Ernst Kratzmann
Das Lächeln des Magisters Anselmus
Ernst Kratzmann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Sommer schlich mir hin als eine endlose Qual. Die Christel beobachtete mich immer sorglicher, sie merkte, daß in mir etwas Unheimliches war, drohend und ungewiß; ich begegnete ihr herzlich und mit gleichmäßiger Kühle, aber schon ich selbst hatte das Gefühl, als sey ich mit Eis umgürtet – wie erst mußte sie die Mauer spüren, mit der ich mich umgab, von der sie abglitt, was immer sie unternehmen mochte, wiederum den Weg in mein Herz zu finden. Und dies stete Lauern und Passen machte mich oft wild bis zur Verzweiflung, dass ich in unbelauschten Stunden die Fäuste ballte und laute Flüche ausstieß – aber ich darf ehrlich zu meiner Ehre und gutem Gewissen sagen: ich habe ihr nie diesen übeln Mut zu kosten gegeben, das machte ich mit mir allein aus. Aber vielleicht wäre es ihr lieber gewesen, hätte ich ein paarmal getobt und geflucht und es wäre dann alles wieder gut gewesen, denn so, wo ich freundlich mit ihr umging und sie rang sich ab, mich zu fassen – aber ich lächelte nur leise und sie wandte sich ab, ging hinaus und weinte. 107 Einmal aber, da es ihr wieder mißlungen war, mich über mein unbegreifliches Wesen zum Reden zu bringen, sah ich mich zufällig in einem kleinen Spiegel, der an der Wand hing, das Antlitz schräge beleuchtet, also, dass jede Falte und Linie in meinem Gesicht deutlich hervortrat: es blickte mir das Lächeln des Magisters Anselmus entgegen. Ich schaute ganz ruhig und gelassen mein Bildnis an und fand, dass meine Lippen ebenmäßig geschwungen waren, und ganz geschlossen, ohne eine Spur von Lächeln und dass ich doch lächelte – aber mit den Augen allein, wie jener, wie Anselmus! Aber zugleich, während ich mir ganz ruhig sagte, als betrachte ich einen fremden Menschen, dass ich ein schöner Mann sey – erschrak ich jetzt doch: denn während im Lächeln des Anselmus, so unheimlich und entsetzlich es mir auch immer erschien, nie Bosheit oder niedriger Hohn, nur ein feiner, überlegener Spott, oft aber auch Leid und eine leise Trauer lagen, so war in meinem Gesicht jetzt deutlich Grausamkeit, Trotz und gemeiner Hohn geschrieben! So weit also hatte ich es schon gebracht . . .

Da ging ich in meine Kammer und blieb am Erkerfenster stehen, von dem konnte ich gerade den Dachgiebel von Lindes Haus sehen und einen Baum, der sich weit über die Gartenmauer neigte wie ein Gruß 108 – nun stand er voll Blüte und Duft – denn es war eine Linde . . .

Leise sprach ich das holde, liebste Wort. Aber dann trat ich vom Fenster weg und setzte mich an meinen Tisch, stützte den Kopf in die Hände und schämte mich. War ich so elend schlecht und niedrig geworden – unwürdig der Linde, unwürdig der Christel, unwürdig meiner selbst? Aber was sollte ich tun? Der Christel bekennen? Alles sagen? – Wie konnte sie denn das verstehen? Das würde mir alles verderben – dann war meine Flucht im kommenden Jahr unmöglich. Nein – sie alle mußten ahnungslos bleiben, bis ich eines Tages in Geschäften verreisete und nimmer wiederkam . . .

Und doch wieder nein! Was hatte mir die Christel getan? Dass ich eine andere Frau tausendmal mehr liebte denn sie, nein, dass ich die Linde liebte und dass sonst nichts in der Welt war als Linde allein – gab das mir schon ein Recht gegen die arme Christel, die mir ein Kind geboren, so bitter grausam zu seyn, wie ich's täglich und jede Stunde war? War ich ihr nicht schuldig, ehrlich und offen zu seyn?

Ach, da war kein Ausweg und kein Licht. Die Linde mochte den Kaspar nie leiden, dem konnte sie hart und kalt begegnen, aber ich mußte einem 109 unschuldigen Weib wehe tun, das mich liebte als ihren Abgott auf Erden, und das ich selbst doch einmal so innig lieb gehabt, das mir nie kein Leides getan und das sich willig hätte von mir mit dornigten Geißeln lasse blutig schlagen, wenn ich sie nur dann wieder aufnehmen wollt' in meine Arme wie ehedem!

Aber nein und nein! Ich mußte ihrs sagen. Nicht heut – später einmal, und ihr Eid und heiliges Gelöbnis abnehmen, dass sie's niemand verriet. Mußte ihr sagen: denk, dass ich gestorben sey und du hättest mich begraben – geh täglich zur Kirche für mich und bet' vor dem Sanctissimo für mein' arme Seel' – ich kann's brauchen genug und übergenug – so soll es seyn. Denk' nicht, dass ich derweil doch lebe und fern bin in ein anderm Land mit ein anderm Weib – denk's nicht, lieb Christel! Nein – gestorben bin ich und tot für dich – um das bitt ich dich viel tausendmal . . . Ja – so will ich's ihr sagen!

Ei ja! das hört sich wohl schön und zierlich an, könnte von einem guten Acteur auf der Schaubühne recht rührend geredet werden – aber wie würde die Christel es nehmen?! Die begriff nur das eine davon: dass ich von ihr ging und hatte sie nimmer lieb, wollte ein andere haben! Und da war aller Verstand und Vernunft nicht zuhause, wenn's um 110 den Mann ging. Ja! War's denn bei mir etwa anders?

Und doch mußte es seyn. Wann – ei nun, das mochte sich zeigen, das gab die rechte Gelegenheit.

Ich ging aus meiner Kammer und suchte die Christel; in unserm Schlafgemach fand ich sie knien vor dem Gekreuzigten und herzinnig beten mit aufgehobenen Armen, die Tränen liefen ihr stromweis über die Wangen. Sie erschrak, da ich eintrat, und wurde rot, aber ich winkte ihr mit der Hand und kniete mich neben sie und betete mit ihr.

Es war ein wunderlich wirres Beten, das ich zustande brachte, der Pfarrer hätte es Sünde und Lästerung genannt. Ich bat um die Linde, bat um Trost und Einsicht für mein armes Weib, bat um den Tod, um das Leben, ich sah eine Pestilenz über die Stadt kommen und die Christel im Sarg liegen und den Kaspar – ich betete darum nicht – nein! Aber da war's zuende mit mein' Gebet, da schauderte mich's bis in den Grund meiner Seele!

Und indem ich so rang mit Gott oder dem, das ich so nannte, fühlte ich's ganz deutlich, wie die Christel neben mir gelassen und still wurde und aufhörte mit Weinen, wie sie mich ansah mit einem herzlichen Mitleiden und schon halb wieder getröstet war. Und da ich fertig war und mich zu ihr kehrte, sah 111 sie mich ganz ruhig an und sagte leise: »Nicht wahr, Meinrat – du hast eine andere lieb?!«

Ich konnte nicht Ja sagen und nicht Nein – ich kniete noch immer und schaute sie an. Da nickte sie, als wollte sie sagen: also doch! – und begann ganz lautlos mit offenen Augen zu weinen, ohne Schluchzen, ganz still . . .

Das konnte ich nicht mehr mit ansehen, ich streckte die Arme nach ihr aus und wollte rufen und sagen: Nein, Christel, das ist vorbey – ich bleib bei dir bis in den Tod! – aber ich sagte nur leise: »Christel – Christel! . . .« und hielt immer noch die Arme nach ihr gebreitet. Langsam neigte sie sich mir zu und lehnte sich an meine Brust, indem sie an den Boden hinabsank. Ich streichelte ihr das Haar, immerzu, mein Herz klopfte mir bis an den Hals, und eine Stimme in mir sprach: sag's, sag's! – und eine andere: nein! nein! – das ist die Stunde nicht! War die eine das Herz, die andere der kalte Verstand . . .? Oder beide Stimmen die Liebe? Die eine zur Christel, die andre zur Linde?

Und ich streichelte ihr das Haar und endlich sprach ich: »Laß seyn, Christel, laß seyn – es wird sich alles wenden und fügen . . .«

Ich zog sie zu mir herauf und küßte sie auf die Stirn und die armen Augen und den tränennassen 112 Mund und plötzlich schlug sie die Arme um mich und rief: »Ich laß dich nicht, Meinrat, ich geb dich nicht her, ich laß dich nicht! . . .«

Da hörte ich ganz deutlich, als sänge sie draußen vor der Kammertür, eine Stimme erklingen:

Verlassen, vergessen, schlaf ein, schlaf ein . . .

Ich aber wünschte mir den Tod!


Es kam die Ernte und ich war viel unterweges, kaufte von den Bauren und ließ das Korn und den Weizen in unsere Speicher führen und schloß große Verträge. Da traf ich auch zweimal draußen in den Feldern die Linde an mit dem Kind, so dass ich ein Stündlein konnte mit ihr plaudern und kosen. Sie sah meine Not und wußte, was es war, ohne dass ich ihr's brauchte zu sagen. Und sie fragte mich:

»Soll ich mit der Christel reden?«

»Könntest du das?« Und eine Hoffnung und ein Glaube stieg auf in mir wie ein großes, strahlendes Licht.

»Ich will's versuchen, Meinrat,« sprach sie.

»Aber nicht jetzt, Linde, nicht jetzt! Bis später einmal, wenn's nimmer anders gehen will.«

Als es gegen Herbst war, da fügte es sich, dass der Vater selber wünschte, dass ich nach Augsburg reisete, mit Herrn Krafft Ehinger einen großen 113 Handel abzuschließen, und unser ganzes Getreide auf einmal an ihn zu verkaufen. Das kam mir wie eine Schickung des Himmels und besonders war es mir lieb, dass es mir der Vater sagte, da die Christel dabey war und es hörete. Ich willigte ein, aber nicht allzu schnell und freudig, so dass er mir noch zuredete.

So rüstete ich mich zur Reise wie früher schon einmal, schrieb dem Herrn Ehinger, dass ich würde kommen und drei Tage später ritt ich davon, nachdem ich der Linde hatte heimlich Botschaft gesagt. Das machten wir so: wollte ich sie was wissen lassen, so hing ich des Morgens um die Zeit, da die Luise meinem Hause vorbeyging, ein weißes Tuch ans Fenster. Dann paßte sie mir auf in einer stillen kleinen Gasse. –

Da ich von der Christel Abschied nahm, weinte sie herzbrechend an meinem Hals: »Meinrat – kömmst du mir wieder?«

Ich getröstete sie: »Ja, Christel, so mir nichts Menschliches zustößt, schwör ich's dir zu!« Da wurde sie ruhiger und küßte mich noch einmal und reichte mir das Jakobele und sprach zu ihm: »Bitt den Vater, daß er uns wiederkommt!« Das Kind lallte fröhlich nach mir und faßte nach meinen Wangen, mich zu küssen, wie es gewohnt war, und ich ging und ritt davon. 114

Da ich zum Tor hinaustrabte – oh – oh, wie sank es von mir ab wie eine schwere Last! Nun sollte ich endlich allein seyn – wenn ich wollte, auch zwo Wochen lang! Und plötzlich fiel es mir ein, mich dem Magister Anselmus zu vertrauen und ihn um Rat zu bitten! Der allein konnte mir helfen, nach ihm hatte ich mich gesehnt die ganze Zeit her, ohne daß ich es gewußt.

Die Felder waren leer, die Bauren pflügeten für die Wintersaat – sie grüßten mich, da ich vorbeyritt, denn sie kannten mich alle. Die Bäume waren schon braun und gelb, und die Vogelbeeren leuchteten glühend brennrot. Weiße Fäden flogen durch die Luft, die scharf und kühl wehete und mir lustig um die Wangen blies. Ich fühlte mich, als sey ich aus einem Kerker entronnen und kehre in die Freiheit zurück.

Mein Pferd ging seinen scharfen Trab, wie es gewohnt war, es schnaubete laut durch die Nüstern und warf lustig den Kopf empor, als wollte es mir zeigen, wie auch ihm die Reise gefiel.

Da sah ich weit draußen im Feld zwo Frauen gehen, ganz von fern, und mir fiel das Lindelein ein. Und plötzlich dachte ich, dass es doch erst kaum fünf Monate her sey, dass ich die Liebste gefunden auf der Frühlingsau und doch schien es mir, als seyen 115 seither viele, viele Jahre vergangen und ich unterdem ein alter Mann geworden . . .

Als ich in Donauwörth einritt, sah ich auf dem Platz vor der Kirche ein großes Gedräng von Leuten und viel Lachen und Schreien und Drohen und mitten unter ihnen an den Pranger gebunden ein junges Weib, nackt bis zum Gürtel, das der Büttel mit Ruten strich. Da ward ich glührot vor Grimm und Scham, denn ich wußte, warum der Armen das widerfuhr: man hatte sie im Ehebruch ertappt. Ich hätte wollen mein Pistol abschießen auf den Kerl und das unselige Geschöpf auf mein Pferd heben – davon mit ihr! Ich riß das Pferd herum und obschon ich willens gewesen, in der Stadt zu Mittag zu bleiben und zu rasten, ritt ich hinaus, als sey der Teufel hinter mir her.

Und er war hinter mir! Mit einmal sah ich, was nun drohete, wenn wir nicht klug und listig waren wie Schlangen. Nein – unser Weg war ein Weg über ein schwankes Seil, links der Tod und rechts der Tod und vor uns ein unsicheres Ziel und hinter uns hetzten sie her, wie die tollen Hunde das keuchende Wild! –

In Augsburg ward ich von Herrn Ehinger mit Freuden empfangen, er kam mir schon am Tor seines Hauses entgegen. Und wie ich neben ihm die schöne 116 Stiege hinaufschritt, ward es mir wohl und warm und ich blickte mit frohen Augen um mich, und Herr Ehinger sagte mit Wohlgefallen:

»Ich sehe, auch Ihr freuet Euch, junger Freund, dass Ihr wieder in mein Haus einkehret – so seyd Ihr mir doppelt willkommen!«

Ich reinigte mich vom Reisestaub und tat andere Kleider an, dann ging ich, die Frau Ehingerin zu grüßen und auch sie hieß mich willkommen mit herzlicher Freude. Fast fühlete ich mich, als sey ich nach langer Abwesenheit in mein Vaterhaus heimgekehret.

Bei Tisch präsentierte mir Herr Ehinger seinen Sohn Georg, der bald, nachdem ich von Augsburg abgereiset, aus der Fremde heimgekommen, einen Jüngling von angenehmer Bildung, aber etwas weichlichen Zügen. Auch schien es mir, als sähe er etwas verächtlich auf mich, als auf einen halben Bauren.

Wie ging es mir nun sonderlich in diesem Haus! Die vielen Bilder alle – wie sah ich sie jetzt zum allerersten Mal. Ich schritt von einem zum andern und konnte mich nicht sattschauen an ihnen. Wie hatte ich doch früher sie für eitel sündhafte Werke halten mögen, da sie doch so schön waren, so herrlich! Wie glühete das Leben aus ihnen in mein Herz, wie atmete die Liebe aus ihnen mir entgegen, da ich nun 117 selbst von Liebe und Leben erfahren! Und ich begriff mit einmal, was jene Meister gefühlt, da sie an ihren Werken schufen, dass sie mit ihnen eine stumme und doch hinreißend beredte Sprache redeten, die tausendmal mehr sagte als Worte, und hätte sie der größte Dichter gesetzt! Denn wer hätte zu sagen vermocht, was ich an Lindeleins Brust empfand? Und hier war es gesagt, da Venus in des Adonis Armen lag – und doch! Keiner erriet es als ich, und hatte er auch das Gleiche erlebt – denn das war niemals das Gleiche, immer ein andres, für jeden ein eignes Geheimnis! Und standen mit mir ein Dutzend Männer vor dem Bild, die alle ihr Lieb gehegt in traulichen Stunden – was mir das Werk verriet, war ihnen allen verschlossen und konnte es keiner fühlen, keiner erraten! –

Am ersten Tag ward nicht vom Handel geredet. Ich mußte erzählen von meinem Weib und Kind – ach ja, wie machte mir das Pein und Qual. Vor drei Jahren sehnte ich mich hier an diesem Ort nach der Christel und betete innig zu Gott um ein friedliches Glück in ihrem Arm, und heut –? Heut – ach Weh und Leid!

Den nächsten Tag dann, bey einem behaglichen Frühstück, ward besonnen und gemächlich von unserem Handel angefangen, und es war mir lieb, dass 118 der junge Ehinger nicht dabey war. Und als es gegen Mittag ging, waren wir so ziemlich einig und standen nur mehr ein paar Kleinigkeiten aus. Ich war zufrieden und Herr Ehinger auch, und über Tisch trank er mir fröhlich zu und ich tat guten Mutes Bescheid.

Dann aber hielt ich mich nimmer länger und ging zum Magister Anselmus. Die alte Frau, die ihm das Haus hielt, erkannte mich nicht – und als ich den Namen sagte, merkte ich, dass sie ein wenig erstaunete, wie ich in den drei Jahren so alt geworden . . . Ich stieg über die Holztreppe hinauf und pochte an die Tür des Studierzimmers, ich hörete seine Stimme und trat mit klopfendem Herzen ein. Der Magister saß beim Fenster mit einem Buch und stand froh bewegt auf, aber er blieb auf halbem Weg stehen und sah mich betroffen an. Ich schaute ihm ernst ins Gesicht – ich konnte nicht lächeln – und wußte es wohl, dass ich doch in diesem Augenblick genau so lächelte wie er – heimlich, mit den großoffenen Augen, doch nein – nicht ganz so – heute nur schmerzlich und in Wehmut, nicht mit jenem leise überlegenen Spott, vor dem mir einstmals so graute. Und der Magister sah mich forschend an, nur eine winzige Weile, und er erkannte mich, und wußte, ehe dass ich sprach! 119

Schon hieß er mich willkommen, rückte mir einen bequemen Stuhl herbei und faßte wieder meine Hand, als ich ihm gegenüber saß, und sprach:

»Nun aber erzählet, mein lieber Freund!«

Ich sah ihn noch immer an, ungewiß, ob ich reden sollte oder doch lieber schweigen. Aber sein Gesicht war so ganz anders jetzt als früher, dass ich sogleich wieder Zutrauen gewann. Und leise sagte ich:

»Ich habe weiter gelesen im Buche – il canto quinto! . . .«

Er blickte mich forschend an, gerade, als wollte er fragen, ob das schon alles sey. Darum sprach ich:

»Nun bin ich in solcher Not, dass ich nicht weiß aus und ein, so quälet mich meine Liebe und mein Gewissen.«

Der Magister blickte spöttisch. »Ein Mägdlein bringet Euch aus der Fassung? Küsset es hinter'm Zaun, bis Ihr genug habt vom Zuckerwerk . . .«

»Ihr irret Euch, Magister! Es steht anders. Und es sollte mir leid tun um mich und – Euch, so Ihr nur könnet lachen darüber . . .« Und ich erzählete ihm alles, was er wissen mußte, um zu urteilen, schwieg nur vom Traulichsten und Innerlichsten, das doch keiner konnte fassen und deuten, nur der, dem es beschert gewesen. 120

Er hörte mir achtsam zu und als ich geendet, schwieg er bedenklich. Dann sagte er:

»Was Ihr mir zutrauet, ist schwer. Ich soll Richter seyn und kenne die Partheyen nicht, weniger vielleicht als Ihr, wenngleich sonst ein Fremder in dergleichen Dingen klarer sieht als die Liebhaber selbst . . . Ich kann Euch nur eines zu bedenken geben: alles, was eines Menschen Seele ganz beweget bis zum Grund, ist es auch wert, dass man Opfer dafür bringe, dass Opfer – fallen dafür! Denn es ist groß. Aber die Frauenliebe scheinet mir unter den Dingen, für die ein Mann kämpfen mag, die geringste zu seyn . . . Seyd nicht ungehalten, ich kann's anders nicht sehen . . .«

»Nun saget mir aber – wie soll ich's meiden, daß Opfer fallen? Bleibe ich bei meinem Weib – so gehe ich zugrunde und meine Liebste – bleib ich der Liebsten treu – mein Weib verwindet es nie . . .«

»Ja – wenn Ihr nicht beide nach etlichen Tränen Vernunft annehmet . . .« Er blickte mich spöttisch an.

Ich zuckte die Achseln und stand auf. »Ich sehe, dass Ihr die Sache zu leicht nehmet, besser gesagt, dass Ihr nichts verstehet davon!« Ich verbeugte mich vor ihm und wollte gehen. Aber er hielt mich am Arm zurück. 121

»Bleibt, lieber Freund, und vergebet mir . . . Seht, ich bin ein paar Jährlein älter als Ihr – und glaubet –: seyd Ihr einmal über Fünfzig hinaus, so werden Euch solche Dinge nur noch als Possen dünken . . . Euch freilich ist's jetzt Leben und Tod. Aber glaubet mir: schon in wenig Jahren werdet Ihr lachen darüber . . .«

»Nein, Herr Magister, ich weiß es anders: es gibt Schicksale, wenn die in unser Leben treten, und wir schauen ihnen ins Antlitz, so wissen wir es, dass wir von Stund an Gezeichnete sind und tragen müssen an den Ketten, die sie uns auflegen, bis zum letzten Tag! Und das siehet ein jeglicher, ob's ein Kind ist oder ein Greis oder ein Mann! Er fühlet's an dem Schaudern und Beben des Herzens, wann die Stunde kommet . . . Und meine hab ich erlebt, ich weiß es . . .«

Es dämmerte schon im Gemach und der Magister saß still vor mir in seinem alten Ledersessel am Fenster. Leise sprach er:

»Bisweilen ereignet es sich – nicht oft, einmal vielleicht in hundert, ja vielleicht tausend Jahren: da wird unter den Menschen eine große Liebe geboren . . . Aber wenn sie da ist, erkennet man sie nicht, denn sie trägt ein schlichtes, graues Gewand. Wir wissen von keiner einzigen großen Liebe, mein 122 guter Gesell! Oder glaubet Ihr etwa an die Helena und den Paris? An Tristan und Isolden? Das sind Träume der Dichter, ihre eigene Sehnsucht und Liebe, die auf Erden kein Genügen fand und sich himmlische Gestalten schuf, die nun leben in Ewigkeit . . .«

»Und Francesca und Paolo?«

». . . Sie liebten sich in wundervoller Glut und ihre Seele war noch rein von Schuld . . . Und was meinet Ihr: hätte Francescas Gemahl sie nicht beide getötet – was wäre geworden aus jener großen, heiligen Flamme? . . . Ein paar Wochen – ein paar Monde – es wäre dahin gewesen um sie . . . ein klägliches Spiel. Aber verstehet mich wohl: ich will nicht sagen, dass es nie auf Erden eine große Liebe gab! Ich will nur sagen, dass sie nie dort sey, wo wir sie suchen, und dass wir sie alle nicht kennen, wenn wir sie treffen . . .«

»Und auch Ihr nicht, Magister!«

Er neigte leise das Haupt: »Vielleicht,« sprach er still, »vielleicht auch ich nicht . . .«

»Aber in mein Herz ist sie eingetreten . . .«

»Wenn es so ist, mein lieber Freund, dann müsset Ihr wohl Euren Weg gehen, mag er auch ein schwerer seyn. Aber seht: wenn Ihr den Plan gefaßt hättet, einen Staat zu befreien, den ein 123 unwürdiger König bedrückt, und Ihr wisset zuvor, dass viel Blut würde fließen über Eurer Tat – Krieg und Greuel aller Art –; oder wenn Ihr hättet, ähnlich dem Copernico, ein neues Weltsystem entdeckt und Ihr seyd auch gewiß, daß es Euch und Euern Anhängern würde das Leben kosten, so Ihr's verkündet: seht, wenn Ihr dann trotzdem Eure Tat vollbringet, mag sie nun endigen wie immer – dann seyd Ihr ein großer Mann, denn Ihr habet für viele gestritten, Ihr habet die Welt weitergebracht auf ihrem Weg . . . Aber wie ist es um Euch bestellt? Wenn Ihr Euerer Liebe nachgehet – wem dienet Ihr damit? Euch und der Liebsten allein und sonst keinem in der Welt! Und auch Euer beider Glück wird nie vollkommen seyn – keine Stunde Eures Lebens, denn die Schatten Eurer Opfer werden Euch nachschleichen, wohin Ihr auch fliehet . . . Ist's nicht ein armselig Spiel? . . .«

»Magister Anselmus,« rief ich mit quellenden Tränen, »ich habe mich nach Eurer Stimme gesehnt wie ein irre gegangenes Kind sich nach dem Vater sehnet! Und Ihr leget der Pein meiner Seele noch neue Qualen und Lasten zu!«

»Soll ich Euch befeuern mit falschem Rat, ins Elend zu rennen?«

»Weiß Gott, mir ist oft, als liebe ich gar nicht 124 mein Lieb und sie liebe nicht mich – als habe ein' furchtbare, riesige Macht, die ob uns schwebet wie ein Geiervogel, uns sich gepackt mit scharfen Fängen und auserwählet zum Spiel und läßt uns nun hängen und ringen in tausend Not und Pein und Glück und siehet zu in grausamer Lust, indessen wir Unglückskinder noch glauben, wir hätten uns selber dies Los gewählt und wären mit freiem Willen geworden, was wir nun sind!«

»Und wer bürget Euch, dass es nicht ist, wie Ihr da sagt?«

Die Stimme des Magisters kam aus dem völligen Dunkel her, das schon das Gemach erfüllete, als redete die Luft, die Nacht selber, nicht eines Menschen Mund. Ich erbebte, so über den Klang wie über das Wort selber.

»Magister Anselmus,« rief ich und tastete im Dunkel zu ihm und fassete ihn bei den Armen und rüttelte ihn, »Magister Anselmus – wer ist jene Macht, sagt es mir, denn Ihr wißt es, ich habe es gesehen in Eurem wunderlich furchtbaren Lächeln, vor dem ich gezittert als schuldloser Knabe, aber nun – nun kenne ich's wohl! Sagt mir's, Magister, wer ist sie? Kann es denn Gott seyn? Gott ist allgütig und weise! Kann es der Teufel seyn?! Unsere Liebe ist rein und heilig wie Christi Leib im 125 Sakrament! Wer ist es? Wer ist in der Welt, außer Gott und dem Teufel? Sprecht!«

»Der Mensch! . . .«

Ich ließ ab von Anselmus und sank wieder auf meinen Stuhl und schlug die Hände vors Gesicht.

»Also doch wir selber aus freien Stücken? Wir allein schuldig und schuldlos zugleich, Mörder und Gemordete in einem?«

»So meine ich's nicht, Freund! – Doch es gibt Wesen, die einzig der Mensch geschaffen und die ihn doch nur quälen und über ihn herrschen wie ein grausamer Tyrann . . .«

»Ich verstehe Euch nicht, Magister . . .«

»Das sagtet Ihr auch vor dreien Jahren und heute wisset Ihr viel, was Euch damals ein Buch mit sieben Siegeln und eitel Aberwitz schien . . . Ihr müsset weiter lesen, Freund Meinrat . . .«

»So deutet mir doch die krause Schrift, Magister Anselmus, Ihr könnet sie lesen!«

»Meinet Ihr? – Ich kann sie wohl lesen und deute sie bald so, bald so – aber der Sinn? Meinrat, der Sinn?«

Er flüsterte das Letzte nur mehr, als redete er mit sich selbst. Ich horchte voll Angst und brennender Qual. »Der Sinn, Magister, der Sinn –?«

»Ihr ertrüget ihn nicht, Meinrat!« 126

»Redet, Meister, redet! Der Sinn –?«

»Ich glaube . . . die Schrift . . . hat gar keinen Sinn!«

Da stöhnte ich auf. »Gar keinen? Anselmus, ist das Euer Ernst? Höhnt Ihr mich nicht?«

»Ich wollte, ich hätt' es getan und könnte nun lachen über Euch!«

»Aber Gott? Ist nicht Gott der Sinn des großen Buchs?«

»Leset erst weiter im Buche . . .«

»Magister, Ihr quälet mich, Ihr zeigt mir die Lösung verhüllt und nehmet die Hüllen nicht ab . . .«

»Wohl! Noch könntet Ihr's nicht tragen . . . Und bürget Euch wer, dass ich die Lösung in Händen trage? Dass es nicht Trug und Schein?«

»O Gott im Himmel, wo ist da Licht und Tag!«

»Das fragt der Mensch seit bald viertausend Jahr'!«

»So sagt mir doch das eine, Magister – ich will Euch Priester nennen und Euch Priestergewalt geben über mein Herz und saget Ihr mir: reiß heraus deine Liebe aus deiner sündigen Seele! – so will ich's tun – aber sagt mir nur das: ist's Sünde, Todsünde, wenn ich der Liebe folge und Unglück über mein Weib und Kind bringe und weiß Gott noch über wen, ist's Sünde oder nicht?« 127

Der Magister schwieg und ich hörte ihn tief atmen. Dann sprach er:

»So Ihr tut, was Ihr gern wollet, und könnt lächelnd ohne Mitleid über die Leichen derer gehen, die Euch bisher die Liebsten waren – wohlan: so habt Ihr nicht gesündigt, so war Eure Tat gerecht! Könnet Ihr's nicht – war sie Sünde und Frevel . . . Aber tun müßt Ihr sie, ob Ihr das nun könnet oder nicht . . .«

Mir drehte sich alles ringsum, ich fiel mit dem Haupt auf die Platte des Tisches und hätte so gern weinen wollen und konnte es nicht.

»Da ist kein Ausweg und Hilfe – wir gehen im Kreis wie in einem Zauberwald und finden nicht heim . . .!«

». . . heim . . .!«

Da horchte ich auf: denn indem er dies sagte, mit einer so tiefen Sehnsucht und ohne alle Hoffnung, bebte die Stimme des Anselmus so wehe und voll Schmerz, wie ich nie noch eines Menschen Stimme gehört . . . Und er sprach den Vers des Dante Alighieri: »Laßt, die ihr eingeht, alle Hoffnung schwinden!«

Aber ich wußte wohl, dass er damit nicht den Spruch am Höllentor meinete, sondern die Inschrift am Tor des Lebens. 128

Wir schwiegen lange, dann sprach der Magister mit seiner gewohnten Stimme, nur schien sie mir milder und gütiger zu klingen:

»Da seht Ihr nun, wie es um uns Menschen stehet: Ihr seyd zu mir gekommen um Rat und Trost und habt auf meine Weisheit gebaut wie auf Gottes Allwissenheit – und ich muß Euch von mir schicken ohne Hilfe, ja in ärgerer Not, als Ihr kamet!«

Ich stand auf, meine Glieder waren schwer, als wäre ich weit über hohe Berge gewandert. Der Magister bot mir die Hand. »Kommet noch einmal, ehe Ihr heimreiset,« sprach er, und ich ging.

Ich blieb noch etliche Tage in Augsburg – nicht weil es mich sonderlich gefreut hätte, sondern aus Angst und Scheu vor der Rückkehr. Trübselig und grübelnd schlich ich meiner Wege, kaum vermochte ich vor dem Herrn Ehinger mich zu verstellen, dass er meine Schwermut nicht gewahrte. Mein Geschäft hatte ich mit ihm beendet, es hielt mich nichts mehr in der Stadt. So ging ich denn eines Nachmittages wieder zum Magister Anselmus, mich von ihm zu verabschieden. Wir sprachen von allerley gleichgiltigen Dingen, bis ich ihn endlich bat:

»Herr Magister – ich bin willens, über kurz oder lang aus der Heimat zu fliehen, in die Fremde, 129 mit der geliebten Frau; wollet Ihr mir dann beistehen und behilflich seyn?«

»Wie kann ich das?«

»Ich muß unter falschem Namen reisen, in Dinkelsbühl darf niemand wissen, wo wir sind! Aber doch wird es vonnöten seyn, dass ich erfahre, was daheim vorgeht. Nun könnet Ihr das leicht durch Herrn Ehinger hören – fraget ihn fleißig nach mir und bittet ihn, dass er meinem Vater schreibe – und was er mitteilt, schreibet dann mir – einzig Euch will ich sagen, wo wir sind und wie unsere Namen heißen werden, denn ich vertraue Euch, dass Ihr schweigen werdet!«

Das versprach er mir mit Handschlag und wir schieden von einander. Beim Weggehen hielt er meine Rechte lang in der Hand und sah mir in die Augen. »Ich wünsche Euch starken und hohen Mut, mein armer Freund,« sagte er.

Des andern Tags verritt ich von Augsburg nach Donauwörth. Ich hatte mich auch vorsichtig umgetan, ob es so schwer sey, zu einem Paß zu gelangen, der auf falschen Namen lautete. Und ich hatte erfahren, dass für Geld alles zu haben sey und wußte auch wo. Des war ich zufrieden.

Der Herbst kam trüb und grau und früh ins Land, es begann Nebel über den Feldern zu liegen 130 und es wurde kalt. Die Raben flatterten krächzend durch die Luft. Und in mir war es so trostlos wie ringsum auch.

Als ich in Dinkelsbühl einritt, begann mein Herz bange zu schlagen, es war mir, als ginge ich gradwegs in mein Verderben. Ich stieg ab vor meinem Haus, der Knecht kam und führete das Pferd weg, aber die Christel zeigte sich nicht. Ich stieg hinauf und trat in die Stube ein, in der sie sich gewöhnlich hielt, und fand sie am Fenster sitzen. Ich blickte sie an und erschrak: ihr Antlitz war alt geworden und schwer von Kummer, es sah aus, als wären die Züge aus Stein geschnitten und könnten sich nie mehr zu einem Lächeln verziehen. Und es ist wahr – ich habe sie auch nie mehr wirklich in Freude lächeln gesehen!

Sie kam mir langsam entgegen, und es schien mir, als mache das Gehen ihr Mühe, jede Regung der Hand schien sie zu schmerzen. Sie bot mir die Lippen zum Gruß, ohne Freude, wie aus langer Gewohnheit. Sie waren kalt und fremd. Ihre Augen schwammen von Tränen und plötzlich begann sie wild zu weinen. Und als ich sie zu trösten versuchte, schluchzte sie:

»Nun weiß ich, wer die Frau ist, die du – –«

Sie konnte nicht weiterreden; nicht sagen, dass ich eine andre liebte! 131

Ich erschrak so, dass ich zurückfuhr. »Wie? Was hast du erfahren? Wer hat's dir gesagt?«

»Sie war bei mir . . .«

»Bei dir? – Wer?«

Sie sah mich fast böse an, dass ich so heuchelte, wie es ihr scheinen mochte. »Nun – die Liese Bollmannin!«

Wie traf mich der häßliche Name wie ein Schlag ins Gesicht!

»Sie war bei dir? – Was hat sie dir gesagt?«

»Kein Wort von dir und dass sie dich . . .« Sie sprach es wieder nicht aus, sondern weinte aufs neu. Mir erbarmete das arme, unglückliche Weib von ganzem Herzen und ich legte den Arm um die zitternde Gestalt. Sie ließ mich gewähren und lehnte den Kopf an meine Schulter.

»Ach Meinrat,« sagte sie leise, »nun kann ich ja alles begreifen. Ich weiß es jetzt, dass es so seyn muß! Was ist das für eine Frau! Das ist nicht mehr die Liese Bognerin von einst – mit der wir spielten, das Rikele und ich – was ist dies für eine wunderseltsame Frau! Sie ist eingetreten in meine Kammer und hat mich bloß angesehen, Meinrat – nur angesehen, und hat gelächelt dazu –: und da hab' ich alles, alles gewußt! Was hat sie doch Gewalt über die Menschen! So leise geht sie, 132 als schwebte sie über dem Boden und lächelt dir nur lieblich zu – und du bist ihr verfallen mit Leib und Seel! Die mußt du freilich lieben, du armer Mann, da kannst du nicht anders!«

Ich staunte sie an mit offenem Mund. Aber dann stieg ein übler Verdacht in mir auf. »Mir scheint gar, Christel, du hältst sie für eine arge Zauberin, die mich behext mit ihren Augen und dunklen Künsten?«

Die Christel schüttelte den Kopf mit einem trüben Lächeln. »Nein, bei Jesu heiligen Wunden, das glaube ich nicht, ich glaube nicht an Zauberey und Höllenwerk! Wär's das – oh Meinrat! wie wäre ich glücklich alsdann, dann könnt' ich dich retten mit Beten und heiligen Messen, und du fändest den Ausweg aus ihrem Netz! Aber nein! Sie ist gut und rein und keusch wie ein Engel – ich hab nicht so eine Frau mein Lebtag gesehen! Ich glaub', die kann mit weißseidenen Schühlein über ein Feld voll Dung und Unrat schreiten – und wird rein und sauber hervorgehen wie ein lichter Engel . . .«

»Ja, Christel, so ist sie . . .«

Und sie hing sich an meinen Hals und weinete wild, dass ich glaubte, es müsse ihr das Herz abwürgen vor Gram und Leid. 133

»Oh Meinrat. mein Tausendgeliebter! Da hab ich dich erst verloren, wie ich sie gesehen hab! Denn bis dahin hab ich immer noch ein liebe kleine Hoffnung im Herzen gehabt, dass alles wird wieder gut werden, wie's einmal war – aber jetzt? Oh wehe, wehe – jetzt seh ich, dass es ja gar nit anders kann seyn, daß du mußt! Ich glaub's dir von Herzen, dass du mir willst kein Leid antun und gerne bei dein' Christel bleiben und dein' Jakobele – aber du kannst es ja nit, du armer Gesell!«

Wir hielten uns heiß umschlungen und weineten alle zwey. Und schon fühlte ich in mir eine leise Hoffnung, dass ich's werde verwinden und der Christel treu bleiben und der Linde zeitlebens nur ein guter Freund seyn – aber wie ich nur den Namen in mir sagte und sie in Gedanken vor mir sah, die liebste Frau – da war es vorbey mit aller frommen Täuschung, und ich wußte, dass ich davon mußte von Haus und Weib und Kind ins fremde Ungewiß hinaus, der Liebe zuliebe . . .

»Meinrat,« flüsterte sie, »warum hast du die Liese nicht genommen statt mir!«

»Ach ja, es wäre wohl besser gewesen und durfte doch nimmer seyn.«

»Ihr zwey seyd für einander gekommen aus Gottes Hand und mich – mich hat ein böser Teufel 134 zwischen euch geschoben, dass aus dem Glück sollte Leid und Kummer werden!«

So weineten wir lang und konnten uns nicht ertrösten. Doch endlich fragete ich voll Angst:

»Hast du es wem gesagt?«

»Nein, noch hab ich geschwiegen – aber lang kann ich's nimmer hehlen; – sie müssen mir's ja absehen am Gesicht! Ich kann nit lachen und singen, wann mir das Herz bricht dabey . . .«

»O Christel, Christel, ich bitt dich tausendmal, sey still, sag, ich sey unwirsch zu dir, sag, ich hätt dich geschlagen um ein Pappenstiel – aber schweig! Wenn sie mir alle über'n Hals kommen und reden und drohen und fluchen und lästern und häufen Unrat auf meine, reine, liebste Frau – das leid' ich nicht, da gibt's ein Unglück, Christel! Sagst du's heut deiner Mutter – morgen weiß es die ganze Stadt! . . .«

»Und was soll seyn, wenn ich schweig'?«

»Christel, ich weiß noch selber nicht, wo aus und ein . . . Fort müssen wir wohl, ob's früher ist oder später . . . Aber der Lärm soll erst seyn, wann wir weit sind . . .«

Freilich, ich dachte nur an mich und die Liebe! Über die Christel, die Arme, mochte kommen was 135 immer! Das war schlecht und arg von mir, aber ich bin gestrafet worden für meinen üblen Sinn!

Wir gingen in Tränen zu Bett an diesem Abend. Ach ja, und was ich jetzt soll bekennen – noch heut, nach so vielen Jahren, will's mir nicht eingehen, wie das hat können seyn, und doch ist's gewesen!

Wir hielten uns weinend umfangen und sagten nur immerzu das nämliche Wort, weh und ach, warum hat's nicht können anders kommen – und die Christel schloß die Arme um meinen Hals und ich fühlte ihren jungen Leib so dicht und warm an dem meinen, und eh wir's recht wußten, wie uns geschah, hielten wir uns in süßestem Verein und weineten doch dazu aus ganzem Herzen in unserem bitteren Leide!

Da lernete ich so recht, wie wir doch alle arme Menschen sind und untertan dem Fordern unseres Leibes, und dass man soll über niemand den Stab brechen, denn keiner weiß, was ein unseliger Sünder geduldet hat, da er gesündiget . . .

In dieser Nacht hab ich in Wahrheit Abschied genommen von meiner Christel für alle Zeit. Ich hab ihr noch einmal alle Liebe erzeiget, die ich nur hab geben können, und hab ihr gedankt damit für alle Lieb und Leiden, die sie um mich hat empfunden. Und wann wir uns küßten, dass uns das helle Blut 136 aus den Lippen sprang, hat sich's mit bitteren Zähren gemenget. Und in dieser Nacht hat mir die Christel auch von ganzem Herzen vergeben, da erst ganz und ohne dass ein kleiner Tropfen Haß und Groll wär hängen blieben in ihrem armen, zerstochenen, zermarterten Herzen – sie hat mir vergeben alles, was ich hab tun müssen, und hat verziehen aus einem reinen, heiligen Gemüt! Und immerdar hab ich in dieser Nacht ober uns ein großes Ding schweben sehen, wie einen riesigen Geier mit krallscharfen Fängen, die hat er uns tief, tief ins Fleisch geschlagen, und wann wir uns auch noch so gewehret gegen ihn und haben gebetet und gerungen – es war alles eitel umsonst! – –


 << zurück weiter >>