bald abwärts, bald aufwärts, und sie lächle dazu . . . Da wurde es in meinem Herzen so still und ruhig, dass ich es fast zu hören vermeinte und ich schaute mich betroffen um, denn es war mir, 65 als breche erst jetzt die helle Sonne aus trüben Nebeln hervor und strahle sommerlich übers Land. Ich stieg vom Pferd und ging auf sie zu und sie wendete sich um, mir entgegen und da – da sah ich sie zum erstenmal in meinem Leben! Sie blieb stehen, das Antlitz noch halb emporgewendet, und die Arme immer noch sachte erhoben, und ihr Mund erblühete zu einem Lächeln. Da stürzte ich auf sie zu und brach vor ihr zur Erde nieder und umfaßte ihre Knie und barg mein Angesicht in ihrem weichen Kleid und begann in Strömen zu weinen und war doch alles in mir voll Jubel und Seligkeit und Sonne und Lenz. Und da hörte ich ihre Stimme zum ersten Mal in meinem Leben, ganz leis und süß: ». . . Meinrat . . . du mein Geliebter!«

Ich sah auf zu ihr und sie stand noch immer so wie früher und lächelte in den blauen Himmel hinein. Ich sprang auf und trat vor sie und blickte sie an und nie, niemals bis an mein Ende werde ich vergessen, wie ich sie damals sah. Da legte ich den Arm um sie und indes meinen Leib ein gewaltsames Beben durchlief, neigte ich mich über ihr emporgewandtes Antlitz und küßte sie auf den lächelnden Mund. Sie regte sich nicht und blieb unverwandt. Da überkam mich alle Seligkeit des Himmels mit einem Mal. Und es war mir, gleichsam 66 als wenn an einem milden Sommermorgen in der dämmernden Frühe ein lichter Engel über ein Getreidefeld schreitet, also leicht und mit schwebenden Füßen, dass er die Halme kaum berührt, die rings um ihn wogen und sich wiegen, dass allenthalb blaue und rote Blumen aufleuchten und verschwinden im lichten Ährengold und wieder aufblitzen. Und es wird immer heller und strahlender um ihn, bis mit einmal die Sonne aufgeht und die ganze Welt mit ihren Gluten überflammt. Und rings umher ist ein ganz seliges und sanftes Wogen und Wiegen und alle Halme sind still vor Glück, als sey Gott selber an ihnen vorbeygegangen. Mit einer solchen Empfindung war mein Gemüt erfüllet . . . also sehr, dass ich langsam die Hände zum Himmel aufhob und sie flach ausbreitete mit ausgespreizten Fingern, nicht anders, als wollte ich eine Gabe auffangen, die vom Himmel mir zufallen sollte; und wäre mir in diesem Augenblick die Sonne selbst in die Hände herabgesunken, ein sanft und milde glühender, goldener Ball, mit dem der Herr mich beschenkt, ich wäre darob nicht erstaunter gewesen dann ein Kind, dem seine liebe Mutter einen Apfel in die aufgefaltenen Hände fallen läßt! Ich blickte mit unsäglichen Gefühlen zum Himmel empor und aus meinen Augen strömten unaufhaltsam linde Zähren und ich fühlte 67 mich so leicht und selig wie noch nie in meinem Leben.

Wir sprachen an jenem Tag kein Wort mehr miteinander, wir küßten uns nicht mehr, ich lehnte nur das Haupt an ihre Schulter und fühlte den Tau ihrer Tränen an meinen Wangen und wir beide waren erfüllet von einem ganz großen inneren Licht, das uns vollkommen glücklich machte.

Wir faßten uns an den Händen und ein süßer Schauer durchlief uns. Langsam schritten wir über die blühende Flur und lächelten und ringsum war Sonne, aber am hellsten in unserem Herzen. Da lief uns von fern ein Mädchen entgegen, hell jauchzend, und ich erkannte die Luise, wie sie wiederum einen Blumenstrauß hoch schwenkte und winkte damit. Aber mitten im Weg zu uns blieb sie stehen und blickte uns beide an und ihre Augen wurden groß und angstvoll weit, bis sie plötzlich mit einem Ruck sich aus der Erstarrung riß und auf die Stiefmutter zuflog und laut rief:

»Linde, Lindelein! Wer ist der fremde Mann, was hat er dir Leids getan?« Und sie warf sich ihr in die Arme und begann hellauf zu weinen.

Mir wurde so süß und bang. Linde, Lindelein! Wie klangen die Namen so hold und lind! Ja, so mußte sie heißen, kein anderer Laut durfte die Liebste 68 mehr nennen und rufen. Und leise flüsterte ich ihr zu wie in bangem Staunen und Fragen:

»Linde –? Lindelein, Linde . . .«

Da hob das Kind hastig den Kopf von der Brust der geliebten Frau und blitzte mich an mit zornigen Augen: »Wer bist du, fremder Mensch? So darf niemand mein Lindelein heißen, nur ich! Geh fort!«

Aber die süße Frau drückte sie an sich und beugte sich nieder zu ihr und küßte sie auf die Stirn – ja es schien mir, als hülle sie das Kind ganz in sich ein mit Armen und Busen und Locken und Antlitz und umfinge es ganz mit Küssen und Kosen. »Nicht böse seyn, Kindlein, nicht traurig seyn! Du bleibst mein herziges, liebstes Kind für ewige Zeit . . .«

Das Mägdlein, sonst kein hübsches Kind – da war es schön vor Seligkeit.

». . . Aber sieh, der Mann da und ich, wir können nimmer von einander lassen all unser Leben lang, ich bin sein und er ist mein, er ist mein Glück und mein Traum, mein Beten am Morgen und mein Beten zur Nacht. Willst du ihm böse seyn, dass er dein Lindlein so selig macht?«

Das Kind sah zu mir her, die Stirne wieder voll böser Falten und die Augen ganz dunkel. Ich begriff so wohl ihren Schmerz! Wie es ja oftmals ergeht, dass ein halbwüchsiges Mädchen hängt seine 69 ganze Liebe an eine junge Frau, die kaum ein paar Jahre älter ist als sie, so war es auch da. Die Linde war ihr Abgott und alles, und nun sah sie, dass sie aus ihrem Herzen müsse wandern und fortgehn in Fremde und Einsamkeit. Das war der bitterste Schmerz für sie. Aber ich sprach sanft und leise zu ihr:

»Kind, du bist dem Lindelein freund und lieb gewesen bis heut – das sollst du immerzu bleiben! Ich will dich nicht jagen und treiben aus ihrem Herzen – komm, du sollst nun zweie haben, die dich lieben und hegen, siehest du – so!« Und über sie hin legte ich die Rechte um den Hals der Geliebten und die Linke um das Kind und Linde tat es wie ich, aber das Mädchen begann schon ein wenig zu lächeln und schlang beide Arme fest um den Hals der Frau. Und so neigten wir uns alle drei zusammen und küßten uns und keins wußte recht, wen es geküßt und von wem es geküßt ward.

Wir gingen langsam über die einsamen Wiesen, über denen die Lerchen tirilierten, bis wir von ungefähr mein Pferd fanden, das da wohlgemut weidete. Da wendete ich mich der Linde zu und lächelte ihr entgegen und sie auch. Wir sagten uns nichts und küßten uns nicht und wußten doch alles. Als ich schon aufsteigen wollte, lief das Kind noch 70 einmal herzu und hielt mir das Pferd am Gebiß und wie ich nach dem hängenden Zügel herablangte, küßte sie mir schnell die Hand und lief dann weg mit glühendem Gesicht, zur Linde und warf sich ihr an die Brust. Die hielt sie umfangen und sah mir lächelnd nach, ohne Winken und Grüßen, nur lächelnd immerzu. Und wie ich davonritt und ihre holde Gestalt immer mehr meinen Blicken entschwand, schien sie mir wieder ganz einer linden Frühlingsweide gleich, die im Winde weht mit ihrem grünen, flutenden Haar . . .

Langsam im Schritt ging es zur Wörnitz hinab und am Ufer entlang. Und da lag auf einmal im Sonnenglanz die Stadt vor mir, klein und fest und trotzig, mit ihrem Kranz von Türmen und den festen, stattlichen Toren, und die Dächer rot und schwarz und gesprenkelt und darüber der Turm von St. Georg – es war mir, als sähe ich's zum erstenmal! Und eine große Liebe zu meiner Heimat und Vaterstadt zog in mein Herz, ich breitete die Arme weit aus, als wollte ich sie umfassen und an die Brust drücken.

Ich ritt schnell an der Stadtmühle vorbey, denn ich wollte niemand jetzt treffen, zu meinem Haus, das war nahe beim grünen Turm. Mein Weib war mit dem kleinen Jakob bei den Eltern, da ich 71 gesagt, dass ich zum Mittagmahl nicht heim seyn werde. Das war mir gar recht und ich ging langsam durch die Zimmer auf und nieder und redete leise und zärtlich, als wäre die holde Linde noch neben mir und gab ihr viel süße, trauliche Namen. Langsam erst ward ich ruhiger und setzte mich an meinen Tisch und begann Briefe zu schreiben, denn die ganze Zeit über hatte ich nichts getan. Aber bald hielt ich wieder ein und blickte träumend vor mich hin, sinnend über all das Wunderbare, das ich erlebt, das mein Herz erfüllte wie ein schwerer alter Wein. Ich weiß nimmer, was ich dachte und ob ich überall was dachte, ob ich nicht nur immer und immer wieder inmitten sanfter blühender Wiesen die liebste Frau stehen und wunderselig lächeln sah, und meine Lippen beteten ihren Namen.

Als mein Weib mit dem kleinen Jakob heimkehrte, grüßte ich sie freundlich und still, aber ich hatte dabei das Empfinden, als wüßte ich nicht eigentlich, was ich tue, es war mir alles so fern und fremd. Ich schrieb an meinen Briefen, spielte mit dem Kind, ließ mir von Christine erzählen, was es Neues in der Stadt gab, schließlich legten wir uns zu Bett und ich küßte sie recht zärtlich und innig, ja, ich weiß ganz genau, daß ich sie sehr lieb hatte in diesem Augenblick, ebenso wie immer bisher – 72 aber es war mir doch, als sey dies alles ganz und gar gleichgiltig, einerley, ob ich einen Brief schrieb, mein Weib hegte und küßte oder die Schuhriemen mir aufflocht. Ich tat es alles richtig und gut, ich legte nichts an die falsche Stelle, aber mein wirkliches Denken und Sinnen und Lieben war weit, weit fort.

Am andern Morgen ritt ich wieder hinaus. Ich konnte mich nicht halten, von Mitternacht schon lag ich schlaflos und zählte die Rufe des Wächters in den Straßen. Kaum dass es nur irgend anging, brach ich auf. Christine schmälte, daß ich jetzt nie daheim bliebe, aber ich sprach: »Jetzt kommt die schöne Zeit, die muß ich wohl nützen!« – »Aber noch steht ja kein Korn im Feld, was willst du draußen bei den Bauren?« Ich lächelte. »Meine Ernte steht hoch im Halm!« Und ich küßte sie und ging davon. Sie blickte mir nach und glaubte, ich rede noch im Schlaf.

Noch lag draußen der Tau auf der Erde und dem Gras und es war kalt, dass ich zitterte. Erst ritt ich zu einem Bauren ins Nachbardorf, den traf ich bei der Arbeit im Feld und begann mit ihm zu handeln und wurde einig, dass er mir sein Korn und Weizen, die ganze Ernte, wollte verkaufen zu so und so viel für den Scheffel. Aber da war mein Tagwerk auch schon getan und ich kehrte um und 73 ritt selig in meinem Glück dahin, wo ich gestern Linde getroffen. Und zugleich mit ihr und dem Kind kam ich an. Ich sprang vom Pferd und stand stille, nur dass ich sie mir entgegenlaufen sähe, leicht und wie fliegend. Und schon hielten wir uns in den Armen und sahen uns in die Augen und konnten uns nicht sattschauen an einander und dann küßten wir uns – oh! Nie, nie noch hatte ich so geküßt! Mir war, als ginge ein milder, warmer Sommerregen auf mein Antlitz nieder, leise, sanfte Küsse ohne Zahl, und dann wieder heiße und wilde, die kein Ende nahmen, dass wir uns bogen und beugten und bäumten in der übergroßen Macht unserer Liebe. Da war kein Aufhören und Genugseyn, keins konnte satt werden am andern, bis wir endlich matt uns aus den Armen sanken und uns ansahen, lächelnd und glücklich. Ich blickte mich um nach dem Kind, es war weggelaufen.

»Wird sie nicht traurig seyn?«

»Ich weiß es nicht. Sie hat mich so lieb . . . Ich habe ihr gestern am Abend alles erklärt und da hat sie mir weinend gelobt, mir zu helfen und beizustehen bis in den Tod. Wenn ihr einer was wollte abfragen über uns, nicht mit List und nicht mit tausend Martern erzwingt er ein Wort von ihr, für mich gibt sie ihr Leben . . .« 74

»Sie wird mir gram seyn, daß ich sie aus deinem Herzen dränge, daß sie nicht mehr dein alles ist . . .«

»Nun schon nicht mehr! Sie weiß, dass ich selig bin bei dir und das ist genug für sie – schon ist sie dir gut . . .«


»Linde – Lindelein – Linde! Bist du denn mein?«

»Da bin ich ja, siehst du mich warten auf deine Arme?«

»Lindelein – hast du mich lieb?«

»Oh du! Oh du, Geliebter du!«

»Warum nur, du Süße, warum hast du mich lieb?«

»Ich weiß nicht – ich muß! Und du?«

»Ich weiß nicht – ich muß! Linde, Linde – wie ist dein Name so weich und lind, so ganz und gar du! Wer nannte dich so?«

»Ich selber als Kind. Einmal erzählte ich's ihr und nun nennt sie mich immer nur so. Hast du den Namen lieb?«

»So lieb . . . lieb . . . was ist das für ein himmelsseliges Wort! Lieb . . . Linde und lieb . . .«

Das Mädchen kam uns entgegen, fröhlich und leicht. Linde streckte ihr die Hand hin und sie haschte danach und verfing sich an ihr wie ein spielendes 75 Kind. Sie lachte uns zu und auf einmal entlief sie wieder und verschwand in einem kleinen Auwald am Bach.

»Sag mir – was ist's mit dem Kind? Es ist so seltsam in seinem Wesen?«

»Es ist wie ein altes Lied . . . scheinbar sinnlos und doch übervoll eines tiefen Sinnes . . . drum scheint es oft närrisch und phantastisch, ein Fremder könnte es leicht für krank im Gemüte halten . . . Seine Augen sehen allen Dingen und Menschen bis auf den Grund, drum sagt es oft Worte, die wir andern erst spät, viel später erst einsehen und fassen. Manchmal schauerts mich vor ihr, aber ich habe sie doch immerzu lieb und sie mich . . .«

». . . Linde . . .«

»Was ist's?«

Sie hatte eine Art, mich im Gehen anzuschauen, die war so wonnesam süß. Da beugte sie sich vor und wandte dann das Antlitz mir zu, und sah mich von unten und seitlich her an und lächelte dazu, von vorn mir entgegen, und ich schritt gleichsam diesem Lächeln nach, das vor mir herschwebte wie ein lockender Gruß.

»Linde . . . hast du mich schon lieb gehabt als Kind?«

»Ich weiß es nicht . . . ich hab's nicht gewußt . . .« 76

»Und als wir uns sahen vor vier Tagen vor'm Tor?«

»Ich freute mich, dass ich das Rikele traf – an dich habe ich kaum gedacht – aber dann kam eine Unrast über mich und es trieb mich herum im Haus, treppauf und treppab, ich konnte nicht stille seyn – bis gestern früh – da gingen wir hinaus, das Kind und ich, da wurde es still in mir, wie nach einem großen Jagen und Lärmen. Ich horchte hinauf in den Himmel und hörte die Lerchen singen und dachte an nichts – da war dein Schritt hinter mir und ich wendete mich um und sah dich und du knietest vor mir und alles war gut . . .«

»Linde, Linde – warum?«

»Warum? Was fragen und suchen? Weißt du, warum die Lerche singt und der Himmel so selig blau? Warum der Bach murmelt und springt und die Blumen blühn?«

»Ja, du hast recht! Linde, süße Linde, wo ist dein roter Mund?«

»Da hast du ihn, Liebster, küß ihn, bis dass er blutig ist von Liebesseligkeit und Glück!«

Und wir küßten uns, bis wir hinsanken ins Moos und eins ans andre gedrückt, vergaßen, daß es eine Welt und einen Frühling gab – nur wir waren, wir beide allein, Linde und ich . . . 77

Da hörten wir aus der Ferne leise zu uns herüber die Stimme des Mädchens tönen, auf- und abklingend, wie sie die Lüfte uns zutrugen:

Glück aus schimmernden Weiten –
die Winde wehen und gehn,
blauselige Ewigkeit . . .
Winde wehen und wiegen und gehn,
schweig, Herzeleid, schweige von Leid!
Die Blumen wehen und wiegen und – – gehn . . .
Larila, larilei, larileid . . .

Wir hörten das Singen wie im Traum, und es überkam uns mit einemmal ein namenloses Beben und Erzittern des Herzens, Glück und Weh in eins gebunden und gefügt, Leben und Tod in einem. Kaum verstanden wir die Worte des Liedes, nur die Weise erklang in uns, und unsere Küsse wurden ihr himmelsseliger, sterbenstrauriger Widerhall, und wir küßten uns und weinten und wußten nicht, was wir weinten, wir lächelten und lachten und wußten nicht, warum!

Da kniete plötzlich das Mädchen neben uns, und wir sahen zu ihr auf, eins in des andern Arm geschmiegt, sie hatte zwei Kränze in der Hand, aus Veiglein und gelben Blüten und erstem grünem 78 Laub, und drückte sie uns ins Haar und sang leise dabei:

Glück aus schimmernden Weiten –
die Winde wehen und gehn –
blauselige Ewigkeit – – –

Und dabei sahen ihre dunklen Augen in eine große, verhüllte Ferne hinein wie in Bangen und Furcht, und mir war plötzlich, als sey dies Kind der Engel des Todes, der uns seine Kränze gereicht. . . .

Wir küßten uns und Lindeleins Lippen lächelten meinem kosenden Mund, da waren sie so blumenweich und süß. Und das Mädchen saß neben uns und streichelte Lindens mattblondes Haar, und wir küßten uns immerzu und schämten uns nicht vor ihr . . .

Und ganz leise sang sie ihr Lied:

Glück aus schimmernden Weiten . . .
Die Winde wehen und wiegen und gehn . . .



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