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Stefan Jörn

1.

Wir Menschen sehen den Teich, aber vom Meer haben wir nur wenig Begriff ... und dem ähneln wir doch am meisten. An diese Worte einer alten Frau aus meiner Heimat habe ich oft gedacht. Und jedesmal, wenn ich an meinen Vater denke und an die Erziehung, die er mir gab, entsinne ich mich ihrer. Ja, armer Vater! Du handeltest wohl so, wie es dir richtig schien, als du mich so streng im Zaume hieltest. Aber was half es? Weshalb durfte ich mich nicht in größerer Freiheit entwickeln, mich nicht als der zeigen, der ich war? Dann hättest du die Keime merken können, die da emporsproßten, dann hättest du die richtige Diagnose stellen und mich darnach behandeln können. Aber du – wolltest nur erschrecken und bändigen; und die Sprossen, die sich gebildet hatten, wurden niedergetreten und lagen da und lebten und wuchsen im Dunkeln, ohne daß sie jemand zu sehen bekam. Aber sie waren da! sie waren da!

Ich will von Anfang an erzählen.

Ich, Stefan Jörn, wurde als Kind sehr streng erzogen. Mein Vater war Prediger, ein finsterer, strenger Mann mit einem ernsten Gesicht, dessen Ausdruck nicht wechselte. Ich sehe ihn noch vor mir mit dieser Miene – unerbittlich, ohne Vergebung. Sein ganzes Leben war eine harte Buße der Sünde wegen. Nicht wegen einer bestimmten Sünde, sondern wegen »der Sünde«. Es klingt zwar sonderbar. Für derartiges haben »moderne« Menschen nur schwerlich Verständnis. Die Sünde? Daß er aber dies Unbegreifliche durchaus verstand, beweist die Tatsache, daß er mit seinen Verwandten brach, weil ihr Leben und ihr Streben ihm fremd waren. Und in der letzten Zeit seines Lebens hatte er Anfechtungen, sogar in seinen Träumen. Ich entsinne mich, daß er einmal morgens sagte: »In dieser Nacht war der Teufel bei mir. Rette mich, Herr, in deiner Gnade!« Ich erzählte es unserm alten, frommen Dienstmädchen. Sie antwortete: »Ja, wer nur wie der Pfarrer gegen den Teufel Wache halten könnte!«

Ich glaube, die Heimat meiner Kindheit drückte meinem Leben das Gepräge auf. Man hat ja als Kind ein äußerst empfängliches Gemüt. Ich entsinne mich noch deutlich der tiefen Furcht, die ich vor der Sünde empfand. Ein purpurroter Brand, der alle Herrlichkeit und Wollust der Erde mit seinem flammenden Glanz färbte, der aber aus der Tiefe kam, wo alle Schmerzen ihre Heimat haben.

* * *

In unserm Garten baute Vater Obst und nahrhafte Kräuter. Er pflanzte nie Blumen. »Warum pflanzst du keine Blumen, Vater?« fragte ich einmal. Er blickte auf und sah mich mit ernsten Augen an. »Die Blumen sind oft die Verführer zur Sünde, mein Kind!« Ich wanderte oft in diesem blumenleeren Garten; am liebsten ging ich abends dort ... eine seltsame Schwermut war schon in meiner jungen Seele zusammengesickert. Ich war bereits von seiner Weltanschauung tief beeinflußt. Ich fühlte, er hatte recht. Ich folgte ihm in seinem Haß gegen alle Lust und Freude.

Wenn ich die Menschen aus der Stadt im Wagen vorbeifahren sah – hinaus aufs Land zum Fest im Grünen, dann haßte ich sie; denn sie saßen oft beieinander, Burschen und Mädchen, und lachten und flüsterten, und ihre Wangen glühten. Und wenn ich meine Kameraden johlend und nackt herumspringen und im Bach baden sah, haßte ich sie eigentlich auch; denn ihre unbefangene Freude erweckte in meinem jungen Gemüt Kummer und Entbehrung. An einem Sommerabend sah ich einen Mann und ein Weib in glücklicher Umarmung gehen, sie in hellem Kleid, er in hübschem, eitlem Anzug, mit Blumen an der Brust. Und ich sah, wie sie einander in die Augen schauten; und zuweilen standen sie still, und er umarmte sie innig und sog all ihre Schönheit ein. Und sie stand da mit geschlossenen Augen, den Kopf weit zurückgelehnt, und ihr Mund lächelte halboffen mit den weißen Zähnen, und sie atmete so leicht, wie in langsamem, ewigem Genießen – oh, wie ich da stand, hinter dem Zaun in unserm blumenöden Garten, wandte ich meine Augen von Tränen geblendet gegen den Himmel, als bäte ich Gott, dies in sein Buch der Strafe zu schreiben.

Die Luft, in der ich lebte, die Gedanken, die ich dachte, machten mein Gesicht steif und streng und beraubten es der Jugend.

Jugend ist das Pochen des Bluts, Jugend vergoldet das Antlitz der Menschen mit Lächeln, mit Traum und Begehren – die Lippen werden durstig, die Nase saugt Luft, und die Augen glänzen und brechen. Nichts, nichts von alledem hatte der Junge mit der steifen Miene und den fernen, ernsten Gedanken. Nichts von dem ward ihm zu teil, dem die Kameraden aus dem Wege gingen, der selbst fühlte, daß er überall unwillkommen war, wo Heiterkeit und Freude zu Hause waren.

* * *

Vater starb gerade, als ich Student wurde. Bald nach seinem Tode kam ein Verwandter nach dem Pfarrhof, um verschiedenes zu ordnen. Er sagte eines Tags zu mir: »Du solltest nicht Geistlicher werden«. Als ich aufblickte, als wollte ich eine erstaunte Frage an ihn richten, wiederholte er mit seiner scharfen Stimme: »Du solltest nicht Geistlicher werden. Du könntest dann leicht überspannt werden wie dein Vater. So etwas ist erblich.«

* * *

Ich zog nach der Hauptstadt.

Meine erste Absicht war, Theologie zu studieren; aber die Weltstadt, in der ich jetzt wohnte – sie stülpte mit ihrem riesenhaften Menschenwerk alle meine Begriffe um!

Eben war ich aus dem Hühnerhof gekommen, – und plötzlich breitete der gewaltige Pfau seinen goldenen Riesenfächer aus, so daß ich staunend stehen blieb, die Herrlichkeit angaffte und die fernen Ewigkeitsrätsel, über die ich früher so viel gegrübelt hatte, fast alle vergaß.

Noch ein anderes kam hinzu.

Es zeigte sich bald, daß das Geld, das mein Vater hinterlassen hatte, bei weitem nicht ausreichen würde, wenn ich einige Jahre ausschließlich meinen Studien leben sollte.

Es blieb mir deshalb nichts übrig, als alle Gedanken an die Theologie aufzugeben und mich nach etwas anderem umzusehen. Im geheimen freute ich mich fast darüber, den langen, eintönigen Studien entgangen zu sein. Diese große herrliche Stadt, sie mußte ja auch für mich etwas bergen: Könnte mir nicht irgend ein glücklicher Zufall lächeln, könnte nicht ein göttliches Glück auf mich warten, dachte ich – und war immer noch der weltabgewandte, traumverlorene Knabe aus der lebensfeindlichen Umgebung. Ich war noch dieser Knabe, aber von neuem Leben berauscht, von der strahlenden Stadt geblendet.

Kurz gesagt: das schöne Glück blieb aus. Ich fand nichts für mich. Zuerst bekam ich eine Stellung als Uebersetzer in einem Kaufmannsgeschäft; meine Sprachkenntnisse waren nämlich nicht so übel; aber die kommerziellen Fähigkeiten, die auch dazu gehörten, besaß ich nicht, und ich mußte die Stellung aufgeben. Ein anderes Mal versuchte ich mein Glück als Journalist, aber auch das mißlang. Meine Artikel wurden nicht angenommen, sie waren nicht aktuell genug.

In der Zwischenzeit ging ich müßig. Ich war betrübt wie ein unglückliches Kind, das sich in eine fremde Gegend verirrt hat und keinen Ausweg mehr sieht. Der kleine Geldvorrat, den ich noch übrig hatte, schwand. Die Not harrte meiner.

Da machte ich mich ganz klein. Ich nahm einen Posten als Korrekturleser bei einem der Blätter an, die meine Artikel am fleißigsten zurückgewiesen hatten. Das befreite mich wenigstens von der Furcht, hungern zu müssen.

Und ein solcher schlichter, bescheidener Mensch wäre ich wohl heute noch gewesen, und hätte mir das unruhige Getriebe der Welt ruhig mit angesehen. Aber da kam jenes Eigenartige, – der Sommer meines Lebens, seltsam, verzehrend, mir selbst zur Freude und zum Verderb.

* * *

Ich litt einmal im Sommer an Schlaflosigkeit. Ich verstehe nicht den Grund dieser Schlaflosigkeit, die so plötzlich und ungebeten kam. Vielleicht waren es die hellen Nächte des Sommers, die mich unruhig machten, und ... ja, vielleicht war es eine Folge des außerordentlich einsamen und strengen Lebens, das ich immer geführt hatte. Die Askese ist in vielen Beziehungen gut, in vielen schädlich. Bei mir hatte sie ein für allemal Wurzel geschlagen ... In diesen Jahren nach Vaters Tod glaubte ich manchmal, daß die Herrlichkeit der Weltstadt und die Freude der Menschen mich wirklich erfaßt hätten; aber nein, es war nur eine vorübergehende Stimmung. Nur die Geilheit der Menschen und ihren heißen Odem empfand ich. Vielleicht rührte meine Zurückhaltung auch daher, daß meine Begierde ein zu hohes Ziel hatte, daß sie eine dumpfe, hoffnungslose Sehnsucht nach den allzu lichten und schönen Frauen wurde, die ich zuweilen sah, aber von denen ich im voraus wußte, daß sie mich nie verstehen und mir nie gehören würden.

Aber weil diese Sehnsucht in mir lebte und brannte, weil sie mich beunruhigte und verstörte, mußte sie mir das Wesen zeigen, das mir fehlte und nach dem ich verlangte, – ein Weib, das mich anzog und fesselte. Eines Nachts sah ich sie. Sie war schön, schön wie eine der schönsten des Tages, und sie kam mir entgegen, als ich in meinem Element war, als die Schlaflosigkeit mein Blut feurig machte, und als der blaue Zauberring der Nacht mich umgab. Mutig flog ihr meine Sehnsucht zu und lebendig ging sie hinaus, wie die Fledermaus, die fliegt, während die kühnen Vögel des Tages schlafen.

2.

Die ersten schlaflosen Nächte fanden mich geduldig und standhaft. Ich lag still in meinem Bette, dachte nur: »Es ist doch gut, daß ich keine Schmerzen habe.« Zuletzt wurden mir aber diese langen Stunden ohne Schlaf lästig. Ich stand auf, zog mich an und ging auf die Straße hinaus.

Rings um mich Nacht, still und hellblau. Ich ging in den leeren Straßen umher. Mir war es, als empfände ich den Schlaf der anderen Menschen. Ich sah mit schweren, inhaltlosen Augen zu ihren Häusern hinauf: »Sieh, dort hinter den Fenstern mit ihren schweren Vorhängen wohnen die anderen«, dachte ich, »nie bin ich wie sie gewesen. Aber früher hatten wir doch wenigstens den Schlaf und das Wachsein miteinander gemeinsam. Jetzt sind die letzten Bande gerissen. Ja, jetzt bin ich denn in der Tat einsam.«

Ich wohnte in einem entlegenen Viertel der großen Stadt. Nur sehr wenig Menschen sah ich in diesen Nächten. Ein seltenes Mal kam ein Schutzmann vorüber ... Oder ein albernes Freudenmädchen, das sich nach einer erfolglosen Razzia in der inneren Stadt hier hinaus verirrt hatte. Wenn so eine kam, sah sie mich an, taxierte mich auf den armen Teufel, der ich war, und ließ mich vorüber. Hin und wieder wurde ich angetastet und ausgescholten, weil ich nicht stehen blieb.

Diese Fälle waren aber nicht die Regel. Sie waren die Ausnahmen. Die meisten Nächte sahen mich einsam wandeln in dem blauen Licht zwischen den öden Häusern. Eigentlich ohne jemand zu treffen ...

Denn die wenigen, die ich traf, sah ich kaum. Nur eine traf ich immer wieder. Das weiß ich jetzt. Damals ließ ich sie noch vorüber, ohne mir sie zu merken. Vielleicht weil sie so still ihren eigenen Weg ging. Aber ab und zu sah ich sie doch, und ich dachte: »Sieh doch die Stille da! Sie ist keins der gewöhnlichen Boulevardmädchen. Die gehen und spähen still nach Raub. Und haben ihren ganzen Putz an. Sind mit flotten Mänteln und großen Federhüten ausstaffiert, und kommen aus öffentlichen Cafés oder von zufälligen Liebhabern. Die da ist nicht geputzt, sie kommt vielleicht von ihrem Freund, ist ein anständiges kleines Mädchen, ... aber von Lustigkeit und Leben kommt sie doch, ... und mich geht sie deshalb nichts an.«

Aber in einer Nacht kam doch, was kommen mußte.

Ich begehrte sie nicht. Ich begehrte überhaupt niemand und nichts. Ich wartete bloß auf den Schlaf. Und in den späteren Nachtstunden war meine Schlaflosigkeit nicht ganz Wachsein. In gewisser Beziehung war ich wach; aber der Schlaf lag wie auf der Lauer; ab und zu jagte er heiße Wellen durch meinen Körper. Wenn gegen Morgen diese heißen Wellen häufiger wurden, eilte ich nach Hause. Denn sie waren die Zeichen, daß jetzt der Schlaf kam, der mich ohnmächtig, wehrlos machte. Eine kurze Weile nur, eine Stunde oder zwei, aber während dieser Zeit lag er totschwer in meinem Blut und beraubte mich jeder sinnlichen Wahrnehmung.

Eines Morgens, als ich rasch nach Hause ging, – es war gerade Sommersonnenwende –, kam sie auf mich zu, das stille Mädchen, und im Lichte der Sommernacht konnte ich ihr Gesicht deutlich sehen. Und ich sah ein junges, weiches Gesicht, ich sah eine Wange von bleichem, vollem Oval und einen Mund, der mir wie eine Frucht, voller Süßigkeit, entgegenleuchtete. Kam mir entgegen, und war nur sie, ähnelte keiner anderen. Und ich hatte sie früher gar nicht gesehen, das merkte ich jetzt erst.

Die Nacht war hell wie ein blauer Kristall. Ich starrte sie an, und mir war es, als sähe ich eine, mit der ich in geheimnisvoller Weise verbunden sei. Vielleicht war es die schlaflose Nacht, die mich berauscht machte, die mir falsche Gesichte vortäuschte: Aber nein, dort kam sie, die ich lange kannte, die mir in jeder Nacht entgegenkam, als suchte sie mich.

Was war das? Meine heißen Augen brannten vor dem Fieber des unnatürlichen Wachseins, und sie brannten noch mehr, weil sie sie sahen, die jetzt hervorstrahlte und mich erfreute.

Gewiß, ich war überspannt, ich war berauscht. Anders kann ich das Wunder nicht erklären, daß ich mich plötzlich erdreistete, ihr zuzulächeln.

Ja, hören Sie nur: ich lächelte ihr zu, und sie sah es und bemerkte meine Gedanken; denn als wir aneinander vorbeigingen, wandte sie ihr Gesicht gegen mich, und ihre Augen begegneten den meinen. Und sie lächelte, – lächelte leicht und verschwiegen. Ihre Augen bekamen einen tiefen Glanz und ihr Mund wurde röter als zuvor. Etwas Leidenschaftliches kam mit einem Male über dieses Mädchen in dem schwarzen, einfachen Kleide: eine heiße, junge Bacchantin, ging sie an mir vorüber.

... Als der Schlaf sich an jenem Morgen über mich stürzte, sah ich sie noch in der Ferne wie ein glückliches Gesicht.

Jede Nacht sah ich sie. Sie kam ganz sicher und immer um dieselbe Stunde, wohl drei Stunden nach Mitternacht – und während ich ging und wartete, stand die blaue Sommernacht rings um mich, und ich war heiß vor Unruhe. Ich ging und wartete und sah sie kommen. Nur in zwei Nächten mied ich sie. Ich fühlte, daß wir uns im Grunde genommen kannten, ich hätte sie grüßen, sie anreden können, sie hätte sich nicht verletzt gefühlt, sie hätte es sehr natürlich gefunden. Aber trotzdem mied ich sie.

Ich wartete. Wenn aber die Zeit nahte, um die sie zu kommen pflegte, schlug ich einen anderen Weg ein, einen Weg an einem Ulmenhain vorüber, der als Park benutzt wurde. Sie mußte es merken und sollte fühlen, wie gleichgültig sie mir sei.

Warum? Ich war unsicher, schüchtern, ängstlich – wie soll ich es nennen? Ich war begierig danach, ihr zu begegnen; aber mich quälte ein Gedanke, der Gedanke an den Mann, von dem sie kam. Denn von einem Mann kam sie. Weshalb ging sie wohl sonst zu dieser Zeit auf der Straße? ... Und dieser Mann ... wie war er? Er war vielleicht reich, jedenfalls unabhängig und schön. Und natürlich bewunderte sie ihn, und wenn er es verlangte, ging sie nach Hause, folgsam und allein. War vielleicht glücklich, ihn besuchen zu dürfen, bei ihm die Geringe zu sein. Vielleicht hatte sie ihm mich geopfert. Vielleicht hatte sie ihm von dem sonderbaren Kauz erzählt, der jede Nacht so einsam umherginge und sie begeistert angaffte. Vielleicht hatte mir der junge Junker ein mitleidiges Lächeln geschenkt.

Ach nein, das Lächeln schenken Sie sich, mein Herr! Ich werde mich nicht aufdrängen. Ich will nicht der Dumme sein.

Wie der arme Schmied, den ich einmal sah ...

Ja, laßt Euch von diesem Schmied erzählen, damit Ihr meine Stimmung begreifen könnt.

An einem Vergnügungsort, irgendwo in der inneren Stadt, saßen zwei Menschen zusammen, ein junger Mann und ein junges Weib. Verlobte waren sie wohl. Er war ein Mann, der an harte Arbeit gewöhnt war, – das konnte man sehen. Seine Gestalt war derb und klotzig, ungelenk seine Bewegungen, seine Hände waren schwer und plump, das heiße Oel der Maschinen hatte an ihnen gezehrt, sie gelb gemacht, und der Kohlenrauch hatte sich in seine Nägel festgebissen. Aber etwas Hübsches, Stilles hatte er in seinem Gesicht. Seine Augen waren gut. Man konnte sich auf ihn verlassen, in guten und in bösen Tagen; das fühlte man. Und in den bösen nicht am wenigsten.

Sie saß bei ihm, das junge Mädchen, seine Braut. Sie war schön. Ein bleiches, exaltiertes Brausen ging von ihr aus. Sie war nicht schnöde, nicht treulos, aber sie schien voll hilflosen Sehnens nach anderen, nach Leuten, die ihr besseres gaben, als er es ihr bieten konnte. Als er ihr den Hof machte und um ihre Hand anhielt, mögen ihre Eltern gesagt haben: »Nimm ihn nur! Etwas Imponierendes hat er ja nicht an sich, weder so noch so, aber er ist ein braver Mann, und die wachsen in unseren Tagen nicht an Bäumen«. Und in gewisser Beziehung gefiel er ihr auch; – aber alle die herrlichen Tage des Lebens, die sie von anderen, reicheren, schöneren hätte erwarten können, trug sie in ihrem Herzen mit heimlichem Weh!

Wenn sie zusammensaßen, sprach er ehrlich und offen und hörte aufmerksam und ernst zu, wenn sie ihm antwortete. Und wenn er sein Tabakspfeifchen stopfte, stockte er, weil sie eine Bemerkung machte, und hörte ihr aufmerksam zu, sann über ihre Worte nach und nickte. Steckte dann wohl sein Pfeifchen still in die Tasche und verlangte vom Kellner eine Zigarre, ... die ihm sonst zu kostspielig war, und die er nicht gern rauchte, ... nur um in ihren Augen fein zu sein.

Sie dagegen war unruhig und hastig, drehte sich um und sah nach anderen. Plauderte mit dem Mann an ihrer Seite, aber war mit ihren Gedanken weit fort von ihm, von seiner Liebe und seiner Güte. Schließlich erhob sie sich. Man merkte deutlich, daß er ihr am liebsten gefolgt wäre; aber sie sagte etwas und er blieb sitzen. »Ja«, meinte er still, »wenn Du es tun mußt!« Und etwas Junges, Hartes trat in ihre Mienen, ihre Augen: »Gewiß, es ist durchaus nötig«, sagte sie, »Du weißt ja die Angelegenheit ...« »Ja, ja«, – nickte er und blieb sitzen. »So warte ich, bis Du zurückkommst.« Und er wartete. Die ganze Zeit, die ich blieb, saß er und wartete. Endlich ging ich. Und der merkwürdige Zufall wollte, daß ich kurz darauf das junge Mädchen sah. In einem Wagen fuhr sie mit einem Anderen, einem jungen Kavalier. Sie fuhren rasch, und sie saß halb versteckt. Ich aber sah ihren strahlenden Blick. Es war, als lebte alles in ihr. In gewisser Beziehung hatte sie ja das Recht zu sagen, daß sie dies müsse. Denn es war ihr ein Lebensbedürfnis. Aber der Mann von zuvor, mit dem abgenutzten Körper und den schweren Händen? Von ihm und seines Lebens Schwere hatte sie sich losgesagt – für den kurzen Augenblick des Genießens. Und das ist ja auch eine Notwendigkeit, – jedenfalls für viele.

Oder sollte es nicht sein? Wenn man es nun darauf ankommen ließe, die Signale änderte und eine kurze Zeit in schwindelndem Glücksrausch lebte! – Wohlan, die Menschen würden aussterben, aber es würde nicht so viele dieser umherwandelnden Toten geben.

3.

Zwei Nächte mied ich sie. Meine Laune war nun einmal derart, daß ich sie meiden mußte. Aber in der dritten Nacht war ich plötzlich ein anderer Mensch. Warum? Ja, wer kann das erklären? Vielleicht weil andere Sterne sich kreuzten. Genug: Ich wollte ihr begegnen! Mein Mut war groß, meine Augen blank! An derselben Seite wollte ich gehen, wo sie ging. Vor ihren Augen ging ich auf ihr Trottoir hinüber, ... damit sie verstehen mußte, daß ich es ihretwillen tat. Und ich lächelte ihr entgegen, nahm meinen Hut ab und sagte guten Tag, als hätte ich sie schon lange gekannt. Lächelnd gab sie mir die Hand, und nichts in ihrem Gesichtsausdruck sagte mir, daß sie sich verletzt fühlte, als sie antwortete: »Guten Tag ... oder vielmehr guten Morgen!« Die letzten vier Worte fügte sie schelmisch lachend hinzu. Jung und offen war dies Lachen, aber geheimnisvoll kam es mir vor, der ich von ihr schon ganz gefangen war.

Ich sprach mit ihr. Ihre Stimme war wie sie selbst, – ist das verständlich? Ich kann es nicht genauer erklären. Sie konnte nicht anders sprechen. Und was erfuhr ich?, – daß sie nicht von Freude und Zügellosigkeit kam, nicht von einem Freund, der sie mit seiner Liebe oder seinem Begehren überschüttete, dieses liebe, tüchtige Mädchen, das in der Nacht auf flinken Füßen einsam wie ich durch die Straßen ging! Sie kam von der Nachtarbeit in einem großen »Blitz«-Magazin. Eine anstrengende Nachtarbeit war es. Der Betrieb des »Blitzes« bestand darin, allerlei Toiletten in einer so kurzen Zeit wie nur möglich fertigzustellen. Wenn unvorausgesehene Feste oder Bälle kamen, und das Festkleid fehlte: dann war der »Blitz« auf seinem Posten. Tag und Nacht wurde in mehreren Arbeitsschichten gearbeitet. »Ja, sehen Sie, deshalb bin ich zu einer solchen verkehrten Zeit auf der Straße«, sagte sie ... »Aber Sie? womit entschuldigen Sie Ihre nächtliche Wanderung? ... Was? schlaflos? Sind Sie schlaflos? Ach, Du lieber Gott, wenn ich Ihnen nur ein wenig von meiner Schläfrigkeit schenken könnte! Sie quält mich geradezu, ich muß mit ihr kämpfen. Ich schlafe oft während der Arbeit.« »Aber schlafen Sie denn nie im Ernst?« fragte ich. Es war eine dumme Frage, und sie lachte: »Freilich, ich schlafe ja am Tage. Aber der Schlaf am Tage ist ja nie so kräftigend ...« Erst jetzt sah ich es, sie war blaß, die Müdigkeit lag schwer über ihren Augen ... vielleicht gab ihr das gerade einen neuen Reiz ... Wie eine feine junge La France-Rose bezaubernd sein kann, wenn sie ein wenig mißhandelt ist, so war es auch mit ihr. So viel Jugend, so viel Lust am Leben hatte sie, man fühlte den Wunsch, sie wollte sie nützen. Sie hieß Flora.

Ihre Wohnung war nicht sehr weit von der meinen. Sie wohnte bei ihren beiden Schwestern. Ich begleitete sie nach Hause. »Morgen treffen wir uns doch wieder«, sagte ich. »Ja, morgen also.« Sie lächelte mir zu, ihr Antlitz schien mir bezaubernd schön, und sie wanderte den geraden Weg in mein Herz hinein ... wo sie schon lange war ...

Ich ging nach Hause, um zu schlafen.

4.

Es folgte eine Reihe von Nächten nach der Sonnenwende. Julinächte. Diese Nächte haben nicht die Kristallklarheit der Juninacht. Die Stunden um Mitternacht sind dunkelblau, der starke Tau verleiht dem Himmel einen nebligen Anstrich und nur wenige Sterne scheinen.

Ich trieb mich nicht mehr herum in der Nähe meiner Wohnung. Ich ging weit in die Stadt hinein, um sie zu treffen. Das Magazin, wo sie arbeitete, lag eine gute halbe Stunde von dem Stadtteil entfernt, wo wir wohnten.

In jenen Nächten sprachen wir viel miteinander. Sie erzählte über ihr Leben im Geschäft, von den jungen Mädchen, mit denen sie zusammen arbeitete ... die sie eigentlich gar nichts angingen, und mit denen sie wenig oder gar nicht verkehrte. Vom Direktor erzählte sie auch; er sei ein guter alter Kerl, der es nicht so genau nehme, wenn Fehler vorkämen ...

Sie erzählte von ihrem Heim. Ihr Vater, der vor vielen Jahren gestorben sei, wäre so schön gewesen. Sie ähnelte ihm nicht. Er aber sei schön gewesen ...

»Und das sind Sie nicht?!« schaltete ich lustig ein.

Ach, was sei sie? Nein, ihn hätte man sehen sollen. Sie hätte noch ein Bild von ihm, das ein wirklicher Künstler gemalt habe. Oft müsse sie still sitzen und es bewundern. Schön und froh sei er gewesen, aber sonst habe er auch zu rein gar nichts getaugt. Es hätte eigentlich keiner genau gewußt, was er im Grunde genommen gewesen sei ... Ihre Mutter habe für alles zu Hause gesorgt. Sie habe eine kleine Mitgift gehabt. Die habe ja einige Jahre geholfen, aber ... als sie aufgezehrt gewesen sei, habe sie nähen und sticken müssen. Und es seien feine, feine Stickereien gewesen. Und Floras beide Schwestern hätten ihr geholfen.

»Mutter war eine Beamtentochter«, fuhr sie fort. Sie sei einmal ein kleines verwöhntes Ding gewesen. Sie hätte nicht geahnt, daß sie von früh bis abends, jahraus, jahrein werde dasitzen und sich mühen müssen. Das habe sie nicht vertragen können. Sie sei krank geworden und sei gestorben ... vor drei Jahren.

»Ja ... und jetzt wohnen wir zusammen, meine beiden Schwestern und ich. Sie nähen und sticken ganz so wie zu Mutters Lebzeiten. Sie sind viel älter als ich.«

»Und Sie haben diese Nachtarbeit?«

»Ja, ich nahm vor ein paar Monaten diese Stellung an. Es war die einzige Arbeit, die einigermaßen gut bezahlt wurde und die ich bekommen konnte. Ich nahm sie deshalb. Aber Sie?« sie lächelte. »Sie haben es doch nicht nötig, nachts auszugehen. Sie sagten vor ein paar Tagen, Sie seien Student. Wenn Sie auch wirklich nicht schlafen können, weshalb sitzen Sie dann nicht zu Hause über Ihren Büchern?«

Ich antwortete ehrlich und offen:

»Nein, ich habe umgesattelt. Ich hatte nicht Geld genug, um studieren zu können. Und ich war außerdem ein naiver Kerl vom Lande. Diese große Stadt machte mich verwirrt im Kopfe. Sie erweckte in mir die Hoffnung, daß mir irgend etwas Außergewöhnliches passieren sollte. Und natürlich passierte nichts. Ich wurde deshalb Korrekturleser, Sie sehen also, mit was für einem hervorragenden Mann Sie heute Bekanntschaft gemacht haben ... ja, und es kann überdies geschehen, daß eine Kleinigkeit von mir in der Zeitung erscheint. Aber selten, selten. Ich vermag das Aktuelle nicht zu treffen ... und ich kann nicht die rechte Würze finden, die es dem Pöbel schmackhaft macht.«

Sie schwieg eine Weile. »Ach ja«, sagte sie dann, »das Leben ist ein Kampf, wie Mutter oft sagte. Es müßte schön sein, reich zu sein, tun und lassen zu können, was einem behagt. Wissen Sie, wann ich mich am wohlsten fühle? ... Wenn ich bis in den Tag hinein geschlafen habe, erwache ich dadurch, daß meine älteste Schwester mir das Frühstück vor das Bett stellt. Eine ganz kleine Anrichtung mit Gemüse, Eiern, Brot und faulenze. Liege lange mit geschlossenen Augen und faulenze. Und ich liege mit geschlossenen Augen und bilde mir viel drolliges Zeug ein. Sie können glauben, meine Schwestern sind gut zu mir. Sie bewundern mich geradezu. Alles könnten sie für mich tun. Ich sei wie ihr Kind, sagen sie.«

»Wie alt sind Ihre Schwestern?«

»Meine jüngste Schwester ist ganze zehn Jahre älter als ich. Zweiunddreißig Jahre, und meine älteste Schwester ist sechsunddreißig. Aber, um wahr zu sprechen, sie sehen viel älter aus. Die ärmsten! Sie haben nie eine Jugend gehabt. Sie waren ganz jung, als sie mit anfassen und Mutter helfen mußten. Und selbstredend ... auch späterhin immer nur diese schwere Arbeit, ... um nur einigermaßen leben zu können.

»Aber sie sind stolz, das können Sie glauben. Viel stolzer als ich. Mutters Töchter. Wissen Sie was: jetzt gehe ich hier und spreche mit Ihnen. Ich kann dabei nichts Unrechtes finden. Aber ich würde es niemals meinen Schwestern erzählen. Und wenn wir uns nun näher kennen lernen sollten, Sie und ich, und wenn Sie sie treffen sollten ... es wäre ja denkbar; ja, dann dürfen Sie nie erzählen, in welcher Weise wir uns kennen lernten ... Sich von einem fremden Herrn auf der Straße nachts anreden lassen – Du großer Gott! ...«

»Aber das tun Sie ja sonst nicht, Flora!«

»Nein, nie, nie! Das weiß ich ja ... Das mit Ihnen war eine Sache für sich ... Wir begegneten uns so regelmäßig ... jede Nacht ... und Sie sahen nicht aus, als ob man sich vor Ihnen fürchten müßte ...«

»Aber die Nacht, in der ich Sie ansah, Flora, damals, als ich Ihnen entgegengebraust kam, entsinnen Sie sich der Nacht?«

Sie lächelte.

»Ja, die Nacht ... Ich erinnere mich, wie Sie mich ansahen. Ich sah Sie wieder an ... ja, da war ich in der Stimmung ... und eigentlich mochte ich Sie gut leiden.«

»Sie sahen wohl, wie sehr ich von Ihnen eingenommen war, Flora.«

Sie lächelte und antwortete still.

»Ach ja, ich merkte es wohl.« Und ein wenig verschmitzt fügte sie hinzu: »so etwas merken Frauen ja so leicht.«

In jener Nacht gingen wir den Weg um den Ulmenhain. Plötzlich stand Flora still, sah mich lange an und nahm meine Hand. Ich blieb auch stehen; mir war sonderbar zu Mute. Dann beugte sie sich zu mir hinüber und küßte mich – lange ...

Ich war wie gelähmt. Mich fror. Oder es war mir, als fröre mich. Und im nächsten Augenblick durchjagte es mich wie Feuer. Dieser Kuß eines Weibes! Dieser erste, den ich fühlte. Und von ihrem Munde. Von den beiden wollüstigen Lippen, die mir so oft wie eine rote Flamme entgegengeleuchtet hatten. Ich blieb wie betäubt stehen. Mein Blut ging mir schwer und sausend zum Kopfe.

5.

Die Nächte wurden dunkler. Wir waren im September. Und man konnte deutlich merken, daß es mit dem Jahr abwärts ging. Ein hinsiechendes Brausen zog langsam durch die Lüfte. Am Himmel standen schon die großen Sterne des Herbstes, die wehmütig erscheinen, weil sie mit dem Tod des Sommers gleichbedeutend sind.

Was hat aber die Jahreszeit zu sagen? Der Frühling, der schwand, war mir eine schwere Zeit; ich ging mit leerem Kopfe, ich fühlte, wie die schlaflosen Nächte mir ihre Leere zeigten. Und jetzt im Herbst: ach, ich war wie ein Baum im Frühling. In mir blühte es. Meine Gedanken waren heiter. Sogar mein Schlaf kam wieder. Ich wartete auf Flora; aber oft war ich vom kommenden Schlummer berauscht. Ich schlief bis spät in den Tag hinein. Mir war es, als hätte das Leben für mich noch verheißungsvolle Gaben übrig.

Ab und zu trafen wir uns am Tage. Flora besuchte mich zu Hause in meinem Zimmer. Das hatte seine Schwierigkeiten. Der alte schiefmäulige Kerl, bei dem ich wohnte, war im höchsten Grade mißtrauisch und unangenehm. Wenn Flora klingelte und er die Tür öffnete, maß er sie immer in unverschämter Weise mit den Augen. Es passierte sogar, daß er ohne weiteres sagte, ich sei nicht da. Gott weiß, was er glauben mochte. Er hätte uns, ohne daß wir uns zu schämen brauchten, zusammen sitzen und miteinander plaudern sehen können. Ich war immer sehr ratlos und zurückhaltend, wenn sie mich besuchte. Mehr, als mir eigentlich selbst lieb war. Mehr vielleicht, als es Flora lieb war. Aber, so war ich nun einmal. Und natürlich: ich fand es ja immer herrlich und wunderbar, wenn sie kam. Und niemand sollte wagen, sie zu beleidigen.

So ging es lange weiter. Immer häufiger trafen wir uns, saßen dann still beieinander und schmiedeten Pläne für die Zukunft. Eines Tages sagte sie: »Meine Schwestern haben sich entschlossen, ein Zimmer zu vermieten. Das könnten Sie mieten. Und zwar sofort. Heute abend rücken wir die Annonce ein. Eigentlich ist es mein Zimmer, – daß Sie es wissen! Kommen sie nur morgen, und reden Sie mit meinen Schwestern. Wir beide kennen uns selbstredend nicht ... Wenn Sie aber gegen Mittag kommen, werden Sie mich schon flüchtig zu sehen bekommen.«

Wir amüsierten uns beide über unsere Pläne. Am nächsten Tage machte ich mich auf den Weg nach der mir so wohl bekannten Straße. Ich ging bis ans große, graue Haus und stieg wenigstens bis ins vierte Stockwerk hinauf, bevor ich das weiße Schild zu sehen bekam, worauf zu lesen stand, daß sich hinter der Tür ein Nähetablissement erster Klasse befände. Ich klingelte und fand es sonderbar, daß ich jetzt Floras Schwestern treffen sollte.

Sieh da, die Tür wurde geöffnet. Eine nicht junge Frauengestalt stand vor mir. Etwas sagte mir, daß sie eine ihrer Schwestern sei.

»Guten Tag«, ich nahm den Hut höflich ab, »Sie haben ja ein Zimmer zu vermieten.«

Sie nickte: »Bitte sehr« ... Und sie ging voran und öffnete die Tür zu einem recht freundlichen Zimmerchen. »Hier ist das Zimmer.«

Ich sah mich um, atmete die Luft ein, sah mir die bescheidenen Möbel an, sah das Viereck der Fensterscheibe, sah zwei Blumentöpfe auf dem Fensterbrett. Sieh, hier hatte sie also ihren Aufenthalt gehabt. Hier hatte sie gewohnt, das junge Mädchen, das ich liebte. Durch dies Zimmer ging sie gewiß jeden Tag.

Ich stand da und ließ mich von diesem Gedanken berauschen, und inzwischen tat ich so, als interessierte ich mich lebhaft für die Ausstattung des Zimmers. Floras Schwester gab über dies und jenes Aufschluß und hob die Vorzüge des Zimmers hervor. »Ruhig, gesund, hell.« Sie sagte alles in einem Tone, der gewiß bedeuten sollte: »Anzuflehen brauchen wir Sie nicht. Das Zimmer ist gut genug.«

»Ja, das Zimmer gefällt mir«, sagte ich ruhig. »Ich möchte es gern mieten. Die Miete ist wohl im voraus zu zahlen?«

Ich merkte unwillkürlich den frohen Tonfall:

»Ja, wenn Sie wollen ... es ist ja für uns am angenehmsten.«

Und ich antwortete ruhig:

»Ja, es ist ja für beide Teile am besten so. Dann ist die Sache abgemacht.«

Und ich zog mein Portemonnaie aus der Tasche ... es wurde mir schwer, das Geld zu entbehren; man konnte es mir aber nicht ansehen. Ich war nur immer froh, ja, ich war wie von jungem Weine berauscht.

Die Schwester tat geschäftig und eifrig.

»Sie sollen die Quittung gleich bekommen«, sagte sie und öffnete die Tür zum nächsten Zimmer. »Flora, ist das Zimmer in Ordnung? Gut, – bitte treten Sie näher, mein Herr.«

Ich trat ins nächste Zimmer. Flora saß im Sofa mit einer Handarbeit. Am Fenster saß eine Dame und nähte ... sie sah etwas älter aus und machte den Eindruck, sehr still zu sein. Als wir eintraten, machte ich eine Verbeugung; sie nickte abwesend, denn sie studierte ihre Näharbeit sehr genau.

»Bitte, Feder und Tinte! Der Herr soll seine Quittung haben. Flora, weißt Du, wo Feder und Tinte sind?«

Flora wußte, wo beides zu finden war und brachte die Schreibsachen herbei. Und während die Quittung geschrieben wurde, bekam ich ein Lächeln von ihr. Ein Lächeln, das so viel heißen sollte: »Jetzt haben wir sie hübsch angeführt. Du und ich.«

6.

Ich machte bald die Bekanntschaft der beiden älteren Schwestern. Sie hatten nichts dagegen, daß ich zu ihnen hereinkam und mit ihnen plauderte. Sie saßen den lieben langen Tag beim Nähen. Ihre Mienen waren ernst und korrekt. Ein seltenes Mal glaubte ich, eine gewisse Aehnlichkeit zwischen ihnen und Flora spüren zu können, aber im allgemeinen waren sie sehr verschieden. Sie, das junge, frische Mädchen, mit beiden Augen dem lebendigen Leben offen zugewendet. Die beiden anderen – Wesen, die sich in der wolligen, schwülen Luft der Nähstube versteckten, – ernst und sich selbst ein wenig wichtig erscheinend, einzelne Andenken aus den großen Tagen ihrer Mutter bewachend: einem goldenen Spiegel, der »ihrem Großvater, dem Herrn Stadtrat« gehört hatte, desgleichen ein Porträt von demselben Herrn Stadtrat und ein Bild, das ihren eigenen Vater als betörenden Modeherrn ausstaffiert darstellte. Und sonst war alles um sie trist und ärmlich. Ja, da saßen sie und lebten tagaus tagein zwischen Kleiderstoffen und Kleiderstoffen und immer wieder Kleiderstoffen. Etwas Müdes lag über ihren Augen, und ihre Wangen waren ausgeprägt blaß, blutarm, und sie waren schon alt.

Eines Abends lud ich die beiden Damen und Flora ein, mit mir auszugehen. Wir gingen in einen der großen Konzertsäle, wo Tausende von Menschen waren. Die jüngste der beiden Schwestern, Pauline, beschäftigte das, was sie sah, sehr. Sie war überdies ziemlich neugierig: »wer war das?« und »wer war die wohl?« Zuweilen war es ein junger, eleganter Herr, zuweilen konnte es aber auch eine besonders teuer ausgeputzte Dirne sein, über die sie näheres wissen wollte. Und immer versetzten sie Kleider und Hüte in Entzücken: »Sieh doch die Seide! Ach, sieh doch mal die Spitzen! Du großer Gott, sieh nur mal die Feder, die sie trägt! Das ist doch mal eine wirkliche Straußenfeder!« .

Die älteste Schwester sprach nicht viel. Sie saß da und war die ganze Zeit wie still und müde ...

Ich glaube schon, daß ich aus Floras Schwestern einen höchst zuverlässigen Eindruck machte. So viel ist gewiß, daß sie, als ich an einem der ersten Tage mich erbot, Flora von der Nachtarbeit abzuholen, ganz gerührt waren: Das wäre doch zu hübsch von mir! ... Aber der lange Weg! ... Ja, ja, sie wüßten zwar, daß ich zur Zeit an Schlaflosigkeit litte, sie hätten gehört, daß ich jede Nacht ausginge – ich müßte doch was ordentliches machen, um die Schlaflosigkeit los zu werden – aber dennoch ... bis zum Magazin wäre ja ein langer Weg. Aber wenn ich so liebenswürdig wäre, Flora meine Begleitung anzubieten, müßten sie natürlich dafür sehr dankbar sein. »Was, Flora, willst Du Herrn Stefan Jörn nicht danken?«

Und Flora dankte mit ihrem bezaubernden Lächeln. Nichts konnte man ihr anmerken. »Wenn Sie es nur nicht bereuen werden«, fügte sie hinzu. Und so natürlich klang ihre Stimme. So natürlich, daß ich unwillkürlich denken mußte: Lügen scheint sie zu können!

Ueberhaupt muß ich gestehen, daß mich in der hierauf folgenden Zeit Floras Benehmen etwas verwunderte. Zum Beispiel ihr Auftreten mir gegenüber. Es hatte wirklich den Anschein, als sollte das höchst unschuldige Verhältnis, das zwischen uns herrschte, um jeden Preis verborgen bleiben. Wenn mal ihre Schwestern ausgegangen waren, um in der Stadt was zu besorgen, und wir in meinem Zimmer saßen und miteinander sprachen, – wie oft rief sie dann nicht in größter Eile: »Gott, jetzt kommen sie!« Und sie war schleunigst zur Tür hinaus. Und eines Tags, als sie mir ein schönes Wort gesagt hatte, und ich ausbrach: »Nicht wahr, Flora, Deine Schwestern und die ganze Welt mögen es wissen, daß wir uns lieben« ... da blickte sie unruhig auf: »Weshalb denn das? Wir haben es jetzt doch so schön.« Und als ich antwortete: »Nein, wir haben es nicht gut, wenn wir ein Geheimnis daraus machen müssen, nur miteinander sprechen zu können«, da sagte sie: »Ich will es aber so haben.« Und etwas Hartes, fast Zynisches, gab ihrem Gesicht einen strengen, herben Zug.

Wir hatten uns förmlich entzweit. Und bald trat noch etwas anderes, neues hinzu. Ich will der Reihe nach erzählen.

Eines Abends war Flora im Begriff, nach dem Magazin zu gehen. Sie sagte zu mir: »Begleite mich ein Stück«. Das tat ich auch. Aber unterwegs sagte sie: »Weißt Du, wozu ich heute abend Lust hätte? Ich hätte Lust, das Magazin zu schwänzen. Einen Brief hinzuschicken, daß ich krank sei. Und dann hätte ich Lust, mich mit Dir zu amüsieren – was? wäre das nicht himmlisch! den ganzen Abend, bis tief in die Nacht hinein«.

Zufällig hatte ich etwas Geld. Ich bekam Lust, sie zu begleiten. Ich ließ sie die Führung übernehmen. Und wir gingen von Cafés mit Zigeunerkapellen in die Varietés mit allerlei Tingeltangel. Ich amüsierte mich nicht. Ich war bei weitem nicht so begeistert wie Flora. Und offen gesagt: auch von Flora war ich an jenem Abend nicht so begeistert. Sie flammte vor Begierde nach all dem dummen und frivolen Lärm. Sie merkte zwar, daß das ganze Vergnügen mich nur wenig anging; es war aber, als hätte sie keine Zeit, sich weiter darum zu kümmern – oder es blieb ihr unwesentlich. Nur einmal warf sie wie im Scherz die Bemerkung hin: »Na, Du närrischer Kauz! Du amüsierst Dich wohl nicht«.

Oft kam es mir vor, als sei ich Flora nahe, oft war sie mir sehr fern. Oft fühlte ich es, als wären sie und ich auf ewig miteinander verbunden, daß ich sie ganz und gar kannte. Oft war sie mir ein vollständiges Rätsel. Besonders damals, als sie die Freundschaft mit Suzanne schloß.

Suzanne? ... wer war denn das?

Es war ein durch und durch verdorbenes Boulevardmädchen. Man nenne es komisch oder traurig: ich gab die unschuldige Veranlassung zu dieser Bekanntschaft.

Und das ging folgendermaßen zu:

Zuweilen besuchte ich ein kleines Nachtcafé, das dem Magazin gegenüberlag, um dort auf Flora zu warten, wenn sie über die Zeit hinaus arbeitete. Dieses Café, das von den losen Vögeln des Viertels besucht wurde, war gemütlich und vor allem billig. Für eine ganze Kleinigkeit konnte man dort ein Dutzend Austern oder eine Portion Krebse mit Butter und Brot bekommen. Und einen weißen, kräftigen Landwein – ein gutes Halbliter für wenige Groschen.

In früherer Nachtstunde war das Café gewiß voller Gäste; aber wenn ich kam, etwa um ein halb drei Uhr, waren nur wenige Menschen da. Unter diesen war mir ein ganz junges Mädchen mit feinem, blassen Gesicht und üppigem Haarwuchs aufgefallen. Sie war sehr lebhaft und graziös, plauderte und lachte mit weißen Zähnen, amüsierte sich herzlich über alles mögliche. Nicht frech, nicht klebrig wie die meisten dieser kleinen Odalisken, – es war ihr gleichgültig, ob sie einen Freund fand oder nicht, – und alle mochten sie gern. Einmal, als ich in der Nacht dasaß und wartete, betrat sie das Lokal. Sie sah sich um, sah niemand, den sie kannte, wollte wieder gehen, kam auf dem Wege nach der Türe an meinem Tisch vorbei, blieb einen Augenblick stehen und zeigte auf eine der Austern, die ich mir in jener Nacht geleistet hatte, und die eben serviert wurden: »Ach, mein Herr, wie wunderbar sie aussieht! Darf ich?« »Bitte sehr!« Und sie nahm die Schale mit zwei Fingern, hielt sie vor den Mund und ließ das Tier hinabgleiten. Sie aß sie auf eine reizende, anmutige Weise! Ein erfreuendes Bild von Zierlichkeit und wohligem Anstand. Dessen tiefer Eindruck selbst dadurch nicht gestört wurde, daß sie ihren Dank in eine frivole, schamverletzende Bemerkung kleidete. Denn auch die war in ihrem bezaubernden, leichten Wesen, so unbesonnen und natürlich hingeworfen, daß man sie frei wußte von einer Absicht, die solche sprachliche Freiheit sonst immer zur Gemeinheit macht.

In diesem Augenblick trat Flora zur Tür herein; sie setzte sich zu mir. Und die kleine Suzanne? Sah Flora an, aufmerksam und bewundernd. Und sagte zu mir gewandt: »Ist sie Ihre Freundin?« Ich antwortete nicht. Ich muß es zu meiner Schande gestehen, ich wurde verlegen. Aber Flora nickte und sagte, was ja die natürlichste Sache von der Welt war: »Ja, ich bin seine Freundin.« Da machte das kleine Boulevardmädchen einen kleinen Knicks, und halb im Ernst, halb scherzend sagte sie, sich an Flora wendend: »Ach, Fräulein, hätte ich gewußt, daß der Herr eine so schöne Freundin hat, hätte ich mir nie getraut, mich seinem Tische zu nähern. Adieu!« Und zu mir sagte sie: »Adieu, mein Herr, und vielen Dank, daß Sie trotzdem so freundlich zu mir waren.«

Dann ging sie.

»Wie war sie reizend«, meinte Flora.

Wir sahen sie später ab und zu wieder. Flora hatte eine Schwäche für sie. Es war ihr immer viel darum zu tun, bevor wir nach Hause gingen, ein Stündchen im Nachtcafé zuzubringen; sie wollte Suzanne treffen. Und wenn sie sie traf, dann forderte sie sie auf, an unserm Tisch mit Platz zu nehmen. Und Suzanne kam und war immer nett und heiter, und jedesmal, wenn sie eine obszöne Bemerkung machte, lachte Flora und kannte das alles schon ganz genau. Bald flüsterten sie auch miteinander und lachten. Das aber geschah alles so harmlos, daß ich nicht gut als der Verletzte auftreten konnte; das einzige, was mich im geheimen quälte, war ein Gefühl, das mir immer wieder sagte: »Wie passen die doch eigentlich gut zusammen! Wie passen sie zu einander!«

In der nächsten Zeit gingen mir viele Gedanken durch den Kopf. Ich legte mir selbst von dieser und jener Sache Rechenschaft ab.

Flora gehört mir, sagte ich zu mir selbst. Ich kann sie nicht entbehren. Wir haben so vieles miteinander gemeinsam, trotz allem. Aber soll sie mir nicht verloren gehen, muß ich jetzt Ernst machen. Ich muß sie zu mir hinüberleiten. Muß sagen: Willst Du mir folgen, willst Du das Leben mit mir teilen? Ich werde Dir den Weg leicht machen, für Dich arbeiten, für Dich leben. Willst Du mir dabei helfen?

Muß etwas Sicheres in Händen haben. Muß sagen können – sieh, das kann ich Dir bieten als Wehr gegen die Härte des Lebens.

Aber was konnte ich ihr bieten? Ein armer Kerl, der vom Korrekturlesen und von zufälligen Schreibereien lebte. Der sich kaum selbst ernähren konnte. Was sollte ich mit ihr? Sie glänzte und glühte ja wie ein Juwel, das nur darauf wartet, in Gold eingefaßt zu werden.

Nach einigem Ueberlegen schrieb ich an meinen Onkel. Ich bat ihn um ein Darlehen. Ich wollte die leichtere juristische Prüfung ablegen. Dazu würde ich ein Jahr gebrauchen. Diese Prüfung berechtigte nicht zu höheren Aemtern, auch nicht zur Ausübung der Rechtsanwaltstätigkeit am höchsten Gericht; aber man bekam durch sie gute und solide Kenntnisse im modernen zivilisierten Banditenwesen, der Juristerei.

Und sie gab einem die Möglichkeit, auf gesetzliche Weise zu plündern und zu stehlen. Das wollte ich von jetzt an tun. Ich wollte auf alle fernen Träume und Hirngespinste verzichten. Ich wollte arbeiten und um Floras willen rauben! Sie mit Reichtümern schmücken, die Menschenglück kosteten. Sie wie einen mystischen, begierigen Abgott putzen.

Die Antwort von meinem Onkel kam. Sie war lang und inhaltsreich. Zunächst: Lieber Neffe, Du bist mir seit langer Zeit fern gewesen, Du wirst wohl deshalb gar nicht wissen, daß mein lieber Sohn Konrad gestorben ist. (Lieber Gott, so ist er denn gestorben, der Vetter Konrad mit dem langen Giraffenhals, den kleinen Augen und der lispelnden Stimme). Na – und weiter stand zu lesen, daß Onkel durchaus kein Geld zu verborgen hätte, da er mir aber gern helfen möchte, böte er mir hierdurch einen Platz in seiner Fabrik an (mein Onkel fabrizierte Tonnen) und zwar mit der Aussicht darauf, später als Mitinhaber in das Geschäft eintreten zu dürfen und – wenn Gott wollte – schließlich der Chef des Geschäfts zu werden.

Das war doch wenigstens was Reelles. Onkel Bastian war immer ein merkwürdiger Mann gewesen, kleinlich und voller Eigenheiten, aber im Grunde genommen gut und weichherzig. Und jetzt wollte er mich zum Geschäftsmann machen, eventuell zum Sozius, und, wenn Gott wollte, zum Chef – nicht so übel.

Ich erzählte es Flora und ihren Schwestern. Alle drei schien die Sache sehr zu interessieren. Ja, das wäre doch was anderes als Korrekturlesen und unsicherer Zeitungsbetrieb. Da gebe es ja gar keine Wahl, »leider«, fügte Pauline hinzu, »denn wir verlieren ja unsern guten Mieter«.

Flora riet mir »unbedingt« zu, das vorteilhafte Anerbieten anzunehmen. Ich hätte es freilich lieber gesehen, wenn sie etwas gezögert hätte. Wenn sie rasch und unüberlegt ein »Bleib lieber!« ausgerufen hätte.

Aber das tat sie nicht – und war doch lieb und gut. Eines Tags fragte ich sie: »Wenn ich nun reise und einige Zeit fortbleibe, glaubst Du dann, daß Du auf mich warten kannst, Flora?« Und sie antwortete mit ihrem schönen Lächeln: »Ich werde auf Dich warten«. Das war alles, was sie sagte. Aber sie nickte, als sie es sagte, und durch ihr Lächeln sah ich ihren Ernst. Ach, sie war sicher meine treue Freundin.

Ich antwortete dann meinem Onkel, daß ich sein freundliches Anerbieten annähme.

Wie lebhaft erinnere ich mich der letzten Tage vor meiner Abreise. Es waren die schönsten meines Lebens. Flora und ich sprachen miteinander über so viele Sachen. Ich wollte sie mir nähern, und ich erzählte ihr, was ich niemandem erzählt hatte. Ich erzählte ihr von meinem seltsamen Vater, von meiner Kindheit und von meiner ersten Jugend. Und im Anfang streichelte mich Flora und sagte: »Mein armer Junge, da ist es kein Wunder, daß Du ein Sonderling geworden bist!« Aber sie verstand vielleicht, daß ich in ihren Augen nicht gern ein Sonderling sein wollte, und deshalb nickte sie später nur zu allem, was ich erzählte. Und zuletzt umgab sie sogar meine Eigenheiten mit einem Glorienschein. Denn sie sagte mehrmals: Ach, Du Lieber! Wir passen zusammen, wir beiden wunderlichen Menschen! Wir beiden wunderlichen Menschen, sagte sie. Nicht: Du wunderlicher Mann. Sondern: wir beiden wunderlichen Menschen. So daß ich mich mit ihr wie verwandt fühlte, mit ihr, der schönsten auf der Welt. Und dann sagte sie mit einem mystischen Lächeln, voller Süße: »Ach, weshalb reist Du! Jetzt kommt der Sommer! Er ist ja schon da. Nun ist es gerade ein Jahr her, seitdem wir uns zuerst trafen.«

Einen Augenblick war ich nahe daran auszurufen: »Ich reise nicht. Ich bleibe hier!« Ich tat es aber nicht. Eine geheime Stimme riet mir davon ab. Ich wagte es nicht! Nahm ich an, daß mir in ihrer Antwort eine ungeheure Täuschung begegnen würde? Oder wollte ich ihre leidenschaftlichen Worte, die ich eben vernommen hatte, in meinen Ohren verklingen lasten? Ich wollte ihnen glauben, diesen gesegneten Worten!

»Flora, lebe wohl!«

»Lebe wohl, Du, mein Junge!«

Schon während ich im Zuge saß, der mich nach der Stadt meines Onkels bringen sollte, fing ich an, Flora zu entbehren. Klagte mich an: »Bist du denn ganz von Sinnen? Weshalb reist du fort von dem, was du hattest! Weshalb reist du von dem einzigen Glück fort, das dir jemals begegnete? Wie dumm! wie verschwenderisch! Und das tust du, der du immer an Glück so arm warst!«

Endlich kam ich an, und ich fand das Haus meines Onkels. Er wohnte außerhalb der Stadt. Trotz meines Gemütsaufruhrs fühlte ich, daß mir diese Stadt gefiel. Dieser stille Weg unter großen, alten Weisheitsbäumen. Ja, diese Bäume waren so alt und so klug! Es sauste durch ihre Gipfel. Sie warfen Schatten über einen Weg, in dem lange Reihen von Jahren Tausende von Menschenfüßen gegangen waren. Weh und Wohl hatten bei denen gewechselt, die unter ihren Kronen gingen, Weh und Wohl, und Leben und Tod. Und die Bäume standen noch da, und ihr Laub summte nur, summte ...

Und ganz in der Nähe war ein uralter Eichenhain, der mir in hohem Grade gefiel. Dort wanderte ich oft, und quälten mich auch Unruhe und Sehnsucht, – die Stille dieses alten Hains tat mir wohl. Ab und zu wurden da frohe Volksfeste abgehalten. Und trotz des Tanzes und des Vergnügens – doch Stille! ein wunderlicher, lustiger Friede wie aus Sagen oder alten, halbvergessenen Balladen.

Onkel war genau der alte geblieben. Klein, vorsichtig ging er – als wäre er immer auf der Lauer. Nicht bissig, aber immer verschlagen, denkend, grübelnd.

Ich verstand ihn – bei meiner damaligen Gemütsstimmung – nicht. »Ach, du, der du da gehst«, dachte ich, »dem einzigen was der Mensch nötig hat, bist du nie begegnet, dem, was das Gemüt gefangen nimmt, so daß man ihm erliegt«.

Er trippelte, flüsterte und murmelte. Mit seinen trockenen, bläulichen Fingern zeigte er auf diese oder jene »Verbesserung«. Mit einem Male nickte er: »Ich hoffe, Du wirst Dich hier zurechtfinden ... Freut mich, daß Du gekommen bist«. Oder: »Nun, wie geht's sonst? Und mit der Schlaflosigkeit? Na, zum Teil schon losgeworden, na! ... soso ... na ja, hoffe, daß es weiterhin gut gehen mag. Gute kräftige Luft hier«.

Nun muß ich zu meinem eigenen Lobe sagen, daß ich die Sache gleich mit Energie anfaßte. Die Erzählung von Jacob, der sieben Jahre diente, um Rahel zu bekommen, die er liebte, hatte nie einen besonders lebhaften Eindruck auf mich gemacht; aber jetzt fand ich die Erzählung schön. Ja, an dem Tage, an dem mir die Geschichte zufällig in den Sinn kam, überraschte mich ihre Schönheit. Und ich dachte gern daran: Jetzt will ich mir hier viel Mühe geben. Und da ich von Natur einen guten Verstand habe, mache ich mich hier bald beliebt und unentbehrlich. Und dann hole ich eines schönen Tages Flora. Und das Leben wird keinen trivialen Tag mehr haben. Die langweilige Arbeit im Geschäft, die eintönige Lebensführung, ach, was schadet das! Meine Lebensflamme brannte doch! Sie bekam von einer unerschöpflichen Quelle ihre Nahrung. Von ihr. Ich versiegte vor langsamem Durst nach ihr. Schon jetzt. Ja, schon jetzt.

Ich schrieb und erhielt Briefe. Flora war in eine gute Schule gegangen; sie schrieb nicht übel. Aber ... der Wahrheit die Ehre, ihre Briefe brachten mich häufig in große Verwirrung. Es standen heiße Worte in den Briefen, viele heiße Worte, und es stand vieles da von Sehnsucht, und Herz und Schmerz und anderen ähnlichen Sachen. Aber ich war doch immer ein wenig unsicher, wenn ich die schönen Worte las; denn etwas fehlte. Ich fühlte es: etwas fehlte. Vielleicht hätte es nicht jeder gemerkt. Ein selbstbewußter Kerl würde diese Briefe mit hohem Genuß gelesen und sie natürlich und schön gefunden haben. Aber ich, der ich ängstlich dastand und horchte, der sie wahnsinnig und demütig liebte, ich vernahm den leisesten falschen Ton.

Sie schrieb nicht die Wahrheit. Ihre Worte waren nicht ehrlich. Sie starrte mich an, sie sprach heiß und flüsternd, aber nur ihre Rede war heiß. Ihr Gemüt, ihr Herz waren gleichgültig ... Wehe mir! Ich fühlte es!

Und dennoch ... dennoch verschlang ich die Briefe mit Begierde. Es war herrlich in dem kurzen Augenblick, in dem die schönen Worte hervorschimmerten. Aber, wie dürstete ich die ganze Zeit nach einem einzigen, innigen Wort, – wie würde ein schlichtes, von Herzen kommendes Wort mein Gemüt gelabt haben. Ich habe von einer Frucht gehört, die in der Wüste wächst. Sie ist schön und saftvoll, aber der Saft labt nicht. Wenn der durstige Reisende ihn einsaugt, ist es, als söge er die Wüste selbst mit ihrer Glut ein. Und er starrt die große, rote Beere an, bis er toll wird. Und schreit, will gelabt werden, saugt und saugt immerfort. Ihn dürstet immer mehr, er zittert immer heftiger, es flimmert vor seinen Augen, das Fieber durchglüht sein Blut.

Ja, was sie nicht alles schrieb und versicherte! Sie gab mir nur nicht den Bescheid, den ich hätte wünschen können. Sie hielt mir den Becher vor den Mund, aber wenn ich daraus trinken wollte, zog sie ihn von meinen Lippen weg. Sie hatte saftvolle, labende Aepfel, und wenn ich um einen einzigen bat, reichte sie mir die große strahlende Wüstenfrucht mit dem brennenden Saft, der mich schwindlig machte.

Ach sie, die ich in jener Nacht traf! sie die im einfachen, dunklen Kleide kam. Wer war sie? Sie, die mir bereitwillig zulächelte, mir, dem fremden Manne. Sie, die mich einige Nächte später küßte. Ja, und das war es gerade: daß sie den Kuß nahm. Wie seltsam. Und wie sie es verstand: wie erfahren sie ihre Lippen in die meinen fügte.

Wer war sie? Kannte ich sie ganz? War sie unschuldig, wie sie mir so oft flüsternd versichert hatte? Hatte sie jemand heiß umarmt? Ihre Augen waren oft so heiß in ihrem Glanz, und ihr junges Gesicht hatte zuweilen das Gepräge müder Erfahrenheit.

Ach, sie, die mir in jener Nacht aus der großen Stadt entgegenkam! In hundert Nächten war sie durch die Straßen der Stadt gegangen. Was wußte ich davon? Wußte ich, was sie früher getan hatte? ...

Ein Sprichwort hatte ich einmal gelesen, ein kluges Sprichwort ... ein ägyptisches, glaube ich ... Ich mußte daran denken: »Hüte dich«, so lautete es, »hüte dich vor dem Weib, das dir aus der großen Stadt entgegenkommt. Sieh sie nicht an und suche sie nicht auf. Sie ähnelt dem Wirbel des tiefen Wassers, dessen Mahlstrom niemand kennt«.

Eine kurzatmige Unruhe ergriff mich, verwirrte meine Sinne. Plötzlich kam mir der Gedanke: wo ist Flora jetzt, in diesem Augenblick? Oft lag ich wach: die Nächte wurden heller, immer heller, viele gaukelnde Gedanken jagten mir durch den Sinn: wo ist sie? Jetzt kommt sie vom Magazin. Sieh, dort kommt sie in der blauen Nacht gegangen, allein ... oder ... ob jemand an ihrer Seite geht? Ein Mann, stärker und übermütiger als ich? Lacht sie ihm zu? Begleitet er sie? Verabreden sie, daß sie sich am nächsten Tage treffen ... bei ihm? ... Geht sie hin, so schlicht, so ruhig, daß jede brave Bürgersfrau, die ihr begegnet denkt: sieh doch mal das bescheidene und fleißige Mädchen! Und ist sie bei ihm so heiß und seltsam, daß er flüstern wird: »Welche reizende Freundin habe ich doch gefunden!«

Mein Blut glühte! »Ach, wie ging sie durch die Straßen, jetzt, bei Nacht, sie war wie ein Gesicht! Und wie reichte ihr Mund sich dar, dort, wo sie ging, wie eine Frucht an einem Zweig außerhalb des Zaunes: jeder konnte sie sehen, jeder konnte sie pflücken. War er jung und geschmeidig, konnte er sie vielleicht erreichen ... Und ihre Augen würden sein Tun ansehen, gespannt, billigend. Und ihre süße, ein wenig langsame Stimme würde ihm antworten und ihn durch ihr Zögern dreister machen.

... Was war denn nur das mit ihren Briefen in der letzten Zeit? Sie kamen so unregelmäßig. Und oft waren sie nachlässig geschrieben ... nicht einmal sorgfältig wie die ersten, nicht einmal mit dem Willen zu täuschen. Ich schrieb und bat um Aufklärung, weshalb zwei meiner Briefe unbeantwortet geblieben seien. Ich bekam Antwort, und was für eine! eine hastige, atemlose Antwort. Sehr glühend. Aber recht besehen konnte man sie lesen: »Geliebter! verzeih mir, ich hatte Dich ganz vergessen. Ach, wie liebe ich Dich bis zum Tode, aber verzeihe mir mein Schweigen, ich dachte an ganz andere Sachen!«

Ja, in meiner erbitterten Stimmung las ich die Antwort so.

Ich hatte eben ein Gefühl davon, daß nicht alles so sei, wie es sein sollte. Und eines Tags – es mochten wohl drei Monate nach meinem Eintreffen vergangen sein – bat ich meinen Onkel um Urlaub: ich hätte etwas in der Hauptstadt zu ordnen. Er blickte auf: »Na, Dir gefällt es wohl hier nicht, Stefan?« »Aber gewiß«, antwortete ich erstaunt. »Na, irgend was quält Dich«, sagte er plötzlich. Ich antwortete nicht; er sagte die wenigen Worte still, wie betrübt. »Ja, ja«, nickte er, »reise Du nur ... Und wenn Du etwas zu ordnen hast ... willst Du vielleicht einen kleinen Vorschuß haben?« Ich wurde ganz gerührt über sein Wohlwollen. Und ich war klug genug, um zu antworten: »Ich habe ja während dieser Zeit eine Kleinigkeit gespart; aber wenn Du mir ein Monatsgehalt als Vorschuß geben würdest, wäre es famos«. Und er gab mir das Geld. Ich dankte. Er nahm das ganze leicht hin: »Ach, was! Du bist bei mir recht tüchtig gewesen ... sieh zu, daß Du Deine Sachen ordnest, und komm zurück, und sei guter Dinge«.

Dann begleitete er mich zur Bahn. »Laß es Dir gut gehen ... und schreibe mir, wenn Du wieder kommst.« Er klopfte mir auf die Schulter, und war ernst, als verstände er das Ganze. Hm, er war doch ein sonderbarer Mann, der Onkel Bastian.

Ich reiste lange, Stunde auf Stunde. Und endlich langte ich wieder in der Hauptstadt an. Jawohl, da war die Stadt! ich sah sie, ich roch sie. Wohlan, mag die Sache schnell von statten gehen! Das Rätsel muß gelöst werden.

Ich nahm eine Droschke nach dem Haus, wo Flora und ihre Schwestern wohnten. Sternstraße Nr. 142. Endlich war ich da. Ich bat den Kutscher zu warten und stürzte die Treppe hinauf.

7.

Sie wohnte nicht mehr da! Weder sie noch ihre Schwestern wohnten dort! Ein wildfremder Kerl erzählte mir das. Während der letzten zwei Monate hätten sie nicht mehr dort gewohnt.

»Wissen Sie, wo die Damen hingezogen sind?« fragte ich.

»Ich werde nachfragen«, antwortete der Mann und verschwand auf einen Augenblick. Kurz darauf kam er wieder. »Sie wohnen, wie ich höre, in der Hafenstraße Nr. 6, fünfter Stock.«

»Danke schön.«

Ich saß im Wagen, der mich nach der Hafenstraße brachte. Und mich fror. Ich spannte mich an. »Was bist du eigentlich für ein Kerl?« murmelte ich, »sitzt da und zitterst, weil dich ein Mädel hinters Licht führt. Sei doch ein Mann!« Jawohl, aber wie tat mir das weh! Und es war nur der Anfang. Das fühlte ich. Jetzt würde ich erst merkwürdige Sachen zu hören bekommen. Denn weshalb log sie sonst? Weshalb schrieb sie mir nicht, wie sich die Sache eigentlich verhielt. Hatte sie vielleicht Angst, daß ich zurückkehren und ein Unglück anrichten würde? Was in aller Welt war denn los, was so sorgfältig verborgen werden mußte?

Plötzlich fiel mir ein Wort ein, das sie einmal gesagt hatte: »Ich bin eigentlich furchtbar feig. Ich stehe ungern vor dem Stoß. Ich schleiche lieber vorher weg«.

Jawohl, das paßt gut ... sie schlich lieber weg.

Der Wagen hielt. Na, endlich ... Hafenstraße Nr. 6. Eine große, unheimliche Kaserne. Gott mag wissen, wie viele Menschen hier hausten ... Es war, als könnte man schon von draußen sehen, wie es von Menschen drinnen wimmelte. Ein barocker Gegensatz, der gleich in die Augen fiel, war das Haus gegenüber. Es war funkelnagelneu und sehr luxuriös ausgestattet. Gewiß ein Hotel mit Vergnügungsetablissement. Aus einer großen Gartenanlage klangen die Töne einer kräftigen ungarischen Kapelle ...

Ich bezahlte den Kutscher und ging in die Kaserne hinauf. Eine Menge Treppen, und endlich, ganz hoch oben das Schild, das ich von früher kannte ... »Nähetablissement erster Klasse« ... Ich klingelte. Harrte angespannt und mit trockenem Gaumen der Dinge, die da kommen würden. Jemand kam und öffnete die Tür. Es war Fräulein Pauline. Sie erwiderte meinen Gruß mit etwas schroffer Miene. »Guten Tag«, sagte sie ganz kurz. »Suchen Sie Flora? ... Sie ist nicht hier.« »Ist sie nicht hier? ... was ... wo ist sie denn?« Ich stand ganz stumm und hilflos. Und vergaß ganz, daß Pauline ja nichts von meinen Gefühlen für Flora wußte. Ich wiederholte meine Frage. Pauline antwortete ruhig: »Offen gesagt, meine Schwester und ich wissen nicht, wo Flora ist«. »Sie müssen sich genauer aussprechen«, ich griff vor mich hin, »ist etwas geschehen?« Sie schüttelte den Kopf und verschämt bat sie: »Kommen Sie lieber einen Augenblick herein«.

Ich kam ins Zimmer. Ich sah undeutlich eine halbdunkle Stube, ungefähr wie die, welche die beiden Schwestern zuletzt bewohnt hatten. Eine Menge Stoffe und Nähsachen lagen auf Tischen und Stühlen. Dort am Fenster saß Fräulein Martha und nähte still und schweigsam wie immer. Ich verbeugte mich vor ihr, sie blickte auf und nickte, dann fuhr sie fort zu nähen ...

»Ja, ja«, fing Fräulein Pauline wieder und in demselben kurzen Tone an, als wollte sie die Sache rasch erledigt haben, »wir haben uns entschlossen, nicht mehr zusammen zu wohnen. Wir waren einander zu sehr im Wege. Das ist alles. Etwas anderes weiß ich nicht. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als ich jetzt gesagt habe ... Und Sie müssen uns entschuldigen. Wir haben gerade heute so furchtbar viel zu tun. Es ist eben so gut, wenn wir das Gespräch abbrechen. Verstehen Sie?«

Was sollte ich antworten? Ich kannte Fräulein Pauline ein wenig. Sie war die störrischste von der Welt, wenn ihr das in ihren Kram paßte. »Nun ja«, murmelte ich ... »wenn Sie es nicht wollen. Ich kann Sie ja nicht zwingen. Aber eigentümlich finde ich Ihr Auftreten. Vielleicht finden ja auch Sie mein Interesse sonderbar. Aber offen gesagt: Ich kannte Flora besser, als Sie damals wußten. Ich kann wohl sagen, sie war der einzige Mensch, mit dem ich vertraulich sprach. Kurz gesagt ...«

»Nun ja, ... ich verstehe es. Und ich sehe, daß Sie gutwillig und ehrlich sind. Das dient Ihnen zur Entschuldigung. Und wenn ich Sie dastehen sehe, begreife ich, daß Flora schlechter ist, als ich glaubte. Aber es ist mir unangenehm, davon zu sprechen. Und ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß ich nicht die geringste Ahnung davon habe, wo sich Flora aufhält. Glauben Sie mir nun? Schön. Das ist doch wenigstens gut. Adieu, mein Herr!«

Ich ging die vielen Treppen hinunter auf die Straße hinaus. Ich ging durch eine Menge Straßen. Wo ich zuletzt hinging, weiß ich nicht. Meine Handtasche wurde mir schwer. Ich sah plötzlich ein Haus, worauf das Wort »Hotel« mit großen Buchstaben stand. Ich ging hinein, verlangte ein Zimmer und bekam eins. Ich ließ meine Handtasche da und ging wieder hinaus, darüber grübelnd, was ich mir vornehmen sollte ...

Abends bekam ich eine Idee:

Ich wollte Suzanne aufsuchen ...

Jawohl! Suzanne kann mir bestimmt Bescheid sagen.

Ich nahm einen Omnibus, der nach dem Stadtteil fuhr, wo das Nachtcafé lag. Fragte den Kutscher und bekam günstige Antwort: der Omnibus führe beinahe am Café vorbei.

Eine lange, ewige Fahrt. Endlich war ich am Ziel. Ich betrat das Café. Ich fand meinen alten Platz, der glücklicherweise leer war. Ich setzte mich, fühlte einen Augenblick ein fernes Sausen wie von alten Erinnerungen, von damals, als ich Flora hier erwartete ... Aber ich gab mich keiner Sentimentalität hin ... ich sah mich aufmerksam im Lokal um. Natürlich, ich hatte Pech, wie immer, »wie immer«, murmelte ich bitter. Keine Suzanne! Sonst schlich sie immer hier herum, aber jetzt, heute, natürlich nicht.

Ein Kellner kam. Ich verlangte kalten Weißwein. Früher fror mich, jetzt glühte ich. »Und sagen Sie mir«, fügte ich hinzu, »kennen Sie Fräulein Suzanne? So, ... sie kommt? ... Aber erst später? Gut ... Wenn Sie sie sehen, dann sagen Sie ihr, bitte, daß sie ein Bekannter hier erwartet«.

Ich bekam meinen Wein und schüttete ihn hinunter. Er schmeckte, wie er schmeckte! »Kellner ... noch einen Weißwein! Und vergessen Sie nicht, bitte, auf Fräulein Suzanne aufzupassen ... machen Sie Ihre Sache gut, dann sprechen wir uns noch.«

Ich trank auch dieses Glas aus. Ich trank sonst nie Wein, aber ich war durstig wie ein Silen. Die Poren meines Körpers waren von dem Fieber, das in mich gefahren war, wie ausgetrocknet ...

Das Café war ziemlich voller Leute. Allerlei Menschen bunt zusammen gewürfelt. Einige junge Weiber mit großen Augen und japanischer Haartracht hatten einen Platz mitten im Lokal frei gemacht und tanzten. Natürlich die letzte Frivolität auf dem Gebiete des Tanzens. Ich schenkte ihnen nur wenig Aufmerksamkeit. Ich wartete auf Suzanne. Und endlich kam sie! Und natürlich, – – sprang auch sie in den Kreis der tanzenden Mädchen hinein. Ich winkte. Sie sah mich nicht. Wenigstens gut, daß sie da war. Ich saß und hielt treue Wache.

Der Kellner paßte aber auf. Er ging mitten im Tanze zu ihr hin und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie hörte ihm zu, sah nach der Richtung hin, wo er hinzeigte, und dann kam sie lächelnd und tanzend zu mir.

»Guten Abend! sind Sie zurückgekommen? Willkommen, willkommen!«

»Guten Abend, Fräulein Suzanne! Sie wissen, daß ich verreist war?«

»Aber freilich. Das hat mir Ihre Freundin schon erzählt.«

»Ach so. Ja, ich bin verreist gewesen, und ich bin heute zurückgekehrt. Und nun müssen Sie mir erzählen, wo Flora ist. Ich habe nämlich keine Ahnung davon.«

Sie sah mich aufmerksam an.

»Haben Sie keine Ahnung, wo sie ist? Hat sie Ihnen nicht geschrieben?«

»Freilich, sie hat geschrieben, und ich habe geschrieben ... Aber ... Sie wissen ja ... wenn man voneinander wegkommt, wird das Ganze unsicher.«

Sie sah mich fortwährend an. Ich sah, daß sie riet und Wahrscheinlichkeitsberechnungen anstellte.

»Aber ...« sagte sie zögernd. »Kennt Ihr Euch denn noch? Ist es nicht vorbei? ... Zwischen Ihnen und Flora?«

»Vorbei?« Ich versuchte ruhig zu sein, aber ich glaube, meine Stimme zitterte. »Wer hat denn das gesagt?«

Und als sie nicht antwortete, fuhr ich fort:

»Hat es Flora gesagt, ... daß es vorbei sei?«

Sie zuckte die Achseln. Antwortete darauf, leicht hingeworfen:

»Sie sagte, daß ... Sie gereist seien ... und daß ... ja, daß es unsicher sei, wann Sie zurückkommen würden.«

Ich saß fortwährend und fühlte, wie der Boden unter mir wankte. Aber ich zwang mich, meine Ruhe zu bewahren. Und ich glaube, ich spielte meine Rolle ganz gut.

»So«, antwortete ich, »sagte Flora das? Vielleicht ist es ja auch ganz richtig. Denn offen gesagt, ich glaubte selbst nicht, daß ich so schnell zurückkommen würde ... Wollen Sie im übrigen etwas trinken? Likör? Anisette? ... gut, Kellner! Anisette und Zigaretten! ... Ich hatte in einer Fabrik in einer weltfernen Gegend eine Anstellung bekommen, aber mit der Aussicht, einmal der Eigentümer der Fabrik zu werden ... Sie verstehen also: das ganze war ja in gewisser Beziehung für einen armen Teufel verlockend, was? Alles auf dem Trockenen zu haben. Vermögen auf den alten Tagen, was?«

Sie nickte. Ich fuhr in demselben besonnenen, klugen Ton fort:

»Na, ich wohnte also da draußen ... Die Fabrik liegt dicht bei einer winzig kleinen Stadt ... und im Anfang gefiel mir in meinem neuen Leben manches. Aber auf die Dauer ... es ging nicht, ich konnte es nicht mehr aushalten.«

»Sie langweilten sich?«

»Ob ich mich langweilte? Ich starb geradezu eines stillen Todes. Und dachte, sieh lieber zu, wie du von der Sache abkommst! Viel lieber in der Weltstadt verhungern, als hier im Ueberfluß schwelgen. Ihre Luft und ihre Unruhe fühlen dürfen ... Na, ich kam heute wieder hier an. Ich suchte natürlich Flora auf. Aber ich fand sie nicht. Ich ging dann hierher, um Sie wenigstens zu begrüßen ... und Sie vielleicht auszufragen.«

Ich sprach die ganze Zeit ruhig und kühl.

Suzanne schien sich zu besinnen, dann sagte sie:

»Ich glaubte, sie seien sehr verliebt in Ihre Freundin.«

»Sehr verliebt?« ich lächelte. »Wie kommen Sie zu der Bemerkung, Suzanne? Selbstredend! Sie war doch sehr schön. Ich bin verliebt in sie.«

Sie lauschte. Stellte sie wieder ihre Wahrscheinlichkeitsberechnungen an? Vielleicht überlegte sie, daß die meisten Frauen so gern ihren Freundinnen erzählen, die Männer seien von ihnen eingenommen, am häufigsten noch etwas mehr, als es wirklich der Fall ist.

Sie antwortete aber nur:

»Ich bin davon überzeugt, daß Flora glaubt, Sie seien sterblich in sie verliebt.«

»Verzeihen Sie, Fräulein Suzanne, sagte ich, aber es ist zu langweilig, so etwas zu diskutieren. Sie pflegen doch sonst nicht, die Sache so in die Länge zu ziehen. Zum Teufel! können Sie mir kurz sagen, wo ich Flora finde? Können Sie es nicht, dann nichts mehr davon.«

»Ja, ... das kann ich Ihnen sagen«, antwortete Suzanne ruhig. »Das heißt, heute abend können Sie sie nicht treffen. Das Varieté, in dem sie auftritt, liegt am andern Ende der Stadt, und die Vorstellung ist aus. Aber morgen können Sie sie treffen. Sie tritt auf im Varieté »Kristallpalast«, Seestraße 32. Als Sphinx Sie gefällt kolossal.«

Ich antwortete nicht gleich. Ich nickte nur mit dem Kopf. »So«, murmelte ich ... »sie tritt also im Varieté auf. Das hätte sie mir übrigens schreiben können«.

»Ih was! Weshalb hätte sie das schreiben sollen? ... Sie glaubte annehmen zu dürfen, es würde Ihnen nicht gefallen ... Und wenn Sie doch nicht zurückkämen. Weshalb hätte sie es dann erzählen sollen?«

»Weshalb nicht?«

Suzanne sah mich an, dann nahm sie rasch meine Hand.

»Gott, wie sind Sie blaß. Hm, Sie stellten sich gewiß vorhin nur an, als Sie so ruhig dasaßen und sprachen. Sie lieben sie mehr, als Sie selbst einräumen wollen.«

Ich sah sie an, unsere Blicke begegneten sich. Ich fühlte, es war dumm, daß ich aufgeblickt hatte. Denn jetzt brach es in mir zusammen. Ich war ratlos, verzweifelt.

Suzanne streichelte meine Hand.

»Armer Freund, glauben Sie nicht, daß sie Sie noch liebt?«

»Ach«, ich versuchte tapfer zu sein, »sie mag tun, wie es ihr paßt. Ich ärgere mich nur ... weil sie mir etwas vorgelogen hat.«

»Aber ... glauben Sie nicht, daß sie gerade eine gute Absicht damit gehabt haben könnte, es Ihnen nicht zu erzählen? Glauben Sie nicht, daß sie merkte, daß sie Sie nicht so wieder lieben konnte, wie Sie verdienten, geliebt zu werden ... Und ... glauben Sie nicht, daß sie den Plan hatte, aus Ihrem Gesichtskreis nach und nach zu verschwinden? Sie nach und nach zu »entwöhnen« ... die Zeit vergehen zu lassen ... das Ganze im Sande verlaufen zu lassen. Ihnen gerade nicht die Wahrheit zu erzählen, nur Sie nicht aufzuregen ...«

»So, so, Sie wollte mich entwöhnen, meinen Sie ... war gar nicht nötig ... Und weshalb gab sie nie etwas Derartiges zu erkennen, während wir zusammen waren?«

»Ja weshalb? Es ist oft schwer, zu wissen, wie es am besten ist ... Und vielleicht hatte sie damals auch gar nicht die Absicht, so bald auszureißen. Das tat sie erst, als ihre Schwestern so sonderbar waren ... als sie sie geradezu ausputzten ... wie zu einem Feste ...«

Ich fragte erstaunt:

»Was? ihre Schwestern ... putzten sie aus? Was in aller Welt muß ich da hören?«

Suzanne schüttelte den Kopf.

»Kümmern Sie sich nicht darum ... Ich weiß nicht, ob es ganz so zuging. Ich weiß nur, daß sie zwei Schwestern hat, die sehr streng und sehr anständig sind, die aber doch zuweilen das Leben unmöglich finden. Mehr weiß ich nicht, offen gestanden: Flora und ich stehen uns nicht mehr so nahe. Na, dabei ist ja auch nichts Merkwürdiges. Sie ist plötzlich eine berühmte Varietékünstlerin geworden, und ich bin ein gewöhnliches Freudenmädchen. Ich habe nur ein paar Mal mit ihr gesprochen, kurz nachdem sie zum ersten Mal aufgetreten war. Damals war sie ja beinahe wie früher. Beinahe, verstehen Sie. Später habe ich sie nur flüchtig gegrüßt. Sie ist immer süß und lächelt und nickt mir zu, wenn wir uns sehen. Aber sie ist ja doch eine andere, wie damals, als ich sie hier mit Ihnen sah. Sie gefällt sehr, das können Sie mir glauben. Wird viel in den Zeitungen gerühmt, ist sehr gefeiert. Es ist also nur in der Ordnung, daß wir nicht gerade Freundinnen sind. Und Suzanne, sehen Sie, die ist auch nicht so ohne!, sie ist auch in ihrer Art kolossal stolz! Es könnte ihr nie einfallen, Annäherungsversuche zu machen.«

Ich nickte nur: »Nein, nein«, antwortete ich.

Wir sprachen noch eine Weile zusammen. Endlich erhob ich mich.

»Gute Nacht, Fräulein Suzanne! Und vielen Dank, daß ich mit Ihnen sprechen durfte. Vielleicht bleiben Sie sitzen? Ich gehe nach Hause. Darf ich Ihnen nicht noch ein Gläschen Anisette anbieten?«

Sie nickte beifällig. Ich rief den Kellner und zahlte. Und ich drückte ihre Hand zum Abschied und ging ins Hotel.

8.

»Ja, nun fangen wieder die eintönigen, öden Tage an. Von der Sommernacht an, in der ich Flora traf, bekam mein Leben Farbe. Eine hektische zuweilen ... und schön war auch das ... Jetzt ist alles wie früher.«

So fühlte ich am nächsten Tage, als ich in der großen Stadt umherging. Und doch ... während ich jetzt wie versteinert war, während sich etwas wie eine harte Schale um Herz und Gemüt legte, siedete und brodelte es in mir. Und seltsame Flammen loderten rings herum in meiner Seele empor. Manchmal rote Flammen der Freude: »Irgendwo in dieser Stadt, mitten im Hausgewimmel saß sie. Wahrhaftig, sie lebte, sie atmete, sie errötete, sie sprach. Sie, mein Besessensein, meine heilige Seuche.« Aber im nächsten Augenblick war die blaue Flamme des Hasses da. Und es war, als verstummten alle Gedanken in Gekränktsein und Schmerz.

In einem dieser Augenblicke des Grolls dachte ich an ihre Schwestern. Ja, was war denn das mit ihnen? Welche unglaublichen Sachen hatte ich über sie gehört! Suzanne schien die Geschichte nicht genau zu kennen, oder sie wollte nicht mit der Sprache heraus. War überhaupt etwas dran wahr? Wenn ich nun käme und eine Erklärung verlangte, – was würde Fräulein Pauline dann sagen? Würde sie ebenso hochnäsig wie letzthin sein? O nein, vielleicht nicht. Vielleicht würde sie sich Beschränkung auferlegen.

Ich wurde plötzlich eifrig. Ich wollte mit Pauline ein wenig sprechen.

Ich nahm einen Wagen und bat den Kutscher schnell zu fahren. Ach, die gute Dame, die Enkelin des Stadtrats, dieses Gemisch von altmodischer Hochnäsigkeit und Korrektheit und moderner Neugierde und Lüsternheit ... ihr möchte ich schon den Kopf ordentlich waschen ...

Der Wagen hielt. Ich eilte die Treppen hinauf. Jetzt war ich erzürnt und wollte sie meistern.

Ich fand die Vorsaaltür offen, ging in den Korridor hinein und klopfte an die Wohnstubentür.

»Herein!« rief man.

Ich öffnete die Tür und trat ein. Pauline und Martha saßen da. Sie blickten beide auf. Martha ohne zu staunen, Pauline dagegen mit strammer Miene.

»Ich weiß alles«, sagte ich: »Ich weiß, wo Flora ist. Ich weiß alles.«

Pauline antwortete rasch:

»Ach so, Sie wissen alles? Das ist ja gut. Dann brauchen Sie uns ja nicht zu fragen.«

»Sie fragen? ... Aber das tat ich ja. Es nutzte nur nichts.«

Ein Augenblick der Stille folgte. Martha saß und nähte wie vorhin. Nur war sie blasser als sonst, und ein eigentümliches Zittern erfaßte sie. Ich sah es ihren Händen an; wenn die schmalen Finger den Stoff glätteten, zitterten sie.

Ein Augenblick der Stille folgte, dann fuhr Pauline auf:

»Was wollen Sie denn eigentlich?« sagte sie scharf. »Was haben Sie hier zu suchen? ... Und Sie, wie kommen Sie dazu, Flora zur Rechenschaft zu ziehen? Was geht die Sie an?«

»Ach, es könnte wohl sein, daß ich ein wenig ...«

»Was haben Sie ein wenig? ... Ist nicht einzig und allein der Umstand, daß Sie in sie vergafft sind, daran schuld, daß Sie so aufdringlich werden? Denn das sind Sie. Sie sind kolossal vergafft in sie. Das ist aber doch bei Gott Ihre eigene Sache. Und Flora mag noch so verrückt sein ... Ich kenne derlei Sachen nicht ... Will derlei Sachen nicht kennen ... Aber etwas weiß ich, sie hat Ihnen niemals irgend ein Recht über sich gegeben. Und ... na ja, offen gesagt: sie ist kaum besonders vergafft in Sie.«

Ich empfand den Hohn ihrer Worte. Ich krümmte mich darunter. Ich stammelte hervor:

»Was wissen Sie davon? Ich weiß, daß ich ... gerade nicht ... Flora ... so ganz gleichgültig bin.«

Pauline zog die Augenbrauen hoch und lächelte:

»Oho, mein Herr ... wie Sie sogar stammeln mußten, bevor Sie die ärmlichen Worte herauskriegten: daß Sie ihr nicht »ganz gleichgültig« seien. Sie hätten wohl Lust gehabt, ein anderes Wort zu gebrauchen ... Sie hätten wohl gewünscht, das einzige Wort, das Wort, das alles aus dem Felde schlägt, gebrauchen zu können: daß sie Sie liebe. Aber Sie fühlten, daß dies Wort hier nicht gebraucht werden kann. Na, mag sein, daß Sie ihr nicht ganz gleichgültig waren. Sie fand vielleicht, daß Sie sonderbar und gut und merkwürdig waren, wie Sie ihr nachliefen, sie nachts anstarrten und nicht schlafen konnten. Ob es Flora erzählt hat? Ja freilich. Sie hat auch über Ihr sonderbares Elternhaus erzählt und anderes mehr. Ja ... und jetzt sollen Sie auch wissen, daß ich einige Ihrer Briefe an Flora gelesen habe. Sie zeigte mir sie nicht, sie waren eines Morgens aus ihrer Kleidertasche herausgefallen, während sie schlief. Und da Flora damals noch unsere »jüngere Schwester«, unser »Kind« war, erlaubte ich mir, sie zu lesen. Und ich fand sie im höchsten Grade unpassend. Das sagte ich ihr auch: was ist das, Flora? Wie schreibt er denn eigentlich? Und Sie dürfen es schon wissen, was sie antwortete: »ja, freilich, er ist etwas sehr hysterisch!« Und sie lachte. Sie hatte am Ende nichts gegen Ihre Hysterie. Junge Mädchen wollen nun mal gern schwülstige Worte hören, wie im Theater. Aber nun zur Sache! Wenn ich Ihnen raten dürfte, würde ich sagen: »Vergessen Sie sie, mein Herr! Sie und Flora haben doch nichts miteinander gemeinsam. Jetzt spreche ich zu Ihnen als Ihr wahrer Freund. Vergessen Sie sie, mein Herr! Es würde für Sie das Beste sein.«

Sie fuhr fort.

»Denn was wollen Sie ihr bieten? Hier in der Stadt langte Ihr Verdienst gerade für Sie selbst. Und es würde Ihnen doch wohl nicht einfallen können, sie nach der Idylle da draußen bei der Tonnenfabrik, am bezaubernd einsamen Ort, zu entführen? Glauben Sie mir, Flora würde es nie aushalten, dort zu leben. Sie ist vor allem das Großstadtkind. Sie würde sterben, wenn sie dort bleiben müßte. Sie würde Ihnen doch ausreißen, ausreißen müssen« ...

Die lange Rede Paulines ... der nachsichtige Ton, den sie bei allem, was mich und meine Angelegenheiten betraf, anschlug, und dann die Wahrheit, die, wie ich in Wut und Schmerz fühlte, ihre Worte enthielten: alles das reizte mich über meine Kraft. Ich nahm Revanche, ich ließ sie verstehen, daß auch mir die Verhältnisse Floras und ihrer Schwestern nicht ganz fremd seien. Und wenn ich sie, ihre beiden älteren Schwestern (ich sprach bündig und ernst), bisher für ehrenhafte Menschen gehalten hätte, so sei das geschehen, weil ich geglaubt hätte, daß sie lieber alles opfern würden, als die gute Lehre vom Ernst des Lebens aufzugeben. Ich hätte sie für die »Töchter ihrer Mutter« gehalten, die ihr Andenken in Ehren hielten. Die nie klein beigäben! Und jetzt ... jetzt hätten sie die Schwester ihren eigenen Weg gehen lassen. Und wenn sie es im übrigen wissen wollten: ich wüßte etwas ganz Unglaubliches von ihnen in dieser Angelegenheit. »Insbesondere was Sie, Fräulein Pauline, betrifft«, so schloß ich. »Ihre Schwester hatte wohl nichts mit diesem ... diesem ganz unglaublichen zu tun, was ich gehört habe, ... daß Sie Flora ausputzten ... nicht wahr? Verstehen Sie, was ich meine?«

Ich verstand selbst nicht, was ich meinte. Ich wollte sie auf die Probe stellen. Und ich beobachtete sie beide.

Ich sah Martha gespannt zuhören, ihre fleißigen Hände nähten nicht mehr. Sie blickte langsam auf, und ihr Gesicht wurde blasser und steifer, bis es sich plötzlich verzerrte, und einige Tränen aus ihren Augenwinkeln hervortraten. Aber Pauline erhob sich, und sie vergaß sogar ihren Spott. Sie konnte kaum Worte finden, sie flüsterte, zischte; ab und zu stockte sie, konnte nicht mehr, fing wieder an, heißer, toller als vorhin:

»Was sprechen Sie da? ... was wagen Sie? ... wissen Sie, was viele, viele Jahre heißen wollen? ... Daß die Jugend in anstrengender Arbeit und Leere vergeht ... dazustehen und zu sehen, daß jetzt nur ... nur Alter und Schwäche bevorstehen ... Und man bekam nichts von alledem, was das Leben ... zum Leben macht! Leben, mein Herr! – wissen Sie denn überhaupt, was das heißt ... Sehen Sie Martha und mich an. Sie ist alt, ich ebenfalls. Uns bleibt nur noch übrig, weiter zu arbeiten und weiter zu mühen ... um einmal sterben zu können ... wir haben nichts als alle diese Stoffe ... und Staub und Dampf von heißem Eisen ... fühlen Sie diese Luft. Sie höhlt aus. Man bekommt übelriechenden Atem davon ... Und sehen Sie da hinüber!« Sie ging rasch ans Fenster und zeigte hinaus gegen das Vergnügungsetablissement, »sehen Sie die drüben, die vom Raub der Reichen, vom Ueberschuß der Fabrikanten und von unserer mühsamen Arbeit flott leben können – sehen Sie sich die da im Wintergarten an, wo sie bei voller Musik und unter hundert Lampen gehen. Schwester Martha und ich hören, wie sie sich bei Tag und Nacht amüsieren. Sehen Sie sich doch alle die Weiber dort an. Sie handeln gegen alle guten Regeln. Aber sie sind froher als wir, und sie ... sie kommen vielleicht dem Wesen der Frau ... der Bestimmung der Frau ... heißt es nicht so ... näher, als wir mit aller unserer harten Arbeit ... Aber wir haben unsere Ehre, was? Oho, jawohl! Aber, was meinen Sie, wer bekommt wohl zuerst Zutritt zu den Chefs der Geschäfte, die Weiber da drüben oder wir? Wenn die junge, seidenrauschende Kokotte kommt, heißt es: »Bitte sehr, bitte, treten Sie näher, Fräulein!« und wenn die ein wenig ältere, erfahrene kommt: »Bitte, gnädige Frau!« Aber zu uns sagt man: »Na, so, sind Sie es? Gut, legen Sie die Sachen dahin.« Oder: »Ja, Sie müssen warten ... oder kommen Sie lieber in ein paar Stunden wieder.« Weshalb sich dann zieren? Sind wir Sklavinnen? Ja! wir sind es, sage ich Ihnen.

Und jetzt sollen sie es hören. Das, was kam.«

Sie ballte ihre Faust. Sie bekam einen steifen Ausdruck. Ihre Wangen glühten:

»Flora fing an zu kränkeln ... es sind ein paar Monate her ... Der Arzt fand nichts auszustellen ... als die Nachtarbeit, die vielleicht nicht für sie paßte ... Na, aber was sollte sie tun? Wäre sie nun in sie verliebt gewesen, dann hätten wir vielleicht »glückliche Reise nach der Idylle!« gesagt; aber Sie verstehen, das konnten wir nicht sagen. Wenn wir sie recht verstanden haben, hat sie es nicht einmal für der Mühe wert gehalten, Ihnen mitzuteilen, daß sie umgezogen sei. Ich glaube, sie wollte aus ihrem Gesichtskreis verschwinden ... Ja, genug davon. Sie wurde blaß, sagte nichts, und eines Tags lag sie zu Bett. Und dann ... ja, dann stürmten viele unerträgliche Gedanken auf mich ein, alle Wunden meines Herzens bluteten ... jawohl, so fühlt man es. Noch boten wir ja alles auf, Martha und ich, damit sie sich erholen konnte. Und als es wieder besser ging, blieb sie zu Hause. Sie ging nicht mehr ins Magazin. Sie half uns. Alle drei saßen wir zusammen und nähten.

Ich dachte an gar vieles, wenn ich sie so dasitzen sah. Sie ist schön, dachte ich. Soll sie da sitzen wie wir ... und ausgehöhlt werden? ...

Und jeden Abend hörten wir, wie die Musik da drüben zu spielen anfing. Gingen wir ans Fenster, sahen wir die Palmen und die Blumen und die Strahlen einer großen Fontäne und festlich gekleidete Menschen ... und schöne, leichtfertige Weiber. Gewiß, es konnte ihnen gut gehen, aber es konnte ihnen auch schlecht gehen, es war ein Hazardspiel. Aber Sie hatten doch Chancen. Und sie kosteten gewiß viele Genüsse des Lebens ... Hier drinnen bei uns dagegen? Ja, hier blieb man sitzen, wo man saß: Arbeit und Arbeit und immer wieder Arbeit und zuletzt der Tod.

Außerdem aber hatte ich entdeckt, daß Flora nicht nur schön war, ... sondern daß sie geradezu Anlagen hatte, betörend zu sein. Wie wir das gemerkt haben? – wenn wir ihr neue, schöne Kleider anprobierten. Wie sie dann in Feuer geriet, wie sie sich wohlig reckte und dehnte, wie sie sich hielt, wenn sie schön angezogen war! Wie lächelte sie in inniger Freude, daß sie dastehen und leuchten durfte! Ja, und da sprachen Martha und ich eines Abends mit einander ... Und kauften ein feines Stück Stoff ... weiß! ganz weiß! ... und nähten ihr ein Kleid ... Das Maß nahmen wir nach einem ihrer alten Kleider, die ganze Zeit liefen uns die Tränen herunter. »Komm her, Flora«, sagten wir eines Tags, »wir möchten Dir mal dieses Kleid anprobieren. Es wird Dir gut passen.« Sie glaubte, das Kleid sei wie immer für eine andere bestimmt. »Wie wunderbar Dir das Kleid sitzt«, sagte ich. »Und hier diese Blumen, die sollen noch so und so angebracht werden.« Und flochten ihr Rosen ins Haar und vor die Brust. »Gott, wie werde ich schön«, sagt sie und lacht ein wenig. Sie glaubt noch, das Ganze sei Scherz. Aber dann sehe ich sie an und sage ernst: »Flora, das Kleid ist Dein; wenn Du das Kleid anhast, bekommst Du Zutritt zum Wintergarten drüben. Das Kleid ist Deiner Schwestern Gabe für Dich«.

Sie sieht zweifelnd aus, schüttelt den Kopf ... dann wird sie blutrot. Und geht still hin und setzt sich. Sie versteht das Ganze, sie weint. Dann sage ich: »Ja, offen gestanden, wir meinen: weshalb sollst Du hier das Sklavenleben führen – was nutzt das?« Und sie? Sie erhebt sich, etwas Wildes blitzt in ihren Augen: »Ja, weshalb in aller Welt sollte ich das!« schreit sie fast. »Die Frage habe ich an mich selbst gerichtet. Und jetzt gebt Ihr mir recht? Ihr, die Ihr so streng seid. Ihr wart es ja, an die ich am meisten dachte, als ich mich so ruhig verhielt! Aber lange hätte es doch nicht gedauert ... Nicht lange, aber jetzt wird es mir besser gehen, weil es mit Eurer Billigung geschieht! Jetzt wird es mir glänzend gehen. Ich habe Pläne ... Ich kann tanzen ... Ihr sollt sehen!«

Sie war berauscht, sie war wild. Wie ein wildes Füllen: »Ihr bandet mich so fest«, sagte sie, »nicht weil Ihr streng wart. Das wart Ihr nie. Aber der Gedanke an Euch band mich. Jedesmal, wenn ich einen kleinen Fehltritt machte, – es gefiel mir nicht. Es gefiel mir nicht, zu Euch heimzukehren. Und wenn ich ausgebrochen wäre, – ich wäre, offen gestanden, ganz vor die Hunde gegangen, denn der Gedanke daran, daß Ihr böse wäret und um mich trauertet, hätte mich vernichtet. Jetzt will ich etwas werden, was ich früher nicht zu nennen wagte, ... ich will zum Varieté gehen ... Ich werde berühmt werden, Ihr werdet es sehen. Und ich werde wiederkommen. Und das Kleid werde ich hundertfach bezahlen.«

Sie überraschte uns. Wir hatten es nicht erwartet, sie so zu sehen. Sie war nicht mehr das kleine blasse Mädchen. Unsre kleine Schwester. Und deshalb ... begreifen Sie das vielleicht? ... deshalb wurden wir steifer und kälter. Sie gefiel uns nicht.

Und drei Tage darauf kam sie wieder. Sie stand hier im Zimmer und wollte uns unser Geld zurückzahlen.

Aber nein, kein Geld von ihr. Sie war schon die große, glänzende Kamelia. Nein, nichts von dem Geld über unsere Schwelle! Unser Leben ist ein Schattendasein; aber unsere Ehre geben wir nicht von uns. Verstehen Sie, mein Herr? Wir wollen unsere Ehrenhaftigkeit behalten, die unser einziger Schatz hier im Leben ist. Das sagten wir ihr, aber diese Kälte ging ihr nicht sonderlich zu Herzen. Ob wir ein böses Gewissen haben? Nein! Wir wissen uns nichts vorzuwerfen. Wir setzten sie bloß in ihr rechtes Element. Wissen nicht, wo sie ist. Wollen es nicht wissen, wollen ihren Namen nicht hören. Verstehen Sie? Adieu, mein Herr!«

Sie stand da, rot vor Eifer. Ich starrte sie an. Sie machte auf mich den Eindruck einer Wahnsinnigen. Und Martha ebenfalls, die stille, blasse. Ich schrie sie beide an und eilte zitternd hinaus ... ich war selbst ganz von Sinnen.

* * *

Wenn ich nicht diese Begegnung mit ihren Schwestern gehabt hätte, würde ich mich vielleicht überwunden haben – wer weiß? Aber so hatte ich keinen festen Grund mehr unter den Füßen ... Was ich mir von jetzt an vornahm, das tat ich wie losgelöst von allem Irdischen ... wie in neuen Gegenden, in neuen Wolkenschichten.

9.

Ich legte mich zunächst aus die Lauer. Ich mag keine anderen Worte als diejenigen gebrauchen, die gerade paffen. Ich ging umher, spähte, lauschte, bereit, meine Schritte zu beschleunigen, bereit, mich in irgend eine Ecke hineinzuschleichen, wenn es nötig werden sollte.

Ich wollte Flora nicht begegnen. Nein, noch nicht. Ich wollte zuerst etwas erfahren, etwas Sicheres, etwas zum Leben oder zum Sterben.

Ich hatte eine kleine Kammer gegenüber dem Hotel gemietet, wo sie wohnte. (Denn jetzt wohnte sie im Hotel, und zwar in einem der großen.)

In dieser Kammer saß ich oft den lieben langen Tag. Brustbeklemmung, unablässige Unruhe kennzeichneten meinen Zustand. Und fast die ganze Zeit beobachtete ich das Hoteltor. Meine Augen schmerzten vom vielen Hinstarren. Wenn die Zeit kam, zu der Flora sich zum Varieté begeben mußte, ging ich in den kleinen Park, dicht am Hotel. Setzte mich auf eine Bank und paßte auf. Ich glaube bestimmt, daß ich sie einige Male sah. Die Entfernung war nicht ganz kurz, und der Schein der Laterne war nicht stark; aber sie war es! Etwas an der Gestalt, an den Bewegungen – ich fühlte es, ich wußte es, dort, wo ich saß. Das erstemal, als mir klar wurde, daß sie es wirklich war, die da ging, wurde mir ganz schwach. Ich fiel in ein stilles, krampfhaftes Weinen. Ja, ich, der ich sonst nie weinte, – ich saß da und schluchzte und zitterte. Zum Glück war niemand in der Nähe. Man hätte mich gewiß für verrückt gehalten.

So war es also, wenn sie vom Hotel fortging ... Aber wenn sie nach Hause kam ... Und in der Zwischenzeit ... Wenn ich zwischen dem Varieté und den Bäumen des Parks umherschlich. Wenn ich sie kommen zu sehen glaubte. Wenn Wagen vor dem Hotel hielten, und ich hinter dem nächsten Baum Wache hielt und stierte, daß meine Augen krank wurden ...

Dieser kleine Park und die dunklen Bäume ... zwischen denen ich friedlos und angstvoll herumirrte. In Sehnsucht und Zweifel, die mir das Blut vom Herzen sogen. Oft sehnte ich mich danach, meinen Verdacht bestätigt zu sehen. Ich sehnte mich nach dem reinen Entsetzen anstatt dieser stillen Qual. Ich sehnte mich danach, sie in der Begleitung von jemandem kommen zu sehen. Mit einem Mann zusammen, der gewiß ihr Liebhaber sei. Es war also doch wahr! Ihre Schande war offenbar!

Aber wenn ich sie zu sehen glaubte, kam sie immer allein. Einmal war sie zwar in Begleitung, aber sie ging allein ins Hotel. Ich sah es. Eine lichte Freude erfüllte mein Herz und tat mir wohl. Bis die Unruhe wiederkam. Was hatte denn das zu bedeuten, daß sie allein hineinging? Gewiß, das tun ja die meisten, die in einem großen Hotel wohnen. Der äußere Anstand will es so. Aber es gab ja so viele tausend Methoden, den äußeren Schein zu wahren und doch zu täuschen. Wenn nun jemand im Hotel wohnte, den sie kannte? Wenn ihre Türe geöffnet wurde ... später ... wenn ein Mann sich hineinschliche ... Wenn sie dasteht, ihn empfängt, lächelt – während ihre Augen groß und dunkel vor Sehnsucht werden.

* * *

Dort, wo ich umherschlich und lauschte und spähte und witterte, entdeckte ich eines Nachts auch geheimnisvolle Spuren – die nach der Richtung führten, die ich eben andeutete. Vielleicht war das ganze nur ein wahnsinniges Raten ... Oder vielleicht war die Spur richtig genug ... ich glaube es, weiß es jetzt, wie ich ruhig behaupten kann, daß die Spur im großen Ganzen richtig war ... Vielleicht sogar, soweit Hunderte von Tagen und Nächten in Frage kommen, – ich glaube es, ich weiß es.

Der Verdacht kam wie ein zudringliches giftiges Insekt. Ich konnte es nicht loswerden. Es biß sich in mir fest, ich schlug danach, ich wollte es treffen, es kroch weg, es versteckte sich, es biß nochmals, viele Male, so daß das Gift in mein Blut ging und mich fiebern machte.

Und das geschah eines Nachts spät. Flora war nicht ins Hotel zurückgekehrt. Ich ging im Park umher. Ab und zu ging ich eine rasche Wendung nach dem Varieté hin. Ich begriff durchaus meine eigene traurige Dummheit: Hier zu gehen und auf diese gefeierte Varietédame zu warten, diese Sphinx, oder was sie sonst sein mochte! Und sprach weiter zu mir selbst: »Findest du nicht, daß es bald genug sein könnte? Armer Junge, versuche dich doch ein für allemal loszureißen. Kehre nach deinem entlegenen Ort auf dem Lande zurück. Im Anfang wird es dir schwer fallen. Aber strenge dich an. Nimm eine Pferdekur im Arbeiten. Dann wird es schon ...«

So weit war ich in meinem Monolog gekommen, als ich plötzlich innehielt. Ein Wagen kam gefahren. Ich ging ein Stückchen zur Seite, stand still, starrte und horchte. Der »entlegene ländliche Ort« war schon verteufelt weit aus meinen Gedanken fort. Der Wagen hält, nicht weit von mir. Einer steigt aus. Ein Mann. Ich sehe ihn mit jemandem im Wagen Grüße austauschen. Wer in diesem Wagen saß, weiß ich nicht; denn er war geschlossen. Jedenfalls fährt er rasch weiter, nur einen Augenblick hält er vor dem Hotel. Ich laufe rasch dazu und komme früh genug, um eine Gestalt ins Hoteltor hineinschlüpfen zu sehen. Es war eine weibliche Gestalt.

Eine Weile ging ich vor dem Hotel auf und ab. Ich weiß nicht genau, wie lange ... vielleicht zwanzig Minuten oder so etwas. Und während ich wie im Traume dahingehe, als wartete ich auf irgend etwas, sehe ich einen jungen Herrn im Gesellschaftsanzug vor dem Hotel stehen bleiben, klingeln und hineingehen. Ich sah ihn aus einiger Entfernung. Und ein Gedankenstrudel wirbelte in meinem Kopf herum: Was? War er es nicht? ... dieselbe Gestalt, die ich sah, als der Wagen hielt? War er es nicht? Ich glaube, er war es! Und er? wohnt er dort? Gewiß. Es sieht am besten aus, wenn jeder für sich kommt. Oder wohnt er nicht dort? Nimmt er ein Zimmer für die Nacht? Schleicht er zu ihr hinauf? Ist er vielleicht mit dem Portier und der Nachtwache in gutem Einverständnisse?

Ich ging noch eine Weile draußen umher. Dann ging ich plötzlich zum Hoteltor hin und klingelte. Die Tür wurde sofort durch einen Mechanismus von innen geöffnet. Ich sah einen großen Raum, eine Vorhalle mag es wohl gewesen sein. Ging dreist hinauf und sah niemand. Aber plötzlich vernahm ich eine Stimme: Wer da? Ich antwortete nicht ... Ein fast ganz ausgezogener Kerl kam herangeschlichen: Wer da? rief er und sah mich erstaunt an. »Ich möchte wissen«, murmelte ich, »ob Fräulein Flora Gerson hier wohnt ... die Tänzerin?« Er glotzte mich an. »Ich kenne nicht alle Gäste«, sagte er. »Können Sie nicht am Tage kommen?« »Aber der Herr, der eben kam? Sie müssen mir sagen, ob er hier wohnt«. »Kommen Sie am Tage wieder«, antwortete er mürrisch. »Jetzt kann ich Ihnen das nicht sagen.« »Freilich, gewiß, das mag ja in Ordnung sein, daß Sie mir jetzt nichts erzählen können.« Ich hörte meine eigene Stimme. Sie war ganz kleinlaut. Ich drückte ihm ein kleines Geldstück in die Hand und ging ... »Freilich, jetzt hier hereinzugehen, das war ja sinnlos ... Aber sie ist hier, sie ist hier ... etwas ist los ... ich werde es schon aufzuklären wissen ... und dann mag sie sich hüten! ... dann mag sie sich hüten!«

10.

Eines Abends sah ich die elektrischen Sonnen des Varietés strahlen. Die sieben kolossalen Sonnen. Sie glühten jede in einer andern Farbe. Und das Restaurant nach der Straße zu leuchtete mit hohen, strahlenden Fensterscheiben. Das ganze Vergnügungsetablissement schwelgte in Farben und Licht.

Plötzlich bekam ich die Idee, hineinzugehen; beriet mich mit dem Billetverkäufer, gebrauchte da deutliche Worte: Guter Platz, wo man unbeobachtet sitzen könnte, sehen, ohne selbst gesehen zu werden! – Jawohl, in der Balkonloge. – Bitte, geben Sie mir eine Loge ... Ich bekam sie. Sie kostete Geld, das weiß ich noch, den Lohn von zwei Tagen, – ich entsinne mich, daß ich mir dies einprägte ... Aber ich kam hinein. Sie war weich und lasterhaft, diese kleine Loge; ein niedriger Divan nahm den größten Teil des Platzes in Anspruch. Eine Gardine konnte nach Belieben vor- oder weggezogen werden.

Das Varieté füllte sich allmählich. Die Leute kamen einzeln, oder es kamen kleine Gesellschaften von elegant gekleideten Herren und Damen. Ich sah sie, ich merkte mir sie. Zum größten Teil waren es blöde Tagediebe, »Sportsmen« in Haltung und Wesen, aber die meisten waren Laffen mit ausgeprägten Dandymanieren und blasierten Mienen. Hie und da kam ein alter, brutaler Weiberjäger, flott, still vor sich hinpfeifend, seinen Blick auf die Damen richtend, daß sich Gott erbarme!

Außer den Weibern, die Begleitung hatten, kamen viele allein. Einige bescheidene kleine Mädchen, kleine schwüle Alkoventiere, die gewiß nicht viel andere Dinge auf der Welt kannten als die gierige Freude über ein gutes Geschäft, einen guten Fang. Andere hingegen waren festlich anzuschauen, Priesterinnen von Astarte und Venus, in kostbaren Gewändern: man merkte, wie ihre weißen Körper sich schmiegten und wiegten – in Seide und Pelzwerk. Alle prangten mit ihrer Schönheit, ihrem weißen Hals, ihrem Nacken, ihren blendenden Armen. Ihr Gesichtsausdruck entblößte sie schamloser, als wenn sie nackt gewesen wären ...

Ueberall schließlich – Fleisch und Parfüm. Man hörte Lärm und den Laut von Gläsern und Champagnerpfropfen. Ich sah mich noch um. Ich atmete schwer mitten in alledem. Und der Gedanke daran, daß dieser Ort nun das Feld der Tätigkeit Floras sei, machte mich heiß und erfüllte mich mit Haß.

Eben trat eine schöne Spanierin auf. Sie war wunderbar. Und blutjung war sie. Aber gepudert und geschminkt und mit vergoldeten Nägeln und zwei ockerroten Schönheitsflecken. Ihre Füße waren nackt. Von ihrem zarten Körper wälzte sich ein wahnsinniger Strom ruchloser Freude, es gab kaum ein Laster, wovon jener blutrote, etwas verzerrte Mund nicht mitreden konnte. Die Gäste des Varietés verschlangen sie mit Blicken. Als sie ging, schrieen sie nach ihr. Wie hungrige Tiere, die Blut gerochen haben.

Es dauerte noch eine Weile, bis Flora auftrat. Einige Taschenspieler kamen zuerst, dann eine humoristische Nummer. Man lachte und schrie rings herum. Man heulte Dacapo. Und die Gaukler verdoppelten ihre Hanswurststreiche, verrenkten sich Augen, Nase und Kinnladen ganz und gar. Und noch toller wurde das Heulen, noch toller das Gesichterschneiden! Einen Augenblick war es mir, als sei das ganze Varieté ein Narrenhaus.

* * *

Dann wurde es im Zuschauerraum dunkel.

Und der Vorhang ging vor der »Sphinx« in die Höhe.

Ich blieb sitzen und starrte das Gesicht an, das mir da erschien. Flora war es, trotz Wüste und Seide und Schminke. Es war die Flora, die ich kannte. Wie schön sie doch war. Ich hatte nicht gedacht, daß sie diese Varietépossen kleiden würden. Ich glaubte, daß sie in ihrem schwarzen Kleid am schönsten gewesen wäre. Aber jetzt sah ich mit ratlosem Staunen, wie ihr dies Wesen doch stand. Du großer Gott, wie schmiegte sich dies bunte Seidengewand um sie! Und wie kleideten sie die großen, bunten Ringe, wie gaben sie ihren Händen ein Gepräge der Ueppigkeit und lässigen Grausamkeit.

Es war die alte, von vielerlei Künstlern so oft benutzte Fabel von der Sphinx, die lebendig wird, welche hier als Motiv einer Art Pantomime angewendet wurde.

Die Sphinx liegt in der Wüste und wartet. Sie lächelt. Und ihre großen, unergründlichen Augen starren an allen vorbei, die in die Nähe kommen. Und da kommen viele, die ihr Rätsel ergründen wollen: Sonderbare, komische Touristen, mit Kniehosen, Korkschuhen, Korkhüten und dem Baedecker. Und gelehrte Damen mit Brillen. Und alle nicken ernst und gedankentief mit dem Kopf. Alle sprechen und erklären. Aber sie sieht keinen von ihnen. Liegt da und wartet mit ihren großen strahlenden Augen und ihrem bezaubernden Lächeln.

Jetzt kommt ein Jüngling. Er ist nicht gelehrt, will die Sphinx gar nicht ergründen, hat sich wohl eher in der Wüste verirrt, sehnt sich nach Menschen, nach seinen Freunden und Freundinnen. Er legt sich, um eine Weile auszuruhen. Seine Glieder sind geschmeidig und rund. Seine Augen schließen sich halb, der Lebensstrahl schimmert noch süß aus ihren Ellipsen.

Da wird die Sphinx lebendig. Sie krümmt ihre Krallen, man hört ein lustiges Knurren, sie ist hervorgekrochen. Sie beugt sich über den Mann. Er liegt still, wie vom Staunen und vom Schreck festgenagelt. Dann fährt er auf, versucht zu entkommen, aber die Sphinx ist nicht nur Weib, sie ist Löwin. Sie fängt ihn ein und hält ihn fest, bis er ganz still liegt. Dann wird sie Weib. Sie lächelt mit offenen Lippen, sie schmiegt sich an ihn; ihre Hände spielen mit ihm, wollüstig, erfahren. Und als er sich wieder erhebt, um zu entfliehen, greift sie ihn, zieht ihn in einen wilden Tanz hinein. Schreit, kreischt und stöhnt. Der Mann aber sträubt sich im Schreck vor der Liebe, die ihn erwartet, und die furchtbar ist wie Krampf und Fieber. Der Vorhang fällt, während er den Kampf aufgibt, und während sie langsam durch ihr schönes, erstarrendes Lächeln siegt, das süß und schläfrig ist wie der Duft des Mohnsaftes.

Ich saß da. Ich sah und erfaßte alles. Und war wie gelähmt. Das Blut sauste, sauste in meinen Ohren.

Ein tosender Lärm weckte mich. Das Publikum schrie. Es wollte mehr haben. Das Menschentier hatte Wollust gewittert und war um die Hälfte betrogen worden. Sie klatschten wie verrückt ohne Ende. Ihr Rufen klang wie Kreischen. Sie kam wieder zum Vorschein, angestrengt, lächelnd. Das Gewand war in Unordnung, strahlend weiß sah man ihren Körper unter den seidenen Streifen. Und die Leute schrieen wilder als zuvor, ihre Augen rissen und zerrten sie.

Ich weiß nicht mehr, was ich tat, bis sie zum letzten Male heraustrat.

Aber plötzlich fuhr ich zurück. Ich war unvorsichtig gewesen. Ich hatte mich zu weit vorgebeugt. Sie hatte mich gesehen. Ihr Lächeln verschwand. Und mit weit aufgesperrten Augen blieb sie stehen und starrte nach meiner Loge.

Ich wollte aufstehen und gehen, aber es flirrte mir vor den Augen. Und eine tiefe, furchtbare Sehnsucht, sie zu treffen, nahm mich langsam gefangen. Ich blieb sitzen ...

Ich gestehe es offen: ich glaubte bestimmt, daß sie selbst kommen würde, oder daß sie mich bitten lassen würde, auf sie zu warten. Aber nichts von dem geschah. Ich wartete verhältnismäßig lange, aber zu keinem Nutzen. Und plötzlich sehe ich, wie sich die Leute erheben, ein Kellner kam herein, verbeugte sich und ersuchte um Bezahlung der Erfrischung, die ich bestellt hatte. »Ist es aus?« fragte ich. »Jawohl, mein Herr, es ist aus.«

Ich zahlte und ging. Ich fragte einen der Türhüter, ob Fräulein Flora gegangen sei. Ja, sie sei sicher gegangen ...

Na ... und ich ging, ging den geraden Weg. Etwas wußte ich bestimmt: ich wollte sie finden.

Wenn ich jetzt an jene Nacht denke, die folgte, steht sie ganz unklar in meiner Erinnerung. Ich entsinne mich, ich suchte verschiedene Lokale auf, wo die nächtlichen Feste der großen Welt gehalten zu werden pflegten. Ich ging hin in der Hoffnung, Flora in irgend einer flotten Gesellschaft zu finden. Es gelang mir aber nicht, sie zu finden. Das regte mich auf. Mit jedem Café, das ich vergeblich absuchte, wurde ich erregter. Zuletzt ging ich nicht mehr hinein. Ging nur draußen, ging Straße auf Straße ab und merkte nicht einmal, in welchem Stadtteil ich war.

Dieser Dunst von dem großen, frechen Varieté! Wenn ich an Flora dort dachte: die Sphinx auf dem gelben Seidenpolster. Die mich jetzt am liebsten nicht treffen möchte. Die mit reichen Männern zu Festen schlich. Die sich vielleicht in diesem Augenblick in dem Laster weidete, nach dem sie sich ihr ganzes Leben gesehnt hatte. Ach, mit ihr war ich in den langen Nächten gegangen. Ihr hatte ich mein Leben erschlossen, mein seltsames, finsteres Leben, das ich sonst vor allen anderen verborgen hatte.

Diesem kleinen Weibe! Und hatte nicht einmal meine Lust an ihr befriedigt! Diesem herrlichen Instrument aller leichtfertigen Weltfreude. Hatte sie nicht bis zum letzten Tropfen genossen! Diesen Becher nächtlichen Rausches und schamlosen Genießens.

Wie ich so da ging, fühlte ich eine Einsamkeit, die todbringend war. Ich murmelte und flüsterte Worte wie im Fieberwahn. Es war, als nähme ich Abschied von dem letzten, was mein Leben an die Menschen band. Ich starrte weit und einsam über den Horizont der Welt hinaus.

11.

Es war spät in der Nacht. Ich kam auf einen offenen Platz und sah plötzlich einen niedrig hängenden, geschwollenen abnehmenden Mond. Ja, sieh doch ... jetzt war er endlich heraufgekrochen, der Mond. Wie ein Blutegel hing er da, schläfrig, verrückt. Wie war er doch unbegreiflich! Vieles hatte er gewiß mit den Menschen gemein, mit demjenigen im Menschen, wovon niemand was weiß. Mit demjenigen, worüber sie selbst nicht Herr sind.

Da kam mir eine lustige Gesellschaft entgegen, und ich hörte meinen Namen nennen. Und sah ein lachendes Gesicht dicht neben mir. Suzanne! Ja, es war Suzanne, in ausgeschnittenem Kleid. Sie kam scheinbar von einem Maskenball, das fröhliche Mädchen. Und hatte sicher reichlich getrunken. Die Hand, die sie mir reichte, war heiß. Sie brüstete sich wie ein junger Schwan. »Guten Abend, mein Freund!« rief sie, »weshalb kommst Du denn nicht mehr ins Café, zum Teufel?« Ja, sie fluchte und sagte »Du«. Ich ging ihr einige Schritte näher. »Nein«, antwortete ich, »ich habe keine Zeit gehabt ... aber hören Sie, Suzanne«, fuhr ich fort, »ich möchte Sie gerne nach was fragen ... hören Sie, glauben Sie, daß Flora ... wie andere Varietédamen lebt?« Sie stand still, und ich sah, daß ihre sonst lustigen Augen matt und kalt waren. Sie sah eigentlich nicht froh aus. »Ach!« sagte sie höhnisch, »was bist Du denn eigentlich für einer? Du bildetest Dir wohl ein, sie sei unschuldig gewesen, als Du sie zum ersten Mal trafst, haha! ... Und ob sie jetzt lebt? Ja, Du kannst glauben, die lebt so, daß ihre Freunde in Flammen aufgehen ... Und Du bekommst nicht einen Funken ... dummer Kerl, der Du immer herumgehst und an sie denkst. Und nun lebe wohl. Du lieber Dummkopf! ...«

Sie lief den anderen nach. Einen Augenblick wandte sie sich noch um:

»Sieh mal nach im »Café zum goldenen Alter«. Da findest Du sie schon!«

Dann war sie weg.

Ich stand einen Augenblick still und dachte nach. War das die Suzanne, – die da? na, mir ist es gleich.

Aber alles, was sie sagte? Ach, sei still! sie war ja betrunken.

Aber das letzte, was sie sagte ... »das Café zum goldenen Alter« ...

»Café zum goldenen Alter« ... ja, davon hatte ich reden hören ... Weshalb hatte ich dort nie nach ihr gesucht?

Ich wußte ungefähr, wo dies Café lag. Ich sah mich um ... Die Straße war leer ... kein Wagen ...

Ich fing an zu gehen. Ging lange.

Nach langem Suchen fand ich das Café. Ich ging hinein.

Irgendwoher klangen die Töne einer schwachen Guitarre. Die richtige Musik für lange, schläfrige Nachtstunden.

Ich ging einige Schritte, dann stand ich still. Sieh da! Da saß sie!

Ich setzte mich nieder, verbarg mich halb hinter einer Säule. Sie sah mich nicht.

Sie saß im Gespräch mit einem Manne ... Er war nicht so übel, das muß ich sagen, stilvoll, mit dem etwas übermütigen Ausdruck, der den Weibern immer gefällt. Und sprach mit ihm, wie man mit dem spricht, den man kennt und liebt. Etwas an ihrer Haltung, etwas an ihrer Kopfstellung sagte mir dies. So hatte sie nie mit mir gesprochen.

Sie beugte den Kopf etwas. Sie war es, aber sie schien doch eine andere als früher. Hat jemand eine Blume in lauwarme Treibhauserde umgepflanzt werden sehen? Sie wird größer, aber feiner. Sie bekommt eine andere Farbe, die sie früher nicht hatte.

Ebenso verhielt es sich mit Flora. Sie saß da wie eine Blume in einem Mistbeet. Die Nacht, die Musik, seine Worte überrieselten sie. Sie wuchs, sie wurde heißer und schöner.

Sie sprachen zusammen. Als wären sie einig. Einig in aller heißen Schande, einig im Lächeln, im Schauer, im Entzücken.

Ich erhob mich und ging gegen das andere Ende des Cafés. Ich ging langsam an ihr vorüber. Ich sah, daß sie zusammenfuhr, als ich an ihr vorüberging. Ich sah es deutlich, obwohl meine Augen geradeaus starrten. Sie hatte sicher schon früher am Abend von mir gesprochen. Denn sie flüsterte ihm etwas zu. Sie flüsterten eifrig miteinander. Als ich zurückkehrte, schlug sie die Augen nieder und saß unbeweglich.

Kurz darauf erhoben sie sich und gingen.

Und als ich wieder allein war, fiel eine tiefe Stille über mich, und aus dieser Stille stieg ein seltsamer Trieb auf, sie an mich zu reißen. Jetzt paßte ich ihr nicht. In der strahlenden Schamlosigkeit, in der sie zu Hause war, hatte ich nichts zu suchen. Aber, konnte ich sie nicht rauben? Sie in mein einsames Bereich hinüberzwingen?

Gewiß – und dann könnte ich sie besitzen, ... in Finsternis und Stille rings um uns.

Es war, als huschte ein Gespenst an mir vorüber, mir eine Verheißung ins Ohr flüsternd. Und ich erblickte unbewußt eine bodenlose Tiefe der Lust.

Ich wollte sie finden!

Ich verließ das Café und ging ins Freie. Es fing an, hell zu werden.

Ich lenkte meine Schritte zum Hotel, in dem Flora wohnte. Es war nicht weit. Ich stand am Hoteltor, klingelte und kam in die Vorhalle. Es waren schon Leute da, um die Lokale für den Tag in Ordnung zu bringen. Es war eine andere Nachtwache als das letzte Mal, ein ganz junger Kerl mit einem ruchlosen Gesicht. »Ich möchte ein Zimmer haben«, sagte ich ruhig. Und fing an, die Tafel an der Wand zu studieren, wo die Namen der Gäste standen. Sieh da! Fräulein Flora Gerson Nr. 66-67. Der junge Kerl stand dicht dabei. Er zeigte auf eine Zahl. »Das Zimmer ist frei«, sagte er, »aber Sie können ein teureres bekommen.« »Ach nein, lassen Sie mich nur das bekommen, welches Sie meinten.« Und wir gingen beide die Treppen hinauf. Er zeigte mir das Zimmer, zog die Gardine vor und zündete Licht an trotz der Morgendämmerung.

»Gute Nacht«, sagte er.

»Gute Nacht«, antwortete ich ... »aber, sagen Sie mal ... Hm«, ich holte ein schönes silbernes Geldstück hervor. »Sagen Sie mir: ist Fräulein Flora Gerson jetzt zu Hause? Ich bin nämlich ein alter Bekannter des Fräuleins, Sie verstehen?«

Ich sprach ruhig und natürlich. Weltmann vom reinsten Wasser. Lächelte auch, und bin fest davon überzeugt, daß das Lächeln gemein genug war, um an diesem Ort vertrauenerregend zu wirken. Gott mag wissen, woher ich bei dieser Gelegenheit die Talente bekam. Aber ich mußte bewiesen haben, daß ich sie besaß. Denn der junge Kerl war sofort dabei. Er sprach leise: »Das Fräulein ist nicht zu Hause. Ich habe die Nachtwache gehabt. Nein leider ... noch nicht zu Hause.« »Ach so ... nun, die Zeit würde wohl auch etwas auffällig sein. Nicht wahr?« »Heh-heh-heh, ganz gewiß.« Der Kerl bekam das Geldstück, und ich sah, daß es nichts gab, wozu er nicht für Geld zu haben war: »Sicher ... Das Fräulein ist eine reizende Dame ... Aber schließlich, ... wenn man ein alter Bekannter ist. Heh-heh! Gute Nacht, mein Herr!«

Ich legte mich aufs Bett. Ich dachte nicht an Schlaf. Und doch schlief ich ein. Ich wachte wieder auf und sah auf die Uhr. Sie stand. Ich erhob mich, ging ans Fenster, zog die Gardine in die Höhe, es war Tag. Ob früh oder spät am Tage, wußte ich nicht. Aber es war Tag ... und da stand ich. In diesem Hotel ...

Aber wie war alles hier seltsam! ... War ich vom Tageslicht umgeben? Wie ich da stand, schien es mir, als wäre dies nicht das gewöhnliche Tageslicht. Nein, der Tag war erleuchtet, das war die Sache ... irgend ein künstliches Licht. Ja, zweifellos! So verhielt es sich.

Opium. Das Wort fiel mir unwillkürlich ein. Opium. Der Stoff soll dem Türken die Sorgen vertreiben und ihm Mut und Vertrauen geben. Aber beim weißen Manne bewirkt das Opium Schwere und Schlafsucht, die oft mit dem Tode endet.

Ich hatte kein Opium genossen. Und doch war mir so sonderbar. Und die Lust von gestern ... die fremdartige, flammende Lust wuchs still in mir empor. Mein Gemüt war wie ein wilder Sumpf. Matt, schläfrig, aber wild. Weit unten im zähen, heißen Wasser hielten sich Ungeheuer auf, und ringsum wuchsen unbekannte Blumen. Sie hatten Gedanken, und einige hatten Lippen, die mir zuflüsterten. Und darüber stand der künstlich erleuchtete Himmel ... und war gespannt, stramm, nahe daran, mit einem Knall zu zerspringen.

Nr. 66-67. Fräulein Flora Gerson. Jawohl, die Nummer war mir genau im Gedächtnis. Ich erinnerte mich, wie sie geschrieben war. Und ich entsann mich, daß der Name Gerson mit einem besonders flotten Schwung geschrieben war.

Ich war also meiner Sinne mächtig. Ja, so ruhig bin ich wohl nie gewesen ...

Ich öffnete die Tür und sah hinaus. Der lange Gang war leer. Ich ging vorwärts. Die Nummern waren noch weit von den sechziger Zahlen. Ich ging ein Stockwerk tiefer. Da fingen die Sechziger an.

Nr. 66. Ich stand still.

Ich öffnete die Tür und ging hinein. Ich blieb eine Weile still stehen. Das Zimmer, in dem ich stand, war groß und komfortabel. Niemand war drinnen. Ich sah die Tür zum nächsten Zimmer offen stehen und ging hinein. Aber an der Schwelle blieb ich stehen. Flora lag da ... lag auf ihrem Bett und schlief. Jetzt erst war sie also nach Hause gekommen, und schlief, müde nach der Lust der Nacht ... In einem Morgenkleid lag sie da. Die Gardinen waren vorgezogen, und das Zimmer war dunkel. Aber durch die Dunkelheit war sie sichtbar, selbstleuchtend von Leben und Schlaf.

Und im Schlaf ähnelte sie der Flora, die ich kannte. Meiner Geliebten von den fernen Sommernächten. Ihr Mund war weich, ihr Arm mit der weißen Hand lag ausgestreckt. Die Stirn war klar und kindlich.

Ich nahm ihre Hand und drückte sie.

Aber diese Hand war nicht der Flora Hand ... Welches Gepräge von Luxus und Leichtfertigkeit trug diese weiße, nutzlose Hand mit den langen, wohlgepflegten Nägeln. Der bloße Anblick dieser Hand machte mich von Haß und Eifersucht umnebelt.

Sie schlief weiter. Ihr Schlaf war tief.

Ich legte meinen Arm um sie. Ihr schlanker Körper war von einer köstlichen Schwere. Sie rührte sich und flüsterte etwas im Schlaf ...

Dann wandte ich ihr Gesicht gegen meines, und ich küßte sie. Es war der erste Kuß, den ich ihr gab. Ich biß ihre Lippen, daß sie bluteten.

Da erwachte sie mit einem Ausruf. Ihre Augen starrten mich an. Ich sah eine stille Angst im Innersten dieser Augen. Aber sie sagte kein Wort.

»Ja, ich bin hier, Flora«, flüsterte ich. »Du hast wohl auf mich gewartet, Flora? Wie Du versprachst.«

Sie antwortete nichts. Sie lag still, als wartete sie. Wartete auf das, was ich vorhatte. Ich wiederholte mit leiser Stimme:

»Du hast wohl auf mich gewartet, wie Du es versprachst.«

Aber sie antwortete wieder nichts. Fing nur ein merkwürdiges Zusammenspiel an. Natürlich, sie war bange und neugierig, und wollte am liebsten Fragen und Erklärungen vermieden haben, die Unruhe und Vorwürfe bewirken konnten. Und etwas anderes noch: Sie berauschte mich, ihre Schönheit und ihre Schuld stumpften meine Gedanken ab und bewirkten, daß meine todesschwangere Sehnsucht aufloderte. Ich kniete nieder. Denn sie lag immer noch da und starrte mich an. Und plötzlich lächelte sie.

Da riß ich sie mit allen Liebkosungen der Welt an mich. War meiner selbst nicht mehr mächtig. Ich mißhandelte sie vielleicht. Ich hörte sie jammern.

Und fühlte doch nur die Begierde, sie zu demütigen und sie zu verzehren. Sehe ihre Augen zuerst im Widerstand und im Zorn starren. Und sehe sie dann nach und nach in Willfährigkeit und Bereitwilligkeit ruhig werden. Sie wird mit fortgerissen, sie antwortet, sie genießt dieses glühende Liebesspiel. Es ist ihr neu, es verzehrt sie. Und plötzlich schlägt sie mit ihren roten Flügeln aus! Wehe! Der Feind! Die Hure! Das Feuer von hundert Nächten! das ich von meiner Kindheit an haßte! Das ich meinen Vater verfluchen hörte: Hasse, mein Kind, hasse! Wodurch ich den Menschen ein Fremder geworden war!

Ich riß sie an mich. Ich zog sie in meinen Todesabgrund herab. In mein Reich! und erstickte sie, tötete sie! Und ein großes, strahlendes Gesicht zog durch meine Seele und gab mir Frieden. Gab mir sie zu eigen. Auf dem einzigen Wege, der sie noch zu mir führte.

Ich schlich in ihrem Zimmer herum, ich kreiste um sie, meine einzige Geliebte. Gefühllos und unbewußt. Aber allmählich wurde ich wach. Was wurde aus mir, was kommt nun für mich? ... Vielleicht der Tod, vielleicht die ewige Finsternis und Gefängnis. Ganz gleich, ich siegte und zog sie zu mir herüber. Sie begleitet mich jetzt für immer. Sie ist still, meine Gesegnete. Sie umschließt mich wie ein heiliges Gewand. Das mich umhüllen soll. Als das Purpurkleid meines Lebens. Als mein Leichentuch.

* * *


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