Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Kuß

1.

Meine rechte Hand ist noch nicht ganz welk, aber die Lähmung, die sie ergriffen, breitet sich Tag für Tag weiter aus. Bevor noch das Jahr verflossen ist, wird sie ein totes Glied sein. Diese Hand, die mein hilfreicher Freund war, die mir Nahrung zuführte, die meine Gedanken niederschrieb, die in meinen Büchern blätterte, die sonst alle Arbeit treu verrichtete und mich nie im Stiche ließ, wird unfähig und abgestorben sein.

Mit den letzten Kräften, die sie noch besitzt, will ich den folgenden Bericht niederschreiben, der über die Ursache meines Unglücks Aufschluß gibt. Damit alles verstanden werden kann, muß ich ziemlich weit ausholen. Doch werde ich versuchen, mich in meiner Darstellung kurz zu fassen.

Zunächst einige Worte über meine Kindheit und meine erste Jugend.

Mein Vater war Lehrer an einem Gymnasium. Er war ein pflichteifriger Mann, fast krankhaft sorgfältig. So wie er in seinen letzten Lebensjahren war, steht er besonders scharf in meinem Gedächtnis. Die Krankheit, die sein Tod werden sollte, hatte angefangen, sich rascher zu entwickeln. Wie schleppte er sich aber doch jeden Morgen nach der Schule. Wie machte er sich leidend und standhaft auf den Weg, während ab und zu eine hastige Zuckung über sein angestrengtes, oft zermartertes Gesicht hinwegfuhr.

Mein Vater war ein tüchtiger Sprachenkenner. Mancher behauptete sogar, er sei ein genialer Archäologe gewesen. Er war eine jener sonderbaren Berühmtheiten, von denen man nichts Bestimmtes zu sagen weiß, die aber meistens über viel größere Fähigkeiten verfügen, als ihre bescheidene Stellung sie erfordert. »Ein Vollbluthengst vor einem Arbeitswagen«, soll einmal ein erfahrener Mann gesagt haben. So viel ist sicher, daß die Hoffnungen, die man auf ihn setzte, nicht in Erfüllung gegangen waren. Und seit langem schon hatte er selbst alle hohen Träume über Bord geworfen. Diese Dinge berührte er nie mit einem Worte. Er ging seiner Wirksamkeit als Lehrer nach, und Jahre und Tage vergingen, und er wurde zuletzt ein alter, übermüdeter Mann, der nur noch den Tod zu erwarten hatte.

2.

Ich nenne meinen Vater zuerst. Er hatte für mich die größte Bedeutung. Meiner Mutter erinnere ich mich viel weniger deutlich. Als sie starb, war ich erst fünfzehn Jahre alt. Ich sehe noch ein blasses Gesicht vor mir, ein müdes Lächeln und ein paar seltsame milde Augen. Ihr Gesicht war klein, fast kindlich, und hatte nur wenige, feine Runzeln. Ihr Haar war ergraut und sehr dünn. Sie war gewiß ungeheuer fleißig. Ich entsinne mich, wie sie still und ohne Unterlaß um uns ihre rastlose Tätigkeit ausübte. Ich erinnere mich ihrer letzten Krankheit, während der sie immer nur darüber klagte, daß sie nicht auf sein und arbeiten könnte. Zuletzt phantasierte sie von der bevorstehenden Arbeit. »Jetzt fängt die dunkle Jahreszeit an«, sagte sie, »wir werden die Lampen anzünden und fleißig mit der Nadel arbeiten.«

Mein Gemüt wird still und gedankenvoll, wenn ich mich meiner Mutter und ihres Lebens erinnere. Meinen Vater bewunderte ich. Ich fühlte mich mit ihm verwandt, lauschte seinen Worten wie der Weisheit selbst, – er beschäftigte mich, nicht, weil er ein rücksichtsvoller Vater war, sondern weil er alles das wußte, worin ich eingeweiht zu werden wünschte. Er erfüllte eben mein Gemüt und mein Denken. Aber für meine Mutter hatte ich damals nur wenige Gedanken übrig.

Jetzt wird mein Gemüt vor Wehmut weich, wenn ich an sie denke. Erst jetzt entsinne ich mich ihres stillen Treibens. Ich sehe ihren Gang, besten demütigen Rhythmus, ich sehe ihr etwas kindliches, blasses Lächeln. Ihre Sanftmut zieht still durch meine Seele und läßt einen herben Kummer zurück. Sie fühlte vielleicht das bittere Weh, dort, wo sie war, überflüssig zu sein. Ihr schlichtes Wirken schien uns so selbstverständlich, daß wir es fast vergaßen. Mein Vater und ich hatten das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Wir sprachen viel über wichtige und schwierige Sachen. Mutter konnte nur wenig dazu sagen. Deshalb ging sie still ihrer Arbeit nach und suchte dadurch ihrer Unwesentlichkeit abzuhelfen. Sie hielt die Zimmer in Ordnung und hatte das Essen zur rechten Zeit fertig. Und jeden Abend setzte sie sich allein mit ihren Nähsachen hin, zündete die Lampe an, die am wenigsten Oel verbrauchte, und »arbeitete mit der Nadel.«

Vater und Mutter waren beide in ihrer verschiedenen Art feinfühlige, gute Menschen. Aber ich glaube nicht, daß sie glücklich zusammen waren.

Wozu brauchte Vater auch weibliche Zärtlichkeit und treue Anhänglichkeit? Er, der es liebte, allein zu sein, dessen Geist sich auf den öden Bergen in seinem rechten Element befunden haben würde; dort hätte er, von der Stille der Unendlichkeit umgeben, in seinen Büchern forschen und mit seiner lauschenden Seele den Weg von den fein nuanzierten Sprachen der Neuzeit, die an das kunstvolle, starke Flechtwerk moderner Stahlgebäude erinnern, bis zu den frühesten naiven, halb unartikulierten Zungen finden können, die von den Menschen in den Erdhöhlen und in den ersten niedrigen Zelten aus Tierfellen gesprochen wurden, – von jenen Menschen, deren mystische Zeichen wir ein seltenes Mal in Steine gehauen finden. Dies Lallen aus uralten Zeiten, deren weite Ferne die Menschen schwindeln läßt!

3.

Meine Erinnerungen an Vater knüpften sich am stärksten an sein letztes Lebensjahr. In jenem Jahre wurde ich gerade Student. An dem Tage, an dem ich mit meiner nagelneuen Studentenmütze auf dem Kopf nach Hause kam, stand zur Feier des Tages Wein auf dem Tisch. Er, der sonst nie einen Tropfen berauschender Getränke genoß, trank mir zum Wohle. Aber als er das Glas voll roten Traubensaftes erhob, sah ich, wie seine Finger dünn und zitternd waren und wie sein Mund blaß war.

»Prosit, mein lieber Junge. Meinen herzlichsten Glückwunsch!«

Wir saßen lange zusammen und unterhielten uns über meine Zukunftspläne. Ich wollte einige Zeit in der Hauptstadt studieren ... Dann wollte ich sehen, daß ich etwas Geld verdienen könnte: ich wollte Stunden geben, als Privatlehrer und in der Schule, wollte versuchen, eines der wissenschaftlichen Stipendien zu bekommen, kurzum, ich wollte alles tun, um etwas Geld zusammenzusparen. Dann wollte ich in die Welt hinaus, um die großen Gelehrten zu hören und in alles das unterzutauchen, was die Menschen auf dem Gebiete der Wissenschaft zusammengelesen hatten, die ich studieren wollte. Und wenn man eifrig studiert, bleibt man immer an einer Sache haften, die einen ganz besonders interessiert. Ueber einen solchen Gegenstand würde ich eine Doktorarbeit schreiben. Und dann ... dann würde es sich zeigen, ob ich etwas taugte ...

Mein Vater antwortete:

»Es freut mich zu hören, wie eifrig Du bist. Ich glaube, Du wirst es weit bringen können ... Aber, aber ... Du bist zu gut, Eduard. Du hast ein so weiches Gemüt. Und Dein Herz ist so weich. Wir haben beide ein weiches Herz, Du und ich. Ja, ja, Du wirst es weit bringen können, wenn die graue Oede des Lebens und die eintönige Arbeit des Alltags keine Gewalt über Dich bekommen. Denn ein Mensch kann so kräftig sein, wie er es nur sein möchte: er wird grau und gerupft und arm werden, wenn er jahraus jahrein, tagaus tagein in derselben traurigen Tretmühle sein muß. Nimm Dich auch vor der Ehe in acht, mein Junge ... vor ihrem Alltag, ihrer Verantwortung und ihrer Mühe. Nimm Dich in acht ... ja, ganz offen gesagt, vor den Frauen ... denn suchst Du sie auf, – dann wird sich schon eine unter ihnen finden, die Dich nach einer der unzähligen Methoden fängt, die sie einem ehrlichen und feinfühlenden Manne gegenüber zu ihrer Verfügung haben.«

Seine Stimme wurde lauter:

»Um die Höhe erreichen zu können, muß der Mann allein sein. Wahrhaftig, so ist es. Und es ist immer so gewesen. Lies von allen den denkwürdigen Forschern, die die Geschichte kennt. Lies von den großen Priestern und Mönchen aus der heißen Kampfzeit der Kirche. Lies von den großen Dichtern und Sehern. Der stille Raum um sie hat sie die Menschenwelt in ihrem eigenen Innern vernehmen lasten. Solche eigenartige Naturen müssen sich selbst überlassen bleiben. Es ist stets etwas Bitteres, Streitsüchtiges über sie gekommen, wenn ihnen ein anderer Mensch nahte. Ihre Einsamkeit ist ihnen angeboren. Sie lassen nie von ihr ab. Sie folgt ihnen in die Ehe. Ein kalter Hauch geht von ihnen aus. Ihre Frau und ihre Kinder frieren in ihrer Nähe. Sie sind von Natur gut und edel, aber wenn sie gestört werden, sind sie wie wilde Tiere. Sie rächen sich, verbreiten Unglück und Kälte.«

Ich lauschte den Worten meines Vaters und fragte ihn nur:

»Ist denn der große Forscher und Seher lebensfeindlich?«

Mein Vater schwieg eine Weile, bevor er antwortete:

»Lebensfeindlich? Ach nein, er liebt das Leben, wie es in seinen tausenden Nuancen zittert. Er liebt das schöne und das furchtbare, das gute und das böse Leben. Aber gerade weil er das liebt, haßt er das Leben, das sich die Menschen gewöhnlich schaffen: den trivialen Alltag und alles Selbstverständliche des Alltagslebens. Seine Seele hat ihre tiefe Wurzel im Mysterium. In der innigen Freude der Arbeit, in der schönen Andacht des Lebens. Sein Werk ist nie das des Sklaven. Er ist kein Freund eines kurzen Arbeitstages. Oft sitzt er die Nacht hindurch, selbst wenn er am Morgen vorher schon angefangen hat. Er geht auch nicht den großen Leidenschaften, den starken Trieben des Lebens aus dem Wege. Manches liebt er, auch die Wollust; denn sie verbreitet das Mysterium. Er geht nicht »zu Grunde« an diesem oder jenem; denn sein Genie enthält in sich den Selbsterhaltungstrieb. Sein Sinn für den Lebensgenuß läßt Langeweile und Verzweiflung draußen bleiben. Deshalb, mein Sohn! wenn ich erfahren sollte, daß Du zuweilen ein heißes Leben führst, würde ich mir daraus keine Sorge machen. Denn durch das heiße Leben würde Dir die Einsamkeit treu folgen. Vielleicht würde die Wollust Deine Einsamkeit doppelt tief machen. Aber wenn ich zu wissen bekäme, daß jemand ein für allemal in Dein Leben einzudringen im Begriffe sei, dann würde ich trauern. Und weil ich weiß, daß alle, alle Frauen in dieser Beziehung gleich sind: daß sie denjenigen, den sie lieben, für sich behalten wollen, auch wenn er daran zu Grunde gehen sollte – deshalb will ich Dir etwas sagen: Versuche, Dich durch ein Mittel zu verteidigen, das nie versagt. Verteidige Dich durch die Keuschheit, mein Sohn. Uebe Dich in der Keuschheit strenger Schule. Sie ist die einzige, die immer in hohen, stillen Hallen wohnt. In der Luft, die dort weht, wirst Du an Deinen Gott denken können: an das geheimnisvolle, ewige Wort.«

Ich verstand vielleicht nicht alles, was mein Vater sagte; denn ich war ja noch sehr jung. Aber ich hörte ihm aufmerksam zu. Hinter seinen Worten glühte etwas. Er sprach mit einem Eifer, der das Blut in seine Wangen trieb. Mir war es, als spräche er Gedanken aus, die schon lange in ihm geglüht hatten. Es war mir, als stünden seine Worte in tiefem Sinne mit seinem eigenen Leben in Verbindung.

4.

Während seiner letzten Lebenszeit blieb ich viel bei ihm. Nie war unser Verhältnis so innig gewesen wie damals. Wie gut er war! Ich werde so still und dankbar, wenn ich mich jener Vorgänge erinnere. Wenn ich an den Abend denke, an dem wir zusammensaßen und über meine Zukunft sprachen. Ich zeigte ihm zuletzt, was ich zurzeit gerade studierte. Ich erzählte ihm von einigen Versuchen der Deutung alter ägyptischer Schriften, mit denen ich mich jetzt beschäftigte.

Er hörte mir aufmerksam zu. Besonders aufmerksam war er, als ich ihm auseinandersetzte, aus welchen Gründen ich mit einigen hochangesehenen Gelehrten hinsichtlich ihrer Deutungen einer jener Schriften nicht einverstanden sei, – es handelte sich um eine moralphilosophische Schrift, vermutlich etwa aus der Zeit um 1800 v. Chr. Geburt.

Er schwieg eine Weile. Ich sah, wie er sich von ganzem Herzen über meinen Eifer und meine Kühnheit freute. Dann sagte er leise:

»Nur weiter so! Nur weiter!« und zögernd fuhr er fort:

»Du sprachst einmal davon, daß Du in einer nahen Zukunft anfangen würdest, Sprachunterricht zu erteilen, um Geld für Deine Studien zusammenzusparen. Na ... ich kann es Dir ja jetzt erzählen ... glücklicherweise hast Du schon einen Notgroschen. Ich hatte seit der Zeit Deiner Geburt einen schönen Zukunftstraum. Während ich mich täglich anstrengen mußte und meine Lebenshoffnung sinken und vernichtet sah, – während der ganzen Zeit hatte ich diesen Zukunftstraum. Einen Zukunftstraum von dem, was mein Sohn einmal werden würde. Einen Traum davon, daß mein Sohn mich einmal ersetzen würde.«

Mein Vater erhob sich, ging an seine Schatulle und holte etwas heraus. Als er zurückkam, hatte er ein kleines Buch in der Hand. Er öffnete es. Ich sah, daß es ein Sparkassenbuch war. Er zeigte mir die Jahreszahl der ersten kleinen Summe, die er eingesetzt hatte. Ich lächelte unwillkürlich. Das Buch war genau so alt wie ich.

In seltsamer Stimmung nahm ich das Buch und blätterte darin. Und jetzt sah ich, wie sorgfältig er die kleinen Summen bezahlt hatte. Bis in die allerletzte Zeit hinein. Und die Summen hatten sich mit Zinsen und Zinseszinsen vermehrt. Und jetzt war die Summe eine große, vierziffrige Zahl.

»Sieh mal«, sagte er. »Ich habe ab und zu einige Groschen zusammengespart. Keine große Summe, wie Du siehst, aber immerhin eine gute Hilfe für Dich. Und die Bank nennt sich bescheiden »Groschenbank« aber sie ist sicher genug. »Na«, so schloß er, »es kann Dir, wie gesagt, eine gute Hilfe sein. Laß das Geld stehen, bis Du es einmal wirklich gebrauchst.«

Und er legte das Buch in die Schatulle zurück. –

Ein anderes Beispiel seiner Güte ... dessen ich mich fast noch deutlicher entsinne als des eben Erzählten: Vater war in seinen Lebensgewohnheiten sehr bescheiden. Er hatte nur eine Passion: den Tabak. In dieser Beziehung war er aber auch Feinschmecker. Zwar rauchte er für gewöhnlich billigen Tabak. Aber niemand konnte wie er eine ausgesuchte Zigarre genießen. Der Kaufmann, bei dem wir das Jahr über unsere Einkäufe machten, schien es zu wissen. Jedes Jahr sandte er zu Weihnachten eine Kiste ausgezeichneter Zigarren als Gruß und Dank für treue Kundschaft im verflossenen Jahre. Ich erinnere mich noch der Kennermiene meines Vaters, wenn er die Kiste öffnete und den ersten feinen Duft einatmete, der seiner Nase gewiß ein wahrer Weihrauch war. Und wenn er dann einer dieser Zigarren die Spitze abgeschnitten hatte und den Rauch einsog, während die flüchtigen Ringe der Deckblätter die Luft mit würzigem Aroma füllten! Dann genoß er das Dasein.

Er ging sehr behutsam mit solcher Kiste um. Er verteilte ihren Inhalt über das ganze Jahr. Eine oder zwei Zigarren mochte er vielleicht wöchentlich davon rauchen.

Eines schönen Tages erwartete ich aber Gäste. Es war meine erste richtige Gesellschaft. Und die Ausgaben für Wein und Essen wurden größer, als wir angenommen hatten. Und woher sollte ich die Zigarren nehmen? Ich klagte Vater meine Not: bei meinen Freunden bekäme man stets Zigarren. Beim Sohn des Herrn Konsuls und beim Herrn Propsten. Und es würde doch wohl etwas unangenehm auffallen, wenn ich mich in diesem Punkte von den anderen unterscheiden sollte.

Vater überlegte sich die Sache: Du hast recht. Du sollst hinter den übrigen nicht zurückstehen.

Und er holte seine teure Kiste, öffnete sie und löste die roten Seidenbänder auf. Zwei Bündel seiner eigenen Cubazigarren nahm er heraus. »Hier, mein Junge!«

Ach, er ließ uns dummen Jungen die Zigarren rauchen, die er selbst so außerordentlich schätzte. Damit ich mich nicht geringer als die andern fühlen sollte, verzichtete er auf den besten Genuß, den er in seinem bescheidenen Leben kannte.

5.

Von Anfang an war ich fleißig. Und mein Vater folgte meiner Wirksamkeit mit Aufmerksamkeit. Ich glaube, daß meine Hoffnungen und meine Begeisterung für die Herrlichkeit der Wissenschaft ihn ansteckten. Oft leuchteten seine Augen auf, als ob er sich wieder halb vergessener Dinge erinnerte, und wenn er mich reden hörte, lächelte er wie einer, der etwas Liebes wiedersieht.

Ich entsinne mich eines Abends, als wir zusammensaßen. Ich zeigte ihm das neueste Heft einer archäologischen Zeitschrift, die die Wiedergabe eines alten Papyrus enthielt. Nach einer danebenstehenden Erläuterung war dieser Papyrus vor kurzem zwischen Steinen im Sande Aegyptens gefunden worden. Jene Steine waren hie und da verkohlt – vielleicht waren sie Reste von Ruinen, vielleicht hatten die Araber hier einen ihrer vielen Vandalismen verübt; kurzum, von dem leicht zerbrechlichen Papyrus war kein ganzes Blatt mehr übrig. Die Sätze waren durchlocht, ganze Reihen von Wortzeichen, die sich schwer wieder herstellen ließen, fehlten. Das Bruchstück, welches die Zeitschrift wiedergab, war arg mitgenommen, aber außerordentlich interessant. Es berichtete über die Herrschaft des Hyrosvolks über Aegypten, und um es verstehen zu können, galt es, nicht nur die genauesten Kenntnisse der Sprache und der geschichtlichen Periode zu besitzen, in der das Hyrosvolk das Land beherrschte. Man mußte auch vom Geiste des Berichts selbst ergriffen sein, und es galt, eine scharfe und klare und gleichzeitig tiefe und phantasievolle Divinationsgabe zu besitzen.

Den vollständigen Sinn des Stücks zu finden, schien eine zu schwere Aufgabe für mich. Ich ließ meinen Vater allein an der Lösung arbeiten.

Er saß über das Rätsel gebeugt. Und las den ganzen Bericht durch. Einmal und immer wieder. Er strengte sich an, den eigentlichen Sinn des Ganzen zu finden. Damit er ohne Schaden über die kleineren Lücken hinweggehen und von einem Stützpunkt zum anderen Brücken bauen konnte. Hie und da machte er seine Randbemerkungen. So mühte er sich lange ab. Aber zuletzt lehnte er sich müde zurück und sagte zunächst nichts. Er lächelte nur. »Hm, die verteufelten Araber«, sagte er dann. »In dieser Weise haben sie gesengt und gebrannt!« Diese Worte sagte er in heiterem Tone. Ich verstand, daß seine Laune gut war.

Kurz darauf gingen wir zu Bett. Wir lagen in demselben Zimmer. Ich lag eine Weile wach und hörte, daß er nicht schlief.

Aber bald darauf schlief ich doch ein.

Ich hatte sicher schon länger geschlafen, als mich jenes sonderbar eigentümliche Gefühl weckte, das ich noch heute habe, wenn das Zimmer, in dem ich schlafe, beleuchtet wird. Es mag Einbildung sein, – aber ich scheine den Lichtstrahl zu fühlen, ich sehe den Schein und kann nicht schlafen.

Mitten in der Nacht wachte ich auf und ich sah, daß Vater dalag und bei Licht las und schrieb. Er hatte seine große Brille aufgesetzt, die er zu benutzen pflegte, wenn sein Auge besonders scharf und andauernd sein sollte. Er kannte meine Lichtempfindlichkeit: er hatte ein dickes Buch als Schirm aufgestellt, damit mein Schlaf nicht gestört werden sollte. Er war, wie es schien, von seiner Arbeit sehr in Anspruch genommen, er war geradezu angespannt. Wie ein Löwe auf dem Sprunge! Er starrte, dachte, überallhin streckten die Gedanken ihre Klauen aus; plötzlich schlug er auf seine Beute nieder, faßte den flüchtigen Gedanken ... Dann wieder auf der Lauer! Zum neuen Angriff bereit! Und wieder schlug er nieder; er schrieb eine wichtige Entdeckung auf.

Ich habe ihn nie so gesehen. Ich beobachtete ihn. Er arbeitete lange.

Plötzlich leuchtete etwas in seinem Gesicht auf, – etwas Siegreiches. Er erhob seinen Blick; er strahlte. Dann versank er in Gedanken: seine Miene wurde ernst, hart, wie die eines alten Kriegers. Sein gefurchtes Gesicht wurde finster und brutal, – es war, als sähe er, was er unwiderruflich verloren hatte, als forderte er aber doch die Götter heraus.

Dann löschte er das Licht aus.

Und die Uhr des nahen Kirchturms schlug fünf. Der Tag graute ...

Am nächsten Tage ließ er sich nichts anmerken; aber etwas Abwesendes, Stummes war über ihn gekommen. Seine Augen starrten, und seine Gedanken waren anderswo.

Ich fragte ihn nicht und erzählte ihm nicht, daß ich in der letzten Nacht wach gewesen war, tat überhaupt so, als hätte ich nichts gemerkt und als ahnte ich nichts.

Als wir abends zusammensaßen und ich im Begriffe war, einen vernünftigen Sinn des schwierigen Stücks zu finden, betrachtete er lange still meine Anstrengungen. Er gab mir kluge Winke, sprach von den Taten der wilden Hirtenstämme, wies mich auf einige Eigentümlichkeiten der Abfassung der Handschrift hin, war überhaupt unruhiger, als er es den Anschein gewinnen lassen wollte ...

Ich sagte dann etwas resigniert: »Ja, ja, lieber Vater, ich glaube wahrhaftig, Du findest die Lösung doch eher als ich!«

Dann wurde er so seltsam, der alte Mann. Zuerst wurde er ganz schweigsam; dann lächelte er, und das Lächeln hatte etwas froh Verschämtes an sich. Und dann zog er sein Taschenbuch aus der Tasche, nahm ein Stück Papier heraus und reichte mir es.

Und siehe da, in wunderbar sinnreicher Weise hatte er die schwierigen Lücken ausgefüllt und widerspenstige Wortzeichen miteinander verbunden. Der ganze Bericht stand da wie in Erz gegossen. Einfach und unzerstörbar. Ach, die schönen neugeschaffenen Worte. Sie glühten, und die Gedankenblitze knitterten. Tausend sublime Schlußfolgerungen waren hier angewendet.

»Es geschah, daß das Land Aegypten unter die Gewalt des grimmigen Feindes geriet, und das wilde Hyrosvolk hatte die Macht, so daß das ganze Land dem Fürsten von Auaris seinen Tribut, sowie Getreide und Früchte zahlen mußte« ...

Ich las weiter. Was für eine Phantasie, was für eine Disziplin und wie viel Gelehrsamkeit in diesen wenigen Zeilen, deren Worte so schlicht waren.

Ich sah ihn an. Er sah in meinem Blick die Verehrung. Ich reichte ihm stumm und ehrerbietig meine Hand entgegen. Da war es, als sänke er in sich zusammen. Er verbarg sein Gesicht in seinen Händen, sein Körper zitterte. Kurz darauf erhob er sich still und schüttelte den Kopf, als wollte er um Entschuldigung bitten.

»Kümmere Dich nicht um mich heute abend«, sagte er still. »Und gib mir nicht die ganze Ehre. Du hast Anteil an diesem Siege. Du hast alte Gedanken und Fähigkeiten in mir zu neuem Leben wachgerufen.«

Ich riet meinem Vater, die Lösung an die Redaktion der Zeitschrift einzusenden. Er tat es. Die nächste Nummer der Zeitschrift brachte seine Deutung nicht, sondern eine andere vom Professor D., »unserem zelebren Gelehrten«, wie ihn die Zeitschrift nannte. Ich kannte ihn. Er war einer jener Streber, die ihre banalen und horriblen Behauptungen in einer hinlänglich selbstbewußt-arroganten Weise aufstellen. So auch hier! Seine Auslegung war geschraubt und schlecht und würde ihm unter Fachleuten wenig Ehre eingebracht haben. Aber in nagelneuer, frecher Weise stellte er die bekannte Behauptung des jüdischen Geschichtsschreibers Josephus auf, daß das Hyrosvolk mit dem Judenvolk identisch sei. Ja, er erlaubte sich, so weit zu gehen und die Vermutung aufzustellen, daß der Patriarch Jakob ein in einer ägyptischen Schrift erwähnter grimmiger Hyrosfürst gewesen sei! Jawohl, je schlimmer, je bester! so lautet das geheime Sprichwort derartiger »Gelehrten«. Und die Absicht war erreicht; denn der »Räuberhäuptling Jakob« erregte Sensation ... der alte, gottesfürchtige Jakob in diesem Räuberkostüm, – eine wunderbare Entdeckung, die durch Hunderte von Tageszeitungen ihre Runde machte und in tausend gebildeten Familien diskutiert wurde.

»Hast Du gehört, was der berühmte Professor D. von dem Patriarchen Jakob hält?« ...

Natürlich, die »Auslegung« des Professors D. gab ja genug Anlaß zu eingehenden Diskussionen.

Erst in der nächsten Nummer stand die stille Deutung meines Vaters. An höchst bescheidener Stelle und ohne aufsehenerregende Kommentare. Die Redaktion hatte hinzugefügt, daß man ja bereits in der letzten Nummer Professor D.'s ausgezeichnete Auslegung gebracht hätte, die berechtigtes Aufsehen erregt habe. Deshalb sei eigentlich jede weitere Deutung überflüssig. Aber um zu zeigen, daß die Sache in weiten Kreisen Interesse erregt habe, wolle die Redaktion noch eine Auslegung bringen, die zwar nicht von einem sonderlich weiten Blick geprägt sei und die kaum Unruhe erregen werde, die aber immerhin von fleißigem Streben zeuge und beweise, daß die Sache in weiteren Kreisen Interesse gefunden habe. Die Lösung rühre von Herrn V., früherem Lehrer am Gymnasium zu F., her.

Mein Vater nickte und lächelte, sagte kein Wort.

»Du wirst Genugtuung erhalten!« rief ich. »Warte bis zur nächsten Nummer! Ein wirklich sachkundiger Mann wird auftreten! Du wirst die Ehre bekommen.«

Mein Vater antwortete nur:

»Glaubst Du? Ich glaube es nicht.«

Die Zeit verging. Vater behielt recht.

Vater wurde schwächer. Eines Tages mußte er liegen bleiben. Ein paar Wochen war er recht krank. Eines Tags fühlte er sich aber wieder wohler. Als ich am Abend bei ihm saß, sagte er:

»Vollbringe Du, was ich zu vollbringen verhindert war.«

Etwas darauf sagte er:

»Es gibt eine tiefe Macht. Einen weisen Gott. Du, mein Sohn! Du, mein Leben! Ich liege hier, und es wird Abend. Ich bin müde. Mein Tag war voller Arbeit. Und ich habe nicht das ausrichten können, was ich so gern ausgerichtet hätte. Aber ich bin doch ruhig. Denn ich erkenne mein Streben in dem Deinen wieder. Und in Dir sind meine Fähigkeiten jung und elastisch wie damals. Dieser Gedanke tröstet mich und gibt mir den schönen Traum, daß ich einschlafe und zu einem neuen Tage erwache, der Du bist.«

In derselben Nacht entschlief er. Kein Todeskampf war zu merken. Er war müder gewesen, als ich wußte.

6.

Sonderbare Erde! Ich betrachte sie. Alle ihre Menschen laufen da in ewiger Verwirrung umher. Und wie sind sie rastlos. Und wie wenig bekommen sie von dem, was dem Menschenleben Wert verleiht. In alten Zeiten lebten wenigstens die Reichen harmonisch und schön oder kühn und verrückt. Jetzt haben wir keine Reichen im Stile Lorenzos des Herrlichen. Jetzt haben wir fieberkranke, fahle Kapitalisten, in ihrer Auffassung aller Lebensverhältnisse beengt, mit alleiniger Ausnahme des Gewinns rouge et noir. Angezogen sind sie wie ihre Kontoristen.

Weshalb sind denn die Menschen so ruhlos und ratlos? Doch nicht ihrer Nahrung wegen, die sie vom Fleischer und Bäcker kaufen, um die sich der Landmann in ewig sorgender Tätigkeit für sie abmüht. Oder etwa der Kleider, der Edelsteine und der Weine wegen, die doch auch wieder nur von einer verschwindenden Minderzahl zubereitet und fertiggestellt werden? Gewiß nicht, – aber alle laufen in der gewaltigen Maschinerie unserer Gesellschaft herum. Die meisten sind Beamte, Agenten, Zöllner und Geldwechsler.

Wozu leben die Menschen? In den Kinder- und ersten Jugendjahren, in denen die Kraft und Eigentümlichkeit jedes Einzelnen entwickelt werden sollte, in denen sich ihnen die Welt und das Leben langsam erschließen sollten, werden sie in das Auswendiglernen einer willkürlichen Schulgelehrsamkeit hineingezwungen. Die Jugend und das Mannesalter werden ein einziges Wettrennen, nicht um Ehre und Freude, sondern um den Lebensunterhalt. Keine dem Alter angepaßten Lebenswerte, vielleicht ab und zu brutale Ausschweifungen. Keine herzliche und selbständige Religion, nur ein lockeres Gewohnheitschristentum, das am ehesten eine Gotteslästerung zu nennen wäre. Keine Achtung vor der aufrechterhaltenden Kraft des Lebens, dem Liebestriebe, sondern nur ein dummes und heuchlerisches Moralisieren oder garstiges und rohes Berauschtsein. Tausende von fleißigen und rechtschaffenen Leuten bleiben an der Grenze des Greisenalters stehen und murmeln: »Wo ist unser Leben hin? Ich habe mein Bestes getan, aber die Brocken schönen und wertvollen Lebensinhaltes, die mir gegeben wurden, waren nur klein.« Und es dämmert in ihnen der Gedanke an ein Leben, das auf eine bessere Art und Weise als ihr jetziges müßte gelebt werden können ...

Ich gehe umher und fühle mich einsam und frei. Gebe es Gott, daß mich die große eintönige Maschine nie erfassen möge! Ich arbeite, und niemand liebt seine Arbeit wie ich. Sie ist mir heilig, sie hat in meinem Leben und in meinem ganzen Wesen ihre Wurzel. Ich verlange für mich keine äußere Macht, kein äußeres Ansehen. Man mag mich nur unbemerkt sitzen lassen. Die vielen mögen sich um ihre Führer scharen: Leute, deren Begabung von breitstirniger Art ist und deren Brutalität und Freundlichkeit leicht genug zu begreifen ist. Du lieber Gott, sie mögen nur mit ihren politischen Kunstgriffen und mit ihren unabänderlichen Ansichten spielen, sie mögen weiter auf durchtriebene Art ihr Schäflein scheren.

Ich sitze hier; aber man glaube nicht, daß ich nur von toten Völkern lese. Nein, ich fühle, wie ich aus diesen Studien meine Nahrung ziehe, und wie mein eigenes Leben feuriger wird, wenn mein Gemüt mit ihnen in Verbindung tritt.

Meine lieben Zimmer mit ihrem seltenen Hausrat. Es ist, als ob es in dieser Luft glühte. Am Tage leuchtet die Sonne, und ihr Schein ist voll und golden in meiner Stube. Und am Abend leuchtet meine Lampe. Und in der Ecke steht meine Oelkanne, damit die Lampe von neuem gefüllt werden kann, wenn das Oel ausgebrannt ist. Schon der Gedanke daran ist gut und beruhigend.

Dann und wann sehe ich Gäste bei mir. Studienfreunde kommen zuweilen. Ich hole dann Obst und billigen Landwein, und wir halten ein junges, fröhliches Fest. Und ebenso oft nehmen junge Weiber daran teil ... schöne Freundinnen, die nichts als die Freude beanspruchen. Und sie stören nicht: ihre süßen Lippen, ihre schmalen dunklen Augen, die sich in süßem Zugeständnis senken, – oder sie sind ebenso oft weit offen, und es entströmt ihnen Tau und Licht, wie alten, griechischen Bildsäulen – sie sind des Lebens gute Freundinnen, sie paffen für Männer, die einen Beruf in der Welt haben, der kein Zögern verträgt.

Und wenn ich früh erwachte und nach dem frohen Fest der Nacht gut geschlafen hatte und ich mich fertig machte, um ins Kolleg zu gehen: dann warf ich gerne einen Blick in den kleinen Raum, wo der säuerliche Duft des Weins noch die Luft erfüllte, und ich nickte gerührt der schönen, hohen Vase zu, auf der noch einige Aepfel und Trauben lagen, aus deren Spitze ein hochroter Blumenquast prangte.

Und während ich die sonnenhelle Straße entlang ging, dämmerten in meinem Bewußtsein neue, immer wieder neue Gedanken. Am bestimmtesten kam mir immer wieder der Gedanke an eine Reise, die ich nach dem Lande unternehmen wollte, wo einst die Städte gelegen hatten, in denen die hängenden Gärten glühten: Babylon und Ninive. Ich träumte auch vom Sande Aegyptens, der sicher noch viele wertvolle Zeugnisse aus der vorgeschichtlichen Zeit verbirgt.

Zu dieser Zeit wurde ich einigemal zu den Abendgesellschaften eines Professor H. geladen. Ein Schwarm gutmütiger, junger Menschen versammelte sich dort in der schlichten, einfachen Wohnung. Zuhörer des Professors, unter ihnen auch ich. Aber zum großen Teil Freunde des Sohnes, der studierte und einige Jahre jünger war als ich. Eine eigentümliche Art und Weise, uns zusammenzumengen – aber es wurde eben so gemacht. Vielleicht um der Bequemlichkeit willen. Zwei Fliegen wurden mit einer Klappe geschlagen. Das Vergnügen des Sohnes des Hauses und die Verpflichtungen des Professors.

Dieser Schwarm junger Leute summte wie hungrige Fliegen um große Teller mit belegten Butterbroten und um ein noch größeres Faß dünnen Bieres. Es war Bier, aber ein sehr dünnes. Es schmeckte nach Waldbeeren und Hopfen und seine beste Eigenschaft war die kühle Temperatur. Es kühlte nach dem Tanzen.

Der Professor tat sicher alles in der besten Absicht. Aber ich leugne nicht, daß das ganze Vergnügen mir dünn wie das Bier vorkam. Ich wunderte mich darüber, daß der Professor, dieser gelehrte Herr, der die barbarische und prachtvolle Lebensgrimmigkeit längst ausgestorbener Völker erläuterte, mit einem so großen Vergnügen unter diesen summenden Menschenmücken verkehren mochte. Unter diesen blutjungen Studenten, die ihr bißchen Jura oder Theologie auswendig lernten. Ich bemerkte außerdem, daß er keineswegs diejenigen auszeichnete, die das von ihm dozierte Fach studierten und mit denen er sich doch hätte unterhalten sollen, um ihren Wissensdurst zu steigern und ihnen Bescheid über Sachen zu geben, die sich nicht gut vom Katheder aus besprechen ließen. Nie berührte er an solchen geselligen Abenden das Studium. Sein kleines, runzeliges Gesicht lächelte am alleraufmerksamsten, wenn er irgend einen Bruder Lustig ein humoristisches Lied singen hörte, oder wenn Blindekuh gespielt wurde, oder wenn der Fußboden durch einen wilden Galopp ins Schwanken geriet.

»Na – der gute Professor« ... dachte ich ein wenig bitter, »er ist ja auch nur ein brauchbarer Mann – wahrhaftig kein Bahnbrecher.«

Ich beschloß, mich wegen dieser seiner Gleichgültigkeit zu rächen: die nächsten Male lehnte ich die freundlichen Einladungen dankend ab.

Ich dankte. Einmal. Zweimal. »Ich habe leider Kopfschmerzen«, gab ich zur Antwort.

Aber es erregte mein Staunen und meinen Verdruß, daß meine Abwesenheit in keinem höheren Grade bemerkt worden war, als daß der Professor ein paar Tage nach meiner letzten Demonstration mich mit seinem liebenswürdigen Lächeln fragte, ob ich mich am letzten Gesellschaftsabend nicht gut amüsiert hätte und ob der komische Chinesentanz mir nicht gut gefallen hätte. Ach, ich sei nicht da gewesen? ... wegen Kopfwehs, ach so, ach so – wie dumm, aber Sie werden ja bald wieder gesund und dann kommen Sie das nächstemal.«

Und das nächstemal, als ich die Einladung bekam – da dachte ich: »Ich werde wohl nicht hingehen.« Aber der Abend kam, und meine Stimmung war so, daß ich doch ging. Ich ging sogar jugendfrisch und leise singend dahin. Und unterwegs kaufte ich eine schöne Rose, die ich ins Knopfloch steckte.

Als ich in den lustigen Schwarm hineinkam, sah ich ein junges Mädchen mitten im Zimmer sitzen. Ich stutzte. Denn sie war es.

Sie? Ja ich habe sie noch nicht genannt. Aber da sie von jetzt an in den Vordergrund meiner Erzählung rückt, ganz in den Vordergrund, muß ich erzählen, wo ich sie früher sah.

Ein paarmal hatte ich beim Kollegbesuch ein junges Mädchen gesehen. Sie bot eigentlich hier unter den Studenten einen seltsamen Anblick; denn sie ähnelte so gar nicht den jungen Mädchen, die sich mit Universitätsprüfungen und Studien befassen. Sie schien unmittelbar aus dem Leben zu kommen, das in Wohlsein und ohne Reflexionen gelebt wird. Sie war von hoher Statur, voll, ihr roter Mund war schön und gesund. Ihr Hals war fest, ihr Busen wie eine reife Frucht oder wie ein schwerer Weizenacker oder – wozu die Bilder – er war ein junger und üppiger Weiberbusen. Ihre Hände waren schön, hatten runde, volle Finger, so wie man sie aus alten italienischen Gemälden sieht.

Sie hörte die Vorlesung des Professors. Ab und zu notierte sie etwas. Sie erregte meine Aufmerksamkeit. Ich fragte ein paarmal Studienkollegen: »Wer ist sie?« Einer von ihnen nannte mir ihren Namen. Sie war die Tochter eines verstorbenen Universitätsprofessors.

Sie kam genau viermal, dann blieb sie weg und ließ bei mir ein zitterndes Gefühl der Entbehrung zurück, eine Sehnsucht nach der blonden, süßen Kraft. Unwillkürlich mußte ich an den herrlichen Vers Ovids denken: » flavaque de viridi stillabant ilice mella«.

Jetzt saß sie hier im Wohnzimmer des Professors H. Sie sah mich, als ich eintrat. Sie sah mein Staunen.

Es kam ein schöner Abend.

Ich ließ mir nichts anmerken. Aber beschäftigte mich doch um sie. Ich hörte geduldig einem der Gäste zu, der von einem gemeinsamen Bekannten erzählte, den er auf seiner Ferienreise getroffen hatte. »Ach wirklich?« antwortete ich, »es geht ihm gut. Das freut mich«.

Ich stand da, ungeduldig vor Sehnsucht, bis der Mann schließlich fertig gesprochen hatte. Und jetzt konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. Ich setzte mich neben sie. Ohne viele Umschweife erzählte ich ihr, daß ich sie im Kolleg gesehen hätte. Sie erhob ihre großen, ruhigen Augen, sah mich an, nickte: »Ja, ich sah Sie auch«. Ich lächelte: »Sie waren viermal da und hörten zu. Dann blieben Sie weg«. Sie antwortete zuerst nicht, sann nach. Dann erhob sie wieder ihren Blick gegen mich und lächelte ebenfalls: »Viermal«, sagte sie, »ja, es stimmt«. Ich lachte: »ja freilich stimmt's. Ich weiß genau Bescheid«. Sie sah mich wieder an, sie nahm die stille Erklärung entgegen, die in meinen Worten lag. »Mochten Sie keine Vorlesungen mehr hören?« fragte ich. »Ach nein ... ich dachte, ich sei so begabt«, sagte sie scherzhaft, »aber leider ... ich bin nicht die Spur begabt. Haha, ich verstand fast gar nichts von dem ganzen Stoff.«

Es lag eine warme Wolke um sie, eine Wolke organischen und sinnlichen Glücks. Sie berauschte mich immer mehr. Sie merkte es gewiß, und ich glaube nicht, daß sie es übel nahm. Wenn sie mich ansah, sagten ihre Augen: Ich habe nichts dagegen, daß du mich begehrenswert findest. Wir gaben einander viele Worte. Schätze waren uns diese Worte. Jedes kleine dumme Wort war ein köstliches Juwel, wonach wir gegenseitig griffen. Unsere Blicke wurden jedesmal länger, weilender. Oft sprach ich rein ins Blaue hinein. Zum Beispiel, als ich sagte: »Weshalb gefielen Ihnen die Vorlesungen nicht? Sie hätten Ihnen gefallen sollen«. Oder wenn sie antwortete: »Und weshalb hätten sie mir gefallen sollen? Sie hören ja, daß ich dumm bin«.

Man beobachtete uns vielleicht. Denn plötzlich stand der Professor lächelnd vor uns: »Ja, jetzt begreife ich schon, daß Sie einen tüchtigen Lehrer der Archäologie bekommen haben, mein liebes Fräulein«, sagte er, »ihm wollen Sie zuhören«.

Sie blickte auf und lächelte offen und zärtlich: »Ja«, antwortete sie ruhig, »ihm will ich zuhören«.

Und der alte Professor zuckte die Achseln, als ob er resignierte: »Ja freilich«, sagte er, »freilich ... ich verstehe«. Dann ging er und ließ uns allein.

Und nun besiegte ich sie. Ich umgab sie mit einem Reigen von Wünschen und Begehren. Wenn ich sprach, kamen die Worte monoton und heiß. Wir gingen in den Zimmern herum und kümmerten uns um keinen der Anwesenden. Und in einem der kleinsten Räume, wo niemand war, wo nur ein großer Heliotrop duftend auf einem Tisch stand, da griff ich sie und küßte sie. Sie starrte mich erst an, dann erwiderte sie meine Küsse ...

Helene war den ganzen Winter die meine. Sie hörte so aufmerksam zu, wenn ich von meinen Plänen sprach. Und von meinen Entdeckungen. Und wenn Tage kamen, an denen mich etwas Neues, Ernstes beschäftigte, ließ sie mich allein. Und dann trafen wir uns wieder. In der Gesellschaft von Freunden, auf den Kostümbällen der Künstler und Studenten: wir ließen unserer Phantasie freien Lauf; sie war wie Iris selbst ausgekleidet, und ich prangte in einem langen, orangefarbigen Gewande ...

7.

Ich will nicht mehr von unserer frohen Zeit reden. Das, was ich hier erzählt habe, hat mir Mühe genug gekostet. Denn zu viel ist geschehen, was die frohen Stunden ausgelöscht hat.

Ich kann nur so viel sagen, daß es mir in meinem Leben nicht so erging, wie mein Vater gehofft und gewünscht hatte. Ich gab zu rasch dem üblichen Verlangen nach. Und heiratete zu schnell.

Ich hatte mir stets die Ehe als etwas vorgestellt, das meinem Leben fremd sein müßte. Aber das von mir wie von allen anderen ertragen werden könne. Jetzt merkte ich, daß mir die Ehe fremder war, als ich jemals geahnt hatte. Wie alles die Frische verlor! Selbst Helene. Wie anders war sie geworden. Wieso? Es läßt sich schwer erklären, aber mir wurde sie eine andere. Und der ganze frische herrliche Luftzug des Lebens, der all den vielen Dummköpfen »schadet« und sie »ins Verderben zieht«, der mir aber eine Notwendigkeit war, – blieb weg. Eine stillstehende, unerträgliche Luft umgab mich.

Und das schlimmste war, daß meine Liebe zu Helene hastig schwand. War sie nicht tief genug gewesen? Dann hätte sie eben allesverzehrend sein müssen, um jenes ewige Einerlei der Tage zu besiegen. – Wie wurden alle meine Gedanken matt! Wo war die stille, sprühende Luft, in der meine Fähigkeiten gediehen?

Eine staunende und angstvolle Frage bemächtigte sich meiner nach und nach. Hatte ich recht gehandelt? Hatte ich mich nicht geirrt? Und ich dachte plötzlich mit Angst und Grauen an die Zukunft. Soll dies ewig dauern? Muß ich für immer mit Helene zusammen wohnen? Wozu dies ewige Beisammensein? Meine Gedanken beschäftigen sich mit Dingen, die das Zusammensein mit irgend jemandem nicht vertragen. Oder sollte der Umstand, daß wir verschiedenen Geschlechts sind, ausreichend sein, um das Verblüffende einer Forderung zu erklären, die zwei selbständige Menschen Tag und Nacht zusammenkleben will?

* * *

Forschereifer ist oft Friedlosigkeit. Ein reger Geist trachtet nach neuen Horizonten, neuen Gegenden, neuen Meeren. Seine Fahrten in der Gedankenwelt sind oft mühsam und gefahrvoll. Die Denker können mit Entdeckern verglichen werden. Das Ungewöhnliche, das Unbekannte lockt sie. Sie fühlen die Hitze der Tropen, sie dringen bis zur ewigen Kälte der Pole. Der große Hauch von Wüste und Oede feuert ihre Seele an und läßt sie erstarren. Er wird ihnen aber zum Lebensbedürfnis.

Und ebenso sehr wird es ihnen zum Lebensbedürfnis, zuweilen in die Fluten der lebendigen Menschenscharen, in den Ozean der Zahllosen tief unterzutauchen. Aber immer nur als einer, der selbst frei dasteht.

Helene merkte meine Rastlosigkeit. Sie sah mich oft bekümmert an.

»Weshalb bist Du so unruhig? Du schaffst Dir Sorgen, wo keine sind.«

Jawohl, ich weiß es. Alle, die diese Worte lesen, werden ihr recht geben. Sie werden mich undankbar, verschroben nennen. Und doch ... wer ahnt es, was ich verloren hatte? wer ahnt etwas von dem Schauer der Befriedigung, der mich gefangen nahm, wenn ich in köstliche Geheimnisse eingeweiht wurde? Wenn ich nach langem Harren und Horchen, nach Tasten und Suchen – endlich Spuren des Redens alter Zeiten in neuen Sprachen fand, wenn ich daraus bisher unbekannte Völkerwanderungen folgerte, ja, wenn ich nach all den Tausenden von Jahren die Furten und Höhen, Täler und Berge sah, über die solche Anklänge wandern mußten, um das Ziel zu erreichen, wo wir sie heute wiederfinden.

Und wenn mich gleichzeitig das ganze pulsierende Leben da draußen mit seinen tausend unbekannten Dingen reizte: was heute geschah, geschieht vielleicht morgen; aber vielleicht geschieht auch etwas ganz neues. Gerade das war das herrliche: daß die Zukunft immer neuer und überraschender war als die Vergangenheit, die ich erforschte und deren Geheimnisse ich zu enthüllen mich bestrebte.

Jetzt aber, wo die Zukunft des Lebens für mich vernichtet war, – jetzt krankte auch die suchende und schaffende Phantasie, die zurückschaute und Menschen und Zeiten aus dem zerbrochenen Lehm des Altertums bildete.

Und weiter kam hinzu, daß das Geld, das mein Vater für mich zusammengespart hatte, zur Neige ging – nicht für Reisen und Studien ...

Schon deshalb mußte eine Veränderung eintreten. Ich mußte mir eine Beschäftigung suchen ... etwas Ernsteres als die wenigen Privatstunden, die ich bisher erteilt hatte ...

Mit meinen weiteren Studien, die zur Berühmtheit und Herrlichkeit führen sollten, ging es ja doch zu langsam.

8.

Deshalb zog ich nach der kleinen Stadt. Ich bewarb mich um eine Stelle als Stundenlehrer an einer Schule und bekam sie. Eine sehr schlecht bezahlte Stelle. Um einigermaßen leben zu können, mußte ich jeden Nachmittag und jeden Abend Stunden geben.

Die Zeit verging.

Alle Menschen werden auf irgend eine Weise getäuscht. Weshalb sollte ich denn glücklicher als die anderen sein? Ach nein, es galt nur, nicht so anspruchsvoll zu sein. Es galt nur, das Gute auch dort zu finden, wo es in rauher Schale verborgen und verloren gegangen zu sein schien.

Ich tat mein Möglichstes, um alles ruhig hinzunehmen. Die anstrengende Schularbeit erleichterte mir dieses Streben. Ich war oft viel zu müde, um mich um anderes als die Sorgen des Tages zu kümmern. Es konnten Tage und Wochen vergehen, in denen ich wie alle anderen lebte. Aber dann konnte mich die Unruhe von neuem erfassen. Sie konnte mich ohne eine nachweisbare Veranlassung packen. Sie konnte auch dadurch hervorgerufen werden, daß ich in irgend einer Weise an das Streben und die einzige Sehnsucht meiner Jugend erinnert wurde. Wie es geschah, als mich einer meiner Freunde auf der Durchreise nach den Mittelmeerländern besuchte. Wie wurde ich da plötzlich an die Hoffnung alter Zeiten erinnert! Wie standen mir jene Tage wieder lebhaft in Erinnerung, wo jeder neue Tag mir eine neue Möglichkeit zu sein schien, ein spannendes Loos im Glücksspiel des Lebens und der Jugend zu schaffen! Während die ernste Arbeit des Alltags die ganze Zeit wie ein fester, massiv gebauter Weg durch bunte Blumenwiesen ging. Er erzählte mir von der Karriere verschiedener Freunde. Und ich lobte sie. Ich sprach von der Art und Weise, in der ein berühmt gewordener Freund diese oder jene schwierige Aufgabe gelöst hatte. Und dabei schluchzte es in der Tiefe meiner Seele. Und ich fürchtete, daß er mir meinen Schmerz anmerken könnte ...

Es war kein Neid. Ich hätte mich nur zu gerne am Kampfe um das Große, das Wunderbare beteiligt.

Mein Freund aber sagte: »Ja, Du, lieber Guter! Du, von dem wir so viel erwartet hatten. Dich besiegte also doch das gemütliche Leben am häuslichen Herd ... die Behaglichkeit der Wohnstube ... und das Frauchen, die Undine der stillen Wogen der Schlummerdecken und der Sofakissen ... die verhängnisvollste aller Undinen ... Na ja, jeder hat seine eigenen Ideale ...«

»Seine eigenen Ideale«, sagte er. Er hatte mir also nichts angemerkt ... Das war nur gut.

Ich fühlte mich wie erleichtert, als der Freund mich wieder verlassen hatte und ich in meiner Stube wieder allein saß und lateinische Aufsätze korrigierte. Während ich den Schmerz nur wie ein Murren empfand ... wie die ruhelose und irritierende Pein des chronischen Zahnwehs.

Und während ich haßerfüllt war, ... gegen sie ... die schlafende Person da drinnen ... sie, die mir manchesmal ganz fremd vorkam.

... Sie hatte es auch nicht gut, gewiß nicht. Sie war allmählich still und gedankenvoll geworden. Aus dem schlichten, halbwollenen Kleid ragte ein weißes, ernstes Haupt staunend hervor. Und ihre Stimme, die früher schön und tief gewesen war, klang jetzt oft wie ein Flüstern ...

9.

In einer solch mittelgroßen Stadt gibt es für lebenslustige Menschen nicht viel zu suchen. Hat jemand, der an einem solchen Orte lebt, in seiner Seele einen Betätigungsdrang nach anderen Richtungen als Sachen, die Handel und Wandel der Stadt ihm vorzeichnen, und weist er die Geselligkeit und die Dilettantenkomödie und den Bazar der Stadt verächtlich von sich, – dann mag er sich nur in Acht nehmen. Denn das hat für sein Leben und sein Schicksal eine üble Vorbedeutung.

Nicht nur, weil er dann leicht ein verdächtiges Individuum unter den Bürgern der Stadt wird, sondern auch, weil sein Betätigungsdrang, der in großen Verhältnissen seinen richtigen Tummelplatz gefunden haben würde, hier so leicht eingeengt wird und versumpft. Hier herrschte keine Lebensfreude! Die Blicke der Menschen waren matt und boshaft, oder, öfter noch, gleichgültig bis zur Blödigkeit. Ihr Stolz bestand darin, daß ihr geistiger Horizont nicht weiter als bis zur Eßschüssel reichte. Und allem, was sie nicht verstanden, begegneten sie mit selbstgefälligem Achselzucken.

Aber dann und wann kam doch jemand geschlichen. Einer aus Göttergeschlecht – ach nein, doch nicht. Eher aus Teufelsgeschlecht. Ein Kerl, der sich in den Winkeln versteckte und auf den Zehen ging. Ein armer, scheuer Trunkenheitsteufel. Und seine Gesellschaft paßte vielen. Denn er konnte so still und diskret geschlichen kommen. Bei Tag und bei Nacht. Im Keller, im Kämmerlein und in der Ecke, wo der Schrank steht.

* * *

Ich traf einige Menschen, die meine Freunde wurden. Ein wenig dem Trunke ergeben und mißliebig. Ich suchte bei ihnen meinen Trost, wenn ich ein Stündchen übrig hatte. Einer war Konsul eines erotischen Landes jenseits des Aequators. Der zweite war ein Kollega, Lehrer an der Schule und Erfinder. Immer hatte er etwas Neues in Arbeit. Er fertigte ungekannte Maschinenmodelle aus Pappe oder aus leeren Zigarrenkisten an. Und suchte immer Patente auf seine Modelle zu bekommen. Ging immer still umher und beschäftigte sich mit seinen Sachen. War äußerst arm, aber wollte »Schadenersatz« von in- und ausländischen Firmen fordern, »nach Amerika verkaufen« und ging so in ewiger Hoffnung grenzenlosen Reichtümern entgegen.

Diese beiden Freunde tranken täglich und regelmäßig. Und nicht ganz selten leistete ich ihnen Gesellschaft. Ich hatte mich immer damit gebrüstet, daß ich nie der Trunksucht verfallen würde. Aber wie hübsch und erquickend war es, die beiden zu treffen und mit ihnen ein Gläschen zu trinken. Denn ab und zu konnte das Zusammensein mit ihnen ganz festlich werden. Wie eines Abends beim Konsul. Er hatte etwas Wein bekommen, einen Palmwein aus seinem erotischen Reiche. Der Wein war ein Geschenk und sollte besonders fein sein. Wir saßen in einem kleinen Kellerraum zusammen, und die Flaschen, die ausgepackt dalagen, der Keller, in dem der Konsul sich sonst der Ratten wegen kaum zu bewegen wagte, mein Kollega, der nicht sprach, sondern ab und zu seine Brust durch ein langes: »Hoh! hoh!« erleichterte, – dies alles wirkte auf mich so bizarr, daß ich lachte und johlte ... ich trank viel, kurzum, ich amüsierte mich kolossal.

Und wie fühlte ich mich an jenem Abend herrlich frei. Wie verstummten alle Entbehrungen. Wie war mir alles so köstlich »wurst«: So mit hoch erhobener Stirn die ganze Welt mit einem Blick über die Achsel hinter sich zu lassen! Die törichten Sorgen höhnisch ansehen zu können: »was habt ihr zu bedeuten? Sei unbesorgt, alter Freund. Nil admirari, und zwar mit der Deutung: ein Gemüt, das sich nie aus der Fassung bringen läßt, ist mehr wert, als das Wetteifern um eingebildete Heldentaten. Prosit, Konsul! Grüßen Sie, bitte, die da am Yang-she-Kiang und überbringen Sie meinen Dank für diesen Palmwein!«

»Ohoh! Diese Sprachen! die einst von Menschen gesprochen wurden, deren Knochen Staub sind! Hohoh! Erfinder! Glückauf zum neuen Essenrauchverzehrer! Das Modell aus der leeren Zigarrenkiste wirkte famos! Patent wird diesmal erteilt! Heida! Die Gläser gefüllt! Die Stunde der Trunkenheit ist gekommen!«

* * *

Oft und immer öfter holte ich mir eine Flasche Wein im Laden an der Ecke. Ja, so ging es. Auch ein resignierter Weiser, mein Weinhändler. Einige werden vom Trinken rot, andere weiß; er war weiß und fett ... und hatte zinnerne Augen. Es kostete ihm Mühe, von der Kammer hinter dem Laden bis an den Ladentisch zu kommen.

Zuweilen konnte mich die Angst packen. Was tat ich jetzt? Hier saß ich in dieser Stadt fest und wurde einer der Verunglückten ... allmählich ein stiller, dem Trunke ergebener Lehrer, über den man sich vielleicht lustig machte und den man aus Barmherzigkeit im Amte behielt.

Und alles das, was mir das Leben geben sollte? Alles das, worauf ich wartete? ... Stand ich schon so am Schlusse des Ganzen?

Ich hatte lange gehofft, wozu es leugnen? Alle diese Menschen um mich, die sogenannten begnügsamen und vernünftigen, das heißt die, die fünf gerade sein ließen, – ich wäre nicht einer von ihnen und würde es nie werden. Und was war aus meinem ganzen Freudenvermögen geworden! Ich hätte ein Leben führen können, bis zum Rande voll Arbeit und Lebensrausch, wie kein zweiter in der Welt, – aber dies Leben war mir versperrt geblieben.

Zuweilen wurde ich still. Dann geschah es, daß ich durch große, geheimnisvolle Fenster über das Leben hinaussah. Vielleicht fing das Jagen meines Blutes an, sich zu legen, vielleicht würde mich dieser Brand bald verzehren, daß ich früh alterte, vielleicht würde ich bald still sitzen können ... ohne Entbehrung ... Ja, dieser Gedanke konnte mich packen. Denn, wenn ich an den großen Fenstern saß, die ich eben erwähnte, beschattete mich etwas aus der Unterwelt mit seiner großen Weisheit und gab mir Ruhe zum stillen Beschauen.

Bis ich eines Tages einen Brief von dem Freunde bekam, der mich einmal besucht hatte. Er teilte mir die Preisaufgabe der Universität mit. Sie müsse mich in hohem Grade interessieren, – so schrieb er.

Sein Brief versetzte mich in Staunen. Er war so warm und eindringlich geschrieben. Hm, an dem Abend, an dem wir zusammen saßen und miteinander plauderten, – sollte er am Ende damals doch etwas gemerkt haben?

Nimm Dich zusammen, schrieb er, Du bist zu gut, um Deine beste Zeit in Eurem Krähwinkel zu vergeuden. Zum Teufel! gib Deinen Posten an einen der zahlreichen Hilfslehrer ab, die ihn ebenso gut bewältigen können, und gehe auf diese Aufgabe los!

So redete er! Ich richtete mich unwillkürlich auf. Ich wurde jung und übermütig. Ich fühlte, daß mich etwas rief. Die höchste Pflicht. Die Pflicht gegen mich selbst. Die ich so lange vernachlässigt hatte ... um die ich mich jetzt kümmern mußte ... wenn sie sich nicht rächen und mein Leben vernichten sollte.

Ich riß mich los! Alles, was mit der Sache nichts zu tun hatte, bannte ich. Ich baute eine Mauer um mich. Ich vergaß die Existenz meiner Frau und meiner Mitmenschen. Und ich machte mich an die Aufgabe, die ich bewältigen konnte. Die ich bewältigen wollte. Ja, welcher Kampf! Und welche Erlösung war mir dieser Kampf!

Unser Heim wurde ärmer. Das graue Kleid meiner Frau wurde abgetragen. Ich sah es. Ich sah auch, daß ihr Gesicht magerer wurde, und daß sich feine Runzeln um ihre Augen zeigten. Die früher so holde Frau glich einem schmächtigen Kinde.

Meine Gläubiger wurden ängstlicher und aufdringlicher. Ich hatte ja meine sichere Einnahme verloren. Was? ich sei nicht mehr an der Schule? ... Um ganz kleiner Summen willen machten sie einen Heidenlärm. Ihre Anwälte sandten mir Briefe, die ich zuletzt uneröffnet liegen ließ. Eines Morgens nach einer langen Arbeitsnacht kamen die Gerichtspersonen. Ich sah sie wie durch einen Nebel. Ich sagte nur: Sie lassen mir wohl diesen Tisch. Ich zeigte auf den Tisch, wo meine Bücher und Papiere lagen. Jawohl, sie ließen im Grunde mit sich reden, sie ließen mir den Tisch und andere nötige Sachen.

Die Aufgabe, die mich beschäftigte, hätte auf andere Weise gelöst werden sollen. Mit langen, übermütigen Griffen. Und in der breiten Aufeinanderfolge der Tage. Ihre Lösung hätte einen regelmäßigen Pulsschlag haben können. Eine Welle langsamer Kraft, ruhigen Wohlseins. Etwas Klassisches hätte die Beantwortung prägen können. Etwas von der weiten Aussicht von hohen Gipfeln.

Jetzt wurde sie kurzatmig. Vielleicht auch in verschiedenen Beziehungen unregelmäßig. Aber sie war heiß, und hie und da glühte ihr Geist und ihr Licht, wie sie nie geglüht haben würden, wenn die Beantwortung die Frucht ruhiger und besonnener Arbeit gewesen wäre. In den letzten Tagen arbeitete ich über meine Kraft. Mein Gemüt war wie ein bloßgelegter Nerv. Ich zitterte. Und als ich die letzten Sätze niederschrieb, worin ich alles das kurz rekapitulierte, was mein Werk ausführlich enthielt, schluchzte ich wie im Krampfe. Ich war wie ein Raubtier im heiligen Hain der Wissenschaft. Ach, wie hatte mich die lange, unfreiwillige Trennung wild und ungestüm gemacht! Wie wollte ich sie trotzdem zwingen, mich zu lieben, sie, die Weisheitsgöttin, selbst wenn meine Manieren nicht die ausgesuchtesten waren, sie mußte die Glut meiner Liebe fühlen. Wie sollte sie sich meiner Umarmung hingeben und vor Lust beben, wie die Tempeltöchter des Altertums bebten, wenn ungestüme Eroberer sie mit Gewalt ihrem Willen zwangen. Ich wollte sie besitzen, ich wollte sie besiegen. Und das Kind, das sie mir gebären würde, sollte schön sein, wie es bloß Kinder der Liebe sein können: sein Leben sollte ungestüm sein, seine Augen sollten funkeln.

Mein Vater kam nie ans Ziel. Warum nicht? Er war entgleist. Er war ein kleiner Lehrer in einer abseits gelegenen Stadt, – die Erklärung genügt.

Ich war einst jung und blank. Man setzte Hoffnungen in mich. Aber jetzt bin ich ein ältlicher Stundenlehrer in einer entlegenen Stadt. Ebenfalls entgleist. Diese Erklärung dürfte genügen, wenn ich Gründe dafür angeben soll, daß ich keinen Preis bekam.

Ach nein, ich hätte es verstehen müssen. Ich hätte alle Schwierigkeiten, die sich gegen mich auftürmen würden, verstehen müssen, bevor ich mich an jene Beantwortung machte. Ich hätte daran denken sollen, daß drinnen in der Hauptstadt junge Männer waren: die Hoffnungen der Professoren. Die von den alten Berühmtheiten getrieben und vorwärtsgeschoben werden und sich zum Ersatz dafür dem Glauben und Wissen der Alten verschwören und deren Ueberzeugung und Lehrmethode gehorsam weiter tragen müssen.

Ja, ich kannte das Elend.

Meine Lösung in ihren Händen! Mein junges, nacktes Heidenkind! Das lebte und Nahrung und Lebensodem erheischte.

Dies Kind bei alten Panoptikumgestalten, denen man am besten ein sittsam ausstaffiertes Nickpüppchen zum Spielen gegeben hätte!

Ach, weshalb hatte ich es versucht, diesen alten Menschen frisches Blut zuzuführen. Nein, wenn mein Werk hätte gelingen sollen – dann hätte ich es selbst vortragen müssen, jung und blank, und meine Schritte zum Rednerpult schon hätten den Sieg ahnen lassen. Hätten jene alten Panoptikumfiguren zum Nichts in den Staub geworfen.

Aber jetzt:

»Schau, schau! wer ist denn der mutige Kerl?«

»Ach ... von dem weiß man nichts Näheres ... er soll Stundenlehrer am Gymnasium sein – wie heißt denn gleich die Stadt?«

»Na, so was ... der scheint mir doch ein ziemlich dreister Kumpan zu sein!«

Gewiß, man sollte sich obenauf zu halten versuchen. Unter denjenigen, die Glück haben. Unter den Sonnenbeschienenen.

Ich erzählte Helene meine Niederlage. Ich berichtete die Sache kurz und ohne Umschweife, ich erzählte nur die Tatsachen. Ohne zu klagen, ohne Bitterkeit. So wie man jemand eine Sache berichtet, der ein Recht hat, reinen Bescheid zu bekommen, mit dem man sich aber in weitere Diskussionen nicht einzulassen gedenkt.

Helene hatte auf meinen Sieg sicher gehofft. Nicht nur auf meinen Sieg, auf meinen Triumph! Ich sah die ganze Zeit, wie sie daran glaubte, ich sah es, wie sie mich mit fanatischer Begeisterung anstarrte, wenn ich ihr von meiner Abhandlung erzählte.

Jetzt blieb sie, als sie meine Worte vernahm, unbeweglich. Ihre Züge erstarrten, etwas Aschgraues, Fahles kam in ihr Gesicht.

»Nein, nein!« rief sie heiser, als wollte sie protestieren, »das geht nicht, das geht nicht!«

Die Worte waren schlicht, aber ihre Stimme verbarg eine Angst und einen Kummer, die mich zum Stutzen brachten – trotz meiner eigenen Verzweiflung.

Der Wahrheit die Ehre: in der vorhergegangenen Zeit, während ich wie ein Wahnsinniger arbeitete, hatte ich sie nicht viel beachtet. Ich hatte wohl gemerkt, daß sie mir das Leben so gut, wie sie es vermochte, erleichterte, daß sie mich gegen Störungen schützte, daß sie unsere Haushaltung mit der größten Sparsamkeit einrichtete, daß sie mir immer ein frohes Gesicht zeigte, um mich aufzuheitern – aber alles das hatte keinen tieferen Eindruck auf mich gemacht. Aber von jetzt an erregte sie meine Aufmerksamkeit. Ich will es versuchen, zu beschreiben, wie sie sich gab.

Sie ging die ganze Zeit wie im Traume umher. Oder, richtiger, als grübelte sie fortwährend über etwas. Zuweilen war es, als horchte sie. Sie horchte aber nicht mit ihrem Ohr, sondern mit ihren Ahnungen.

Und sie lauschte nicht irgend einem Laute, sondern irgend einem Gedanken, der sich schattenhaft abzeichnete und der schwer aufzufangen war.

Und eines Tags bat sie mich um ein Gespräch. Sie sprach ruhig. Sie wollte wissen, ob ich sie nochmals heiraten würde, wenn mir die Wahl frei stünde. Wollte wissen, ob ich mich mit einer schlichten Arbeit in der Schule begnügen könnte. Und ob ihre tiefe Liebe mich erfreuen und mir helfen könnte. Und ihr Mut und die Tatsache, daß wir zusammenhielten, – ob das wieder Licht über mein Leben bringen könnte. Sie wollte wissen, ob ich frei auf meine Wissenschaft als einzige Beschäftigung Verzicht leisten könnte. Ob ich sie und dasjenige vom Leben, was sie bringen könnte, nochmals wählen würde.

Ich weiß nicht genau, was ich antwortete. Ich weiß aber bestimmt, daß sie aus meiner Haltung verstehen mußte, daß die ganze Rede mir unnütz vorkam. Ich glaube selbst, daß meine Miene stumm und kalt gewesen ist.

Mir war es, als erblaßte sie still. Und es war, als stiege ein großes Verständnis hervor und als reifte in ihr ein einziger, weitreichender Entschluß.

An jenem Abend kam sie still herein. Es war, als ob sich ein weißer Glanz um sie verbreitete. Und eine monumentale Ruhe lag über ihr. Ihr Gesicht war hart, wie in kaltem Stein gemeißelt. Ueber ihren Augen lag es wie ein Schleier. Bloß ihre Stimme, die in der letzten Zeit gedämpft, fast etwas heiser geworden war, sprach jetzt mit tiefem, schönen Klang.

Und ich – stand wie früher unter ihrem Einfluß. Vergaß im Nu meinen eigenen Kummer und versuchte sogar, ein Gespräch einzuleiten:

»Ich war heute beim Rektor ... Ich werde vom nächsten Monat an jedenfalls meine Stunden wieder bekommen. Er war sehr liebenswürdig« ...

Und sie antwortete mit ihrer schönen Stimme, so entschieden, so bestimmt ... als spräche sie ein Urteil:

»Du sollst nicht alle die Stunden übernehmen. Warte. Warte nur noch einen Tag, bevor Du Dich entschließest.« Wie seltsam gesprochen. Ich sah das weiße Licht, das von ihr ausging. Ich wurde verwirrt ... ich sagte zuletzt:

»Du bist heute guter Dinge, Helene.«

Sie sah mich an, ernst. Sie antwortete nicht. Hinter dem Schleier ihrer Augen brannte eine seltsame Glut, die ich nie früher an ihr wahrgenommen hatte.

Sie sagte mir an jenem Abend Gute Nacht wie immer. Ihre Stimme war ruhig, ihr ganzes Auftreten natürlich. Ich sah, daß sie einige Kleinigkeiten im Zimmer ordnete, bevor sie ging. Und doch hatte sie etwas an sich, was mich in unerklärlicher Weise beunruhigte. Einen Augenblick hatte ich Lust, innig mit ihr zu reden; aber ich ließ es sein. Mir war es, als fühlte ich ihren stillen, weitoffenen Blick, als sie das Zimmer verließ, um ihr Schlafgemach aufzusuchen.

Ich blieb noch eine Weile auf. Dann ging auch ich in mein Schlafzimmer.

Wie immer las ich etwas, bevor ich die Lampe auslöschte.

Bald schlief ich ein. Und ich schlief ohne Träume. Aber plötzlich wachte ich auf. Es war bei Tagesanbruch, in der Stunde, wo das Gehör am schärfsten ist, – vor dem eigentlichen Morgen. Ich lag und sann nach. Seltsam! Was hatte mich geweckt? Kein Laut, kein Licht ... Ein Traum? – Nein, auch kein Traum.

Diese Dämmerung ... Ein eigener Glanz war in dieser Luft. Dieser unendlich schwermütige Glanz, den die Dämmerung besitzt, und der alle Täuschung und alle Ratlosigkeit zum Bluten bringt. Helene! Ich entsann mich ihrer. Es war derselbe eigentümliche Glanz, den sie heute den ganzen Tag um mich verbreitet hatte.

Helene! – Ich sah mich um. Ja, sie hatte mich geweckt. War sie hier gewesen? Es war, als zitterte noch die Luft nach der Anwesenheit eines Lebenden.

Ich richtete mich im Bett auf. Ich saß und lauschte. Kein Laut. Aber ich stand doch auf und ging zur Tür. Ich öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Eine seltsame Luft umgab mich. Ich hörte keinen Atemzug.

Da wurde ich plötzlich ruhig. Und ging mit festen Schritten auf ihr Bett zu.

Ich konnte sie unklar im grauen Glanze des Dämmerlichts sehen. Schnell zündete ich ein Licht an. Dann sah ich sie deutlich. Sie lag so still da. Ihre Ruhe war übermenschlich. Ihr Gesicht hatte in verstärktem Grade die selbstleuchtende weiße Farbe, die es am Tage vorher ausgestrahlt hatte, – ja, es war, als ob sich der weiße Glanz noch entfaltet hätte. Sie war ewig leuchtend, wie das hohe Lied des Todes.

Ich legte still meine Hand an ihre Stirn. Ein Schauer durchjagte mich; aber sonst war ich ruhig. Und untersuchte die kleine Flasche, die auf dem Fußboden lag. Ich verstand, daß alles Leben erloschen war.

Helene war tot. Sie wollte nicht mehr um mich sein.

Jetzt verstand ich ihre letzten Worte: Uebernimm nicht alle die Stunden. Warte wenigstens einen Tag, bevor du dich entschließt.

Und der Sinn der Worte war gewesen: Du sollst deine Gedanken sammeln und arbeiten und glücklich werden wie in alten Zeiten ... ich gehe von dir.

10.

Hatte sie es so gemeint? Ich frage. Und muß folgendes berichten: Je näher der Tag heranrückte, an dem sie in den Sarg gelegt werden sollte, je mehr schwand der schöne, weiße Glanz, die erhabene Ruhe, die nach dem Tode ihre Gesichtszüge geprägt hatte. Und ein anderer Ausdruck kam zum Vorschein. Ein harter, verbissener Ausdruck, welcher anklagte.

War es eine Folge der Verwandlung, die immer mit Toten vorgeht. Ein Zeichen der bevorstehenden Auflösung, ganz gewiß. Aber in meinem überspannten und unglücklichen Gemüt nahm diese Verwandlung eine mystische Bedeutung an. Sie schien mir einer Anklage, einer Anklage der Toten gleich zu sein.

Ich ließ mich von dieser Einbildung nicht bange machen. Denn sehr bald fing ich an, mich an eine Aufgabe zu machen, die ich schon lange in meinem Sinn gehabt hatte. Ich wollte ein Buch schreiben, das auf gelehrter Grundlage aufgebaut werden sollte. Ich wollte die Zeit behandeln, die in uralten Schriften angedeutet wird, die Zeit, in der das Leben der Menschen in Uebereinstimmung mit den Träumen der utopischen Philosophen geartet zu sein schien, wo die Gewinnsucht, der Blutdurst und die Unruhe nicht die Gewalt haben, sondern Friede und Milde zu herrschen scheinen. Das Buch sollte eine wissenschaftliche Abhandlung sein; es sollte aber gleichzeitig geeignet sein, allgemeines Interesse zu erregen. –

Und dazu wollte ich meine Gedanken sammeln. In Einsamkeit, in Stille. Ich wollte arbeiten und glücklich werden wie früher.

Aber es kam anders – ganz anders:

Trotz meiner Einsamkeit weiß ich doch nicht die Klarheit zu finden und die Ruhe zu fühlen, die mir dazu nötig ist. Mein Geist ist nicht mehr frei, nicht mehr geschmeidig. Mein Gemüt sprüht keine leuchtenden Funken mehr. Das Studierzimmer, wonach ich mich in den letzten Jahren gesehnt hatte: der große, stille Raum – die Stille und die Leere dort wurde mir zu beängstigender und aufdringlicher Oede. Es wurde für mich ein Symbol des Verlassenseins, das mein Herz qualvoll ergriff.

Durch diese Angst betete ich zu Gott, zum Gott meiner Wissenschaft: »Hilf mir, Du Allwissender! Du warst es doch, der mich hierher führte. Du hast es doch so eingerichtet, daß ich nie das liebte, was die Menschen sonst als Glück betrachten. Du ließest mich unter den Menschen mich einsam fühlen. Und gabst mir nicht Leben, sondern eine Chimäre zum Lohne dafür, daß ich Dir alles opferte ... Dich liebe ich doch! Verhülle mir nicht Dein Angesicht.«

Aber während ich betete, antwortete mir eine Stimme: »Du suchst mich jetzt nicht um meiner selbst willen. Du hast nicht mehr die Kraft, mich zu lieben. Ich soll dir nur eine Zufluchtsstätte geben.«

Vielleicht war es so. Ich suchte Hilfe gegen etwas, was mir trotz aller vernünftigen Erwägungen nahe war. Was meine Einsamkeit belebte. Was ich nicht vertreiben konnte.

Ein Zweifel fing an, mich zu quälen: Wer weiß, ob du überhaupt etwas taugst? Wer weiß, ob du jemals getaugt hast? Hättest du getaugt, hättest du das Feuer des Genies gehabt, dann würdest du alle die Schwierigkeiten gemeistert haben, denen du unterlegen bist. Du würdest dein Leben von allem Fremden befreit und dein Haupt hoch getragen haben. Aber du hattest nicht den Funken des Genies. Und du hast ihn auch jetzt nicht. Deshalb spukt es jetzt um dich. Und du handelst böse. Du tötest die Welt, die deine Freude hätte sein können. Du ließest dich vom Irrlicht deiner eigenen Einbildung leiten. Deshalb findest du in deiner Arbeit keine Ruhe. Und deshalb spukt es um dich, wo du auch immer gehst.

Es spukte um mich. Ja, ich war nicht nur niedergeschlagen; ich bekam Angst vor der Finsternis. Ich bekam Angst vor so vielerlei. Konnte die dunkle Stube neben meinem Arbeitszimmer nicht leiden. Oft durchjagte mich ein kalter Schauer, während ich arbeitete: Es war, als käme jemand zu mir. Ich machte die Tür zu. Dann war es mir, als schliche jemand leise im Nebenzimmer umher. Ich öffnete die Tür wieder und zündete die Lampe im Nebenzimmer an. Eine große Lampe, die gut leuchtete.

Aber etwas war doch immer wieder, was mich störte – in dieser Stube, in der sie sich am meisten aufgehalten hatte. Schon der Stuhl dort, der einfache Schaukelstuhl aus Rohrgeflecht, in dem sie zurückgelehnt und mit geschlossenen Augen gesessen hatte, wenn sie müde war. An der Stuhllehne hing noch die weiße Decke aus Schwanendaunen, die sie um sich hatte, wenn die Luft im Herbst kalt wurde. Und dort in der Ecke stand die alte Uhr, die immer falsch ging, – die sie mir mitgebracht hatte. Und dort ihr kleiner Nähkasten, – das waren alles Dinge, alltägliche Dinge, die alle in dem großen Flüstern, das mich krank machte, gewichtig mitredeten.

Ich änderte meinen Aufenthaltsort. Und zog in ein idyllisches Dörfchen. Mein Freund, der Konsul, hatte mich auf diese Idee gebracht; denn wenn er das Dörfchen erwähnte, fügte er hinzu: und wenn mir auch alles in der Welt mißlingt, dort möchte ich doch noch mal leben.

Ich wohnte dort. Aber diese stillen Häuser irritierten mich viel mehr, als sie mich beruhigten. Ich kehrte nach meiner Stadt zurück. Gab etwas Unterricht in der Schule, lebte im übrigen sehr regelmäßig und begann die Arbeit an meinem Werk mit großer Ruhe. Und die Zeit verging. Nach und nach gewöhnte ich mich an die Unruhe, die mich quälte. Ich ging dagegen an. Bis ich mich schließlich mit dem Gedanken vertraut hatte, daß der eiskalte Hauch, der mir in einsamen Stunden entgegenwehte, ein Gruß von meiner toten Gattin sei. So vertraut, daß ich einen Abend in die Stille hineinrief: »Erscheine ruhig, laß uns zusammen sprechen, ich will dir etwas sagen.« Ja, zuletzt wuchs in mir eine Sehnsucht danach, daß es so werden möchte: Du, die du mich so unendlich liebtest, flüsterte ich, – du, die du dich mir zum Opfer brachtest. Du, die du mich am letzten Tage so seltsam ansahst – komm zu mir, sage, daß du mir Erlösung bringst, sage, daß du mir verzeihst, sage, daß du mich freigibst.

Was ist dieses Leben? Die meisten, die nichts mit seinem Mysterium zu tun haben, behaupten, daß die Menschen Maschinen seien, so und so viel Nahrung zu verbrauchen und so und so viel Arbeit zu leisten. Und verhöhnen alles, was mit dem Jenseits etwas zu schaffen hat. Gewiß. Sie können das Ungekannte herausfordern, das keine Botschaft an sie hat. Aber die wenigen, die fühlen, daß ihr Wesen in Dingen wurzelt, die nichts mit dem zufälligen Leben zu tun haben, diese wenigen sollen sich davor hüten, das Verborgene herauszufordern. Ich hätte es nicht tun sollen.

Aber ich tat es dennoch. Einmal nach dem anderen Mal mahnte ich mit meinen Wünschen meine Frau aus dem Grabe.

Ich war eben in jener Zeit in einer eigentümlichen Stimmung. Zwiefältig lebend, ging ich meinem Lehrberuf nach und war doch oft geistesabwesend. Oft, wenn ich auf dem Katheder saß und lehrte, hörte ich meine Stimme wie eine fremde Rede und ertappte mich dabei, mich unwirklicher Dinge zu erinnern, als seien sie Wirklichkeit gewesen. Es waren darunter auch Erinnerungen aus meinen Sprachstudien, aber die waren selten und ließen sich leicht untersuchen. Aber die vielen anderen Dinge konnte ich nicht untersuchen und erklären. Sie waren aus einer unbekannten Welt, zu der mir der Zutritt noch verweigert war.

* * *

Es war Nacht, und ich schlief.

Am ganzen Tage zuvor hatten seltsame Gedanken in meinem Gemüte ihr Spiel getrieben. Der Schlaf hatte mich in eine schwere Tiefe hinabsinken lassen. Ich entsinne mich, daß sich mit jenem Schlaf ein Traum verband oder vielmehr ein Gesicht von starker und goldener Orangefarbe. Es war eine dunkelgoldige Orangefarbe. Meine Lieblingsfarbe. Die Farbe, die die Glut des Purpurs und den Glanz des Goldes hat. Es war die Farbe meiner Jugend, von den frohen Maskenbällen, vielleicht auch von meinen Grübeleien über die Pracht vergangener Reiche, es war der prächtige Glanz des Goldmosaiks uralter Vasen oder die Glut des toten Sonnenuntergangs, die von den halb verzehrten Inschriften finsteren Altertums widerstrahlte.

Zunächst zitterte jene Farbe stark durch mein Gemüt. Dann wurde alles schwarz. Aber ich starrte und forderte mehr. Ein stiller Zauber, ein Mahnen murmelte in meiner Seele. Es war, als triebe mich etwas vorwärts: tue es jetzt; nun ist der Augenblick gekommen.

Und eine Weile verging. Und in der Ferne dort nahm etwas Gestalt an. Ich sehe meine Gattin kommen ...

Ich will reden; aber ich schweige.

Sie sieht aus, wie sie am letzten Abend vor ihrem Tode war; aber ihre Augen sind fast geschlossen, und wenn ich sie genauer betrachte ... ihr Mund ist rot und schmerzhaft wie in blutigem Schweiß.

In einem Nu steht sie vor mir. Und langsam öffnet sie die geduldigen, zum Tode verurteilten Augen, und ergreift meine Hand. Ich fühle den Druck. »Verzeihst du mir?« stammle ich. Sie antwortet nicht. Starrt mich nur an, aber vielleicht liegt ihre Antwort darin, daß sie sich langsam, die Augen auf mich gerichtet, über mich beugt, als wollte sie meine Hand küssen. Aber ... in demselben Augenblick, in dem sie ihren blutigroten Mund in die Nähe meiner Hand bringt, durchjagt mich ein Entsetzen; ich krümme mich zusammen, ich kämpfe gegen sie an: »Küsse mich nicht mit den Lippen, die noch blutige Spuren deines Leids tragen!«

Sie antwortet nicht. Aber ihre Hand hält die meine fest. Sie beugt sich über mich, sieht mich die ganze Zeit an. Und, o weh, ich fühle das Blut, das ihre Lippen benetzte. Und schreie laut auf in Qual und Entsetzen.

Ich fuhr auf. Ich erwachte. Noch ist es Nacht.

Ich zündete Licht an. Ich entsinne mich, daß ich weinte. »Was soll ich, ich konnte doch nicht anders sein«, sagte ich. »Ich hatte es ja auch nicht gut. Und es war alles so ohne Sinn und Verstand!«

Ich wurde nach und nach ruhiger. Ich entsinne mich, daß ich meine Hand genau betrachtete. Und ich sah deutlich einen roten Fleck, wie einen Bluterguß, gerade dort, wo ihre Lippen mich berührt hatten.

Ich schlief die Nacht nicht mehr. Ich ließ mein Licht angezündet und fühlte die ganze Nacht einen unerklärlichen Schmerz, der von dem roten Fleck ausging. Der Morgen kam. Der rote Fleck war noch deutlicher sichtbar.

Seit jener Nacht sind die Tage vergangen. Die kleine Stadt mit ihren Häusern umgibt mich noch! Ich wohne noch, wo ich früher wohnte.

Und um alles genau zu erzählen: ich gab noch einige Zeit meine Stunden in der Schule und versuchte, der Alte zu sein, damit niemand ahnte, daß mir etwas fehlte. Aber zuletzt konnte ich nicht mehr, ich hatte das Gefühl, als ob ich von einer bösen und feindlichen Uebermacht bedroht würde. Ich sitze am meisten zu Hause in meiner Stube, oder ich gehe spazieren, aber immer nur die Wege, auf denen ich sicher bin, niemanden zu treffen, der die Absicht haben könnte, voller Teilnahme nach meinem Befinden zu fragen.

Ich denke oft daran, der Aufforderung einiger treuer Freunde nachzukommen und nach der Hauptstadt zu ziehen. Sie wollen mir mit ihren knapp bemessenen Mitteln nach dort verhelfen, die guten Leute, – und ich soll dann einen tüchtigen Spezialisten wegen meines »nervösen Leidens« konsultieren. Ja, ich hätte schon Lust, die herrliche Stadt mit ihren Straßen und Parkanlagen und mit ihrem Millionenschwarm wiederzusehen. Aber ich würde nur ruhelos umherwandern, alle bekannten Orte von damals wiederfinden, mich der lichten Tage erinnern, die damals waren, – die vergingen, vergingen!

Der rote Fleck an meiner Hand will nicht verschwinden – er wird sicher bleiben. Ich habe ihn jeden Tag angestarrt und er erregt stündlich mein Staunen. Ich habe in ihm ein Unglück geahnt. Er hat mich mit Grauen verfolgt. Am meisten weil er jene letzte Begegnung mit Helene immer wieder in meiner Erinnerung von neuem wachgerufen hat. Nein, er schwindet nicht, er breitet sich weiter aus. Er ist schon eine flammende Entzündung. Und ich fühle, daß er mein Blut mit seinem Verderben ansteckt.

Was bedeutet er? Ist er eine Botschaft von der Toten? Ist er die Rache? Und weswegen?

... Oder ob er ein Wink sein sollte: es nutzt ja doch nichts. Du findest doch keine Ruhe. Komm lieber her, mir nach!

Mag er sein, was er will. Ich grüble nicht mehr darüber. Ich bin ruhig. Die Zeit mag vergehen, die Vernichtung mag kommen. Denn ich bin zur Klarheit über mich selbst und mein Leben gekommen. Der halsstarrige Wille, das brennende Streben, das in meinem Forschereifer seinen Ausdruck fand – ich weiß es: im Grunde war es nur Heimweh nach dem innersten meines Wesens, nach meinem charakteristischen Gepräge im eigentlichen Sinne, nach dem Göttlichen in mir.

Und dieses Streben in mir soll nie sterben. Ich werde trotz aller Irrtümer in große Wunder eingeweiht werden. Mein Orangegoldenes wird wiederkommen. Ich werde einmal, ohne andere Menschen unglücklich zu machen, die Entfaltung aller meiner Fähigkeiten fühlen. Ich werde einmal das Mystische erreichen, das mehr als die Stille ist: die lebendige Ruhe, den Frieden.

 

Ende.


 << zurück