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VII. Im Geiergebirge.

Auf der ausgezeichnet erhaltenen Landstraße, welche die zwei Quadratmeilen große Oase Fayum durchschneidet, bewegten sich drei Reiter dem Westen zu.

Alle drei trugen den zum Wüstenritt allein geeigneten arabischen Burnus, welcher den ganzen Körper gegen den glühenden Flugsand hermetisch abschließt und dennoch luftig ist. Noch aber hatte der eigentliche Wüstenritt nicht begonnen, noch befanden sie sich zwischen blühenden Gefilden, deshalb waren auch die Gesichtsschleier noch nicht nötig.

In den beiden vorderen Reitern auf sehr guten Pferden erkennen wir Nobody und den Baron, der ihnen auf einem mageren Klepper folgende Mann ist ein junger, kaffeebrauner Araber mit verschmitzten Zügen.

Es ist wirklich ein irdisches Paradies, die Oase Fayum, noch ein Kunstprodukt der alten Aegypter, in die Wüste gezaubert. Denn der jetzige Birket el Kerun ist der letzte Ueberrest des alten Mörissees, welcher zur Zeit der Ueberschwemmung das überflüssige Nilwasser für die Zeit des Mangels auffing. Die Dämme dieses mächtigen Reservoirs sind schon längst gebrochen, es lief aus, der jetzige See, obgleich noch immer eine Quadratmeile groß, ist gegen das frühere Kunstbassin eine verschwindende Kleinigkeit, auch ist er jetzt versalzt, die meisten der einst zahllosen Kanäle, welche die Oase durchkreuzten, sind versandet – aber was noch vorhanden ist, das reicht noch immer, um dieses mitten in einer trostlosen Wüste gelegene Land vielleicht zur fruchtbarsten Gegend der Erde zu machen.

Was hier der Mais und die Baumwolle für eine Riesenhöhe erreichen! Hier liefern einige Bodenstriche im Jahre drei Ernten! Diese Rosenkulturen, aus denen das berühmteste Rosenöl gewonnen wird! Diese Datteln, Feigen und Granatäpfel! Und dann vor allen Dingen diese Weintrauben!

Als die Späher der Israeliten das gelobte Land ausgekundschaftet hatten, brachten sie eine Weintraube mit, welche von zwei Mann getragen werden mußte. Dieser Bericht der Bibel klingt sehr unglaublich. Nun, wenn es in der Oase Fayum auch nicht solch mächtige Trauben gibt – dort gewinnt man die Ueberzeugung, daß ein Naturspiel doch einmal sie entstehen lassen kann. Es sind Trauben, wie man sie nirgends zu sehen bekommt, so groß wie die Hühnereier sind die Beeren alle, und dabei der köstlichste Wein! Aber die Trauben der Oase Fayum kommen als Tafelobst ausschließlich an den Hof von Kairo und Konstantinopel.

Da bricht die Landstraße ab, ein dorniges Mimosengestrüpp, welches den Flugsand abhält, und dahinter beginnt die gelbe Wüste, auf welcher gerade hier, dicht neben dem fruchtbarsten Lande, auch kein Grashälmchen gedeiht.

An dieser Scheide zwischen Wüste und Kultur liegt wie eine Grenzfestung ein Felsen, auf welchem einige von einer Mauer umringte Lehmhütten stehen – Sal Bekr, das letzte Dorf.

Es war schon alles ausgemacht – und zwar in doppeltem Sinne gemeint.

Als die beiden in Medinet den Zug verließen, hatte der Baron auf dem Bahnhof ›zufällig‹ den jungen Araber erblickt, der ihn vorgestern als Führer und Eseltreiber nach dem Geiergebirge begleitet hatte.

Ja, der kühne Jüngling war bereit, die Führung nochmals zu übernehmen, obgleich er den furchtbaren Jussuf el Fanit im Geiergebirge wußte, und er konnte dem Detektiv ganz genau erzählen, wie der Wüstenräuber plötzlich hinter einem Felsblock aufgetaucht war und dem vornehmen Faringi das weiße Mädchen abgefordert hatte, alles stimmte mit der Erzählung des Barons überein.

Dies alles war natürlich das Werk des vorausgereisten Huxley, der seine Leute schon engagiert und instruiert hatte.

Nobody hätte, wenn er gewollt, den Herrn Baron in schwere Verlegenheit bringen können. Wo z. B. hatte denn in Medinet das Liebespärchen logiert? Allerdings hätte der geriebene Gauner wohl immer eine Auskunft gewußt, die nicht so leicht zu kontrollieren war, doch schließlich hatte ihn Nobody mit leichter Mühe der Lüge überführen können. Aber er dachte natürlich nicht daran, er glaubte alles, vermied sogar jede Frage, die jenen in Verlegenheit setzen konnte.

Das Pärchen hatte bei seinem Ausflug einen anderen Weg genommen, wobei man kein Dorf mehr passiert. Aber der Baron durfte den Kundschafter nicht begleiten und wollte doch in seiner nächsten Nähe sein, irgendwo mußte er warten, und so war auf Anraten des Führers hier dieses Dorf dazu ausersehen worden.

Sie ritten einen steilen Pfad hinauf, wurden von bellenden Hunden und nackten Kindern empfangen und dann von einem schmutzigen Griechen, welcher in diesem Dorfe ein sogenanntes Bachchal unterhielt, das ist ein Laden, in welchem so ziemlich alles zu haben ist, was zu des Leibes Notdurft gehört, und dieses hier war noch besonders für Fremde eingerichtet, welche am Birket el Kerun jagen wollten, es enthielt ein Lager von Pulver, Patronen und anderen Jagdutensilien, selbst einige gute Gewehre standen zum Verkauf, und der Grieche verfehlte nicht, den unbewaffnet Ankommenden dies anzubieten.

Denn die beiden hatten Kairo als harmlose Gentlemen verlassen, jeder nur mit einem kleinen Koffer versehen. Im Zuge wurde geschlafen und in Medinet nur ein Hotel bezogen, um sich von hier aus Pferde und einen Burnus, und was sonst noch zum Wüstenritt gehört, zu besorgen.

»Haben Sie Waffen bei sich?« hatte der Baron gefragt.

Nobody konnte nicht gut verheimlichen, daß er als Detektiv einen Revolver bei sich führte, und der Gauner überlegte sich, daß er seine ängstliche Vorsicht nicht übertreiben dürfe.

»Der genügt für alle Fälle. Ich habe auch einen Revolver bei mir. Von sichtbaren Waffen würde ich abraten. Der arabische Führer meint ebenfalls, wir sollten lieber gar keine Gewehre mitnehmen, denn wir müßten sie dem Besitzer des Bachchals in jenem Dorfe zur Aufbewahrung geben, und wir könnten sicher sein, daß der Grieche etwas daran ruinieren würde, um sich den Lohn für die Reparaturen zu verdienen. Er entfernt eine Schraube und verkauft dann diese für eine aus seinem Laden.«

Nobody war wieder mit allem einverstanden gewesen. –

Nachdem sie also jetzt das Angebot von Jagdgewehren abgelehnt hatten, ließen sie sich Brot, Früchte, Käse und Wein bringen und setzten sich vor das Haus, von wo aus sie einen Blick über die Gegend hatten, in welcher sich die nächsten Szenen abspielen würden, die sich jede Partei in einer anderen Weise ausmalte.

In nicht allzuweiter Ferne schimmerte der blaue Spiegel des Birket el Kerun, welcher viele kleine, aber ganz nackte Felseninseln enthält, seine Ufer sind mit dichtem Mimosengestrüpp bestanden, in dem es von Hyänen, Füchsen, Schakalen und Wildschweinen wimmelt, das südliche, sumpfige und beschilfte Ufer ist die Brutstätte von zahllosem Wassergeflügel, und im Westen erhebt sich jäh aus der ebenen Wüste ein hohes Gebirge mit spitzen Zacken, auf denen die Geier horsten, welche ihre Nahrung in der belebten Oase suchen.

Doch nicht von diesen Geiern hat das Gebirge seinen Namen, sonst könnte es in Aegypten viele Geiergebirge geben, denn der Aasgeier ist dort ein förmliches Haustier, früher auch geheiligt, und der Araber sieht es noch heute ungern, wenn man einen Geier schießt, denn dieser ist in den Städten und Dörfern der einzige Sanitätsbeamte, welcher allen Unrat und alles andere, was die Luft verpesten kann, beseitigt, und in jedem Gebirge haust er in großer Menge.

Hier aber hatte die bildende Natur diesem geflügelten Sanitätsbeamten ein steinernes Denkmal gesetzt. Auf einer der höchsten Zacken ruhte ein Felsblock, der von weitem genau wie ein mit gespreizten Flügeln dasitzender und nach Beute spähender Geier aussah. Daher der Name des ganzen Gebirges: Dschebel el Dschai – das Geiergebirge.

Eine Frage konnte sich Nobody doch erlauben.

»Hat sich in den letzten Tagen Jussuf el Fanit einmal in dieser Gegend gezeigt?« wandte er sich an den Griechen.

Dieser, welcher durch die vermutete Nähe des Räubers sein Geschäft bedroht sah, schwur hoch und heilig, Jussuf el Fanit sei noch nie hier gesehen worden, der fahnde doch nur auf Karawanen, und solche kämen gar nicht durch diese Gegend – und der edle Grieche hatte ausnahmsweise die Wahrheit beschworen.

Das aber konnte dem Herrn Baron nicht recht in seine Lügerei passen.

»Der wird nichts verraten, der steckt doch mit dem Räuber unter einer Decke,« flüsterte er seinem Begleiter schnell zu.

Und richtig, jetzt bemerkte der Grieche, daß er doch einen kleinen Fehler begangen hatte, und schnell fügte er hinzu, es könnte doch sein, daß der Herr der Wüste auch einmal in dieser Gegend Umschau halte, die Herren, welche den See besichtigen wollen, täten doch besser, sich mit Gewehren zu versehen ...

»Oder ich kann Ihnen hier diese Pistolen empfehlen, arabische Arbeit, wie sie der Emir von Bagdad nicht besser im Gürtel stecken hat. Oder vielleicht ein Sonnenschirmchen gefällig? Gar nichts?«

Die Mahlzeit war beendet, und man hatte nichts mehr zu verabreden.

Der Baron blieb zurück, um hier den Erfolg abzuwarten, der Araber, mit einem kleinen Wasserschlauch und einigem Proviant belastet, ritt voraus, Nobody folgte ihm – in sein ungewisses Schicksal hinein.

Noch aber war das Gebirge weit entfernt, hier in der Ebene drohte ihm kein Hinterhalt, und so konnte er sich erst der Erinnerung an jene Zeit hingeben, da er am Birket el Kerun ein Jägerleben geführt hatte.

Mit diesem Birket el Kerun ist ein Rätsel verknüpft.

In den ausführlichen Geographiebüchern ist er als ein Süßwassersee angeführt, und das mit Recht, denn Birket el Kerun heißt wörtlich übersetzt: der See der Trinkbare, also ein See mit trinkbarem, mit süßem Wasser.

Kommt man aber im Sommer nach der Oase Fayum und äußert seinen Entschluß, daß man am Birket el Kerun einige Zeit jagen will, so sagen die Araber: »Dort kannst du nicht leben, du hast kein Wasser.« – »Ich denke, der See hat trinkbares Wasser?« – »Nein, der Birket el Kerun ist ganz salzig.«

Und wirklich, wenn man hingeht, findet man, daß ›der See der Trinkbare‹ ein bittersalziges, ganz ungenießbares Wasser enthält.

Woher kommt diese falsche Benennung? Die Vermutung liegt nahe, daß der Name Birket el Kerun noch aus der Zeit herstammt, als hier der riesige, vom Nilwasser gespeiste Mörissee vorhanden war. Der lief aus, der letzte Rest versalzte – oder es war überhaupt schon dieser Salzsee vorhanden gewesen, den man wegen seiner tiefen Lage nur als einen kleinen Teil des Bassins benutzt hatte, und das Nilwasser floß in so kolossaler Menge zu, daß man den Salzgeschmack gar nicht mehr merkte – und jetzt war wiederum nur noch die Salzpfütze da, freilich immer noch eine riesige ›Pfütze‹.

Doch man irrt sich mit dieser Hypothese, woher der Name Birket el Kerun stammen könne. Das Wasser ist wirklich trinkbar, man muß nur im Winter kommen, und auch im Sommer findet man in diesem See süßes Wasser, wenn man mit einem Boot in die Mitte fährt und dort schöpft.

Die Sache ist nämlich folgende: Der Birket el Kerun steht durch einen unterirdischen Kanal mit dem meilenweit entfernten Nil in Verbindung. Und das Frischwasser mischt sich mit dem Salzwasser nicht gar so leicht, vor allen Dingen schwimmt es, da es leichter ist, immer oben, deshalb ist das Wasser in der Mitte immer frisch, während es an den Ufern ganz bittersalzig ist. Dieses Phänomen steht nicht einzig da. So gibt es hauptsächlich an der Ostküste Amerikas, bei Florida, mitten im Meere frische Quellen, das Wasser ist dort völlig genießbar.

Steigt nun im Winter der Nil, so steigt auch der Birket el Kerun, das Frischwasser schwimmt oben, und jetzt führt der ›trinkbare See‹ seinen Namen mit Recht.

Nun dringen auch durch den unterirdischen Kanal beständig Nilfische in den See, sie geraten in das Salzwasser, was sie nicht vertragen können, sie sterben, der See wirft sie ans Ufer, und daher dort die Unzahl von Hyänen, Füchsen und anderem Raubgesindel, und ferner von Wildschweinen, welche gleichfalls Aas lieben. –

Das Geiergebirge war erreicht. Und da gab es keinen Uebergang aus der flachen Ebene zum hohen Gebirge. Man kann es eigentlich gar kein Gebirge nennen.

Hier hat die Natur wie ein phantastisches Kind gespielt, welches sich auf dem Tisch aus Lehm ein Gebirge aufbaut, die Klümpchen zu seltsamen Figuren knetet, hier eine scheinbar natürliche Brücke schlägt, dort in den weichen Felsen eine Höhle einbohrt usw. – nur daß hier die gewaltige Natur in Riesengröße gespielt und statt des weichen Lehms Granit geknetet hatte. Das ganze Gebirge war ein unentwirrbares Labyrinth von Gängen, von den bizarrsten Felsfiguren gebildet, zerrissen von Schluchten und durchlöchert von Höhlen, und alles wie auf einen glatten Tisch hingesetzt.

»Wunderbar!!« rief Nobody.

Wollte er nun in dem vorausreitenden Araber den Glauben erwecken, er sei noch nicht hier gewesen, oder staunte er von neuem dieses phantastische Spielwerk der allgewaltigen Natur an – er tat diesen Ausruf.

Er sollte nicht viel Zeit zum Staunen haben.

Der Araber war noch keine hundert Schritt in die erste Schlucht hineingeritten, deren Boden mit abgestürzten Felsblöcken bedeckt war, als er hinter sich einen unregelmäßigen Hufschlag vernahm, und als er sich umblickte, sah er, wie sich das gestürzte Pferd seines Begleiters soeben wieder aufrichtete, während sein Reiter am Boden liegen blieb.

Der erschrockene Araber fing das ledige Pferd am Zügel auf und sprengte die wenigen Schritte zurück.

»Du bist gestürzt, Effendi?!«

Nur ein Stöhnen antwortete ihm. Nobody lag in sehr unnatürlicher Stellung da, auf dem Rücken, unter diesem den rechten Arm und das linke Bein schief unter dem Leib.

»Du bist ein schlechter Reiter, Effendi, wie konntest Du dein Pferd auf diesem guten Weg stürzen lassen! Du hast doch nicht etwa etwas gebrochen? So stehe doch auf!«

»Der verdammte Gaul... ist gerade auf mich gestürzt,« ächzte Nobody und versuchte den rechten Arm unter seinem Körper hervorzuziehen, was ihm nicht gelingen wollte und ihm die größten Schmerzen zu bereiten schien, »da ... da ... da hängt mein Arm wie ein Waschlappen. Der ist ausgekugelt.«

Jetzt sprang der Araber ab, hing die beiden Zügel über eine Felsspitze, beugte sich herab und beschäftigte sich mit dem Gestürzten.

Nicht nur der rechte Arm hing schlaff herab, sondern auch der linke Fuß stand in ganz unnatürlicher Stellung, und Nobody stöhnte, als ihn der Araber aufzurichten versuchte, knickte gleich wieder zusammen.

»Warum konntest du nicht mit deinem Sturze noch etwas warten?« jammerte der Junge. »Wir sind ja gleich an der Stelle, wohin ich dich führen sollte!«

»Kerl, du bist ein Esel. Bin ich etwa gestürzt oder der elende Gaul, den du selbst ausgesucht hast? Ein Glück nur, daß ich nichts gebrochen habe.«

»Kannst du nicht wenigstens wieder aufs Pferd steigen? Ich hebe dich hinauf.«

»Laß mich! Ich bin kein Weib, deshalb brülle und flenne ich nicht, aber schmerzen tut's doch höllisch. Ich bleibe hier liegen, oder schleife mich dort in die Höhle, dort liege ich im Schatten, gib mir einen Fetzen von deinem Burnus und laß den Wasserschlauch da, den Verband kann ich mir selber anlegen, und du jagst einstweilen zu dem Effendi zurück und meldest ihm, was mir passiert ist. – Oder halt! Weißt du, jetzt kundschaftest du erst aus, ob Jussuf el Fanit in dem Tale noch sein Lager hat, und ist es der Fall, dann gehst du hin und erzählst, dein Herr, ein Faringi, der das Geiergebirge besuchen wollte, sei gestürzt, erzählst alles, wie es wirklich ist. Einen Verunglückten wird doch der Wüstenräuber, der ja sonst ein großmütiger Mann sein soll, gastfreundlich aufnehmen, und dann haben wir ja gleich erreicht, was wir beabsichtigten.«

Hätte Nobody jetzt aufgeblickt, so hätte er gesehen, was für ein verschmitzter Zug über das verschlagene Gesicht des Arabers ging. Wahrscheinlich aber sah es Nobody doch, er brauchte deswegen gar nicht den Kopf zu heben.

»Dein Mund trieft von Weisheit, Effendi. Ja, ich werde mich in das Lager des Herrn der Wüste wagen, und wenn ich wüßte, daß ich mein Leben verlieren würde.«

»Das ist brav von dir, Hammed,« lobte ihn jetzt Nobody in seiner trockenen Weise. »Wie weit ist es noch von hier bis in das Tal, wo du Jussufs Lager gesehen hast?«

»Siehe den Geier dort, folge dem Blicke seines Auges, und du siehst das Tal, in welchem der Herr der Wüste mit seinen tapferen Kriegern liegt. Dorthin eile ich. Zahle fünfzigmal sechzig oder bete noch besser einhundertundzwanzigmal die dreizehnte Sure des Korans, welche ist betitelt ›der Sieg des Tapferen‹, und welche mit den Worten beginnt: Allah ist Allah, und Mohammed ist sein Prophet. O, allmächtiger Gott! Schütze mich vor meinen Feinden. Spritze Gift in die Adern meiner Feinde. Laß meinen Feinden glühende Steine wachsen im Bauch. Schicke meinen Feinden die Pestilenz, den Aussatz und den Blutdurchfall. Halte meine Feinde ...«

»Halte die Luft an, Hammed ben Quasselfritze, siegreicher Held! Du könntest inzwischen schon wieder dasein. Jetzt sei mir erst behilflich, daß ich dort in den Schatten komme, dann rücke schleunigst ab.«

Es war nur ein schattenspendender Felsvorsprung, unter welchen der Araber den Effendi schleifte. Er zog ihm den linken Schnürstiefel aus, legte ihm den Wasserschlauch zurecht, riß bereitwilligst ein Stück von seinem eigenen Burnus ab, nämlich unter der Voraussetzung, daß er einen neuen bekommen mußte und auch dieser noch recht gut zu gebrauchen war, weiter verlangte Nobody nichts von ihm, und Hammed ritt ab, auch das andere Pferd mitnehmend.

Nobody verfolgte ihn mit den Augen, bis er verschwand, und dann beobachtete er die Geier, welche hin und wieder aufflogen, und konnte daraus mit Sicherheit bestimmen, daß Hammed nicht tiefer in das Gebirge eindrang, sondern nach dem Dorfe zurückritt, wo sich der Baron befand, nur daß er einen Umweg nahm.

Hammed wußte also nicht das Versteck der anderen, welche bei der Komödie mit voraussichtlich traurigem Ende mitspielen sollten, er mußte sich erst von seinem zurückgelassenen Herrn neue Instruktionen holen.

»So,« dachte Nobody zufrieden, wie er sich mit dem Rücken gegen die Felswand lehnte, »jetzt braucht man mir nicht erst ins Bein zu knallen, für die bin ich keinen Schuß Pulver mehr wert. Jetzt werde ich erst einmal ein linkes Fußbad machen.«

Und er begann, seinen Fuß noch weiter zu entkleiden, ihn mit Wasser zu netzen, nasse Verbände anzulegen, alles nur mit der einen Hand, etwas ungeschickt, aber es ging, und jetzt, da er sich unbeobachtet wußte, durfte er auch lauter stöhnen, manchmal sogar etwas jammern. Um seinen verrenkten Arm konnte er sich vorläufig nicht kümmern.

Die Zeit verstrich, eine halbe Stunde, welche das Hundertzwanzigmal Herbeten der dreizehnten Koransure wohl in Anspruch genommen hätte, war sicher schon vergangen, und Hammed war noch nicht zurück.

Dagegen vernahm des Detektivs scharfes Ohr plötzlich ein Geräusch, irgendwo war ein losgelöster kleiner Stein herabgefallen, das war ein harmloses Geräusch – da aber tauchte vor ihm, in der Sonne einen Augenblick der Schatten eines menschlichen Kopfes auf, vom Schatten des über Nobody hängenden Felsblockes abgegrenzt, nur einen Moment, dann war er wieder verschwunden.

Nobody hatte es ganz deutlich gesehen, sich nicht geirrt, es waren die Umrisse des Schattens eines menschlichen Kopfes gewesen – aber Nobody ließ sich nicht in seiner Beschäftigung beirren, er wusch den verrenkten Fuß weiter, der noch immer ganz unnatürlich lag, und stöhnte mehr denn je dazu.

Wieder verstrich eine Viertelstunde.

Da sah Nobody, ohne daß er den Kopf dabei hob, nur zwischen den gesenkten Augenlidern hervorblinzelnd, eine weibliche Gestalt langsam durch die Schlucht gewandelt kommen.

Nobody stellte sein Stöhnen ein, nicht aber seine Beschäftigung, und nur ganz heimlich beobachtete er die Näherkommende, welche den Mann unter dem Felsvorsprung nicht sah.

Es war eine braune Araberin mit angenehmen Gesichtszügen, und die Echtheit ihrer Hautfarbe konnte Nobody ganz genau beurteilen, denn sie trug nur einen Rock, der Oberleib war völlig unbekleidet. Doch das hat bei einer mohammedanischen Araberin weniger zu sagen, als wenn sie, so wie diese, sogar keinen Gesichtschleier trägt.

Sie mußte keinen Menschen in der Nähe glauben, auch nicht einen Stammesgenossen, daß sie so dekolletiert mit nacktem Gesicht hier herumspazierte.

Nobody dachte anders.

O, diese raffinierten Spitzbuben! Da schicken sie mir den Grund, daß sie mich blenden können. Die sind so raffiniert, daß ich fast Lust hätte, sie für mich zu engagieren, die könnte ich vielleicht gebrauchen.

Da hob die Frau den gesenkten Blick, sah den Mann unter dem Felsenvorsprung, stieß einen gellenden Schrei aus, hob die Hände, um sich – – nicht den enthüllten Busen, sondern das Gesicht zu bedecken, und flüchtete schreiend davon.

Das Geschrei zeigte bald seine Wirkung.

Schnelle Hufschläge donnerten heran; ein Reiter tauchte auf, ein mit Lanze, Schwert und Pistolen bewaffneter Beduine, um den Leib einen langen Lederriemen gewickelt, vor dem Gesicht einen dichten Schleier, aber der hinderte ihn nicht, den fremden Mann zu sehen; er stieß einen Schrei aus, zwei Araber zu Fuß eilten herbei, und alle drei standen in drohender Stellung vor Nobody.

»Mann, wer bist du, der du mein Weib unverhüllt gesehen hast!!« donnerte ihn der Reiter an.

Ehe Nobody noch eine Antwort gegeben, hatten sich die beiden anderen Araber bereits auf ihn geworfen, hielten ihm, ohne sich um sein Stöhnen zu kümmern, beide Hände fest und visitierten unter dem Burnus seine Taschen.

Ein Revolver, ein Patronentäschchen, ein Nickfänger und eine silberne Taschenuhr hatten den Hauptinhalt seiner verschiedenen Taschen gebildet, und Nobody bemerkte mit Genugtuung, daß der eine Araber die Uhr gleich unter seinem eigenen Burnus verschwinden ließ. Denn dann war das auch kein Beduine, ein solcher hätte einen Fremden nicht sofort auf diese Weise ausgeplündert.

Jetzt holten sie auch noch bereitgehaltene Stricke hervor und begannen ihn trotz seines Protestierens an Händen und Füßen zu binden.

»Ich bin ein harmloser Fremder, der den Birket el Kerun besuchen wollte, und wer seid ihr, daß ihr wie Räuber mich überfallt?«

»Du sagtest es, wir sind Räuber, ich bin Jussuf el Fanit!« war des Beduinen stolze Antwort, und dann wartete er die Wirkung dieser Worte ab.

Aber als Nobody unter den Händen der Araber, die ihn rücksichtslos und sehr ungeschickt banden, nur stöhnte und jammerte, fuhr er in drohendem Tone fort:

»Du hast mein Lieblingsweib Fatme unverhüllt gesehen. Kennst du das Gesetz der Wüste? Du bist des Todes! Ergreift ihn, tragt ihn mir nach, er soll den Tod durch meine eigene Hand empfangen!«

Die Sache sollte also so schnell wie möglich erledigt werden. Der vorgebliche Jussuf el Fanit brauchte gar nicht erst zu wissen, wer der Mann eigentlich sei, wie er hierher kam, ob er Begleiter in der Nähe habe usw.

Eine Verzögerung trat nur dadurch ein, daß die beiden Araber, keine besonders starken Männer und in so etwas nicht geübt, den Gebundenen, welcher sich, wie man sagt, schwer zu machen verstand, nicht aufheben konnten.

»So schont doch nur wenigstens meinen Fuß,« jammerte Nobody, »ich kann euch doch sowieso nicht davonlaufen.«

»Hast du ihn gebrochen?«

»Nein, nur verrenkt, vielleicht kann ich gehen, wenn ihr mich stützt.«

»Macht ihm die Füße wieder frei,« befahl der Reiter.

Es geschah, Nobody wurde aufgerichtet, von den beiden Arabern unter den Armen gestützt, und so hinkte er mit auf dem Rücken gebundenen Händen mühsam vorwärts, ab und zu einen leisen Schrei ausstoßend.

»So hört mich doch nur an,« begann Nobody bei der ersten Gelegenheit, »ich wollte ja gerade ...«

»Schweig, ungläubiger Hund!!« donnerte der vermummte Reiter ihn an, und so wurde Nobody stets unterbrochen, wenn er beginnen wollte.

Nur etwa 10 Minuten nahm der langsame Marsch durch die Schluchten in Anspruch, als das Ziel erreicht war: eine geräumige Höhle, vor welcher ein großer Stapel Dornengestrüpp aufgetürmt war.

Alles schon vorbereitet, dachte Nobody, jetzt handelt es sich nur noch um einen Grund, mir gnädig das Leben zu schenken und mich nur zu blenden, und ich wette meinen Kopf darum, daß es überhaupt nicht mehr als diese drei Männer sind, und der Vermummte ist natürlich der saubere Mr. Huxley. Dann dürfte vielleicht noch Hammed dazu kommen und ganz sicher noch ein anderer Vermummter, und das wird mein Freund der Mr. Wall oder vielmehr der Herr Baron de Lasage sein.

Er wurde in die Höhle geleitet und gegen die Wand gelehnt.

Der Vermummte entblößte seinen Dolch.

»Bist du ein Christ?«

»Ja.«

»Dann bete zu dem Gotte, den du verehrst, dein letztes Gebet. Ich begehe keinen Mord, sondern ich vollziehe an dir das gerechte Gesetz der Wüste. Wie heißt du?«

»Pierre Valette,« nannte Nobody den mit dem Baron ausgemachten Namen.

Der vorgebliche Jussuf schien zu stutzen, er senkte den schon erhobenen Dolch.

»Das ist kein englischer Name.«

»Ich bin ein Franzose.«

»Ich hielt dich für einen Engländer.«

»Ich bin ein guter Franzose.«

»Mann, das rettet dir vielleicht das Leben!«

Er wandte sich an die beiden Araber und erklärte ihnen mit blumenreichen Worten – wenigstens mit dem Versuche, die poesievolle Sprache der Beduinen nachzuahmen, was ihm aber nicht gelingen wollte – daß dies ein Franzose sei, ›welche er liebe‹, und wie man die verdiente Todesstrafe umändern könne.

Es war unumgänglich, daß die Statisten jetzt eine kurze Beratung simulierten.

»Er hat den Tod verdient,« lautete dann ihr feierlich gesprochenes Urteil, »aber da er einer der Franzosen ist, welche wir lieben, soll er nicht sterben. Er soll nur blind werden, weil er das Angesicht des Lieblingsweibes unseres Scheikhs gesehen hat – deshalb soll er fernerhin nichts mehr sehen,«

»Du hast es gehört. Nimm mit deinen Augen Abschied von dieser Erde und von der Sonne, die sie beleuchtet, du wirst beide nicht mehr sehen.«

Auch noch ein anderer hatte diese Worte gehört – noch ein vierter Beduine war in die Höhle getreten, das Gesicht ebenfalls mit einem dichten Schleier verhüllt.

Nobody brauchte nicht zu raten, wer dieser Mann sei, er ließ sich auch nicht dadurch beirren, daß der Mann jetzt einen anderen Burnus trug – er erkannte aus jeder Bewegung des neuen Ankömmlings, daß es nur der Herr Baron sein konnte.

Jetzt fehlte nur noch Hammed, und Nobody hoffte, daß auch noch dieser kommen würde. Dann hatte er jedenfalls die ganze Bande in der Höhle zusammen. Aber seine Hoffnung sollte nicht in Erfüllung gehen.

Der Herr Baron spielte seine Rolle nicht mehr gut. Daran war hauptsächlich schuld, daß er nicht Arabisch verstand. Er konnte nur etwas Staunen heucheln über das, was hier vorging, und sich dann mit dem anderen Vermummten flüsternd unterhalten.

Nobody war sich bewußt, daß er jetzt nicht mehr jammern und um Gnade betteln durfte, jene kannten ihn doch, und er mußte Nobody bleiben. Aber etwas anderes durfte er tun.

»Ich weiß nicht, was für ein Verbrechen ich begangen habe,« sagte er, und zwar sich aus einem besonderen Grunde nicht der arabischen oder seiner vorgeblichen Heimatssprache, der französischen, bedienend, sondern der englischen, »aber ich weiß jetzt, wen ich vor mir habe. Was verlangt ihr, wenn ihr mich freilaßt?«

Ja, das brachte bei den beiden Vermummten allerdings eine große Wirkung hervor.

»Sie haben ja gar kein Geld bei sich,« erklang es jetzt ebenfalls auf englisch zurück.

Nobody hatte wohl Geld bei sich gehabt, etwa 300 Mark in verschiedener Münze und in Papier, so hatte er auch zu dem Baron vor Antritt der Reise gesagt, aber das war ihm bei Visitation seiner Taschen von einem der Araber abgenommen worden. Alles, was er bei sich trug, galt jedenfalls als Beuteanteil der arabischen Helfershelfer.

»Aber ich habe ein Scheckbuch bei mir.«

»Ein Scheckbuch!!« jauchzten die beiden vermummten Beduinen wie aus einem Munde förmlich auf. »Wo ist das Scheckbuch?«

Der geneigte Leser versteht wohl, um was es sich hier handelt.

Schon erfüllte ein brandiger Geruch die Luft, draußen loderte schon das Holzfeuer auf, in dem das Eisen glühend gemacht wurde, mit dem er geblendet werden sollte, und seine Arme und Hände waren gar fest umschnürt, seine Sache stand – um einen kräftigen Ausdruck gebrauchen zu dürfen – verdammt faul. Wenn er sich in seinen Kalkulationen verrechnet hatte, wenn ihm nur irgend eine Kleinigkeit mißglückte, dann war er in einigen Minuten des Augenlichtes beraubt ... never mind, auch angesichts der furchtbarsten Gefahr mußte dieser eiserne Mann Komödie spielen, er amüsierte sich, es machte ihm Spaß, die beiden vermummten Beduinen und Wüstenräuber aus ihrer Rolle fallen zu lassen, und zwar so, daß sie es in ihrem habgierigen Gaunercharakter nicht einmal merkten. Darüber amüsierte er sich eben, über so etwas konnte er sich, wenn er es später erzählte, wieder totlachen.

Es war allerdings auch noch ein anderer Grund vorhanden. Jetzt baute er für die beiden Gauner eine Falle auf.

»Wo ist das Scheckbuch?«

»Einer der Araber hat es mir abgenommen.«

Also hinaus, wo sich die beiden Araber mit dem Feuer beschäftigten.

Als sich der Gefangene allein in der Höhle sah, machte er denn auch ein Gesicht, welches verriet, wie sehr er belustigt war, wie er am liebsten hellauf gelacht hätte.

Die beiden Beduinen kamen gleich wieder, einer hatte das Scheckbuch in der Hand.

»Sie besitzen auf der New-Yorker Kreditbank ein Guthaben von 21 230 Dollar,« sagte der in seiner Erregung aus der Rolle gefallene Beduine.

»Ja, und ich kann dieses Geld in jeder größeren Stadt erheben, auch in Kairo auf der Ottomanischen Bank.«

»Aahh, auf der Ottomanischen Bank!« erklang es wiederum frohlockend. »Und Ihre Unterschrift genügt?«

»Die genügt.«

»Sie wollen sich mit diesem Gelde freikaufen?«

»Gewiß, ich bin mit dem größten Vergnügen bereit dazu. Lösen Sie meine Fesseln, und ich werde unterschreiben.«

Die beiden zeigten großes Mißtrauen.

»Wagen Sie nicht etwa einen Fluchtversuch!«

»Wie wäre das möglich? Ich habe mir den Fuß verrenkt.«

»Richtig. Aber Sie können nicht schreiben. Sie haben sich auch Ihren rechten Arm verrenkt.«

»Ich kann auch mit der linken Hand schreiben.«

»Genau so wie mit der rechten Hand?«

»Ganz genau so. Die Unterschrift ist gültig, das werden Sie sehen.«

»Das werden wir allerdings sehen, denn wir werden Sie nicht eher freilassen, als bis wir das Geld abgehoben haben.«

»Diese Vorsicht kann ich Ihnen nicht verdenken. Dagegen verlange ich von Ihnen, daß Sie mich wirklich freilassen, wenn Sie das Geld erhalten haben, und bis dahin mich natürlich auch nicht blenden, mir überhaupt kein Haar krümmen.«

»Selbstverständlich, wir sind Ehren ... wir sind Beduinen, die Gastfreundschaft ist uns heilig, und bis dahin sollst du unser Gastfreund sein.«

»Beschwört mir das!«

»Ich schwöre bei ... bei ... bei was sollen wir schwören?«

»Beim Barte des Propheten.«

»Ich schwöre beim Barte des Propheten, daß du frei bist und dir kein Haar gekrümmt werden soll, wenn wir das Geld auf deinen Scheck erhalten,« sagte der Beduine, welcher den Ueberfall geleitet hatte, feierlich und legte, mit den mohammedanischen Gebräuchen vertraut, dabei seine Hand an den Bart – d. h. dorthin, wo der Mensch gewöhnlich den Vollbart hat. Denn er lüftete dabei das Tuch nicht, er legte nur die Hand an dieses, und diese Geste genügte auch schon als Schwur, den kein Muselmann zu brechen wagt.

Der andere Vermummte sprach die Worte nach und tat dasselbe.

»Gut, löst die Fesseln meiner Hände!«

Die beiden Araber wurden hereingerufen, ihm die Hände befreit, aber der rechte Arm, obgleich er schlaff herabhing, festgehalten, der eine Vermummte packte selbst krampfhaft mit zu, der andere zog einen Revolver hervor und hielt ihn schußbereit auf den Mann, der jetzt wenigstens seine linke Hand wieder gebrauchen konnte.

»Eine einzige verdächtige Bewegung, und du bist ein toter Mann!!«

Wenn es Nobody darauf angekommen war, sich durch eine List der Fesseln zu entledigen, so hatte er dieses Ziel erreicht, jetzt konnte er handelnd auftreten, den Spieß herumdrehen, seine Gegner unschädlich machen, was doch selbstverständlich sein Plan war. Den drohenden Revolver fürchtete dieser Mann wohl ebensowenig, wie die drei Männer, die ihn festhielten, ihn an seinem Vorhaben hindern konnten.

Aber nichts von alledem!

Der Schein wurde vor ihm gegen die Steinwand gehalten, im Scheckbuch hatte ein Bleistift gesteckt, und Nobody füllte mit der linken Hand das Formular aus und unterschrieb – mit Nobody.

Die beiden Beduinen sahen zu und verloren kein Wort, daß es jetzt mit einem Male nicht mehr ›Pierre Valette‹ war. Der Scheck verschwand unter einem Burnus.

»Bindet ihn wieder!«

»Ihr habt mir doch versprochen, daß ich ...«

»Schweige, ungläubiger Hund!! Bindet ihm wieder die Hände.«

Es geschah, Nobody war wieder gefesselt, er hatte die günstige Zeit verstreichen lassen.

Die beiden vermummten Beduinen flüsterten zusammen, einer der Araber erhielt einen leisen Befehl, er ging hinaus, und als er wieder zurückkam, hielt er in der Hand ein weißglühendes Stück Bandeisen, welches der eine Beduine nahm.

»Ihr wollt mich dennoch blenden?!« schrie Nobody auf.

»Allerdings. Nimm Abschied von der Sonne, du wirst ihr Licht nie wieder sehen.«

»Ihr habt beim Barte des Propheten geschworen, daß ihr mir kein Haar krümmen wollt!«

»Der Schwur gilt nicht, wir haben dabei nicht unsere Bärte angefaßt.«

»Ihr habt es doch getan!!«

»Nein, nur das Tuch, den Bart haben wir gar nicht berührt.«

Nobody verlor keine Worte mehr, seine Augen waren fest auf den Beduinen geheftet, der sich ihm mit dem noch immer weißglühenden Eisen näherte.

Hatte der Mann solch eine furchtbare Prozedur schon einmal ausgeführt? Oder hatte er nur davon gehört, gelesen? Das Blenden ist z. B. eine Strafe der Kirgisen, auf diese Weise wird es auch gehandhabt, und es ist gar nicht nötig, daß dazu die Augenlider erst weggeschnitten oder durch eine Vorrichtung oben gehalten werden. Ein glühendes Schwert wird dicht an den geschlossenen Augen des Delinquenten vorbeigeführt, es braucht gar nicht so langsam zu geschehen, die Brauen versengen allerdings, die Augenlider dagegen erhalten nicht einmal Brandwunden, sie sind hinterher nur etwas gerötet – aber die ausstrahlende Hitze hat genügt, um den Sehnerv für immer zu töten.

Der Beduine war dicht vor den an der Wand lehnenden Gefangenen getreten, er hob das glühende Bandeisen und ...da geschah etwas, wovon keiner der vier Männer dann sagen konnte, wie es eigentlich geschehen war.

Der Beduine hatte plötzlich kein Eisen mehr in der Hand, er fühlte sich vorn an der Brust gepackt und mit Riesenkraft in die Höhe gehoben, dasselbe fühlte in dem gleichen Augenblick auch der andere Beduine, sie schmetterten mit den Rücken gegeneinander, sie sausten durch die Luft, nämlich auf die beiden anderen Araber drauf, denen es war, als ob ihnen die Füße vom Boden weggeschlagen würden – und auf dem Steingrund der Höhle lag ein Knäuel von vier Menschen, auf den obersten beiden, den Beduinen, kniete Nobody, wie ein Vampyr, wie ein riesiger Polyp sie umschlingend, ihnen mit den plötzlich freigewordenen Händen die Kehlen zuschnürend und sie gleichzeitig gegen die unten liegenden Araber pressend, daß sich diese ebenfalls nicht rühren konnten – und zugleich erfüllte die Höhle ein schauriges Gelächter, das Gelächter der hungrigen Hyäne, aber aus Nobodys Munde kommend.

Da tauchte vor der Höhle Hammeds entsetztes Gesicht auf, er mochte als Wache ausgestellt worden sein, in demselben Augenblick blitzte in Nobodys Hand der vernickelte Lauf eines Revolvers, seines eigenen Revolvers, den er mit Zauberschnelle dem einen Araber schon wieder aus der Tasche gezogen hatte, der Schuß krachte. Hammed machte einen Bocksprung und stürzte nieder, blieb schreiend liegen, aber sein Schreien ward von dem schauerlichen Lachen übertönt, welches Nobody wieder erschallen ließ.

Dann lauschte er, dabei mit Händen und Füßen und dem ganzen Körper alle vier Männer mit unwiderstehlicher Kraft an den Boden pressend.

Und da antwortete eine Hyäne, obgleich sie sonst nur bei Nacht ihr schreckliches Lachen hören läßt, noch klang es aus weiter Ferne. Nobody heulte wieder. Schnell kam die Antwort näher, und da stürmten sie herein, vier in weiße Burnusse gehüllte Gestalten, voran ein Riese, das war Kapitän Flederwisch, ihm nach wackelte Zwergnase, und dann ein Neger und ein Araber, diese vier von der ›Wetterhexe‹, und ein fünfter Araber im zerrissenen Hemd schaute nur zur Höhle herein.

»Da liegen sie, vier auf einen Schlag,« sagte Nobody, sich langsam aufrichtend, aber noch mit den Füßen wie ein Raubtierbändiger breitbeinig auf den bezwungenen Bestien stehend. »Mit diesen meinen Händen habe ich sie gefangen. Nur den fünften mußte ich mit einem Schuß niederwerfen, weil er sich draußen vor der Höhle befand. – Und wen haben wir denn nun eigentlich hier?«

Er lüftete nacheinander die Gesichtsschleier.

»Aaahhh, Mr. Wall! Oder vielmehr der Herr Baron de Lasage! Freut mich sehr, Sie hier wiederzusehen! Und wer ist das? Auch so eine Galgenphysiognomie! Mr. Huxley, nicht wahr? Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Jetzt überließ er die Ueberwältigten seinen Leuten, welche sie mit Stricken fesselten. Sie fanden dabei nicht den geringsten Widerstand, die so Ueberraschten waren sowieso schon mehr tot als lebendig.

»Und nun, Kapitän,« wandte sich Nobody an diesen, »gilt auch bei mir der Wille schon für die Tat – dort liegt das Eisen, mit welchem sie mich blenden wollten, es glüht immer noch!«

Nobody erzählte mit kurzen Worten seine Erlebnisse, und vielleicht am allermeisten betonte er das, wie die beiden vorgeblichen Beduinen seine Sicherheit beim Barte des Propheten beschworen hatten.

»Ich hätte sie auch bei unserem Gotte schwören lassen können, aber es war nicht nötig, um ihren Charakter noch weiter zu prüfen. Das, was ich von ihnen erfahren habe, genügt schon.«

Hiermit schloß Nobodys Erklärung, und wie Kapitän Flederwisch mit den drei Matrosen hierhergekommen war, bedarf auch keiner ausführlichen Schilderung.

Nobody war erst am späten Abend nach Fayum gefahren, Flederwisch, genau instruiert, eine Adresse in der Tasche, schon am Nachmittag, aber nicht direkt bis nach Fayum, sondern hatte schon vorher den Zug verlassen und einen kurzen Wüstenritt gemacht, wobei er Medinet vermied, unterwegs einen Führer mietend, der ihn und die Matrosen nach dem Geiergebirge leitete, wo sie sich verbargen und auf das Hyänengelächter warteten. Sehr groß ist dieses Gebirge nicht, eigentlich nur eine zerrissene Felsmasse, und die von jenem Dorfe Kommenden mußten sie unbedingt sehen.

»Nun müssen wir erfahren, wer sonst noch im Bunde ist,« fuhr Nobody fort, »entgehen darf uns keiner, und ist einer vielleicht schon auf der Flucht nach Medinet, den müssen wir noch einholen. Vor allen Dingen fehlt noch das Weib, dessen unverhüllte Schönheit ich bewundern mußte.«

Er wandte sich an die Gefangenen, welche mit vor Schreck verzerrten Gesichtern und mit schlotternden Knien an der Wand lehnten. Eine Ahnung mochte ihnen wohl sagen, daß ihre geplante Untat eine exemplarische Strafe nach sich ziehen würde, vor allen Dingen aber standen sie noch unter dem Banne der Vision, die sie gehabt hatten. Der an den Händen sicher gefesselte Mann – mit verrenkten Gliedmaßen – dort lagen die Stricke, nicht zerschnitten, alle Knoten waren noch vorhanden – wie sie von diesem Manne plötzlich gepackt und zusammen und übereinander geschmettert wurden – – es kam ihnen alles wirklich nur wie eine Vision vor, wie ein furchtbarer Traum, sie konnten's nicht fassen, und darum ihre verzerrten Züge.

Zum Sprechen aufgefordert, kehrten sie zur Wirklichkeit zurück, und sie waren geständig.

Nur noch jenes Weib war eingeweiht und behilflich gewesen. Es war die Frau eines der Araber. Sie befand sich jetzt an dem Orte, wo auch die Pferde versteckt standen. Der Araber wurde von Puttfarken und dem schwarzen, arabisch sprechenden Matrosen in die Mitte genommen, bald kamen sie wieder, die heulende Frau und die Pferde mitbringend.

Unterdessen war Nobody in seinem Verhör fortgefahren. Er erfuhr alles. Uns interessiert nur, daß sich auch Marguérite bereits in Medinet el Fayum befand, wenigstens voraussichtlich, sie wollte in einem bestimmten Hotel wohnen, und sobald der ›Coup‹ geglückt sei, sollte Mr. Huxley durch einen Araber einen ausführlichen Bericht an sie abgehen lassen.

»Der ›Coup‹ ist zwar nicht geglückt, aber die Freude an dem ausführlichen Bericht soll sie dennoch genießen,« sagte Nobody ironisch. »Bitte, Mr. Huxley, Sie haben wohl die Güte, den Bericht gleich abzufassen – recht schön und interessant, in einem etwas schwunghaften Stil, wenn ich bitten darf, auch etwas sentimental und zu Tränen rührend, denn die Lektüre ist für eine gefühlvolle Dame bestimmt – hier haben Sie Papier und Bleistift – bitte, nehmen Sie hier auf diesem Felsblock Platz, und nun legen Sie los.«

Kapitän Flederwisch konnte sich nicht helfen, er mußte aus vollem Halse lachen. Das ging hier alles wie im Salon zu – – und nun dieser Kontrast, diese Beduinengestalten, mitten in der Wüste, in dem wilden Gebirge, nach den eben vorausgegangenen Szenen!

Der von seinen Banden befreite Huxley gehorchte, er setzte den Bericht auf.

Während ihm Nobody über die Schulter schaute, ließ er sich von dem anderen näher schildern, wie Marguérite das ganze Unternehmen geplant hatte.

Was wollte sie dem Blinden sagen, wenn sie ihn im Geiergebirge umherirrend fand? Wie war sie dann hierhergekommen?

Die Sache war ganz einfach. Der Mr. Wall sei plötzlich wieder nach Kairo zurückgekehrt und habe im Hotel du Nil erzählt, wie er mit dem Detektiv Nobody nach dem Geiergebirge gereist sei, um ein von Jussuf el Fanit gefangenes Mädchen zu befreien. Jetzt brauchte sich der Herr Baron nicht mehr zu ›kompromittieren‹, das konnte doch jetzt irgend ein anderes Mädchen sein.

Der Befreiungsversuch war mißglückt, Nobody selbst war in die Hände des Wüstenräubers gefallen, und der Herr Baron gestand mit edler Freimütigkeit, daß er seinen Gefährten feig im Stich gelassen hatte. Was sollte er auch anderes tun als ausreißen? Er mußte Hilfe herbeiholen.

Dies hören und gleich nach der Oase Fayum reisen, gleich direkt ins Geiergebirge, war für Marguérite eins, und einem liebeglühenden Weibe ist solch eine planlose Handlung ja auch zuzutrauen.

Na, und da fand sie eben den Geliebten als blinden Mann im Gebirge umherirren, der Wüstenräuber hatte ihn geblendet.

Sie nahm den schon Halbverschmachteten bei der Hand, und in dem Dorf Sal Bekr sollte sie ihn pflegen.

»Hm,« brummte Nobody nachdenklich, als er alles erfahren hatte, »hier gibt es noch einen dunklen Punkt. Die ist aber doch nun schon in Medinet el Fayum und bekommt die Nachricht, daß ich geblendet worden bin, sofort, in zwei Stunden. Anscheinend soll sie das aber doch erst in Kairo erfahren, Huxley muß erst hin, sie muß erst hierher fahren, das nimmt doch mindestens einen Tag in Anspruch. Wie wird denn nun dieser Zeitunterschied ausgeglichen?«

Der entlarvte Baron verstand sofort, was jener meinte, und er strengte seinen Scharfsinn noch ganz besonders an, vielleicht weil er hoffte, durch ›aufmerksames Entgegenkommen‹ dann einen milderen Richter zu finden.

»Ganz recht,« sagte er, »wenn alles richtig gehen soll, so kann Madame Lenois erst einen Tag später hier sein und Sie hier finden. Aber sie wird sofort hierher eilen und Sie den ganzen Tag lang beobachten, auch die Nacht noch, und auch dafür sorgen, daß Sie nicht von einer anderen Person in Ihrem hilflosen Zustande gefunden werden. Und das kann sie wohl fertig bringen, Sie sind doch blind, Sie können sie ja nicht sehen.«

»Verdammt!« stieß Nobody mit ärgerlichem Lachen hervor. »Da muß ich also einen ganzen Tag und länger noch hier als Blinder herumtappen?!«

»Da schicken Sie den Bericht ganz einfach einen Tag später ab,« meinte Flederwisch.

»Was hätte das für einen Zweck? Dann käme sie immer wieder einen Tag später. Oder aber auch nicht, sie käme zu früh und könnte mich unvorbereitet überraschen, weil sie ihre Ungeduld, zu wissen, wie die Sache ausgefallen ist, nicht mehr bemeistern kann. Nein, es bleibt mir nichts anderes übrig, als einen Tag als Blinder hier im Gebirge herumzuirren. Never mind, wird alles gemacht, wenn nur der Spaß gelingt.«

Der Bericht war fertig, Nobody las ihn und fand ihn zu seiner Zufriedenheit ausgefallen. Nach kurzer Beratung hielt man es für das beste, als Ueberbringer des Briefes den schwarzen Matrosen zu benutzen. Marguérite wußte nicht, wen Huxley engagiert hatte, der Neger sprach Arabisch, war Mohammedaner, kannte alle hiesigen Verhältnisse – – es konnte nichts auffallen.

Der Neger ritt mit dem Briefe ab.

»Jochen, hast du meinen Malkasten mitgebracht?«

»Hier ist er.«

Nobody nahm das Toilettenecessaire und packte die verschiedenen Büchsen und Schachteln und Fläschchen aus, Puder und Schminke und dergleichen enthaltend.

»Hier,« sagte er zu Flederwisch, ihm ein Fläschchen mit einer roten, dicken Flüssigkeit zeigend, »das ist das berühmte Hennah, mit dem die orientalischen Damen ihre Fingernägel rot färben.«

»Wozu brauchen Sie das?«

»Um mir meine Augenlider rot zu schminken. Das Zeug hält aber noch viel besser als gewöhnliche Schminke. Ich bin doch mit Feuer geblendet worden, muß entzündete Augen haben. Die Brauen könnte ich vielleicht auch künstlich versengen, aber die Wimpern muß ich mir abschneiden, da hilft nun alles nichts. Na, da ich mir nun einmal vorgenommen habe, die nähere Bekanntschaft des geheimnisvollen Wüstenräubers zu machen, der so mit dem amerikanischen Lasso umzugehen weiß, bleibe ich doch noch längere Zeit hier, und bis ich mich wieder einem besseren Publikum präsentiere, sind die Wimpern wieder gewachsen. – Jochen, hast du auch an die Flasche Olivenöl und an den Branntwein gedacht?« –

»Alles hier zur Stelle – feinstes Provenceröl – echter alter Kornschnaps,« meldete Puttfarken, zwei große Flaschen in die Höhe haltend.

»Wozu ein guter Kornschnaps in jeder Lebenslage dienlich ist, das weiß ich auch,« lachte Flederwisch. »Wozu aber das Olivenöl?«

»Ahnen Sie es nicht? Kommt Ihnen bei der Zusammensetzung ›Oel und Branntwein‹ keine Jugenderinnerung? Haben Sie keine Sklavengeschichten gelesen? – Sie werden es gleich sehen, warum ich für diese beiden innerlichen Mittel, die aber auch äußerlich zu verwenden sind, schon in Kairo gesorgt habe. – – Jochen, takele mal hier diesen Strick! Ist er auch schmiegsam genug? Ja? Also takele ihn an beiden Enden, daß er sich nicht ausfranzt.«

Dann wandte sich Nobody in seiner gelassenen Weise an die beiden Gauner, und denen ging jetzt freilich eine schreckliche Ahnung dessen auf, was ihrer wartete.

»Die Rache ist mein, spricht der Herr. Ganz richtig – diesmal ist die Rache dem Herrn Nobody. Doch nein, nichts von Rache. Ich bin ein pünktlicher Geschäftsmann, und will nur meine Rechnung begleichen. Anbei folgt Abrechnung. Für allgemeines Lügen: 5, für allgemeines Schwindeln: 7, für Vorspiegelung falscher Tatsachen: 19, für die Bemühungen, die ihr vorhin mit mir hattet: 15, für den Schwur beim Barte des Propheten als Entschädigung für Zeitversäumnis: 20; summa summarum: 57 Hiebe mit der einschwänzigen Katze. Stimmt die Rechnung? Einen Augenblick, meine Herren, das Schreibgerät ist gleich fertig zur Unterschrift. Das feinste Provenceröl und den echten alten Korn zum Waschen des Rückens liefere ich gratis. – So, gib her, Jochen. – – Entblöße ihnen den Rücken!!« –

 

Kapitän Flederwisch stand auf einem hohen Felsen und spähte als Wächter die Umgegend ab.

Was für ein seltsamer Mann er doch war, dieser unbekannte Nobody! Was war am meisten zu bewundern? Wie er so sorglos in die furchtbare Gefahr gegangen war, wie er bis zum letzten Augenblicke gewartet hatte, wie er die vier Männer gleichzeitig mit einem einzigen Griff überwältigt oder wie er schon in Kairo an das Oel und an den Branntwein gedacht hatte, um die geschlagenen Wunden zu waschen? Ja, was war da mehr zu bewundern?

Da gellte ein furchtbares Schmerzgeheul.

Nobody vollzog die Bestrafung eigenhändig.

 

»Hil – feee!«

Von Zeit zu Zeit ließ diesen Ruf mit heiserer Stimme der arme Mann erschallen, der seit fast schon 24 Stunden in den Schluchten des Geiergebirges umherirrte.

Sein Burnus war zerfetzt, keine Kopfbedeckung schützte ihn vor dem glühenden Sonnenbrand, und der Aermste war blind, und zwar mußte er erst vor ganz kurzer Zeit sein Augenlicht verloren haben.

Das erkannte man nicht nur daraus, daß Brauen und Wimpern stark versengt und die Lider über den starren, gläsernen Augen sehr gerötet waren, sondern auch aus seinem Gang.

Der Gang eines langjährigen Blinden ist doch ziemlich sicher, selbst auf einem ihm völlig fremden Wege, er tastet fast nur mit den Fußspitzen, selten mit den Händen, und in diesem Tasten liegt Methode.

Dieser Blinde hier aber schwankte mit weit vorgestreckten Händen unsicher hin und her, er setzte einen Fuß vor, und es dauerte lange, ehe er den anderen Fuß nachzog, dabei verlor er oftmals die Balance, taumelte seitwärts und kam dann durch einen der überall verstreut liegenden Steine regelmäßig zum Sturz, was ihm jedesmal wieder einen Fetzen des dünnen Burnus kostete.

»Hil – feee!!« schrie Nobody abermals mit allem Aufgebot seiner Lunge, aber es war nur noch ein heiseres Aechzen, und für sich im stillen setzte er hinzu: »Wenn sie aber jetzt nicht bald kommt, dann wird mir die Geschichte langweilig.«

Ja, er hatte auch Grund, endlich ungeduldig zu werden!

Seine Freunde lagen in einem sicheren, hohen Versteck, von dem aus sie den Blinden manchmal in den Schluchten herumstolpern sahen, und wenn sie noch nicht die Geduld verloren hatten, so kam das nur daher, weil sie sich immer wieder staunend fragten, wie lange dieser von einem irdischen Weibe geborene Mensch dieses entsetzliche Spiel eigentlich noch aushalten würde, ehe er bewußtlos zusammenbrach, ehe er wahnsinnig wurde!

Gestern nachmittag gegen drei Uhr war es gewesen, als er begonnen hatte, den Blinden zu markieren. Da hatte er noch eine hellere Stimme gehabt, sein Burnus war noch nicht so zerrissen gewesen. Sonst hatte er sich schon gestern so wie noch jetzt benommen, war getaumelt und gestürzt, und die Beobachter hatten schon gestern nicht begreifen können, wie er das bis zum Abend aushalten konnte, nämlich bis gegen acht Uhr die Finsternis anbrach, die ihn den Augen der Beobachter entrückte.

In der Nacht mochte er irgendwo geschlafen haben. Vergebens hatte man darauf gewartet, daß er wenigstens im Schütze der Dunkelheit kommen und sich an Speise und Trank laben würde.

Nein, die Nacht verging, und er war nicht gekommen. Er war ein Blinder und blieb ein Blinder!

Und als die afrikanische Sonne wieder im Osten emporstieg und schon in dieser tiefen Stellung die nackten Felsen mit heißem Strahle küßte, da hörte man auch wieder den heiseren Hilferuf, und wieder sah man Nobody in den Schluchten langsam umherschleichen, taumeln und stürzen.

Proviant hatte er nicht bei sich, Trinkwasser gab es in dieser steinigen Gegend nicht – das konnte nicht mit natürlichen Dingen zugehen, das hielt kein Mensch aus. Er wollte die Rolle des Blinden nicht aufgeben, denn jeden Augenblick konnte ja die Prinzeß auftauchen, aber jetzt galt sein Hilferuf offenbar auch den mit Proviant und Wasser ausgerüsteten Freunden, deren Versteck er nun nicht wiederzufinden wußte.

Ali, der schlangengewandte Neger, erhielt den Auftrag, sich an ihn heranzuschleichen und ihm Speise und eine Flasche zuzustecken.

Der Schwarze entledigte sich seines Auftrags mit dem größten Geschick.

»Pst, Master,« flüsterte er hinter einem Felsen hervor dem Vorübertorkelnden zu, »hier ist Wasser mit Rotwein – und Brot – und Eier – und ein großes Stück Wurst.«

Die Antwort aus Nobodys Munde kam in zweierlei Tonarten. Einmal brüllte er, dazwischen flüsterte er mit leisester Stimme.

»Hilfeee!!! – – Halt's Maul, Kerl! – – Hilfeee!!! – – Willst du Himmelhund gleich verschwinden! – – Hilfeee!!!«

Mit dem barmherzigen Angebot war es also nichts. Nobody brauchte keine Barmherzigkeit. Ali mußte sich unverrichteter Dinge zurückziehen, und die Freunde konnten in ihrem Versteck weitere Beobachtungen anstellen, wie lange es ein Mensch bei der größten Hitze ohne Speise und Trank auszuhalten vermag.

Es wurde Mittag; das war keine Felsenschlucht mehr, sondern das war jetzt ein mit unsichtbarer Lavaglut angefüllter Kessel, in dem der vorgebliche Blinde herumtorkelte und mit versagender Stimme schrie, und daß ob der fruchtlosen Bemühungen endlich auch er die Geduld verlor, davon war ihm doch nicht das geringste anzumerken.

»Hilfeeee!! – – Hallo, was ist denn das für ein Weib?! Margarete ist das nicht!«

Es war ein Wunder, daß Nobody über dem, was er zu sehen bekam, nicht aus der Rolle fiel und vor Staunen die Augen weit aufriß, er mußte sich in eiserner Gewalt haben. Nur stürzte er wieder einmal, um die hier so rätselhafte Gestalt länger und unbeobachtet genauer betrachten zu können.

Auf dem Plateau eines niedrigen Felsens seitwärts der Schlucht stand eine Frau, eine Dame, eine große, schlanke Blondine – eine Dame, die mit ihrer Toilette auf die Promenade der Lebewelt einer Großstadt gepaßt hätte, nur nicht hier in die öde Wildnis des einsamen Geiergebirges.

Die Entfernung war eine so kleine, daß des Detektivs scharfes Auge auch das geringste an ihr erkennen konnte.

Sie trug ein weißes, duftiges Batistkleid, alles ein Gewoge von Spitzen und Bändern, hochelegant, nach der neuesten Mode aus der Werkstatt eines Pariser Kleiderkünstlers hervorgegangen, auch der Saum des Unterrocks war sichtbar, die kostbarsten Spitzen, durchbrochene Seidenstrümpfe, mit Blumen durchwirkt, die zierlichen Goldkäferschuhchen – und nun auf dem aschblonden, hochfrisierten Haar ein kokettes Federhütchen, das auf dem Boulevard so ungefähr mit 200 Franks ausgestellt gewesen sein mochte – ferner ein Sonnenschirm, gleichfalls ein Gewoge von Batist und Spitzen und Bändern – kurz und gut, für die hiesigen Verhältnisse, wenn man sie kennt, ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht.

Eine Dame im eleganten Sportkostüm, ja – aber diese Pariser Modepuppe war hier eine absolute Unmöglichkeit.

Ferner beobachtete der ›Blinde‹ noch, daß sie blaue, strahlende Augen hatte, eine gerade, stolze Nase, und daß sie im übrigen Anspruch auf den Namen einer Schönheit machen konnte. Ihr Teint mußte den Augen und dem Haar nach ein weißer sein, aber er war von der Sonne gebräunt, doch nicht allzu braun.

»So vielleicht um die 22 herum,« kalkulierte der sich von seinem Sturz aufrichtende Blinde. »Der Figur nach Britin, den Zügen nach halte ich sie mehr für eine Deutsche. Hm, ein netter Käfer. Wie zum Henker kommt die in so 'nem Klimbimkleide hier ins Geiergebirge?! Gelitten kann sie nicht sein. Die muß direkt von Paris oder von London oder von Berlin durch die Luft geflogen sein. Oder sie hat hier im Geiergebirge ein Toilettenboudoir. Zum Teufel, die ist doch ganz frisch frisiert? Die hat doch eben erst ihre Locken gebrannt? – – Hilfeee!!!«

Die wundersame Erscheinung verschwand hinter einem Felsblock, neben dem sie auf dem Plateau gestanden.

Es blieb dem Blinden, der doch nichts gesehen haben durfte, nichts weiter übrig, als wieder vorwärtszustolpern.

»Hilfeee!«

Keine Antwort, nichts zeigte sich, und die Minuten verstrichen.

»Teufel,« dachte Nobody, »die wird mich doch nicht im Stiche lassen?! Beobachtet hat sie mich lange genug, und daß ich blind bin, das sieht doch sogar ein Blinder. Oder sollte sie sich vor einem Blinden fürchten? Es gibt solche komische Weiber. Nein, sie sah sehr ernst aus, tiefernst, und ernste Menschen sind nie feig. Das Plateau fiel auf dieser Seite steil ab, sie wird einen anderen Abstieg suchen müssen. Und wenn sie mich nicht gleich wiederfindet? Ich werde noch einmal schreien, und wenn sie ...«

Nobody brach mit seinen Gedanken ab, und um ein Haar wäre er aus der Rolle gefallen, hätte sich als Sehender verraten.

Denn was sich da plötzlich ereignete, das hätte er sich nicht träumen lassen!

Mit einem Male war die Dame an seiner Seite, nur einen Schritt von ihm entfernt, von hinten war sie gekommen, lautlos wie ein Schatten. Und wie sie sich nun weiterhin benahm!

Sich zunächst noch an seiner Seite haltend, beugte sie den schlanken, geschmeidigen Leib weit vor, zuerst auf diese Weise ihm forschend ins Gesicht sehend, dann nahm sie größere Schritte, um ihm zuvorzukommen, und nun, wie sie schritt, wie sie die dünn beschuhten Füße setzte! – Des Detektivs scharfes Ohr hätte auf dem steinernen Boden eine Maus huschen hören, aber von dieser eleganten Dame Tritt vernahm er auch nicht das geringste Geräusch – und das Batistkleid gab keinen raschelnden Ton von sich – und wie sie es in eigentümlicher Weise aufraffte, um so ganz geräuschlos den Blinden umschleichen zu können! – und in welcher Weise sie ihn umschlich! – wie sie dabei auf den Fußspitzen federte! ...

»Gerade wie ein nordamerikanischer Indianer auf dem Kriegspfad,« konnte Nobody nur staunen.

Und da geschah wiederum etwas, was sein Staunen nur noch vermehrte, was die Richtigkeit seines soeben gehabten Gedankens bestätigte.

Nobody erkannte, daß er sich jetzt der Gegend näherte, in welcher gestern die wilde Szene stattgefunden hatte, und da plötzlich, als sie einige Schritte ihm voraus war, stutzte die Dame, sie blieb stehen und spähte auf den Boden – und nun in welch eigentümlicher Weise sie das tat, wie sie dabei den schlanken Leib vorbeugte und die Augen mit der einen Hand beschattete! – immer weiter neigte sie den Oberkörper herab, und plötzlich kauerte sie nieder, brachte das Auge noch näher an den steinigen Boden und legte messend die mit weißem Glacéhandschuh bekleideten Finger ausgespannt auf eine bestimmte Stelle.

»Sie hat den Abdruck eines Stiefels gefunden,« dachte jetzt Nobody im höchsten Staunen. »Eine Pariser Modepuppe und eine nordamerikanische Rothaut, die regelrecht eine Fährte untersucht!! Nun löse mir jemand dieses Rätsel!«

Er hatte die am Boden Kauernde erreicht, er beschleunigte durch Vorwärtstaumeln unauffällig etwas seine Schritte, es war seine Absicht, an sie zu stoßen, seinetwegen auch auf sie zu treten, denn er wollte sie zwingen, ihre Anwesenheit ihm endlich zu verraten, aber es gelang ihm nicht.

Im letzten Augenblick, als er sie mit dem Fuße schon zu berühren glaubte, glitt sie in gebückter Stellung wie eine Schlange unter seinem Fuße seitwärts davon, Nobody befand sich nur einen halben Meter von einer Steinwand entfernt, in diesen Zwischenraum hatte sie sich gedrängt, Nobody taumelte seitwärts, aber wiederum gelang es ihm nicht, sie zu streifen, abermals entschlüpfte sie ihm wie eine glatte Schlange, ohne daß auch nur eines der Bänder ihn berührt hätte.

Jetzt griff der genasführte Nobody, der als Blinder doch nicht so handeln durfte, wie er wollte, zu einem anderen Mittel, er verlegte sich gewissermaßen aufs Bitten.

»Hilfeee! Hilfeee!«

Und leise jammernd setzte er hinzu:

»Gott, willst du mich denn verschmachten lassen?! Schicke einen Menschen, der mich aus dieser Wüste führt!«

Diese verzeihliche List, so verzeihlich wie jedes Gebet und wie jedes Verbrechen auf der Bühne des Theaters, hatte endlich den gewünschten Erfolg.

Sie kam wieder von hinten einige Schritte voraus, huschte seitwärts, blieb an der Felswand stehen, wendete den Kopf von dem sehenden Blinden ab und legte die Hände trichterförmig vor den Mund.

»Wer ruft da?!«

Es war eine melodische Altstimme gewesen, welche aus weiter Ferne zu kommen schien.

Diese Schlauheit! Und wozu nur diese Vorsicht und überhaupt diese ganze Handlungsweise?

Doch der Blinde mußte seine Rolle weiterspielen. Er war lauschend stehen geblieben, und sein Gesicht drückte das aus, was er jetzt beim Klange einer menschlichen Stimme empfinden mußte.

»Hier, hier! Hilfe, Hilfe!«

»Wo? Rufe noch einmal!«

Die Dame im Batistkleide verstand es vortrefflich, ihre Stimme scheinbar näherkommen zu lassen, und dann ging sie ebenso zum Handeln über. Erst schlich sie wieder geräuschlos, dann trat sie etwas lauter auf, zuletzt eilte sie mit hörbaren Schritten herbei,

»Um Gott, Mann, wer seid Ihr?«

»Dieses Rätsel muß und werde ich lösen,« dachte Nobody, und ächzend setzte er laut hinzu:

»Wasser! Wasser!«

»Ihr seid blind! Unglücklicher, wie kommt Ihr denn in dieses wilde Gebirge?«

»Wasser! Wasser!!«

»Mann, Ihr habt ja versengte Augenbrauen und Wimpern, Eure Lider sind entzündet, Ihr seid geblendet worden!«

»Wasser! Wasser! Ich verschmachte!!« stöhnte Nobody zum dritten Male und brach zusammen.

Die Dame trat hinter ihn, und plötzlich fühlte sich der Liegende unter den Achseln von kraftvollen Armen gefaßt, er wurde unter einen Felsvorsprung geschleift.

»Hier liegt Ihr im Schatten. Wartet nur fünf Minuten, ich hole Euch etwas zu trinken.«

Und nun geschah wieder etwas, was über Nobodys Begriffe ging – wenn man nämlich immer bedenkt, daß es die eleganteste Modedame war, eigentlich für die Kurpromenade bestimmt.

Sie raffte mit beiden Händen, den Sonnenschirm unter einen Arm geklemmt, ihr duftiges Spitzenkleid empor, so hoch, daß Nobody die silbernen Schuppenbänder sehen konnte, welche die durchbrochenen Seidenstrümpfe oberhalb der Knie festhielten, sie nahm einen Anlauf, schnellte mit elastischen Sätzen über den ebenen Boden der Schlucht, sprang auf einen mindestens einen Meter hohen Felsblock, aber das hatte noch immer zum Anlauf gehört, mit der Sicherheit und Federkraft einer Gemse sprang sie weiter von Felsen zu Felsen, immer höher und höher – wo man gar keinen Vorsprung sah, da wußte ihr kleiner Fuß noch einen Halt zum elastischen Absprung zu finden – und dabei bediente sie sich nicht einmal der Hände, diese mußten das Kleid emporraffen, man sah es ganz deutlich, wie sie bei der tollkühnen Springtour, bei der sie jeden Augenblick abstürzen und den Hals brechen konnte, auch noch darauf bedacht war, das kostbare Kleid zu schonen – und dann war sie oben hinter einem Felsgrat verschwunden.

»Alle Wetter, das hätte nicht einmal ich fertig gebracht!!« staunte Nobody. »Nun aber brate mir jemand einen Storch! Leide ich denn an Halluzinationen? Wer in aller Welt mag das nur sein?«

Der grübelnde Kopf des Detektivs kam auf die Vermutung, daß sich hier in der Nähe das Lager einer Jagdgesellschaft befinden müsse, die Dame gehörte mit dazu, von Profession eine Seiltänzerin, eine Parterre-Akrobatin, die ihre Toiletten mit sich geschleppt hatte, einmal im Promenadenkostüm das Lager verlassen hatte – – und dann verwarf er wieder diese Annahme als einen Unsinn.

Nein, um so über die Felsen springen zu können, dazu genügte die Seiltänzerin nicht, die gelegentlich hier dieses Gebirge besuchte. Das war die geborene Felsenbewohnerin, die hier zu Hause war, die Gemse, die über Stock und Stein den kürzesten Weg wählt, weil sie sich nicht verirren kann. Und nun, wie sie ihn so scheu und vorsichtig umschlichen hatte! Warum? Eben weil sie eine scheue, aber neugierige Gemse war. Und wie sie die Spuren untersucht hatte. Und wie sie ...

Nobody wußte gar nicht mehr, was er denken sollte.

Da tauchte sie schon wieder auf, jetzt aber seitwärts aus der Schlucht kommend, in beiden Händen eine große Urne oder Vase tragend.

Den Sonnenschirm hatte sie nicht mehr bei sich, auch die Glacéhandschuhe hatte sie abgelegt, und Nobody gewahrte noch mehr Schmuck an ihr.

Schon vorhin hatte er beobachtet, daß sie um den fein modellierten Hals eine Perlenschnur trug, wie sie prachtvoller nicht die Königin von Italien besaß, welche in Perlenschmuck maßgebend ist; in den Ohren hatte sie kleine Korallen, aber nicht nur solche rote Kügelchen – des ›blinden‹ Detektivs Augen waren so scharf, daß er sofort den wunderbaren Gemmenschnitt bemerkt hatte, wodurch Korallen wertvoller als die kostbarsten Diamanten werden können; und jetzt sah er auch noch an den schlanken, leicht gebräunten Fingern einige Ringe von altertümlicher Arbeit blitzen – Ringe, welche man nicht in einem Juwelierladen zu kaufen bekommt, sondern welche man nur noch in reichen Museen und in Schatzkammern hinter Glas und Eisenstäben bewundern kann.

Schließlich erregte auch der Krug Nobodys höchste Aufmerksamkeit – das feinste chinesische Porzellan – oder wahrscheinlicher, da mit Malereien in prachtvollen Farben bedeckt, wie sie unsere abendländische Keramik und Technik immer noch nicht nachahmen kann, japanischen Ursprungs. Wäre das Gefäß aus schwerem Golde gewesen, es hätte nicht solch einen Wert gehabt. Und solch ein leichtzerbrechliches, kostbares Ding nimmt doch keine Gesellschaft auf die Reise mit, um etwa bei Gelegenheit darin eine Bowle anzusetzen!

»Hier, armer Mann, trinkt – löscht Euren Durst, ehe Ihr mir erzählt, was Euch geschehen ist,« sagte die weiche, leicht tremolierende Altstimme.

In einer eigenartigen Weise führte sie ihm den hohen Krug von untenherauf an den Mund. Es war ganz unverkennbar, wie sie der Möglichkeit vorbeugen wollte, daß er sie berühren könnte. Erstens stand sie möglichst weit ab von ihm, dann hatte sie den Krug mit beiden Händen ganz tief unten gefaßt, und hätte Nobody, der sich wieder aufgerichtet hatte, diese Hände mit den seinen berühren wollen, so hätte er sich erst sehr tief bücken müssen.

Es war gesüßtes Zitronenwasser, und der Schauspieler brauchte jetzt nicht mehr den Halbverschmachteten nur zu markieren, sein Durst war echt, und er trank denn mit vollen Zügen und trank und trank. Dabei aber beschäftigten sich seine Gedanken immer mit dem vorliegenden Rätsel, er achtete auf alles, stellte immer heimliche Experimente an.

So hatte er wohl seine beiden Hände oben an den großen Krug gelegt, aber er hielt ihn nicht, das überließ er der Dame.

»Donnerwetter, hat dieses Weib eine Muskelkraft!« dachte er erstaunt. »Das sind wenigstens fünf Liter, einen habe ich erst getrunken – dann sind das mit dem Kruge zusammen mindestens 15 Pfund Gewicht – und die vermag dieses Gewicht so lange mit ausgestreckten Armen zu halten!!«

Er setzte im Trinken einmal ab – die Dame hielt den noch immer sehr schweren Krug weiter mit ausgestreckten Armen ihm mundbereit hin – er trank nochmals mit langen, langen Zügen, dann zog er Kopf und Hände zurück.

»Seid Ihr gesättigt, lieber Mann?«

»Dank Euch, Dank Euch!« atmete der Blinde tief auf. »Wer seid Ihr, der Ihr mich vom Tode des Verschmachtens errettet habt? Ach, daß ich Euch sehen könnte!«

Was bekam Nobody da für eine Antwort zu hören? Da sagte diese jugendschöne, juwelengeschmückte, nach der neuesten Pariser Mode herausgeputzte Dame mit ihrer tiefen, tremolierenden Altstimme – da sagte diese Dame, die der ›Blinde‹ vor sich mit seinen Augen stehen sah:

»Ich bin ein alter Mann, der in diesem Wüstengebirge als armer Einsiedler ein gottwohlgefälliges Leben führt.«

So sprach das junge, schöne, pompös herausstaffierte Mädchen, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre Nobody aus der Rolle gefallen und hätte vor Staunen, wie weiland Mr. Cerberus Mojan, seinen Mund so weit als möglich aufgesperrt.

Vielleicht hätte er sich wirklich durch seinen Gesichtsausdruck verraten, denn so etwas war ihm doch noch nicht vorgekommen – es war sein Glück, daß sich die Dame gerade bückte, um den Krug auf den Boden zu setzen.

Und als sie sich wieder aufrichtete, da hatte Nobody Lust, ihr schallend ins Gesicht zu lachen.

Der Sehende spielte der jungen Dame gegenüber den Blinden. Und die junge Dame spielte dem sehenden Blinden gegenüber den alten Mann. Das war ja gottvoll!!

Jetzt aber hatte sich Nobody wieder in der Gewalt.

Der Blinde mußte glauben, was ihm da gesagt worden war, und er konnte recht wohl glauben, daß er die Stimme eines alten Mannes vernehme. Denn sie konnte wirklich für eine Männerstimme gelten, etwa für die eines ersten Tenors.

»Nun sagt, armer Mann, wie kommt Ihr in dieses Gebirge? Und wie habt Ihr das Augenlicht verloren, was doch erst vor ganz kurzer Zeit geschehen sein muß?«

Nobody neigte ächzend den Oberkörper etwas zurück und legte die Hände vor die glanzlosen Augen, aber wohl darauf achtend, daß er noch zwischen den Fingern hindurchblicken konnte.

»O, mein Gott,« stöhnte er, »ich bin mit einem glühenden Eisen geblendet worden!«

»Mit einem glühenden Eisen geblendet worden?!« wiederholte die Dame mit allen Zeichen des Entsetzens ...Wer hat Euch das getan?«

»Jussuf el Fanit.«

Es war nicht anders, als ob die junge Dame plötzlich eine überirdische Vision hätte, so sah sie aus, so gebärdete sie sich, mit solchen Augen beugte sie sich vor. Dann aber prägte sich auf ihrem schönen Antlitz der stärkste Unglaube aus – – nein, das, was sie da sah und vernahm, das konnte nicht die Wirklichkeit sein, das war nur eine Vision.

»Wer soll Euch geblendet haben?«

»Jussuf el Fanit.«

»Wer?« fragte sie nochmals, nur in schärferem Tone.

»Jussuf el Fanit,« wiederholte Nobody zum dritten Male.

»Wer ist denn dieser Jussuf el Fanit?«

»Ein Wüstenräuber, der hier die Karawanen ...«

»Der Wüstenräuber Jussuf el Fanit, der sich der Herr der Wüste nennt, der von den englischen Salzkarawanen Tribut fordert, den meint Ihr?« unterbrach sie ihn, und jetzt brach schon wieder in ihrem Gesicht das grenzenlose Staunen hervor, gepaart mit Unglauben.

»Eben den meine ich.«

»Und dieser Wüstenräuber Jussuf el Fanit soll Euch mit glühendem Eisen blind gemacht haben?!« erklang es in immer größerer Aufregung.

»Er tat es, um mich ...«

»Wo denn?«

»Hier im Geiergebirge, wo ich ...«

»Wann denn?«

»Gestern mittag.«

Stärker konnte die Dame die furchtbare Spannung, die sich ihrer bemächtigt hatte, durch ihre ganze Stellung, wie sie dem Blinden gegenüberstand, nun nicht mehr ausdrücken.

»Dieser Jussuf el Fanit soll Euch gestern mittag hier in diesem Gebirge geblendet haben?! Warum denn?«

»Er hatte ein Mädchen geraubt ...«

»Wer?!« wurde er sofort unterbrochen.

»Jussuf el Fanit.«

»Wie? Jussuf el Fanit hat auch ein Mädchen geraubt?« erklang es wieder in atemloser Spannung. »Wann denn?«

»Vor drei Tagen, eine junge Französin ...«

»Jussuf el Fanit hat vor drei Tagen eine junge Französin geraubt?« erklang es jetzt in recht harmlosem Tone, dem man aber die Verstellung gleich anhörte, und den Ausdruck ihres Gesichts brauchte die Dame dem Blinden gegenüber ja nicht zu verbergen. »Ach was! Mein lieber Mann, erzählt mir doch einmal die ganze Geschichte von Anfang an, ich interessiere mich nämlich sehr für so etwas.«

Ja, das hatte Nobody nun auch schon herausgefunden. Und für ihn war die Sache ebenfalls schon interessant geworden.

Die starren Augen ins Leere geheftet, begann er mit gebrochener, ausdrucksloser Stimme zu erzählen:

»Ich war eben in Kairo angekommen, im Hotel du Nil abgestiegen, als ...«

Wiederum wurde er unterbrochen.

»Alfred!!« erklang jubelnd eine Frauenstimme.

Er hatte sie schon hinter einem Felsen auftauchen sehen, die schwarzgekleidete Gestalt, als er eben erst mit seiner Erzählung beginnen wollte, und es gehörte die Willenskraft dieses Mannes dazu, um die Erzählung wirklich beginnen zu können, eben als ein Blinder, um den herum nur schwarze Finsternis herrscht. Doch als er bei seinem Namen gerufen wurde, durfte er stocken.

Es war Marguérite, welche auf ihn zugeeilt kam, trotz der afrikanischen Hitze noch im schwarzen, allerdings luftigen Trauerkleide.

Die weiße Dame, wie wir sie vorläufig nennen wollen, hatte so gestanden, daß sie von jener nicht gleich gesehen werden konnte; bei dem Rufen drehte sie sich um, trat hinter dem Felsen hervor und – die beiden standen sich gegenüber.

Marguérite schien wie vom Donner gerührt zu sein. Der Neger, der ihr den Bericht gebracht, hatte sie zwar nach dem Geiergebirge geleitet, aber er hatte Mr. Huxley und Mr. Wall nicht wiederzufinden gewußt; seit heute früh irrte sie nun schon mit dem Neger in dem Labyrinth von Schluchten umher, dann war auch Ali verschwunden, nun endlich fand sie den blinden Geliebten – – und da stand neben dem Blinden schon ein anderes Weib, elegant, jung und schön!!

»Wer sind Sie?«

Die weiße Dame hatte dies in befehlendem Tone gefragt.

Nobody sah, wie Marguérite plötzlich von einer richtigen Wut befallen wurde, weil die fremde Dame dazwischengekommen war und ihren ganzen Plan zu zerstören drohte. Und natürlich konnte das nur eine Rivalin sein, die es ebenfalls auf den blinden Mann abgesehen hatte.

Hier hieß es also nicht lange fragen, sondern handeln.

Marguérite tat, als ob die andere gar nicht existiere, sprang an ihr vorüber auf Nobody zu und ergriff seine Hand.

»Alfred, endlich habe ich dich gefunden! Ach du Unglücklicher! Ich habe erfahren, was geschehen ist ...«

»Weib, laß mich gehen, ich habe nichts mit dir zu schaffen!« schrie da der Blinde, wie mit Widerwillen seine Hand aus der ihren reißend.

Die Wirkung dieser Worte und Handlung war eine furchtbare. Mit schneeweißem Gesicht prallte Marguérite zurück, dann färbte es sich plötzlich dunkelrot. Dann aber brach bei ihr eine Art von Raserei hervor, die sich gegen die weiße Dame richtete, denn die mußte nun natürlich an allein schuld sein.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie? Was haben Sie hier zu suchen? Machen Sie, daß Sie von hier fortkommen!« fuhr sie die Rivalin in wütendem Tone an.

Während Marguérite sich so gebärdete und ihre Augen vor Wut glühten, blieb die weiße Dame eiskalt. Aber auch ihre blauen Augen begannen jetzt zu sprühen. Nobody sah und hatte Erfahrung genug, um zu wissen, was für eine Szene jetzt bald stattfinden würde.

»Aha, aha!« dachte er. »Wenn die sich in der nächsten Minute nicht bei den Haaren gepackt haben, dann will ich Mops heißen.«

Es sollte noch viel schneller geschehen, die Worte flogen hin und her, und es sollte auch noch ganz anders kommen, als Nobody geahnt hatte.

»Wer sind Sie denn, daß Sie hier so aufzutreten wagen?« fragte die weiße Dame mit eisiger Kälte.

»Wollen Sie hören, wer ich bin? Ich bin die ...«

»O, wie Sie heißen und was für einen Titel Sie führen mögen, das ist mir höchst gleichgültig, mir kommt es nur vor, als wären Sie ...«

»Ich bin die Braut dieses unglücklichen Mannes!« schrie Marguérite, immer mehr außer sich vor Wut geratend, weil die Rivalin nicht weichen wollte. »Wollen Sie uns beide nun gleich allein lassen?!«

»Die Braut dieses Mannes?« wiederholte die Weiße mit bitterem Spott. »Der Ihre Hand mit Abscheu zurückstößt? Mir scheint eher, daß Sie an seinem Unglücke schuld ...«

Das hatte nun gerade noch gefehlt.

»Bei Gottes Tod, wenn Sie jetzt nicht gleich machen, daß Sie fortkommen ... ich bin zu allem fähig!!«

Mit diesen Worten hatte sie einen kleinen Revolver aus der Tasche gerissen und ihn auf die Gegnerin angeschlagen.

Das Nachfolgende spielte sich viel schneller ab, als es sich erzählen läßt.

Nobody sah, wie die weiße Dame einen Blick um sich warf, der die ganze Gegend umfaßte, auch alle Felsenkämme streifte – das war nur ein Moment gewesen, im nächsten Moment stürzte sich die elegante Salondame mit dem geräuschlosen Sprunge eines Panthers auf Marguérite, aber ein Sprung von unten nach oben, sie unterlief sie, der Revolver war der Hand entwunden, ein Fausthieb auf den Kopf, Marguérite lag am Boden, auf ihr kniete die fremde Dame, ein Spitzentuch und eine Lederschnur aus der Tasche – Marguérite war an Händen und Füßen gebunden und mit dem Taschentuche geknebelt.

Nobody glaubte, seinen Augen nicht mehr trauen zu dürfen. Er wußte nicht, worüber er staunen sollte – über diese fabelhafte Schnelligkeit oder über die Geräuschlosigkeit, mit welcher der Ueberfall, das Binden und Knebeln ausgeführt worden war. Und nun überhaupt – so eine Pariser Modepuppe – hier im Geiergebirge ...

Da richtete sich die weiße Dame schon wieder auf, nicht einmal ein Löckchen ihrer Frisur war in Unordnung geraten, und während sie der vorläufig durch den Faustschlag Bewußtlosen den Knebel noch etwas tiefer in den Mund stieß, rief sie in erschrockenem Tone:

»Himmel, sie ist plötzlich hingestürzt!«

Nun eine kleine Pause, der Blinde sollte glauben, jetzt beschäftige sie sich mit der Zusammengebrochenen, und das tat sie auch wirklich, das heißt, sie schob den Knebel immer noch etwas tiefer in den Mund und schlug noch einige Knoten in die Lederfesseln.

»Wenn es nur kein Schlaganfall ist ... Nein, ich halte es nur für eine Ohnmacht ... Aber es hätte ein Schlaganfall sein können ... Seht Ihr, man soll niemals jähzornig sein ... Ich will sie etwas mit Wasser besprengen, freilich ist es Limonade, aber das schadet nichts, wenn es nur kühlt ...«

Sie nahm wirklich den Krug und spritzte etwas von dem Inhalte plätschernd auf die Steine, aber natürlich nicht auf das gebundene und außerdem noch bewußtlose Weib; dieses beobachtete sie nur, und fernerhin musterte sie aufmerksam ihre Umgebung, ob auch kein Beobachter in‹ der Nähe sei.

»Ach, das ist gut, da kommt Abdul. Das ist ein kleiner Araber aus dem nächsten Dorfe, der mir immer meine geringen Bedürfnisse an Speise und Trank besorgt. Das ist gut, der kann sich zuerst der Bewußtlosen annehmen. – Hier, komm her, Abdul, die Dame ist ohnmächtig geworden – hier hast du ein Tuch, mache ihr nasse Umschläge ...«

So sprach sie weiter zu dem kleinen Araber, der gar nicht vorhanden war.

»Nein, so eine Schauspielerin!!« staunte Nobody. »Die kann es ja mit mir aufnehmen! Und wozu nur dies alles?«

Die Instruktion war beendet, der Blinde sollte glauben, jetzt beschäftige sich der Junge eifrig mit der Bewußtlosen, und die weiße Dame wandte sich wieder an Nobody.

»Wir können sie einstweilen hier lassen, Abdul ist ein kluger und geschickter Knabe, sie wird schon wieder zu sich kommen, und ich sehe dann gleich wieder nach ihr. Vor allen Dingen bedürft Ihr jetzt der Pflege, Ihr seht ja entsetzlich leidend aus. Kommt, laßt Euch nach meiner Einsiedlerhöhle führen.«

Und nicht die tiefbrünette Marguérite, sondern diese blondhaarige, elegante, fremde, rätselhafte Dame war es, die jetzt die Hand des vermeintlich Blinden ergriff und ihn fortgeleitete.

Es war eine wundersame Aenderung des Zufalles! Nobodys ganzer Plan, den er mit Marguérite gehabt, war zunichte geworden, aber er bedauerte es nicht, daß es so ganz anders gekommen, im Gegenteil. Das war gerade so etwas für ihn!

Die Führerin, die sich für einen alten Einsiedler ausgeben wollte, vielleicht für einen im härenen Gewande mit langem, weißem Barte, sprach kein Wort. Sie blickte nur immer unverwandt von der Seite den Blinden an. Manchmal beugte sie sich auch im Gehen vor und schaute ihm forschend direkt ins Gesicht. Sie schöpfte doch nicht etwa Verdacht? Nobody gab sich die möglichste Mühe, einen ›echten‹ Blinden, der erst vor kurzem die Sehkraft verloren hat, zu markieren. Auf den Ausdruck seiner Augen konnte er sich verlassen – und Nobody war nicht der einzige Mensch, der diese ›Kunst‹ verstand.

Man kann rechnen, daß die Hälfte der vielen Blinden, die in den Straßen Londons betteln, recht gut sehen können. Es gibt dort ein besonderes Polizeiamt, wo die verdächtigen ›Blinden‹ beobachtet und ärztlich untersucht werden, mancher ist dort schon entlarvt worden, mancher aber auch nicht, und doch weiß der Eingeweihte, daß der betreffende Blinde, wenn er will, wie ein Luchs sehen kann. Der ärztlichen Erkenntnis sind eben Schranken gesetzt.

»Steht Euch die Dame nahe, die Euch Alfred nannte?« unterbrach die Führerin nur ein einziges Mal das Schweigen.

»Ich nannte sie einstmals meine Braut, sie hat mich verraten,« entgegnete der Blinde mit müder Stimme.

»Ich dachte es mir.«

»Woher könnt Ihr ...«

»Weil sie so aussieht,« unterbrach sie ihn kurz und fiel in ihr früheres Schweigen zurück.

Diese Wortkargheit war für Nobody sehr günstig, denn er mußte jetzt seinen Kopf anstrengen, um einen neuen Plan zu entwerfen, wie er fernerhin dieser rätselhaften Dame gegenüber auftreten solle, deren Rätsel er ergründen wollte, er hatte auch mit Marguérites Angaben zu rechnen – und daß ihn seine Führerin unverwandt von der Seite beobachtete, ihm auch direkt ins Gesicht schaute, störte ihn nicht in seiner Gedankenarbeit.

Uebrigens war es nur ein kurzer Weg.

»Wir sind am Ziel,« sagte die Führerin. »Wir müssen noch einen sehr schmalen Gang passieren, aber folgt mir unbesorgt, der Weg ist ganz eben, und die Wände sind glatt, du kannst dich nicht an spitzen Steinen verletzen. Dann sind wir gleich in meiner Höhle.«

Nobody sah eine enge, oben offene Felsspalte, in welche er von der vorausgehenden Dame geleitet wurde. Aber Nobody sah auch schon von hier aus, daß die Spalte von sehr hohen, senkrechten, ganz glatten Granitwänden gebildet, sich weiter hinten wieder oben schließen würde, denn dort hinten gähnte es ihm finster entgegen; deshalb begann er sofort seine Schritte zu zählen.

Beim dreiundzwanzigsten wurde die Spalte oben bedeckt, jetzt wurde sie also zur wirklichen Höhle, nach weiteren zehn Schritten herrschte völlige Finsternis, worauf er als Blinder nicht aufmerksam gemacht zu werden brauchte, und nach wieder einigen Schritten blieb die Führerin, welche natürlich immer Nobodys Hand hielt, ihn hinter sich herziehend, stehen.

»Hier ist das einzige Hindernis, über das du steigen mußt. Fühlst du es mit dem Fuße? Es ist nicht sehr hoch. Ich bin schon hinüber.«

Es soll Menschen geben, die auch im Finstern sehen können. Nobody gehörte nicht zu diesen Bevorzugten. An der Stelle seines Tagebuches, an der er dieses Abenteuer beschreibt, widmet er der Möglichkeit dieses Phänomens einige Seiten. Er streitet nicht ab, daß es solche Menschen geben könnte. Dann müßten ihre Augen in der Dunkelheit wie die der Katze, der Eulen und anderer Nachttiere leuchten. Solche Augen saugen das Sonnenlicht auf und strahlen es in der Finsternis wieder aus, wirken also wie Laternen. Nobody hat niemals einen Menschen mit solcher Gabe gefunden, obgleich er extra nach ihnen auf die Suche gegangen ist, und fand er einen, der behauptete, im Finstern sehen zu können, so überzeugte sich Nobody stets, daß dem nicht so war.

Und hätte Nobody diese Gabe besessen, so hätten auch seine Augen im Dunklen leuchten müssen, und das wäre gerade jetzt dem Blinden sehr unangenehm gewesen.

Nun aber konnte Nobody trotzdem im Finstern sehen – allerdings nicht mit seinen Augen, sondern mit seinen Füßen, mit seinen Händen, vor allen Dingen mit seinem Kopfe, das heißt, mit seiner Geisteskraft. Dieser Mann konnte ja noch viel mehr, als nur im Finstern sehen – er blickte sogar in die Köpfe, in die Herzen, in die Gewissen der Menschen hinein!

Er fühlte mit Füßen und Händen eine meterhohe Steinbarriere, er fühlte denselben Granit wie an der Wand – und sofort sah er, im Geiste, in einiger Entfernung hinter dieser Barriere eine breite und tiefe Bodenspalte.

Es wäre schwer, die Kombinationen zu erklären, die zu diesem geistigen Hellsehen nötig sind.

Die Person, die hier hauste, hatte diese künstliche Barriere errichtet, um einen sich hierher verirrenden Fremden abzuhalten, in die natürliche Bodenspalte zu stürzen, die ihre Behausung vor fremden Eindringlingen schützte.

Das war der Grundgedanke bei der Kombination, freilich nicht so einfach zu verstehen.

Als Nobody hinübergestiegen war und nur wenige Schritte gemacht hatte, hieß ihn die Führerin wiederum einen Augenblick stillstehen.

»Ich muß jetzt erst den Felsblock zur Seite wälzen, der meine Höhle abschließt.«

Richtig, er hörte auch einen harten Fall, Stein schlug auf Stein. Aber er ließ sich nicht beirren. Er hätte seinen Kopf darauf gewettet, daß sich jetzt über die Bodenspalte durch irgend eine Vorrichtung, die nur eine ganz einfache zu sein brauchte, eine Steinplatte als Brücke gelegt hatte, und daß er mit dem Fuße keine Stufe fand, das erzählte ihm schon wieder eine lange Geschichte, wie akkurat hier ein Steinmetz, ein menschlicher Felsenmaulwurf gearbeitet hatte.

»So, nun tritt ein in die Höhle eines armen Einsiedlers und nimm fürlieb mit dem, was er dir bieten kann.«

Plötzlich flutete ihm helles Licht entgegen, von dem der total Blinde ja aber nichts zu wissen brauchte, und ...Donnerwetter, das war ja eine feine ›Höhle‹, die sich da der ›arme, alte Einsiedler‹ eingerichtet hatte!!

Klein und niedrig war der Raum allerdings, aber vollkommen zum behaglichen Wohnzimmer eingerichtet, nicht nach orientalischer, sondern nach europäischer Art – ja, man erkannte sogar die deutsche Einrichtung, Sofa, Salontisch, Stühle mit geschnitzten Eichenlehnen, großer Wandspiegel, Kleiderschrank – gar nichts fehlte.

Und das schien erst das Entree zu sein! Denn es waren noch zwei andere Türen vorhanden, und hier befanden sich außer dem Kleiderschränke an den Wänden noch Haken, an denen Frauenkleidungsstücke hingen.

Es waren ganz regelrechte Holztüren, weiß lackiert, sogar mit Schnitzereien versehen, die Messingklinken geputzt, desgleichen ein Fenster mit Glasscheiben, das nach einem Hofe hinausführte, der mit einer hohen Mauer umgeben war, deren obersten Rand Nobody von hier aus nicht sehen konnte. Es war eine natürliche Felswand.

Nobody hatte nicht viel Zeit, sich näher umzuschauen, so weit er das als Blinder durfte, er mußte seine Aufmerksamkeit wieder der Führerin zuwenden.

Er stand übrigens noch nicht im Zimmer selbst, sondern noch in Armeslänge von der Türe entfernt, und die Dame hatte jetzt die Aufgabe, den Blinden durch diese Tür zu bugsieren, ohne ihn etwas von einer solchen merken zu lassen. Denn er sollte doch glauben, er beträte eine einfache Höhle, und ein zufälliger Seitengriff hätte alles verraten.

Erst hatte sie gesagt, der Weg sei ganz eben, jetzt mußte sie wohl diese Versicherung bereuen. Aber sie brauchte ja auch nur den Weg durch jenen langen Tunnel gemeint zu haben.

»Hier muß ich dich an beiden Händen geleiten, daß du nicht in die Tiefe stürzt, der Boden ist überall mit Spalten und Rissen durchzogen. Aber folge nur willenlos, dann passiert dir nichts.«

Mit weit ausgestreckten Armen ergriff sie seine beiden Hände und zog ihn, rückwärts gehend, nach sich, und Nobody hob bei jedem Schritt das Bein, als ob er auf Eiern spaziere. Dieses Blindekuhspiel amüsierte ihn köstlich.

So ward er glücklich durch die schwellenlose Tür bugsiert. Im Zimmer selbst wartete ein neues Hindernis, das dem Blinden den Glauben rauben konnte, er befände sich in der einfachen Höhle eines armen Eremiten. Aber die raffinierte Schauspielerin wußte jedes neue Hindernis zu beseitigen.

Dicht bei der Tür war noch nackter Steinboden. Sonst jedoch bedeckte denselben ein dicker, weicher Teppich, und der paßte doch nicht gut in eine Höhle, ganz abgesehen davon, daß es ein Smyrnaer war.

Das Mädchen ließ Nobodys Hände los, bückte sich blitzschnell, schlug den Teppich weit zurück, gleich über den Tisch hinweg, und die Gefahr war beseitigt.

»Bleibe einen Augenblick hier stehen, hier stehst du auch ganz sicher. Ich will nur meine Kutte wechseln, die ich schonen muß.«

Aha, dieser alte Einsiedler im Pariser Spitzenkleide trug also eigentlich eine richtige Mönchskutte! Nobody hätte gar zu gern einmal herzlich gelacht, er hätte viel dafür gegeben, wenn er es einmal gedurft.

Aber die Lachlust verließ ihn wieder. Er bekam etwas zu sehen, was eigentlich nicht für Männeraugen bestimmt ist, auch nicht für die Augen eines Blinden, wenn dieser Blinde noch wie ein Adler sehen kann.

Die junge Dame begann sich nämlich zu entkleiden. Es ging sehr rasch. Das kostbare Spitzenkleid, das sie auf der Klettertour so geschont hatte, riß sie jetzt herab und schleuderte es in eine Ecke, dann folgte das elegante Korsett, das leiser beiseite gelegt wurde, und dann folgte noch anderes.

Und der arme Blinde stand gerade so, daß er alles sehen mußte – mußte, denn er hatte doch keinen Grund, sich umzudrehen, dieses Umdrehen wäre doch auch sehr gefährlich gewesen, er hätte ja leicht in eine der vielen Spalten stürzen können, die ihn rings umgeben sollten – und da mußte er eben so stehen bleiben, wie er stand, die Augen starr geradeaus gerichtet, und das Unglück wollte es, daß die Augen des armen Blinden direkt auf die junge Dame gerichtet waren, die da intime Toilette machte.

Was Nobody dabei dachte?

»Donnerwetter, die möchte ich heiraten!«

Das heißt, nicht etwa, daß er gerade nur diese fünf Worte dachte! Er dachte noch etwas mehr. Er dachte auch in etwas anderer Weise. Diese fünf Worte sind nur sozusagen als summa summarum seiner Gedanken aufzufassen.

Längere Zeit – zu Nobodys Qual – nahm das Anlegen des anderen Kleides in Anspruch oder doch die Wahl desselben.

Zunächst wurde ein Mahagoni-Kleiderschrank geöffnet, und die Türe knarrte etwas.

»Ich habe hier vorn in der Höhle eine alte Truhe stehen, mein einziges Möbel,« erklärte der alte, arme Eremit im tiefsten und verführerischsten Damennegligé.

Jawohl, eine alte Truhe, deren Deckel knarrte, gleich hier vorn in der Höhle – stimmte alles!

Der große Schrank enthielt außer einigen Kleidern eine ganze Kollektion von Morgenröcken, alles hochelegante Kostüme, mit Spitzen und Bändern und Troddeln und Quasten und – wie Nobody sich in Gedanken ausdrückte – mit anderem Klimbim.

Die Wahl wurde ihr schwer. Zuletzt nahm sie einen knallroten Morgenrock aus Baumwolle mit gelbseidenen Aufschlägen, die für ihre Zwecke – Nobody durchschaute sofort alles, was sie beabsichtigte – den Vorteil hatte, daß an diesem der wenigste ›Klimbim‹ herumbaumelte, und was daran an Bändern und Troddeln hing, das wurde kurzerhand abgerissen.

So, nun hatte sie doch etwas an, was wenigstens ungefähr dem ›härenen Gewande‹ eines echten Wüsteneremiten und Höhlenbewohners glich, nun durfte der Blinde sie schon eher einmal berühren. Daß die Nonnen- oder vielmehr Mönchskutte – knallrot war, das konnte er doch nicht fühlen, und daß sie inwendig mit Seide gefüttert war, schadete auch nichts, inwendig hinein hatte er doch nicht zu fassen.

Das Ueberwerfen dieses Morgenrockes hatte die kürzeste Zeit gewährt. Jetzt nahm sie noch die Perlen-Halskette ab, den Korallenschmuck aus den Ohren, vertauschte die Goldkäferstiefelchen mit leichten, hackenlosen Schuhen, und schließlich wickelte sie noch ein großes Tuch turbanartig um ihre Frisur, Doch war auch dies alles sehr rasch vonstatten gegangen.

Jetzt huschte sie geräuschlos nach einer anderen Tür, öffnete sie, blickte noch einmal zurück, ob der Blinde auch unbeweglich dastand, und verschwand in dem Nebenzimmer.

Es war gut, daß Nobody diese Gelegenheit nicht benutzt hatte, sich schnell einmal umzusehen, denn sie kam sofort wieder heraus, und für sie selbst war es ein Glück, daß die Stubentüren nicht wie jene Schranktür knarrten.

»So, ich habe mein Zeug gewechselt. Nun laß dich wieder führen. Die Höhle ist sehr tief, und überall gibt es gefährliche Stellen.«

Das sollte rechtfertigen, daß sie wiederum seine beiden Hände ergriff, also rückwärts ging, denn sie wollte ihn durch die zweite Tür bugsieren.

Und richtig, jetzt, in dem Morgenrock, führte sie den Blinden ganz anders. Bisher, noch im Spitzenkleid, war sie immer mit weitausgestrecktem Arm neben ihm oder vor ihm gegangen. Diese Vorsicht war jetzt nicht mehr nötig. Sie achtete nicht darauf, daß Nobodys Hände mehrmals ihr Gewand streiften.

»Komisches Weib!« dachte Nobody. »Eine ganz raffinierte Schauspielerin ist sie ja, aber so, wie auf der Bühne, geht's im reellen Leben denn doch nicht. Ueberhaupt merkwürdig, daß so viele Menschen nichts davon wissen, wie man einen Mann von einer Frau durch den Geruch unterscheiden kann. Meine Nase spürt's kilometerweit. Die hier duftet wenigstens appetitlich. – Hm, ich möchte sie wirklich heiraten. Eine hübsche Larve, nicht zu dick, nicht zu dünn – das wäre gerade etwas für meinen Geschmack, Na, woll'n mal sehen, was zu machen ist.«

So dachte Nobody, der sich selbst einen Gemütsmenschen nannte!

Die Passage durch die Tür war geglückt. Der ›Blinde‹ wollte dem Mädchen doch auch nicht etwa das Blindekuhspiel verderben.

Jetzt befand er sich in der Küche, mit allem eingerichtet, was zu einer wohlausgestatteten Haushaltsküche gehört. Nur der Ofen war von besonderer, aber in dem kohlen- und holzlosen Aegypten sehr gebräuchlicher Art. Es war einer der damals neu aufgekommenen Petroleumöfen, aber nicht so ein kleiner, auf dem man nur einen oder zwei Töpfe stellen kann, sondern ein großer, so groß wie ein Tisch, mit verschiedenen Heizflächen und mit Heizröhren, in denen man auch braten und backen kann. Auch in den Petroleumdistrikten Amerikas sind solche Oefen noch heute sehr beliebt und erfüllen ihren Zweck tadellos.

Nun wurde Nobody noch durch eine Tür bugsiert, die in eine kleine, fensterlose Kammer führte, deren Boden hoch mit Binsen bedeckt war.

Was diese hier neben der Küche zu tun hatten, wozu sie dienten, das war dem Detektiv kein Rätsel mehr. Zum Heizen des Petroleumofens dienten sie nicht. Er hatte schon in dem ersten Felsenzimmer einige hübsche Binsenmatten gesehen. Das Mädchen flocht einfach zum Zeitvertreib Binsen, die es sich vom Ufer des Sees holte, das hier war die Trocken- und Vorratskammer.

»Hier ist dein Lager. Ich werde dir noch Speise und Trank bringen, dann lege dich hin, du wirst des Schlafes bedürfen. Ich muß noch einmal zurück und meinen Krug wiederholen. Aber du brauchst dich nicht zu fürchten, die Lage dieser Höhle ist eine ganz versteckte, sonst würde ich dich nicht allein zurücklassen.«

Mit diesen Worten hatte sie ihn zwischen die Binsen hineingeschoben, und es war das einfachste, daß sie den Blinden gleich mit sanftem Zwang niederdrückte.

Nobody war vorläufig nur bis auf die Knie gekommen. Sie hatten immer französisch zusammen gesprochen, in Aegypten die Umgangssprache der Gebildeten, die Familiensprache. Die Dame oder vielmehr der alte Mann hatte, wie es sich auch für solch einen Eremiten ziemt, bereits das vertraulichere ›Du‹ gewählt, und Nobody dachte daran, jetzt einmal seinen Gefühlen Luft zu machen.

»O, ehrwürdiger Vater, der du mich Unglücklichen gerettet hast, wie soll ich dir danken! Und ich weiß noch nicht einmal deinen Namen!«

Also rief Nobody mit begeisterter und zugleich etwas weinerlicher Stimme, und dabei umschlang er ihre Knie und preßte seine Lippen mit inbrünstigem Danke auf ihren Morgenrock.

Und mit Genugtuung bemerkte dieser scheinheilige Sünder, wie sich ihr schönes Antlitz vor Verlegenheit purpurrot färbte, und wie sie sich hastig von seiner innigen Umschlingung zu befreien suchte, was er aber nicht so schnell geschehen ließ, sie mußte noch manchen Kniekuß dulden.

Dann jedoch, als sie wieder frei war, hatte sie auch schnell einen Grund für ihr Sträuben gefunden.

»Du schuldest mir keinen Dank,« sagte sie mit weicher Stimme, und Nobody sah in ihren, auf ihn herabblickenden Augen noch etwas mehr als nur Verlegenheit, »ich habe nur getan, was jeder andere an meiner Stelle getan hätte, so er ein Herz in der Brust hat, und du hattest recht, mich Vater zu nennen – ich werde hier nur Vater Gabriel genannt.«

»Vater, mein Vater!« schluchzte Nobody, barg sein Gesicht wieder in ihrem Schlafrock und knutschte sie nochmals ab.

Dann besorgte ›Vater Gabriel‹ wieder Zitronenlimonade, brachte Brot, Datteln, Feigen, Weintrauben und andere Früchte herbei, aber auch ein großes Stück Schinken, den ein fremder Jäger kürzlich dem frommen Einsiedler in der Wüste zum Andenken verehrt hatte. Dann holte ›Vater Gabriel‹ frisches Wasser, mit dem der Geblendete seine entzündeten Augen kühlen sollte. Er mußte dulden, daß gleich ›Vater Gabriel‹ selbst ihm einen nassen Verband umlegte – ein Glück, daß sich die rote Hennah nicht so leicht abwaschen läßt wie Schminke – hierauf hob ›Vater Gabriel‹ ganz geräuschlos die Kammertür aus, damit der Blinde, wenn er sich in dem engen Räume ausstreckte, diese nicht berührte, und nachdem ›Vater Gabriel‹ alles handbereit gelegt und dem Blinden noch nachdrücklich ans Herz gelegt hatte, um Gotteswillen nicht aufzustehen, bei jedem Schritt – von diesem Lager könne er in eine Spalte stürzen und unten zerschmettern, entfernte sich ›Vater Gabriel‹ definitiv, um seinen zurückgelassenen Krug zu holen – und natürlich auch die gefesselte Marguérite, wovon er aber nichts erwähnte.

Als Nobody allein war und ganz sicher wußte, daß er nicht heimlich beobachtet werde, steckte er einen Finger in den Mund, blies die Backen auf und machte dabei ein unbeschreibliches Gesicht.

»Ei, ei,« schmunzelte er, »wenn die wüßte, wie ich es hinter den Ohren habe! Aber sie nicht minder. Wir können uns die Hand reichen. Vater Gabriel, hahaha! Doch wer ist sie?«

Wir wollen das Resultat seiner Kalkulationen nicht wissen. Sein Kopf beschäftigte sich mit der Ausarbeitung dessen, was er ihr dann erzählen würde, wobei er stark damit zu rechnen hatte, was Marguérite über ihn aussagen würde.

Während dieser Grübeleien aß er mit dem besten Appetit die vorgesetzten Sachen, ließ von dem Schinken nur den Knochen und von den Früchten nur die Dattelkerne übrig, dann streckte er sich lang aus und wartete des Kommenden. Die Binde hatte er zwar noch vor den Augen, hatte sie aber so geschoben, daß er genügend unter ihr hervorsehen konnte, ohne daß dies zu bemerken war.

Mächtig reizte es ihn, während der Abwesenheit seiner Wirtin ihre Felsenwohnung näher zu besichtigen, aber er hätte doch dabei trotz aller Vorsicht überrascht werden können, was er auch nicht als Blinder beschönigen konnte, der einmal das Lager verlassen und sich verirrt hatte. Er wollte ihr die Ueberzeugung nicht zerstören, daß er wirklich glaube, sich in der nackten Felsenhöhle eines alten Eremiten zu befinden. Zu seiner Untersuchung war noch später Zeit. Denn das stand bei ihm fest, daß er diesen ausgehöhlten Felsen nicht eher verließ, als bis er über die Bewohnerin desselben vollständige Klarheit erlangt hatte. Zwar würde er von seinen Begleitern vermißt werden, aber auch wenn es ihm nicht gelang, sich mit diesen, die ihn suchen würden, unbemerkt in Verbindung zu setzen, konnten sie mit ihrem Suchen nach ihm seine Pläne doch nicht kreuzen.

»Ihr Interesse für meine Person ist durch Mitleid für den Blinden stärker geworden als ihr erst so ungeheures Interesse für Jussuf el Fanit, von dem sie bestimmt weiß, daß er mich gar nicht geblendet haben kann.«

Das war die Grundidee, auf welcher er seine Pläne aufbaute, und wir werden gleich sehen, wie recht er hatte. Ueberdies hatte sie ja zuletzt gar nicht mehr von dem Wüstenräuber gesprochen, war immer nur um den Blinden besorgt gewesen.

Nach etwa einer Viertelstunde kam sie wieder. Wollen wir sie, um ihr einen weiblichen Namen zu geben, der zugleich an den vorgeblichen ›Vater Gabriel‹ erinnert, einstweilen Gabriele nennen.

Unhörbar kam sie aus dem vorderen Zimmer durch die Küche geschlichen. Alle Türen waren offen, Nobody hatte jenes Zimmer nicht aus den Augen gelassen, und so wußte er bestimmt, daß sie nicht von der Seite gekommen war, von welcher aus sie beide zusammen vorhin das Zimmer betreten hatten. Demnach mußte wohl noch ein anderer Eingang zu der Felsenwohnung existieren.

Nobody stellte sich schlafend und konnte sie unbemerkt beobachten. Gabriele übersah den kleinen Raum, prüfte den Krug, ob er getrunken habe, alles ganz geräuschlos, dann blieb sie ruhig neben dem Binsenlager stehen und immer teilnehmender blickte sie auf den Schläfer herab.

Und was sie in diesem teilnahmvollen Anblicken für eine Ausdauer hatte!

Dann kniete sie neben dem Lager nieder, und die so mitleidig blickenden Augen im schönen, stolzen Antlitz waren dem Gesicht des Schläfers noch näher gerückt.

Dann hob sie ihre Hand über den Schläfer, streckte sie aus, bis sie die Felswand berührte, so stützte sie sich, um sich noch tiefer herabzubiegen, immer tiefer und tiefer, bis – ihre Lippen des Schläfers Mund berührten!

Es war ein flüchtiger Kuß gewesen, nur ein Hauch und trotzdem hatte alle Innigkeit, Seligkeit und Hingabe darin gelegen, welche nur ein liebendes Weib einem Kusse verleihen kann. In ihren Zügen, in ihren Augen war es zu lesen: nicht mit dem Munde, mit der Seele hatte sie geküßt.

Schnell und geräuschlos hatte sie sich wieder aufgerichtet. Keine Verlegenheit, keine Scham über sich selbst, noch weniger Leidenschaft – ein reines, hehres, feierliches Glück war es, was sich in dem schönen Mädchenantlitz ausprägte. Und so blieb sie stehen, mit einem verklärten Lächeln auf ihn niederblickend.

Und Nobody? Der kalte, eiserne, immer berechnende Mann, den wir schon oft auch als einen rücksichtslosen Zyniker kennen gelernt haben, fühlte plötzlich etwas, von dem er sich nicht mehr erinnern konnte, es schon einmal gefühlt zu haben – und er war ein Mensch, und daher ging es ihm, wie es jedem Menschen geht – er wußte nicht einmal, daß ihm plötzlich die Liebe ins Herz geschlagen war.

Aber die Liebe, welche ihn mit einer unendlichen Seligkeit erfüllte, hatte nichts mit begehrender Leidenschaft zu tun. Denn das war die wahre, die reine, die göttliche Liebe.

Zu diesem Augenblicke möcht' ich sagen:

Wie Goethes Faust in der Ekstase des höchsten Glückes diese Worte spricht, da läßt der Dichter den Helden tot zusammenbrechen.

O, beneidenswert ist der, welcher den tiefen Sinn dieser Szene gar nicht versteht und nicht darüber nachgrübelt!

Dann gehört er zu denen, welche niemals von der Menschheit ganzem Jammer gepackt werden – denn dann weiß er nicht, daß wir armen Menschlein, die wir aus Staub gemacht sind und wieder zu Staub werden, auf die Dauer überhaupt niemals glücklich sein können.

»Jetzt möchte ich sterben!«

Wer das mit verklärtem Munde jauchzen kann, der genießt in diesem Augenblicke das höchste Glück, dessen der Mensch fähig ist.

Das ist die furchtbar bittere, furchtbar schöne Wahrheit!

Und unser Mann jauchzte es im Herzen.

»Jetzt möchte ich sterben!«

Aber Nobody hatte Erfahrungen, er wußte ein Rezept, um sich für die Dauer wenigstens einen Schimmer dieses höchsten Glückes zu wahren,

»Jetzt noch einmal nur ihre Hand küssen, und dann fort, fort von hier und ihr und sie niemals wiedersehen und dann nur noch in der Erinnerung leben!«

Und der Wunsch wurde zur Tat. In sehnsüchtigem Verlangen streckte er beide Arme aus.

»Ach, nur einmal noch laß mich dich umschließen und küssen ...«

»Hast du gut geschlafen?« fragte Vater Gabriels weiche Stimme.

Da war er vorbei, der Augenblick des höchsten, reinsten Glückes. Der Träumer erwachte zur Wirklichkeit.

Er hatte geglaubt, jene Worte laut gejubelt zu haben – jetzt wußte er sofort, daß er sie nur im Herzen gejauchzt hatte.

Die Arme ausgestreckt hatte er allerdings – und das Mädchen glaubte, der Erwachende habe sich nur gedehnt.

O, das war bitter! Aber nun war Nobody auch wieder der Nobody, der nie die Besinnung verlor. Er war eben zur Wirklichkeit zurückgekehrt.

Aber die Wirklichkeit braucht doch nicht immer nüchtern zu sein, und gerade dieser Mann wußte dem reellen Leben immer die romantische Seite abzugewinnen. Das tat er denn auch jetzt, er setzte also sein begonnenes Spiel fort. Es gehört dieses Mannes eiserne Willenskraft dazu, die sich so seltsam mit Phantasie paarte, um dies vollbringen zu können.

Sein erster Griff war nach der Binde, er schob sie zurück.

»Ist es denn Nacht?« murmelte er. »Nacht – – Nacht – – alles ist finster ...«

Dann schlug er die Hände vor die Augen und sank stöhnend zurück.

»Ach, ich bin ja blind ... blind!!« ächzte er.

Gabriele kniete wieder neben ihm nieder, streichelte ihm sanft über das Haar und sprach tröstende Worte zu ihm. Dann, als er sich beruhigt hatte, stellte sie die Fragen:

»Wer bist du? Wie kommst du hierher? Warum bist du des Augenlichtes beraubt worden? Woher weißt du, daß es Jussuf el Fanit gewesen ist, der dich geblendet hat?«

Nobody hatte also recht gehabt. Erst kam seine eigene Person; das Interesse für den Wüstenräuber, wie dieser in den Verdacht geriet, ihn geblendet zu haben, war weit in den Hintergrund getreten.

»Hast du, ehrwürdiger Vater, schon von dem amerikanischen Detektiv Nobody gehört?«

»Nein, wer ist das?«

Die Ehrlichkeit hatte schon im Ton gelegen, und Nobody, der Gedankenleser, sah es ihr sofort an, daß sie die Wahrheit sprach.

Hätte sie von diesem Detektiv schon gehört oder gelesen, so hatte sich Nobody wahrscheinlich nicht zu erkennen gegeben. Denn dieser Nobody war als ein abenteuerlicher Komödiant und Verwandlungskünstler, der sich wohl auch einmal blind stellen konnte, schon genügend bekannt. Dann hätte er seine Frage nur als eine Einleitung benutzt, hätte sich und sein Hiersein mit jenem Detektiv in irgend eine Verbindung zu bringen gewußt.

Ja, selbst wenn Marguérite, die sie unterdessen doch ganz sicher ausgeforscht hatte, ihn als den Detektiv Nobody bezeichnet hätte, würde er doch Mittel gefunden haben, das Mädchen zu überzeugen, daß jenes Weib im Irrtum, daß er nicht Nobody sei.

Nun sie aber von dem amerikanischen Detektiv noch gar nichts gehört hatte, erzählte er der Wahrheit gemäß, und es ist nicht die schlechteste List, um ein Ziel zu erreichen, um einen Gegner zu täuschen, möglichst bei der Wahrheit zu bleiben. Denn Lügen haben kurze Beine, und um eine Lüge dauernd als glaubhaft erscheinen zu lassen, dazu gehört eine außerordentliche Geschicklichkeit – nämlich im Lügen!

»Ich bin dieser Privat-Detektiv Nobody, Berichterstatter einer New-Yorker Zeitung,« begann er, und er, der sonst das Geheimnis seines Vorlebens so sorgfältig hütete, sagte diesem ihm ganz fremden Mädchen offen von selbst, daß er der Sohn eines Fürstenhauses sei.

Aber man darf wohl glauben, daß bei diesem Manne von einer übersprudelnden Vertrauensseligkeit keine Rede war. Das alles lag in seinem berechnenden Plane.

Es hatte auch seine Grenzen.

»Mein eigener Name ist Prinz Alfred. Doch nun mußt du mir verzeihen, wenn ich sonst nicht ausführlicher über mich berichte, wer ich bin. Ich habe einen Grund dazu.«

Und er, der unübertreffliche Menschenkenner, hatte sich auch nicht in dem Charakter dieses Mädchens getäuscht.

»Mehr brauche ich nicht zu wissen, wollte ich gar nicht wissen, und nie habe ich das Geheimnis eines Menschen verraten oder gar gemißbraucht, der es mir so offen anvertraute, wie du es tust. Nur eins möchte ich dich noch fragen. Aber du brauchst mir nicht zu antworten, wenn du nicht willst, und nie werde ich dich deswegen wieder ...«

»Frage!«

»Ist es jenes Weib – jene Dame gewesen, derentwegen du deine Heimat verließest und alles von dir warfst, um ruhelos in der Welt umherzuirren?«

»Ja. Ich liebte Prinzeß Margarete, ich glaubte mich von ihr wiedergeliebt, und sie liebte mich auch wirklich, aber ihr Ehrgeiz war stärker als ihre Liebe. Als ein anderer kam, der ihr an irdischen Schätzen mehr bieten konnte als ich – eine Königskrone – während ich nur noch ein einfacher Privatmann war – da vergaß sie mich und wandte sich dem anderen zu. Da verließ ich meine Heimat – stolz! – aber unglücklich.«

»Ich dachte es mir,« sagte Gabriele leise.

Es hatte nicht viel Scharfsinn dazu gehört, um das herauszufinden, besonders nicht bei einem Weibe.

»Du warst und bliebst unglücklich?«

»Nein, ich rang den Kampf mit mir aus und blieb Sieger. Die Vergangenheit war hinter mir begraben, ich vergaß die Treulose.«

Nobody sah, was für ein glückliches, hoffnungsfreudiges Lächeln diese Worte auf dem schönen Mädchengesicht hervorzauberten, und – er hatte den ›Vater Gabriel‹ nun ja überhaupt schon erkannt, wußte, wie es mit ihm stand.

Aber sie wollte dem Blinden gegenüber doch den alten, erfahrenen Einsiedler spielen, der die schnöde Welt verlassen hatte, und so sagte sie in salbungsvollem Tone, der zu dem vergnügten Gesicht in einem fast komischen Kontrast stand:

»Du tatest recht, mein Sohn, du handeltest wie ein kluger und starker Mann, und wer sich selbst besiegt, der besiegt die ganze Welt. – Was tatest du dann?«

»In wildem Jagen durch die ganze Welt zimmerte ich mir ein neues Leben.«

»Und in diesem neuen Leben fielst du natürlich abermals in die Schlingen eines Weibes, um zum zweiten Male eine bittere Erfahrung zu machen.«

O, war dieses Mädchen schlau! Schlau ist ja jedes Mädchen, wenn es wissen will, wie es mit dem Herzen eines gewissen Mannes steht. Aber das hier wollte doch ein alter Einsiedler sein, und als solcher fragte er – nicht etwa, ob er in dem neuen Leben ein ihn glücklich machendes Weib gefunden habe. Denn so ein alter Eremit ist doch fast immer einer von jenen, welche mit der heiligsten Ueberzeugung sprechen: Falschheit, dein Name ist Weib!

»Nein, meine Erfahrung war sehr nachhaltig. Der Fuchs hatte sich, um aus der Falle zu kommen, das Bein abgebissen. So etwas heilt nicht so schnell, und die Erinnerung an den Schmerz ist meist dauernd. Ich brauchte zum Heilen meiner Wunde drei Jahre, und dann ...hatte ich acht Jahre lang keine Gelegenheit, mich in eine Liebschaft einzulassen. Höchstens mit Seemuscheln hätte ich es tun können.«

»Wie das?«

Nobody erzählte, ohne ausführlich zu werden: Drei Jahre in aller Wellt[Welt] umhergeabenteuert, um seinen Schmerz zu töten, acht Jahre in chinesischer Gefangenschaft, dann wieder zwei Jahre das Leben genossen.

»Aber gebunden habe ich mich nicht wieder, nicht einmal mein Herz verloren, auch keine Neigung gefaßt. Die Gelegenheit fehlte dazu.«

Gabriele sah genau so aus wie ein Mädchen, welches endlich herausgebracht hat, daß der betreffende Mann noch gänzlich frei ist, und sie brauchte sich vor dem Blinden keinen Zwang anzutun.

»Und als du die Prinzeß nun wiedersahst?«

»Ich glaube doch, du warst dabei, wie ich vorhin ihre Hand zurückstieß.«

Das Gesicht wurde noch vergnügter.

Doch gleich runzelte sie finster die Augenbrauen.

»Glaubst du, daß dieses Weib ... doch nein, lassen wir das vorläufig. Erzähle erst weiter, wie du Detektiv wurdest, wie du in diese Lage kamst.«

Das erste, wie er Detektiv geworden, berichtete Nobody in möglichster Kürze, immer der Wahrheit gemäß: Abenteuerlust, Geldverdienen.

Jetzt aber wich er von der Wahrheit ab, jetzt fing sein Märlein an. Das heißt, er log nicht direkt, er verschwieg nur, was ihm nicht in seinen Plan paßte. Er verschwieg, daß er von der Hypnotisierten den ganzen Anschlag erfahren hatte und seinen Gegnern zuvorgekommen war.

Er hatte also, auf einer Reise nach China begriffen, einen Abstecher nach Kairo gemacht, ein Baron de Lasage war zu ihm gekommen, der in Paris die Komteß Cécile de Bauvaignon entführt hatte, und so weiter. Es braucht für den Leser nicht wiederholt zu werden.

Ja, der Detektiv war bereit, für 100 000 Francs den Versuch zu machen, dem arabischen Mädchenräuber die Beute wieder abzunehmen. Er sprach arabisch, war schon in Aegypten gewesen, auch einmal hier am Birket el Kerun ...

»Wann war das?«

»Das ist schon elf Jahre her, als ich hier am See sieben Monate lang ein einsames Jägerleben führte. Dann war ich vor einem Jahre noch einmal einige Wochen in Alexandria und Kairo.«

»Und auch wieder hier?«

»Nein, hierher bin ich nicht wieder gekommen.«

»Erzähle weiter!«

Nobody verschwieg alles, was ihm nicht paßte, vor allen Dingen, wie er sich vorgeblich den Fuß und den Arm verrenkt haben wollte. Kurz, er hatte eine halbnackte Araberin erblickt, sie floh davon und rief um Hilfe, Beduinen eilten herbei, Nobody wurde mit einem glühenden Eisen, was wohl ein altes Schwert gewesen war, geblendet.

Dann erzählte er auch, wie er einen Scheck gegeben, wie die beiden Beduinen beim Barte des Propheten geschworen, wie sie ihren Schwur gebrochen hatten. Nobody war geblendet und dann in die Schlucht hinausgestoßen, seinem Schicksale überlassen worden.

Was diese Erzählung bei Gabriele wiederum für eine furchtbare Erregung hervorrief, das konnte Nobody nur sehen, nicht hören, das heißt sie unterbrach ihn nicht, aber er bemerkte wohl, wie gewaltig sie mit sich ringen mußte, um nicht immer ein »Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr!!« dazwischenzurufen.

Erst als er nichts mehr zu sagen hatte, begann sie zu sprechen, und sie wußte ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu geben.

»Was für ein Pferd ritt der Beduine, welcher dir sagte, er sei Jussuf el Fanit?«

Das war eine echte Beduinen-Frage! Mann und Roß gehören zusammen, sind ein Ganzes, und an dem Roß erkennt man den Reiter!

»Es war ein sehr schönes Tier, welches ...«

»War es eine Koheye?« unterbrach sie ihn sofort.

Nobody kannte die Pferdeverhältnisse der Beduinen, ebenso die Namen der fünf Lieblingsstuten des Propheten: Tayes, Manekeye, Koheye, Saklawy und Djulf, von denen die Stammbäume der edlen arabischen Renner ausgehen – der Stuten, der Beduine reitet nur Stuten – welche unter keinen Umständen zu kaufen sind. Hengste gibt der Beduine weg, niemals eine Stute.

Den echten Abkömmling einer dieser fünf durch Jahrhunderte rein erhaltenen Rassen erkennt jeder Pferdekundige sofort, allein schon an dem kleinen Kopf. Aber wodurch der Araber der persischen Wüste sowohl, wie der algerische Beduine auf den ersten Blick eine Manekeye von einer Djulf unterscheidet, so sicher, wie jeder andere Mensch einen Windhund von einem Mops, das vermag kein englischer Pferdejokey zu sagen.

Nobody wußte, daß es kein Wüstenrenner gewesen war, aber er wollte mit seinen Kenntnissen von Beduinenangelegenheiten nicht renommieren, er wollte auch prüfen, wie weit dieses Mädchen darin bewandert war.

»Das kann ich nicht beurteilen,« entgegnete er also auf diese Frage,

»Beschreibe das Pferd!«

»Es war eine braun- und weißgescheckte Stute ...«

»Genug! Jussuf el Fanit reitet nur die schwarzgefesselte Koheye Serpanje, die gelbe Wüstenbraut, welche eine Tochter ist der Abendröte, Tochter der Flugtaube, Tochter der Sonnenluft, später genannt die Klage der Nacht, welche die Enkelin ist der schwarzen Wolke ...« hier legte Gabriele wie gewohnheitsmäßig die Hand vor die Stirn und neigte das Haupt, » ... die den Propheten Allahs getragen hat auf der Hedschra. – Du sagtest vorhin, der Beduine, der sich Jussuf el Fanit nannte, hätte die Lederschlinge um die Hüften gewunden gehabt. Ist dies richtig? Nicht um die Brust? Von der rechten Schulter oben nach links unten?«

»Nein, er hatte den Lasso um den Leib gewickelt.«

»Genug! Es wäre mir schon genug gewesen, daß du sagtest, er hatte von seinem Lieblingsweibe gesprochen. Jussuf el Fanit hat niemals ein Weib gehabt. Jussuf el Fanit hat niemals ein Mädchen geraubt. Jussuf el Fanit hat niemals einen Schwur beim Barte des Propheten geleistet, noch hat er jemals sein einfaches Wort gebrochen. Und der Herr der Wüste soll dir die Taschen ausgeplündert haben? Hahahaha!! Genug! Ganz abgesehen davon, daß ich bestimmt weiß, daß Jussuf el Fanit jetzt bei der Oase der grünen Wasser lagert, hundert Meilen von hier entfernt.«

Sie hatte sich nicht mehr beherrschen können und mit einer Heftigkeit gesprochen, die unbegreiflich erscheinen mußte, denn was hatte der alte, fromme Eremit für den Wüstenräuber solch ein Interesse zu nehmen, daß er dessen Sache fast zu der seinen machte? Besonders das Lachen hatte so furchtbar höhnisch, so drohend geklungen – und es mußte ihr doch zum Bewußtsein gekommen sein, daß sie als alter Mann aus der Rolle gefallen war; nur zuletzt hatte sie sich schnell wieder beherrscht.

»Nun wiederhole mir bloß noch einmal deine Antwort in schlichter Weise,« begann sie wieder, in ruhigem Tone, aber desto nachdrucksvoller. »Hat der Beduine, welcher die Lederschlinge um den Leib trug, welcher beim Barte des Propheten schwor, dir kein Haar auf dem Haupte zu krümmen und dich dann dennoch blendete, welcher zusah, wie man dir die Taschen plünderte, welcher sagte, du habest sein Lieblingsweib gesehen – – hat dir dieser Mann wirklich gesagt, er selbst sei Jusuff el Fanit, der Räuber, der Herr der Wüste? Hat er das gesagt?«

»Ja, er hat es gesagt.«

»Auf – dein – Wort?«

»Auf mein Manneswort.«

Gabriele sagte nichts, sie hob nur die Augen, welche plötzlich ein blaues Feuer ausstrahlten, zur Felsendecke empor – nur die Augen, nicht die Hand – aber Nobody wußte, daß sie jetzt einen Schwur ablegte.

»Jussuf el Fanit war es also nicht,« fuhr sie dann ruhig fort. »Nun fragt es sich: wer hat dich geblendet?«

»Ich weiß es nicht.«

»War es wirklich ein Beduine?«

»Ja, warum nicht? Allerdings wunderte ich mich, daß er auch so gut französisch sprach, daß er wußte, ein Scheck sei so gut wie bares Geld.«

Gabriele machte eine Handbewegung, welche andeutete, daß dies bei ihr nichts zu sagen habe.

»Das zeigt mir nur, wie genau er Jussuf el Fanit nachzuahmen versuchte, denn der Wüstenräuber ist, wie du doch sicher schon gehört hast, kein gewöhnlicher Mann. – Mir ist anderes von Wichtigkeit. Die Gesichter der beiden Begleiter, die dich fesselten und dir die Taschen plünderten, waren ebenfalls verhüllt?«

»Nein, das waren echte arabische Gesichter.«

Gabriele senkte überlegend die Stirn.

»Wie kam die Dame, welche du Prinzeß Margarete nennst, plötzlich in die Wüste?«

»Wir trafen uns zufällig im Hotel du Nil, oder auch nicht zufällig. Sie hegte die Vermutung, daß Nobody der verschollene Prinz Alfred gewesen sein könne, war nach New-York gereist, hatte sich von Mr. World, dem Herausgeber der Zeitung, für die ich tätig bin, ihre Vermutung bestätigen lassen, erfuhr meine nächste Adresse, und so trafen wir in Kairo zum ersten Male wieder zusammen.«

»Und?«

»Es gab eine Szene, ich wies die Treulose schroff ab.«

»Und?«

»Am Abend desselben Tages reiste ich mit dem Baron nach der Oase Fayum.«

»Wie ist es denn möglich, daß die Dame so schnell hier sein kann? Woher weiß sie, daß du dich hier aufhältst? Wie reimt sich ihre Anwesenheit überhaupt mit deiner Erblindung zusammen?«

»Auch ich habe schon darüber nachgedacht, und ich habe eine Erklärung dafür gefunden. Wie ich dir erzählte, floh mein arabischer Diener beim Anblick der Beduinen. Er erzählte dem in Sal Bekr auf mich wartenden Baron, daß ich in die Gefangenschaft des Wüstenräubers gefallen sei, Lasage hat schon einmal eine Probe seiner Feigheit abgelegt. Er ließ mich im Stich, meldete den Vorfall nach Kairo; auch die Prinzeß erfuhr es. Wenn wir nun auch annehmen, daß mein arabischer Diener nicht direkt nach Sal Bekr geflohen, sondern aus einem Versteck beobachtete, wie ich geblendet wurde, so ist es erst recht begreiflich, daß Margarete sofort hierhereilte, um mich als Blinden wiederzufinden, und daß sie hoffte, indem sie mich sorgfältig pflegte, meine Liebe von neuem zu gewinnen.«

Gabriele schien angestrengt nachzudenken,

»Glaubst du,« begann sie dann ganz leise, forschend die Augen auf das Gesicht des Blinden geheftet, »daß dieses Weib – deine Erblindung – dein ganzes Unglück – veranlaßt haben könnte?«

Nobody hatte diese Frage vorausgesehen und hielt die Antwort schon bereit.

»Nein, für so schlecht halte ich Margarete nicht,« sagte er im überzeugendsten Tone. »Wo ist sie eigentlich jetzt? Wie hast du sie gefunden?«

»Ja, das wollte ich dir schon erzählen. Sie war nicht mehr da. Ich traf den kleinen Abdul. Er sagte mir, die Dame habe sich schnell wieder erholt und sei sofort in der Richtung nach Sal Bekr davongegangen.«

Natürlich sprach Gabriele die Unwahrheit. Es wäre gar nicht nötig gewesen, daß der Detektiv an ihrem Gesichtsausdruck, an der aufsteigenden Röte sofort erkannte, wie sie zu jenen herzensaufrichtigen Personen gehörte, die gar nicht lügen können, ohne dies gleich durch ihre Verlegenheit zu verraten. Der Blinde freilich konnte davon ja nichts merken.

»Oder glaubst du,« fuhr sie schnell fort, »daß dieser Baron selbst Leute engagiert hatte, dich zu fangen, um von dir ein Lösegeld zu erpressen, daß er vielleicht selbst einer der vermummten Beduinen war?«

»Ja, das glaube ich eher, daran habe auch ich schon gedacht!« rief Nobody lebhaft.

»Aber wie konnte er da selbst seine Schandtat nach Kairo oder sonstwohin berichten, so daß jenes Weib davon erfuhr?«

»Das ist mir allerdings auch ein Rätsel.«

»Ich werde dieses Rätsel lösen,« murmelte Gabriele traumverloren, was wiederum nicht recht zu ihrer übernommenen Rolle passen wollte.

In der scheinbaren Intrige, die Nobody nun einmal arrangiert hatte, gab es noch mehrere Rätsel. So zum Beispiel: Warum hatten denn die Räuber den Geblendeten wieder laufen lassen? Warum, wenn sie den Ausgeplünderten nun einmal unschädlich machen wollten, hatten sie ihn nicht gleich getötet? Auch als Blinder war er doch ein sprechender Ankläger ihrer Schandtaten,

Es gab noch andere solche dunkle Punkte in dieser Sache, doch sie wurden von dem Mädchen gar nicht berührt, und Nobody hütete sich wohlweislich, unnötig darauf aufmerksam zu machen.

»Ich bin dadurch,« nahm Gabriele nach kurzem Sinnen wieder das Wort, »daß ich hier in meiner einsamen Höhle, in welcher ich nicht von fremden Menschen gestört sein will, auf alles achte, was in meiner Umgebung vorgeht, etwas bewandert im Aufspüren und Lesen von Fährten geworden. Ich werde einmal daraufhin die Gegend absuchen, muß dich also jetzt für einige Zeit allein lassen.«

Sie versorgte ihn wieder mit allem, wessen er bedurfte, legte ihm nochmals dringend ans Herz, um Gotteswillen dieses Lager nicht zu verlassen, jeder Schritt könnte einen Sturz in eine Bodenspalte nach sich ziehen, sie forderte sogar sein Wort, daß er das nicht tun würde, und als Nobody es ihr ohne Zögern gegeben hatte, verließ sie ihn. Er sah nur noch, daß sie jetzt in dem Vorderzimmer den Morgenrock mit einem weißen Burnus vertauschte.


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