Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

I

Der April wehte durch die Gassen. Vor einer Viertelstunde noch war der Himmel klar, die Sonne frei, die Luft unbewegt gewesen, jetzt trieben oben die Wolken vor dem Sturm einher, in allen Tönungen zwischen Schwarz und Weiß, leichte, die nur Nebel, schwere, die schon Wasser waren, sie flogen dahin, verfolgten einander, verschmolzen ineinander, zerteilten sich wieder, zerrissen zu Fetzen und gaben nur von Zeit zu Zeit eine kleine blaue Insel frei, die als freundlicher Blick aus dem grauen Wirbel heiter hervorleuchtete, aber nur für eine Minute oder eine halbe, denn schnell schloß sich wieder das Lid über dem Auge.

Die kalte Luft strich und glitt sausend durch die Gassen. Die Männer hielten mit erhobenen Händen ihre Hüte, alle gingen vornübergebeugt, die Röcke der Frauen wurden an ihre Schenkel gepreßt, und man sah, wie sie geschaffen waren. Wer etwas im Freien hatte, Waren vor den Läden, Blumen an den Ständen, rettete nur mühsam das Seine. Aber im eisigen Nordwind schwamm die Wärme. Wenn sich vor der Sonne die Wolkenschicht auseinanderschob, überlief es alle Körper im wohligen Bad ihrer Strahlen. Es war der letzte Hauch des Winters, der sich in den Frühling mengte, und alles war in diesen Kampf gezogen: in den Alleen bogen sich die Zweige, die Stämme knirschten, in den Anlagen schmiegten sich weich die Halme des glänzenden Rasens gegen die Erde, alles gab den Windstößen nach, alles drehte, wand und beugte sich. Die Sträucher standen grün im Laub, und überall waren Knospen; die Tulpen, die Hyazinthen, die Narzissen blühten.

Es war Mittag. Mit dem Fauchen des Windes vermengten sich die Geräusche der Stadt, das Klingeln, das Hupen, die Rufe, das Stimmengewirr und das Gleiten der Räder, doch aus dem allgemeinen Rauschen der Straße, aus diesem regellos fließenden Lärm hob sich, als regelmäßiger Takt, ein gleichbleibendes, hohlklingendes Klopfen hervor, die gemächlichen Huftritte eines Pferdes auf dem Asphalt. Es zog eine uralte Droschke, die in allen Fugen knirschte und kreischte. Man hätte dieses Ensemble: das Gefährt, das Tier und den Kutscher, für das Objekt eines Wachsfigurenkabinetts halten können, dem durch alle Mauern und Wände hindurch die Kraft des Windes und der Zauber der Sonne Atem eingeblasen und vor dem sich dann die Tore des Panoptikums geöffnet hatten, damit sie an diesem Frühlingstag noch einmal durch die Welt spazieren konnten. Nun zogen sie hin, durch die Straße einer anderen Zeit, durch alle Eile und Hast in unentwegter Gelassenheit, als wären sie noch gar nicht erwacht und träumten weiter, der schäbige Gaul, das verwitterte Vehikel und die abenteuerliche Gestalt auf dem Bock. Das phlegmatische Tier ging unbeirrbar seinen Weg und nickte bei jedem Schritt mit dem Kopf, als sage es immer: Ich ziehe, ich ziehe. Sein Herr thronte, den Peitschenstiel auf den Schenkel gestellt, mit geradeaus gerichtetem Blick unbewegt in seiner Höhe, des Aufsehens, das sie erregten, nicht achtend, reglos das faltige Gesicht, in dem ein weißer, schon ins Gelbliche schimmernder Schnurrbart über den Mund hing. Er war in einen dunklen, doch schon farblos gewordenen, bis zum Hals geschlossenen und bis zu den Füßen reichenden Mantel mit schwärzlichen metallenen Knöpfen gehüllt, der einmal den Teil einer Livree gebildet haben mochte. Auf dem Kopf trug er einen Fetzen von einem Hut, die Ruine eines Jägerhuts, mit einer Birkhahnfeder hinterm Band. Hie und da zuckte seine linke Hand mit den Zügeln, und die rechte hob sich, um die Peitschenschnur sacht über die Kruppe des Tiers streichen zu lassen, doch diese Bewegungen entsprangen offenbar nur noch der Erinnerung an längstversunkene Jahre, und das Pferd faßte die leichte Berührung auch nicht anders auf und achtete ihrer nicht weiter.

Im Wagen fuhr Carola. Sie unternahm, von ihrem Mann begleitet, ihre erste Ausfahrt. Krau, der sie für geheilt hielt und sie immer wieder zu überreden versuchte, den Schatten der Krankheit, der noch auf ihr liegen mochte, abzuschütteln und sich der lebendigen Bewegung zu überlassen, hatte sie an diesem Tag, da der Morgen warm und in vollem Glanz aufgegangen war, ins Freie locken wollen, doch bei der geradezu unmenschlichen Zähigkeit ihres Leidens hatte sie sich zu matt gefühlt, zu Fuß zu gehen, andererseits hatte sie keine Lust, ja, sie hatte Angst, sich dem verwirrenden Tempo eines Automobils auszusetzen; schließlich hatte sie sich, von Ruge mit Bitten bedrängt und nach langem Hin und Her, bereit erklärt, einen Mittelweg einzuschlagen, und hatte selbst den Einfall gehabt, in einer Pferdedroschke eine Spazierfahrt zu machen, einen etwas extravaganten Einfall, doch man gab ihr ja jedes Recht und also auch das, kleine extravagante Einfälle zu haben. Ruge war an den Bahnhof gefahren, um eine der letzten Droschken zu holen, die es in der Stadt noch gab. Jetzt saß er trist und ängstlich neben ihr, nicht weniger bleich als sie und auch noch irritiert durch all die Blicke, die auf sie fielen.

Die Passanten schauten verwundert und belustigt dem heranrollenden Fahrzeug entgegen, und an ihren Standplätzen stellten sich die Chauffeure grinsend zu einem Lästerspalier auf, doch der Anblick der bleichen, schönen, scheinbar schwerkranken Frau ließ die Scherze, die sie schon bereit haben mochten, auf ihren Lippen ersterben, und die Mienen der Vorübergehenden wurden ernst. Bevor er sich noch ganz genähert hatte, wurde überall der Wagen, wurde seine Insassin zum Mittelpunkt der Straße.

Als das Wetter umschlug, fuhren sie nach Haus, wo sie von Gisela erwartet wurden. Carola legte sich zu Bett, um sich von der anstrengenden Fahrt auszuruhen. Sie hatte Krau versprechen müssen, dies zu tun, um so mehr, als sie heute nochmals so gut wie gezwungen sein würde, auszugehen: Gisela nämlich, die gern Festlichkeiten in ihrer Junggesellenwohnung veranstaltete und desto mehr Freude an ihnen hatte, zu je größerer Turbulenz sie sich steigerten, hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß für ihre Freundin an dem Tag, da sie zum erstenmal das Haus verlassen würde, ein Fest veranstaltet werden müsse. Krau, der zwar jeden Schritt begrüßte, mit dem Carola, wie er es nannte, das Leben wiederfand, war dennoch mit dieser heutigen Feier nicht recht einverstanden; er hätte sie gern in ein späteres, noch genau festzustellendes Stadium der Rekonvaleszenz verschoben und hatte schließlich wenigstens durchgesetzt, daß sie, mit Rücksicht auf die noch Schonungsbedürftige, nicht auf den Abend, sondern schon auf den Nachmittag angesetzt werde.

Gisela hatte schon vor Tagen eine Liste jener Freunde, Freundinnen und Bekannten zusammengestellt, die nach ihrer Meinung die nötige Laune und Stimmung mitbringen würden. Sie hatte sie am heutigen Morgen eingeladen und hatte ihnen allen, und auch jenen, die um diese Tageszeit beschäftigt waren, kurzerhand befohlen, die Einladung anzunehmen; für den Fall der Absage hatte sie ihnen ihre Feindschaft und dem und jenem sogar Rückforderung des geliehenen Geldes angekündigt; denn sie stellte nun einmal für ihre Freunde die Zuflucht in allen Nöten dar, und da doch ein großer Teil aller Nöte Geldnöte sind, war sie die Gläubigerin vieler ihrer männlichen und weiblichen Bekannten geworden. Allerdings, da sie davon gesprochen hatte, die Schulden einzutreiben, mag sie sich nicht bewußt gewesen sein, daß sie damit niemanden schreckte, denn die Schulden wären ohnedies nicht einzutreiben gewesen, aber die aus dieser Drohung sich ergebende Angst der Betroffenen, sie könnten zu dem früheren, nicht zurückgezahlten Geld am Ende kein neues hinzubekommen, tat ihre Wirkung.

Nachdem sich Carola zurückgezogen hatte, blieben Gisela und Ruge allein. Zwar hatte er sich für jene Ausfahrt sorgfältig hergerichtet, doch gerade die Glätte seines Äußeren ließ die Veränderung, die in der letzten Zeit mit ihm vorgegangen war, um so deutlicher zutage treten: sein schmales, der Welt abgewandtes Gesicht war noch schmäler, seine ohnedies schüchtern-zurückhaltenden Bewegungen waren ängstlich und fahrig geworden. Er wirkte wie ein leichter, für Fluß und Teich bestimmter Kahn, der dem offenen Meer preisgegeben worden ist. Auch Gisela war bleich und schien verwirrt, doch wurde durch die Lebhaftigkeit ihres Wesens ihr Zustand wenigstens halbwegs zugedeckt.

Er hatte ihr vor einigen Tagen anvertraut, wie es um seine Erbschaft bestellt war, die gegen alles Erwarten aus einem Nichts bestanden hatte, und daß ihm übrigens in den letzten Tagen auch noch eine letzte schwache Hoffnung vergangen war: mochten tatsächlich ältere Kollegen ein größeres Anrecht oder mochten sie die größere Geschicklichkeit gehabt haben, mochte Ruge seine eigene Position für befestigt genug angesehen haben, um es nicht für nötig zu halten, sie zu stützen, mochte er nicht gewußt haben, daß man seine Position auch stützen könne, oder nicht gewußt, wie man dies tut, oder mochte er schließlich gar dem weltfremden Optimismus der Geistigen erlegen sein, daß es genüge, Geist zu haben, um Karriere zu machen, jedenfalls hatte sich's in den letzten Wochen ergeben, daß es in absehbarer Zeit zu seiner Berufung auf einen Lehrstuhl nicht kommen würde. Er stehe also vor dem Nichts, hatte er ihr voll Verzweiflung gebeichtet, denn er lebe schon vom Letzten – voll Verzweiflung natürlich nicht um seinetwillen, sondern Carolas wegen, denn wie könne man sie, die eben erst ihre Krankheit oder ihren Zusammenbruch oder wie man es nennen wolle hinter sich habe, wie könne man sie einer neuen Katastrophe zuführen. Es sei unübersehbar, jammerte er, und wie er nun einmal war, beschäftigte ihn, den Zitternden, vor allem die schmerzliche Frage, ob man ihr die Wahrheit mitzuteilen beginnen solle, wie und auf welche Art und welchen und den wievielten Teil der Wahrheit.

Gisela hatte angesichts seiner Mitteilungen nicht entsetzt die Hände überm Kopf zusammengeschlagen, wie er es erwartet haben mochte, sie hatte vielmehr zuerst einmal in aller Gelassenheit seine Situation zu überblicken versucht, hatte ihn getröstet, daß sich ein Ausweg schon finden werde, und ihm versprochen, nochmals alles genau zu überdenken, um ihm dann ihre endgültige Meinung sagen, womöglich schon ihre Vorschläge machen zu können. Seine größte Sorge aber, so nahm sie sich gleich vor, ohne darüber zu sprechen, diese eine allergrößte Sorge und Last wollte sie Ruge so bald wie möglich abnehmen: Carola zu eröffnen, wie alles stand, oder sie zumindest darauf vorzubereiten. Sie mochte sich selbst für geeigneter dafür halten als ihn, und hatte auch tatsächlich gestern, hinter seinem Rücken, als sie bei Carola war, die Sprache auf diese Angelegenheiten gebracht, doch muß gleich gesagt werden, daß sie, die es mit ihrer unbekümmerten Art meistens verstand, die Dinge beim Schopf zu packen, diesmal mit ihrem Versuch, ihre Freundin aufzuklären, ganz und gar gescheitert war. Als sie nämlich in der Überzeugung, daß ein plötzlicher Schlag und Schrecken besser sei als lange Vorbereitungen und lange Angst vor dem Schlag, geraden Wegs darauf losgegangen war und begonnen hatte, von Ruges Verhältnissen zu sprechen, hatte Carola traurig abgewinkt: »Ach, laß doch, laß doch, Gisela! Ich mag von diesen Gelddingen nichts hören!«

»Ja, das möchte jeder!« lachte Gisela. »Du machst es dir leicht!«

»Nein«, wiederholte klagend Carola. »Wirklich, ich mag von diesen Dingen nichts hören!«

»Aber du mußt doch wissen«, rief Gisela, »wie es um euch steht!«

»Warum eigentlich«, fragte Carola seufzend, »muß ich es wissen?«

»Weil es ebenso deine wie Georgs, deines Mannes, Sache ist!« Sie holte aus und wollte nochmals beginnen: »Hör einmal –!«

Doch Carola ließ sie nicht, und sie, die selten scherzte, spielte doch diesmal zum Spaß das trotzige Kind. »Nein! Ich höre nicht!« rief sie schmollend und tat, als ob sie mit dem Fuß aufstampfen wollte. »Nein! Ich will nicht! Ich höre nicht!« Gisela wollte ärgerlich werden, so ließ denn Carola das kleine Spiel und sprach weiter: »Sieh, mein Kind, sprechen wir also im Ernst! Was soll ich mit diesen Dingen? Du weißt so gut wie ich, daß ich von ihnen nichts verstehe. Georg weiß es auch. Kann ich ihm dann raten?« klagte sie. »Er kann ja nicht einmal mit mir über sie sprechen! Was also hat's für einen Zweck, mich zu quälen?«

»Gut, schön!« antwortete Gisela, »es geht aber nicht nur darum, ob du ihm raten kannst, sondern auch manchmal darum, daß aus der Lage der Dinge Konsequenzen zu ziehen sind, von dir ebenso wie von ihm –!«

Doch Carola unterbrach sie abermals, ohne daß sie die letzten Worte gehört hätte: »Ach, mein Kind!« sagte sie leidend, »wie hartnäckig du bist! Ich hasse nun einmal diese Dinge, weil ich ihnen nicht gewachsen bin. Ich bin unpraktisch, für mich selbst doch immer ganz hilflos, ganz und gar untüchtig. Wenn du wüßtest, wie glücklich ich bin, daß wir in guten Verhältnissen sind! Georg kann doch keinem Geldberuf nachgehen, und ich könnte keinen einzigen Pfennig verdienen, um ihm zu helfen – weißt du, der Gedanke, ich gestehe es dir, der Gedanke, daß wir eines Tages verarmen könnten, ist schrecklich, ist unerträglich!« Schon die Vorstellung dessen, wovon sie sprach, breitete über ihr Gesicht eine so furchtbar schmerzliche Hilflosigkeit, daß Gisela schwieg. So hatte denn Carolas Zustand, der immer soviel widerstandsunfähige Schwäche und todesmatte Zartheit, soviel Leid, Kummer, Trauer und Schwermut mit sich führte, sie wenigstens davor bewahrt, die Wahrheit zu erfahren, und Gisela hatte sich, bedrückt und ärgerlich zugleich und – wer weiß, wieso! – mit dem undeutlich-peinlichen Gefühl, besiegt worden zu sein, unverrichteter Dinge davongemacht.

Gisela hatte sich durch diesen Mißerfolg nicht irritieren lassen, und als sie jetzt also Ruge gegenübersaß, während sich Carola oben von ihrer Ausfahrt erholte, ging sie auf das Thema los: sie habe sich alles nochmals durch den Kopf gehen lassen, und zu allererst habe sie ihm mitzuteilen, daß er ein kompletter Narr sei, denn seine Lage sei ganz anders, viel besser natürlich, als er sie ihr dargestellt habe; noch bleibe ihm genug an Geld und an verkäuflichem Besitz, um ein oder zwei oder gar drei Jahre zuwarten zu können, gewiß, mit einer anderen, eingeschränkten, doch durchaus erträglichen Lebensführung, zu der sich eben auch Carola werde bequemen müssen. Vor allem bleibe ihnen doch dieses Haus, das sie vermieten könnten, um inzwischen in eine kleinere Wohnung zu ziehen; sollte ihnen aber bis zu dem Zeitpunkt, da er endlich zu seiner Professur kommen würde, eine Kleinigkeit fehlen, dann sei sie auch noch da und vielleicht auch noch der oder jener Freund. Lohne es denn, um diese Dinge ein großes Lamento zu machen? rief sie kampflustig. Wenn sie für eine vorübergehende Zeit genötigt seien, innerhalb einer gewissen bürgerlichen Lebensführung um ein oder zwei Stufen hinunterzusteigen, dann sollten sie nicht so tun, als ob sie damit aus Diamantenschlössern in die Gosse geschleudert worden wären, nun also, jetzt solle er ihr zuhören und aufpassen, und sie zog einen Bogen Papier hervor, auf dem Zahlen geschrieben standen.

Er hatte ihr, behaglich in seinem Sessel zurückgelehnt, schweigend und ohne Widerspruch zugehört, um sie ein wenig reden zu lassen, doch mit dem sicheren, widerspruchslosen Schweigen eines Menschen, der ohnedies längst schon selbst alles viel besser weiß. Jetzt aber, da sie ihm mit dem zahlenbeschriebenen Zettel drohte, winkte er ab und lächelte; er lächelte fast glücklich mit seinem schmallippigen, schöngeschwungenen Mund im bleichen, abgemagerten Gesicht. Er habe, sagte er, seit ihrem letzten Gespräch nochmals alles überdacht und sei zu einem Entschluß gekommen; er begreife selbst nicht, wieso er nicht früher zu ihm gekommen sei. Er erhob sich und ging auf und ab: seit jeher, setzte er Gisela auseinander, habe Carola den Süden geliebt, immer habe sie davon geträumt, dort zu leben, und er wiederum habe immer davon geträumt, ihr eines Tages diese Möglichkeit zu geben – nun also, jetzt sei die Gelegenheit gekommen. Wenn er das Haus vermiete, den Erlös und den Rest seines Vermögens verwende, dies und jenes verkaufe, was er nicht brauche, dann könne sich Carola ein Jahr, vielleicht zwei Jahre unten in Italien, in Spanien, in Dalmatien das Leben einrichten, wie sie es brauche, sie könne reisen, sich da oder dort niederlassen, in voller Freiheit, und bessere, sichere Zeiten abwarten. Er rechnete und jonglierte vor Gisela mit seinen Zahlen, rechnete halbrichtig oder falsch und gefiel sich darin, den lebenbeherrschenden, praktischen Mann vorzustellen, aber im Grunde konnte er nur spielen wie ein Kind Kaufmann spielt.

»Und du?« fragte Gisela. Er werde sich schon durchbringen, antwortete er, er sei bedürfnislos, er werde sich in ein möbliertes Zimmer einsperren, und das Notwendige werde er leicht mit populärwissenschaftlichen Arbeiten und Vorträgen verdienen.

Er durchmaß das Zimmer. So habe er sich's ausgedacht, so werde das ganze Malheur noch zum Anlaß, Carola etwas besseres zu geben, als sie es bisher gehabt habe, die Arme. Er setzte sich neben Gisela und machte ihr seine Geständnisse: so wie alles gekommen, sei es gut, sagte er, es sei eine gute Lehre für ihn, er sei leichtsinnig gewesen und habe nie an die Zukunft gedacht. Wie habe er auf die rechnenden Menschen herabgesehen, wie habe er von oben herab seine Kollegen belächelt, wenn sie intrigiert und um Lehrstühle oder Berufungen gekämpft hatten wie die Wölfe; nun aber habe er seine Lehre bekommen, nun werde er selbst ehrgeizig werden und auf seine Karriere bedacht sein.

»Denn es ist Hochmut«, fuhr er fort, »auf allen Ehrgeiz zu verzichten, ein Hochmut, sich so außerhalb des Wettlaufs der Menschen zu stellen und zu sagen: ich brauche keinen Preis! Oh, Gisela, man kann auf alle Erfolge verzichten, man kann auf das Geld herabsehen, man kann alle Siege verachten, sie können ja doch nicht, so fühlt man und weiß man, ins Leben des Geistes eindringen, der Geist ist souverän, und nichts ist über ihm. Ja, das alles geht im Innern des Menschen vor sich, aber eines Tages rächen sie sich, eines Tages greifen sie uns von außen an, sie stellen sich vor uns hin wie die Teufel und Dämonen, das Geld, die Erfolge, die Siege, und grinsen uns an: Verachte uns doch! Gerade dann, wenn man sie doch noch brauchen könnte, die Hunde! Ja, und wenn es soweit ist, Gisela«, schloß er, und unversehens kam etwas Klagendes in seine Stimme, »ja, wenn es so weit ist, dann bleibt uns eben nichts anderes übrig, als die Folgerungen zu ziehen!«

Gisela hatte ihm die ganze Zeit über schweigend zugehört, nur manchmal unmerklich den Kopf schüttelnd, als dächte sie: Was bist du doch für ein sonderbarer Mensch! Nun erhob auch sie sich, pflanzte sich vor ihm auf und antwortete ihm: Sie könne ihm gar nicht beschreiben, wie sehr ihr seine kaufmännischen Fähigkeiten, sein Talent, auf lange Zeit hinaus zu disponieren, seine mathematischen Kunststücke, wie sehr ihr dies alles imponiere; was er sich da ausgedacht habe, sei über alle Maßen schön und herrlich, sie wolle auch annehmen, daß seine komplizierten Berechnungen stimmen, nur glaube sie, daß sein ganzes prachtvolles Programm einen entscheidenden Fehler und Haken habe.

»Warum? Wieso?« fragte er erstaunt und halb erschrocken, denn von der Vorzüglichkeit seiner Idee überzeugt, hatte er an die Möglichkeit von Einwänden gar nicht gedacht.

»Weil ich überzeugt bin«, rief sie mit erhobener Stimme, »daß Carola nicht darauf eingehen wird!«

»Warum? Wieso?« fragte er wieder.

»Warum? Wieso?« ahmte sie ihm nach und stellte sich drohend vor ihm auf: »Wenn ich deine Frau wäre, mein Lieber, und du machtest mir diesen Vorschlag, ich würde dir schon meine Meinung sagen! Ich würde dir sagen: Was denkst du denn von mir, du Narr! – Warum, wieso!« machte sie nochmals und drang noch einen weiteren Schritt gegen ihn vor. »Wieso, warum! Ich will es ganz einfach sagen: Weil es zu den einfachsten Voraussetzungen des Zusammenlebens gehört, daß man in schlechten Zeiten beieinanderbleibt! Da hast du es! Das ist alles!«

Er wich ein wenig ängstlich vor ihr zurück. Ja, sagte er, daran habe er natürlich auch gedacht, daß Carola so sprechen könnte, aber dann sei es eben ihre, Giselas, Sache, ihn zu unterstützen und ihr zuzureden.

»Das werde ich nicht tun!« rief sie zornig.

»Aber Gisela –!« sagte er vorwurfsvoll. Er war schon längst ganz und gar aus dem Konzept gebracht und schaute verwirrt in ihr Gesicht. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, daß es ratsam war, jetzt unter allen Umständen eine Debatte zu vermeiden, so schob er denn alles beiseite und, schön, warf er nur noch hin, dann werde eben Krau als Arzt ihr einen sehr langen Aufenthalt im Süden verordnen müssen, doch es war nicht schlau von ihm, diesen seinen schlauen Plan zu verraten, denn Gisela drehte sich mit wütender Bewegung nach ihm um und schrie ihn an: »Wenn Krau das tut, dann –!« Und ihre Hand vollführte eine fragwürdige Geste, die man für das Ausholen zu einer Ohrfeige hätte halten können.

»Um Gottes willen!« rief er lachend und hob in ängstlicher Abwehr seine Arme. »Sag nicht, was du tun würdest!« Er betrachtete sie: »Mein Gott, Gisela, wie wild bist du! – Aber lassen wir's!«

»Ja!« sagte sie grimmig. »Lassen wir's!«

Sie ließen sich wieder nieder und saßen einander schweigend gegenüber, er mit etwas ratlosem und sie mit trotzigem Gesicht. Endlich durchbrach er die Stille: »Nun, Gisela, versöhnen wir uns, wir sind doch gute Freunde! Wir wollen von anderen Dingen sprechen! – Wie geht's denn Blanche? Ich habe sie schon lange nicht gesehen. Sie kommt gar nicht mehr zu uns.«

»Hm. Ja!« brummte Gisela. »Sie ist verrückt!«

»Warum? Wegen des Ateliers? Ich habe davon gehört. Sie soll es von einem Tag zum andern räumen? Und sie kränkt sich wohl sehr darüber?«

Noch war Gisela von dem Streit und seinem Gegenstand nicht losgekommen. Sie saß unbewegt, mit bösem Gesicht, doch ließ sie sich wenigstens zu einem, wenn auch zankenden, Gespräch verführen. »Das kannst du dir denken!« antwortete sie. »Blanche ist doch eine Närrin! Was hat sie nicht alles hineingesteckt, an Geld und Mühe! Und jetzt –!«

»Und läßt sich gar nichts dagegen unternehmen?«

»Was sollte sich denn dagegen unternehmen lassen, zum Kuckuck! Aus ihrer eigenen Darstellung der Sache, die übrigens der Teufel verstehen kann, läßt sich schließen, daß sie im Unrecht ist! Was kann man denn da unternehmen? Ich habe mir schon genug den Kopf zerbrochen! Sie klagt und jammert, ich soll ihr helfen, aber was ist denn da zu helfen?«

Er sah sie zaghaft an. »Du Arme!« sagte er, »wie viel du mit uns allen zu tun hast!« Er schwieg, dann fügte er zögernd hinzu: »Und dabei hast du doch deine eigenen Probleme und Konflikte.«

»Lassen wir das!« knurrte sie abweisend.

Ruge dachte nach, dann wagte er sich nochmals vor, schüchtern und mit freundlicher Behutsamkeit: »Lassen wir das! sagst du, und du hast ein Recht, es zu sagen. Und doch, wenn ich's bedenke: warum müssen wir es lassen? Sieh, immer rätst du und hilfst du uns anderen – und wer rät dir?«

»Ich brauche keinen Rat!«

»Ja. Das sagt man leicht. Am leichtesten sagen es jene, die den anderen immer sehr gut raten. Aber es ist ein anderer Verstand, der uns selbst, ein anderer, der anderen rät. Und es sind nicht die schlechtesten Menschen, deren Verstand dann am besten funktioniert, wenn es sich um die Angelegenheiten anderer handelt. Du verstehst mich?«

»Nein! Ich verstehe dich nicht!«

»Nein?«

»Nein!«

Er hatte offenbar das freundschaftliche Bedürfnis, über ihre Dinge zu sprechen, zugleich kostete es ihn große Mühe, die respektvolle Distanz zu überwinden, die ihn von den inneren Angelegenheiten eines anderen Menschen trennte. »Sieh, Gisela«, begann er abermals, diesmal mit dem angefachten Mut und Übermut des Ängstlichen. »Wir haben heute nun schon einmal gezankt, du hast mich schon einmal angeschrien und bist zornig, und ich weiß im voraus, daß du jetzt noch zorniger werden und mich noch mehr anschreien wirst, aber, weißt du, ich bin ein tollkühner Mensch, und auf die Gefahr hin, daß du –«, und er ahmte jene fragwürdige Bewegung nach, mit der sie vorhin dem abwesenden Krau gedroht hatte, doch sie warf ihm hin: »Ich denke gar nicht daran, zornig zu werden oder zu schreien!« – »Um so besser, Gisela, um so besser! Du mußt es mir verzeihen, daß ich mich in deine Angelegenheiten dränge, aber sieh, man muß den Eindruck haben, daß du die Übersicht über die Dinge verloren hast, daß du dich verkrallst und aus einem Nichts einen Kampf, eine Affäre heraufbeschwörst!«

»Was willst du? Wovon sprichst du eigentlich?«

Er beugte sich weit vor, ganz zu ihr heran, und als ob er damit die Zartheit des Geheimnisses wahren wollte, sprach er nur flüsternd, fast hauchend. »Es geht um die Briefe, ich weiß es, die dir dieser Mensch nicht wiedergeben will. Aber laß sie ihm, laß ihm die Briefe!«

»Was geht's dich an?«

»Gar nichts geht's mich an, ich schwöre dir, daß ich das weiß! Ich möchte nur, daß du dich endlich selbst befreist! Hast du nicht am Ende nur das Bedürfnis, mit ihm zu raufen? Es scheint mir nämlich, daß du ebensogut einen anderen Anlaß hättest finden können, um zu kämpfen. Ist dies alles nicht nur, weil er zurückgekommen ist und weil dich die lebendigere Erinnerung in neue Wallung bringt? Sieh, warum sollte er die Briefe nicht behalten, da du sie ihm nun einmal geschrieben hast? Heute würdest du sie nicht mehr schreiben? Gut, du schreibst sie ja auch nicht heute, sondern hast sie eben früher einmal geschrieben, als sie deinen Empfindungen entsprachen. Und –? Wir können nichts zurücknehmen, Gisela, kein Wort, keinen Blick, keinen Kuß, keine Umarmung – und gerade die Briefe?«

»Das Wort«, rief sie, »das Wort ist einmal gesagt worden und ist nicht mehr, der Kuß ist vorüber, aber die Briefe, sie bestehen und sind in seiner Hand!«

»Ist es nicht gleichgültig, ob er sich an den Kuß erinnert oder die Briefe liest?«

»Er soll sich auch nicht an den Kuß erinnern, der Lump!«

»Mein Gott!« sagte er klagend und legte verzweifelt die Hände ineinander. »Darum kannst du doch nicht auch noch mit ihm prozessieren! Laß ihm die Erinnerung an den Kuß, laß ihm die Briefe und geh weiter!«

»Ich will aber nicht weitergehen«, rief sie wie ein störrisches Kind. »Ich will nicht weitergehen ohne die Briefe!«

Er schüttelte ratlos den Kopf: »Wende doch deine Rauflust nicht an etwas Vergangenes! Wenn etwas zu Ende ist, dann kämpft man doch nicht mehr! Sei doch einsichtig!«

»Ich will aber nicht einsichtig sein! Ihr werdet schon sehen, was ich kann. Justament, justament! Du verstehst das alles nicht!«

»Ja, du hast ganz recht! Ich verstehe es wirklich nicht. Im Gegenteil, es erscheint mir närrisch. Aber natürlich, wir Männer sind Klötze und verstehen so manches nicht, auch wenn es vielleicht noch so einfach ist. Du weißt ja, wie ratlos ich in meinem eigenen Haus bin. Aber du hast unlängst etwas sehr Kluges gesagt, du bist der Meinung, hast du gesagt, erinnerst du dich?, daß sich hinter einem verworrenen Netz, das nur mit vielen Worten zu beschreiben wäre, meistens etwas sehr Einfaches verbirgt, das mit wenigen kurzen Worten auszudrücken wäre –«.

»Wo ist hier ein verworrenes Netz?« unterbrach sie ihn. »Wo? Aber hier hast du die wenigen, kurzen Worte: ich bedaure, daß ich ihm die Briefe geschrieben habe, und will sie wiederhaben!«

»Das ist«, gab er zur Antwort, »zwar wirklich kurz und einfach, aber falsch! Richtig wäre –«

Doch sie fuhr ihm abermals dazwischen: »Ich weiß schon, was du sagen willst, Herr Professor! Du hast es ja schon gesagt! Ich danke dir, du meinst es gut, aber da hast du noch kürzere Worte: Laß mir meine Ruhe! Im übrigen muß ich gehen! Besorgungen machen! Für heute nachmittag! Ich habe noch überhaupt nichts eingekauft!«, und ehe er sich besonnen hatte, war sie schon aufgesprungen.

»Kannst du wirklich nicht noch ein wenig bleiben?« bat er, aber sie klaubte schon Handtasche, Mütze und Mantel auf, verabschiedete sich schnell und verließ das Haus, Verbissenheit in ihren Zügen und Grimm in ihren lauten Schritten. Draußen rief sie das erste freie Auto an und nannte dem Chauffeur eine Geschäftsstraße, in der sie ihre Einkäufe machen wollte. Regungslos im Wagen sitzend, sah sie mit zornigem Gesicht vor sich hin. Als sie in die lebhafter werdenden, städtischen Straßen einbog, holte sie ihr Notizbuch hervor und las die Liste der notwendigen Besorgungen, als sie sich aber der Stadtmitte näherte, änderte sie ihre Absicht und fuhr zu Feding.

 

Als ihm Gisela gemeldet wurde, winkte Feding ab, als ob er sagen wollte, er wisse schon, weshalb sie komme, doch ließ er sie zu sich bitten und empfing sie mit seiner ganzen gutmütigen Freundlichkeit. »Nun, mein Fräulein?« fragte er, nachdem sie sich neben den Schreibtisch gesetzt und er sich in seinen Sessel zurückgelehnt hatte.

»Ich komme Blanches wegen.«

Er nickte, so habe er es erwartet. Sie wollte weit ausholen, bat ihn um seine Vermittlung und sprach von Blanches Atelier, vom überraschenden Mißgeschick der Kündigung und von der Schwere, mit der sie es aufgenommen habe, einer Schwere allerdings, die in gar keinem vernünftigen Verhältnis zu der Sache selbst stehe – doch er hatte sie nur reden lassen, um zu hören, ob sie ihm etwas Neues bringe, und nun unterbrach er sie: »Ich weiß alles«, sagte er. »Blanche war ja selbst schon bei mir. Natürlich, zu wem sollte sie kommen, wenn nicht zu mir? Ich weiß alles. Rechtlich ist unsere Position verloren, ja, wir nehmen sozusagen überhaupt keine Position ein, denn wir haben keine Waffe. Es bliebe also nur die gütliche Vereinbarung. So habe ich mich mit dem Anwalt dieses Herrn Klarens ins Einvernehmen gesetzt, er ist ein alter Kollege und wäre gern bereit, die Sache aus der Welt zu schaffen, denn auch er hält sie nicht für eine kapitale Angelegenheit, aber dieser Herr Klarens scheint ein Bock, ein trotziger Esel zu sein. Er will, daß Blanche vor allem das Haus verläßt, und zwar sofort, sofort! Es scheint ohne Aussicht zu sein.«

Damit war eigentlich alles gesagt. Zwar sprachen sie noch ein wenig hin und her, doch bald war die Sache erörtert, und es blieb kaum mehr etwas zu fragen oder hinzuzufügen. Dennoch konnte sich Gisela nicht entschließen, aufzubrechen, als hielte sie noch etwas anderes hier zurück. Sie blickte, offenbar von einem Gedanken gefesselt, stirnrunzelnd zu Boden, dann wieder rückte sie auf ihrem Stuhl unruhig hin und her, und ihre Finger spielten mit den Utensilien des Schreibtischs. Feding betrachtete seinen Gast und wartete. »Nun, mein Fräulein –?« fragte er schließlich.

»Zu dumm!« rief sie aus, und sie hatte es doch schon im Laufe des Gesprächs oft und in vielen Variationen ausgerufen. »Zu dumm, zu blöd, daß Blanche diesem Idioten ausgeliefert ist!« Doch Feding ging auf diese Worte, die, wie man sehen konnte, nur ein Füllsel für einen leeren, unentschiedenen Moment darstellten, gar nicht mehr ein und hielt nur schweigend seinen freundlichen Blick auf sie geheftet. Es war nicht zu verkennen, daß etwas in ihr rumorte; es war eine Patrone in ihr, die explodieren wollte. Endlich stellte er nochmals und deutlicher seine Frage: »Nun, mein Kind? Haben Sie noch etwas auf der Seele?«

»Nein, nein, nichts! Oder, da ich schon einmal hier bin und da Sie mich fragen, könnte ich Sie vielleicht um Ihren Rat bitten – allerdings in einer äußerst vertraulichen Angelegenheit!«

»Nur zu! nur zu! munterte er sie in heiterer Gefälligkeit auf und lehnte sich, unterm Tisch die Beine von sich streckend, behaglich und erwartungsvoll in seinen Sessel zurück. Seine Augen schlossen sich ein wenig und blickten in sanftem Leuchten durch den Spalt der Lider. Über sein Gesicht ging's wie ein Windstoß, kurz und schnell, doch blieben viele lächelnde Fältchen davon zurück. Seine Haltung und sein Gebaren verrieten seine Bereitwilligkeit, ihr so viel Zeit zu opfern, wie sie brauchen werde, um ihre Sorgen zu erörtern, seine aufgehellten Züge aber eine fröhliche Neugier auf das Kommende, als bereitete er sich auf eine vergnügliche Unterhaltung vor. Was die äußerst vertrauliche Angelegenheit betraf, so schien ihm die kein Geheimnis zu sein. Doch natürlich, dies ahnte sie nicht, sie mußte glauben, daß Feding vor neuen Tatsachen stehen würde, daß er aber von jenen Tatsachen und Einzelheiten, die sie ihm vielleicht verschweigen wollte, keine Kenntnis haben könnte.

Feding aber war über den psychischen Konflikt und über den physischen Kampf, der sich zwischen Gisela und ihrem Freund abgespielt hatte, informiert, über diesen Streit der Geister, der die Frage betroffen, ob die Frau eine Seele habe, und der, nachdem die Worte und Argumente versagt hatten, in eine Rauferei übergegangen war. Als er den Bericht über diese Ereignisse erhalten, war jenes aus seinem Innern aufsteigende, intensive, wenn auch lautlose Gelächter über ihn gekommen, das manchmal seinen Körper mit schnellen, vibrierenden Stößen durchschüttelte. Wie immer, wenn dieser stille Sturm der Heiterkeit ihn überfiel, hatte man ihn staunend und etwas ratlos angesehen; man hatte ihn, vielleicht ein wenig vorwurfsvoll, auf die Peinlichkeit hingewiesen, die darin liegt, daß der Körper eines fertigen, entwickelten Menschen, und gar der einer Frau, wie der Körper eines Kindes geschlagen wird, auf die Roheit, die sich in solch einer Prügelei offenbart, doch er hatte abgewehrt und lachend ausgerufen: »Ach was! Prügel sind mir immer noch lieber als Zank, Geschrei und Schimpferei! Prügel sind nur entehrend und erniedrigend, wenn sie nicht schmerzen! Aber die beiden haben ja, wie ich höre, tüchtig zugeschlagen – Gott sei Dank! Es waren also keine symbolischen Handlungen – Gott sei Dank!« Er hatte nicht glauben wollen, daß die Verbindung zwischen den beiden jungen Menschen wegen dieser paar Schläge nun für alle Zeiten gelöst sein sollte, und hatte immer wieder ausgerufen, daß er sich gar nicht entscheiden könne, ob er sich mehr über die Tracht Prügel amüsieren solle, die sie erhalten, damit der Aufruhr ihres Geistes niedergeschlagen werde, oder über die zwei Ohrfeigen, die sie dem Mann verabreicht hatte, um zu beweisen, daß die Frau eine Seele habe.

Jetzt also saß er Gisela gegenüber und spornte sie an: »Nur zu! nur zu!«

Mit einem inneren Ruck überwand sie ihre Befangenheit, mit einem äußeren richtete sie ihren Körper auf, und mit kampflustig gerötetem Gesicht begann sie die Konsultation: »Herr Doktor! Stellen die Briefe, die ich einem Menschen geschrieben habe, seinen Besitz dar oder meinen Besitz?«

»Seinen Besitz, mein Fräulein!« sagte er. »Seinen Besitz!«

»So«, rief sie aus. »Merkwürdig! Gibt es aber nicht Umstände, auf Grund derer ich das Recht habe, sie zurückzuverlangen?«

»Es gibt keine Umstände, auf Grund derer er verpflichtet wäre, sie zurückzuerstatten.«

»Wenn sich nun aber die Voraussetzungen, unter denen sie geschrieben worden sind, geändert haben –?«

»Die Rechtslage bleibt gleich, mein Kind!«

Feding gab verwundert diese Auskünfte, ja, er schien enttäuscht zu sein, als ob er auf einen sensationelleren Kampf, auf ein lustigeres Streitobjekt vorbereitet gewesen wäre, doch blieb er, des weiteren gewärtig, gern bereit, alle noch kommenden Fragen über sich ergehen zu lassen.

»Schön! Gut!« fuhr Gisela fort. »Wenn ich aber bereit wäre, ihm auch seine Briefe zurückzugeben –?«

»Auch dann ändert sich nichts!«

»Auch dann nicht?«

»Auch dann nicht, mein Kind!«

»So! Ein schönes Recht!« rief sie empört. »Ein skandalöses Recht haben Sie da, ein niederträchtiges Recht! Sie sind doch Anwalt! Wenn nicht einmal mehr die Gegenseitigkeit anerkannt wird –! Müßte nicht«, fuhr sie mit einem gewissen Pathos fort, »müßte nicht die Gegenseitigkeit die Grundlage alles Rechtes sein?«

Er polemisierte gar nicht erst gegen diese aus dem Moment geborene Rechtsphilosophie und begnügte sich damit, sie aus blinzelnden Augen zu beobachten, während durch seine Züge die Heiterkeit flackerte. So setzte sie denn nochmals an, indem sie wie zu einer längeren Aussprache weiter ausholte und ein wenig geheimnisvoll begann: »Ich muß es Ihnen erklären, Herr Doktor! Er handelt sich um einen Mann!«

»Ach!« warf er leise dazwischen.

»Ich bin an einen Lumpen geraten, an einen Verbrecher!«

»Mein armes Kind –!«

»Sie werden mich nicht nach Einzelheiten fragen. Wollte ich's Ihnen erzählen, Sie wären gewiß entsetzt, und wenn ich Ihnen die Gründe für meine Feindschaft auseinandersetzte, würden Sie ohne Vorbehalt auf meiner Seite stehen, aber ich bin ja nicht hier, um Sie als Schiedsrichter aufzurufen, sondern um von Ihnen einen Rat zu erbitten: Wie entreiße ich einem Menschen die Briefe, deren Rückgabe er mir verweigert? Glauben Sie nicht, daß mein Wunsch, sie wiederzuerlangen, einem Trotz oder einem Zorn entspringt, nein, wirklich nicht, er entspringt meiner tiefen Überzeugung, daß jede Erinnerung an diese Verbindung ganz und gar getilgt werden muß! Warum er mir die Rückgabe der Briefe verweigert, weiß ich nicht, ich weiß nur, daß ich sie wieder in meinen Besitz bekommen muß! Darf denn ein Mensch mit einem anderen, darf ein Mann mit einer Frau verfahren, wie er will? Nimmt denn die Tyrannei der Männer kein Ende, niemals, auch dann nicht, wenn die Verbindung nicht mehr besteht? Sie müssen es begreifen, Herr Doktor: es handelt sich ums Prinzip, nur ums Prinzip!«

Sie löste sich. Die Erinnerung, die sie auslöschen wollte, war offenbar gar zu lebendig in ihr, und der Zorn, über den sie erhaben zu sein glaubte, entfachte sich und züngelte in kleinen Flämmchen. Feding antwortete nicht und rührte sich nicht. Wie ein Vakuum die Luft aus Nebenräumen in sich reißt, so kann das Schweigen eines Menschen die Worte und Sätze aus dem andern ziehen und saugen, als müßte die Leere gefüllt werden, und da er in seiner Regungslosigkeit verharrte, konnte sie nicht stillbleiben und mußte reden. Eine gewisse Scham verwirrte sie, die Erregung trieb sie an, und so sprach sie schnell, sprudelnd und mit wachsendem Temperament: »Es ist nicht nur sein Verhalten, das niederträchtig, roh und gemein war, es sind seine Meinungen und Überzeugungen, die ich hasse, weil sie mich beleidigen! Er weiß nicht, daß eine andere Zeit angebrochen ist! Die Frau ist für ihn ein Geschöpf zweiten Grades, das keine Seele hat. Kann und darf das eine Frau, die etwas auf sich hält, ertragen? Mich trennen Abgründe von ihm, aber darum geht es nicht, es geht jetzt um die Briefe! Er weigert sich, sie mir wiederzugeben. Sie gehören ihm, hat er gesagt, und damit basta! Dann ist er verreist, dann ist er wiedergekommen, vor einer Woche etwa, ich habe ihn wieder bitten lassen, aber er hat nur die Achseln gezuckt, hat man mir gesagt, und hat geantwortet: sie gehören ihm! Ich könnte mich ja nochmals an ihn wenden, ihm schreiben oder telephonieren, doch das könnte er als einen Versuch auffassen, mich ihm zu nähern, und davor bewahre mich Gott! Und da dachte ich, wie ich hier gesessen habe, ist es mir eingefallen, daß Sie ihm schreiben könnten. Wenn Sie ihm schreiben, als mein Anwalt –? Was meinen Sie? Irgend etwas muß doch geschehen! Muß ich denn kapitulieren? Soll nach allem, was geschehen ist, der trotzige Bock auch noch recht behalten? Sie müssen mich verstehen, Herr Doktor, es ist nicht Trotz! Es geschieht leider und geschieht immer wieder, daß sich die Leidenschaft verirrt und an einen Lumpen gerät – ich kann Ihnen gar nicht sagen, in welchem Maß das hier der Fall ist, ich meine, in welchem Maß er ein Lump ist! Es ist wie eine Lebensfrage für mich! Die Erinnerung an die Schande, mit ihm verbunden gewesen zu sein, ist schon schwer genug, die Zeichen für diese Schande aber müssen vernichtet werden! Ich habe dem Kerl geschrieben wie ein verliebter Backfisch, wie eine hingegebene Frau aus dem vorigen Jahrhundert, so darf man eben nicht schreiben. Ach was! ich weiß, was Sie sagen wollen: Man schreibt, wie man fühlt! Nun gut, so darf man eben nicht fühlen! Ich sage das alles, damit Sie wissen, von welcher Wichtigkeit die Sache für mich ist, Sie müssen bedenken, daß er sich wie ein Schwein benommen hat, aber das ist es nicht, sein gemeines Benehmen wurde durch einen grundlegenden Konflikt ausgelöst! Es sind Dinge der Überzeugung, die mich von ihm trennen, es ist die Frage nach der Stellung der Frau, nach der Ehre der Frau, nach der Würde der Frau, es sind Prinzipien, ja, nur Prinzipien!«

Sie holte Atem. Er hatte in vollkommener Bewegungslosigkeit zugehört, doch diesen Augenblick der kurzen Pause benützte er und hob ein wenig seine rechte Hand, die auf der Schreibtischkante gelegen hatte, wie um ihr damit ein Zeichen zu geben, daß er reden wolle. Leise sagte er: »Prinzipien, mein Kind, Prinzipien –!«, und sie fuhr gar nicht mehr fort zu sprechen, ihr Furioso brach ab. So war es meistens: wie es geschehen mag, daß eine schattenhaft aus der Ferne klingende, über die Landschaft hinläutende Glocke die lärmenden Menschen verstummen und aufhorchen läßt, so brachte er, wenn er das Wort ergriff, die anderen dazu, sich ihm zuzuwenden. Den Schreihälsen ging die Luft aus, den Witzigen kam der Witz abhanden, und den Zornigen verrauchte der Zorn. Welch eine Macht kann eine leise Stimme haben!

Auch Gisela schwieg und wartete, ob er weitersprechen werde. Während sein Mund ernst blieb und er in seine Stimme ein übertrieben schweres Pathos legte, waren seine Augen, war sein ganzes Gesicht in fröhliches Lächeln gebadet. »Welch fürchterlicher Haß!« sagte er. »Welche Abgründe eröffnen sich vor mir! Welch ein Kampf!« Er hielt ein, dann fuhr er freundlich fort: »Aber Prinzipien, mein Kind, Prinzipien! Ich warne Sie vor Prinzipien! Die Welt der Prinzipien ist gefährlich! Prinzipien führen zu Haß, Streit und Kampf, zu Krieg, Grausamkeit, Roheit und Tod! Die Prinzipien sollen sein, wie die Luft ist, sie sollen uns unsichtbar nähren und halten, ja, sie sollen wie die Luft die Welt einhüllen und beherrschen. Wehe uns aber, wenn sie auftreten, wie herrschsüchtige Menschen, wenn sie sich hinstellen als Klötze und großspurig sagen: Hier sind wir –! – Prinzipien, mein Kind, Prinzipien!«

Giselas schnelle, von ihrem Feuer geheizte, von Schimpfworten durchsetzte Sprache sank in sich zusammen, als hätte man ihr die Flamme entzogen, und unsicherer, ein wenig verwirrt antwortete sie. »Vielleicht. Ja. Sie mögen recht haben«, sagte sie, obwohl es durchaus nicht sicher war, daß sie seinen Gedanken gefolgt war. »Aber geben Sie denn nicht zu, daß ich ein Recht auf die Briefe habe? Warum verweigert er sie mir? Es gibt Konflikte, die so grundlegend sind, daß –«

Doch Feding hörte ihr kaum mehr zu und musterte sie nur aus sanft leuchtenden Augen, die, abwärts und wieder aufwärts, langsam über sie hingingen, über das gesunde, ihr Temperament bezeugende, charaktervolle Gesicht, über die vollen Schultern und Arme, den starken, wohlausgebildeten Körper, das breite Becken, das die Natur geschaffen zu haben schien, um die Geburten zu erleichtern, und während seine Blicke auf ihrem schön und kräftig entwickelten Busen haften blieben, wiederholte er nochmals, leise singend: »Prinzipien!« Seine Lider schlossen sich immer mehr, und durch den schmäler werdenden Spalt funkelten die Blicke immer lustiger. In den vielen Falten und Fältchen flutete die Heiterkeit. Er setzte von neuem an: »Welch ein Haß! Wie schrecklich, scheußlich und schauderhaft muß doch alles gewesen sein, wenn Sie sich nicht damit begnügen wollen, daß alles Geschehene Vergangenheit ist, daß sie auch noch ihr, der Vergangenheit, ihr eigenes Leben nehmen wollen! Ich weiß nicht, ob es Ihnen gelingen wird, und ich weiß auch nicht, ob wir es überhaupt versuchen sollen, denn das Gewesene führt als Gewesenes sein ewiges Leben! Aber gut! Wir wollen zu unserem Rechtsfall zurückkehren! Welch fürchterlicher Haß! Welche Abgründe eröffnen sich vor mir!« Er verstummte, doch dann fuhr er mit einem neugierigen, fast schlauen Blick fort: »Prinzipien, gut, Prinzipien! Aber wollen Sie mich nicht auch ein wenig über die Tatsachen unterrichten? Schließlich haben doch auch sie ihr Leben und ihr Gewicht! Wollen Sie mir nicht, damit ich einen Überblick bekomme, damit ich Ihren Gegner und seinen Charakter kennenlerne und damit es mir erleichtert wird, ihnen einen Rat zu geben, wollen Sie mir nicht anvertrauen, was er, jenseits aller Prinzipien, in der Welt der Wirklichkeit, in der Welt der tatsächlichen Handlungen, was er also getan, um nicht zu sagen, was er verbrochen hat?«

Sie zögerte, schien nach Worten zu suchen, und endlich sagte sie voll düsterer Dumpfheit: »Er hat mich mißhandelt!«

»Mißhandelt!« wiederholte er mit tragischem Baß und schwieg.

Im Zimmer waltete die Stille. Gisela blickte zu Boden, und Feding betrachtete sie, ohne sich zu rühren, doch es zuckte in seinem Gesicht, seine Augen blinzelten und zwinkerten, sein Schnurrbart begann sich zu wölben, und die Haare seiner Brauen richteten sich auf und stachen auseinander. Schließlich kam auch sein Körper in Fluß, und ein wenig schwerfällig erhob er sich. Er ging langsam in den Winkel, in dem der niedrige Eckschrank stand, holte einen Schlüsselbund hervor und öffnete, die alten Glieder mühsam beugend, die Tür des Kästchens. Die Hand am Schloß, gebückt und ein wenig gekrümmt, drehte er auch noch den Kopf nach ihr zurück. »Halten Sie mich nicht für einen Säufer!« sagte er. »Ich trinke in meinen Arbeitsstunden fast niemals, nur in besonderen Ausnahmefällen, nur wenn ich einen besonders lieben Gast hier habe – und das sind Sie, mein Kind, das sind Sie wirklich! – Im übrigen«, fuhr er fort, während er eine der Flaschen, die er hier aufbewahrte, und zwei Gläser auf ein Tablett stellte, »im übrigen – warum sollte ich es nicht gestehen? – bin ich den menschlichen Tragödien nicht mehr gewachsen, ich bin ein alter Mann und ein weicher Mensch und muß mich stärken! Ah, das Leben ist eine schreckliche Wüste, die einzige Blüte ist die der großen Liebe, und wenn ich sehe, daß sie nicht nur verblüht, sondern auch, verblühend und verwelkend, die Luft mit Gift, Haß und Tod erfüllt –! Abgründe von Prinzipien trennen zwei Menschen, die einander lieben könnten, und wenn ich gar noch höre, daß sich ein Mann hinreißen läßt, eine Frau zu mißhandeln –! Schauerlich, schauerlich! Es ist zuviel für mich!«

Während er das Tablett herbeitrug und es dann abstellte, verloren seine Hände die Sicherheit, sein Schnurrbart zitterte, und seine Augen blinzelten. Wäre jetzt ein Fremder eingetreten, ohne zu wissen, um was es hier ging, er hätte wahrscheinlich nicht erkannt, ob es Rührung sei, die Feding mit aller Kraft in sein Inneres zurückbannen wollte, oder ein aufsteigendes Gelächter, das er unterdrücken mußte. Auch über Gisela schien für einen Augenblick der Zweifel zu kommen, und sie sah ihn denn auch von unten her fragend, staunend und schon ein wenig mißtrauisch an. »Ich bin ein alter Mann«, beeilte er sich, als er diesen Blick auffing, fast demütig um Verzeihung zu bitten. »Sehen Sie, ich bin ja schon ein alter Mann!«

Er goß mit vorsichtiger Langsamkeit, den aufmerksamen Blick auf die allmählich steigende Flüssigkeit gerichtet, den Wein in die Gläser. Dann nahm er einen kurzen Schluck, prüfte und genoß mit geschlossenen Augen und nahm einen zweiten und einen dritten. »Trinken Sie auch!« munterte er sie auf. »Trinken Sie auch ein Gläschen! Sie werden nicht oft in Ihrem Leben einen so guten Portwein trinken!« Er ließ sich nieder. »Er hat seine kleine Geschichte«, fuhr er fort, und schon verlor er sich in Gedanken und schon überließ er sich seinen Erinnerungen. »Er hat seine kleine Geschichte. – Ein Bekannter«, begann er, sich breitbehaglich zurücklehnend und die Hand um den Stiel des Glases gelegt, zu erzählen, wie man bei einem stillen nächtlichen Trunk seine Histörchen erzählt, die, ohne großen Witz und ohne Pointe, dennoch gern berichtet und gern gehört werden, weil sie mit ihrer ebenen Gemütlichkeit gut in diese, aus der Zeit herausgehobene, anfangs- und endlose Stunde der Nacht passen, »ein Bekannter kam eines Tages zu mir, hierher, hier saß er, wo Sie jetzt sitzen, und sagte mir, er habe mich um eine kleine Gefälligkeit zu bitten, er habe in einer Erbschaftsangelegenheit mit seinen Verwandten einen kleinen Disput, er wolle ihnen in einem Brief seinen Standpunkt klarlegen, doch nicht, ohne vorher meine Meinung gehört zu haben. Gut, warum nicht, ich bin meinen Bekannten gern gefällig, man muß nicht gleich an seinen Nutzen denken. Allerdings, ich dachte mir gleich: gar so klein dürfte der Disput nicht bleiben!, und wirklich, dem ersten Brief folgte ein zweiter, ein dritter, folgte eine lange Korrespondenz, aus dem kleinen Disput wurde ein großer Streit und ein großer Prozeß, aus der kleinen Gefälligkeit, die ich ihm erweisen sollte, eine Riesenarbeit für die ganze Kanzlei. Der Schlaukopf! Sooft er hier war, dankte er mir, bevor er in sein prächtiges Auto stieg, mit der aller-allergrößten Herzlichkeit, und in der Kraft, mit der er mir jedesmal die Hand drückte und schüttelte, lag der Ruf: Ich danke dir, ich danke dir, als Freund dem Freund, sieh, wie ich dir danke, da wirst du mir doch keine Rechnung schicken! Die Sache ging weiter, der Prozeß lief, ich habe ihn durchgeführt und schließlich gewonnen, und als ich das schriftliche Urteil zugestellt bekam, habe ich ihm sofort die gute Nachricht telephonisch mitgeteilt, von hier aus, aus der Kanzlei!

Aber sieh an, aber sieh an, als ich nach Hause kam, was finde ich dort? Sieh an, sieh an, der Schlaukopf! Eine Kiste mit zwei Dutzend Flaschen Portwein! Ah, wir kennen diese Kniffe! Er hat gedacht, damit ist's abgetan! Ich aber, wissen Sie, war noch schlauer als er und habe gedacht: Warte nur! du kennst mich nicht! das soll dir nicht gelungen sein! Zuallererst habe ich ihm gedankt und ihm die Hand geschüttelt, und in der Kraft und Herzlichkeit, mit der ich es tat, war der Ruf: Ich danke dir, ich danke dir, als Freund dem Freund für die zwei Dutzend Flaschen, sieh, wie ich dir danke, da werde ich dir doch auch noch eine Rechnung schicken dürfen? Er war, der Geizhals und Schlaukopf, ganz konsterniert über die Innigkeit meines Dankes, denn er hatte schon begriffen, daß ich der Schlauere war! Nun weiter. Nachdem ich ihm also auf diese Weise gedankt hatte und triumphierte, habe ich mir gedacht: So! Und jetzt werde ich die erste Flasche öffnen, ein Gläschen trinken, und, vom Alkohol beflügelt – werde ich ein zweites, ein drittes trinken, und zügellos und schamlos, wie der Alkohol den Menschen macht, werde ich die Rechnung zusammenstellen! Gut, ich bin auch gleich, am selben Abend noch, darangegangen, denn ich war doch neugierig auf den Wein, ich bin darangegangen wie ein blutgieriger Mörder, der sich Mut antrinkt – aber, aber! So ist der Mensch! So sind meine Siege! Ich öffne die Flasche, ich rieche am Korken, ich fülle das erste Glas, sehe die Farbe, sehen Sie nur! diesen dunklen Purpur, das Bukett steigt mir in die Nase, ich nippe, ich nippe, und siehe, siehe! es war eine Liebe auf den ersten Schluck!« Er schwieg und lachte in sich hinein.

»Und –?« fragte Gisela.

»Und –?« wiederholte er. »Nichts. Sehen Sie, so charakterlos ist der Mensch, so sind meine Siege, so groß war diese Liebe auf den ersten Schluck, daß ich gesagt habe: Es sei! es soll ihm gelungen sein! – Das also ist dieser Wein. Es ist die zwölfte Flasche. Trinken Sie! Bald werde ich das zweite Dutzend anbrechen müssen – ein trauriger Augenblick! Ich trinke ihn nur selten, und noch seltener biete ich ihn an, nur wenn ich einen besonders, einen ganz besonders lieben Gast hier habe. Trinken Sie!«

Er führte langsam sein Glas zum Mund und trank es aus. »Nun also!« sagte er dann. »Wir kehren zu unserem Rechtsfall zurück! Sie wollen die Briefe in Ihren Besitz bekommen, und er verweigert die Übergabe. Abgründe von Prinzipien trennen Sie von diesem Menschen, und überdies hat er Sie auch noch mißhandelt! Das ist nun die Liebe, die Hoffnung und der Stern der Menschheit, ihre Sehnsucht und ihr Glück! Nicht nur vergänglich ist sie, nein, vergehend führt sie auch noch in die schwarzen Schluchten des Hasses! Mein armes Kind, enttäuscht und wahrscheinlich im innersten Kern verwundet! So verliert man alles und kehrt einsam ins Leben zurück! Was bleibt uns anderes als der Trost, daß eben doch nicht alles, nicht ganz und gar alles verloren und vergangen sein kann, da doch in jeder Liebe ein unvergänglicher Teil steckt, unverwelklich, auch wenn alles andere verwelkt ist. Wir Menschen sind so temperamentvolle und rasende Wesen, daß wir unter der Wildheit, mit der die Liebe treibt, zuerst oft gar nicht ihren ewigen Teil erkennen, sondern erst später, viel später, nach Monaten oder wenn alles längst vorüber ist oder vorüber zu sein scheint!«

Gisela runzelte unzufrieden die Stirn und schien nur zu warten, daß er zu der Sache zurückkehre, zum Rechtsfall, doch er fuhr mit leise sich wiegender Stimme fort: »Wenn der Strauch verbrannt ist und das letzte armselige Rauchfähnchen aufsteigt, dann sehen wir zuerst nichts als die Verwüstung; später, wenn wir uns zurückwenden, dann sehen wir das häßliche Häufchen trockener Asche, doch noch viel später, wenn wir einmal vorübergehen, entdecken wir unter dem grauen Staub den letzten, unsterblichen Kern!«

Gisela wußte nichts mit sich zu beginnen und schien sich zu ducken, nicht so sehr unter seinen Worten, wie unter ihrem Klang und ihren Schwingungen, da doch eine Stimme einen weiten, allgemeinen, unaussprechlichen Inhalt haben kann, wie eine Melodie. Nur dann und wann musterte sie ihn im geheimen, als ob sie seine Gedanken und Hintergedanken erraten wollte. »Stoßen wir also an, mein Kind, auf diesen goldenen Rest und Bodensatz!« Er hob, da er längst die Gläser wieder gefüllt hatte, das seine ihr zu, doch sie griff nicht nach dem ihren. Während immer mehr Licht in seine Augen kam, sprach er immer leiser und langsamer: »Wie? Sie wollen nicht? Sie wollen nicht mit mir anstoßen? Wollen Sie mich kränken? Oder glauben Sie nicht, was ich Ihnen sage? Doch, doch! Sie müssen es glauben! Denn wenn nichts, wenn gar nichts bleibt, nicht dieser Kristall, der sich an unsere Seele ansetzt, nicht dieser Tau, der nie verdunstet, wenn nichts, wenn gar nichts bleibt, dann war es eben keine Liebe, sondern etwas Gewöhnliches und Gemeines – aber daran glauben wir doch nicht, daran können wir doch nicht glauben! – Ja, es soll sogar manchmal geschehen, daß dieser letzte, harte Samen, als habe er noch keine Lust, in den Winter der Ewigkeit einzugehen, noch einmal zeitliche Blüten treibt, wie in heißen Jahren die Bäume zweimal blühen!«

Er schob sein Glas näher an Gisela heran, übermütig immer näher, bis es dicht vor ihrem Gesicht stand und sie gezwungen war, auch ihres zu ergreifen. Dann stieß er das seine vor, daß es leise erklang. »So, mein Kind!« sagte er zufrieden und lehnte sich im Zustand der vollsten Behaglichkeit zurück.

Sie schwieg, doch dann richtete sie sich auf und straffte sich, wie wenn sie gegen seine Weichheit oder gegen die ihre, die sie für einen Augenblick überkommen mochte, neue Kräfte sammeln wollte. Endlich raffte sie sich zu einer Antwort auf: »Ja, Herr Doktor, das alles mag wahr sein, ich weiß es nicht, es mag auch schön sein, hier aber handelt es sich doch, unabhängig von aller Wahrheit oder Schönheit, um unseren Streit. Ich will die Briefe wieder in meine Hand bekommen und glaube auch, daß er«, sie sprach immer lauter, und die Wut stieg in ihr auf, »daß er, wenn er kein Schwein ist, dazu verpflichtet ist, sie mir auszufolgen!«

»Gewiß, gewiß, da Sie es verlangen, ist er moralisch dazu verpflichtet, und wenn er es nicht tut, ist er durch nichts zu entschuldigen. Es gibt ein geheimes Übereinkommen, eine Solidarität, an der zwei Menschen, die einander einmal geliebt haben, unter allen Umständen bis zum Tod festhalten müssen, und was immer es sein mag, das ihn zu seinem ungalanten, unedlen, ja, niederträchtigen Verhalten verführt, er ist durch nichts zu entschuldigen! Ja, selbst wenn wir zu seinen Gunsten die verhältnismäßig schönsten Motive annehmen, daß er nämlich Ihnen nur deshalb die Briefe nicht ausfolgt, weil er sich von ihnen nicht trennen will, weil ihm an ihrem Besitz etwas gelegen ist, weil durch sie die Erinnerungen an andere, bessere Zeiten lebendig werden, weil er vielleicht gern in ihnen blättert und liest, um am Ende gar eine Träne der Wehmut zu weinen – selbst dann, selbst dann ist er durch nichts zu entschuldigen! Die Vorstellung, daß er in seinen Händen diese Briefe hält, deren Inhalt Sie doch widerrufen, deren Worte Sie doch auslöschen würden, wenn Sie könnten, die Vorstellung, daß er in ihnen blättert, die Vergangenheit, die Sie verleugnen, heraufbeschwört, das Geschehene in lüsternen Träumen wiederkäut, womöglich wünscht, die schöne Mahlzeit noch einmal einzunehmen, am Ende gar wagt, es zu hoffen, ah, diese Vorstellung muß doch Ihren Ekel erregen!«

»Gewiß!« sagte sie ärgerlich. »Gibt es also ein Mittel –?«

»Geduld, Geduld!« Feding sank immer tiefer in den Sessel, als wäre er darauf vorbereitet, noch Stunden so zu sitzen und zu plaudern, und nahm nur von Zeit zu Zeit einen kleinen Schluck. Allenthalben in seinem Gesicht bildeten sich kleine Fältchen, als müßte sich in ihnen das Lachen des ernstbleibenden Mundes als vielfältiges Lächeln verteilen und verbergen. »Geduld, Geduld!« begann er von neuem. »Ich habe Ihnen schon gesagt, daß uns die Gesetze, nicht zur Seite stehen. Wir werden also versuchen, ohne ihre Hilfe unseren Weg zu gehen. – Haben Sie schon daran gedacht, oder haben Sie es am Ende schon versucht, ihm die Briefe abzukaufen?«

»Abkaufen?« rief sie erstaunt. »Nein, daran habe ich wirklich noch nicht gedacht!«

»Nicht? Aber ich muß daran denken, an dieses häßliche, widerliche Mittel! Sehen Sie, Sie haben ihn einen Lumpen, einen Verbrecher genannt, und man kennt doch diese Kerle, diese Hyänen! Ihre Weigerung, die Briefe auszufolgen, stellt nichts anderes dar, als die stillschweigende Drohung, sie zu mißbrauchen, die stillschweigende, erpresserische Forderung nach Geld! Ja, so sind sie, diese Lumpen und Verbrecher, schlimmer als die Mörder sind sie, diese Leichenfledderer an der toten Liebe!«

»Mein Gott!« rief sie, und ihr Zorn begann sich nun wirklich zu regen. »Geld! Er hat mehr Geld als ich! Nein, daran habe ich wirklich nicht gedacht! Und es käme bei ihm, auch wenn er keines hätte, gar nicht in Betracht!«

»Nicht? So. Also auch damit ist's nichts!«

»Mein Gott!« rief sie nochmals aus und unterdrückte ihre aufsteigende Heftigkeit. »Es ist doch so einfach! Gibt es ein Mittel –?«

»Geduld, Geduld!« fuhr er unbeirrt fort. »Lassen Sie mich nachdenken! Die Gesetze stehen uns nicht zur Seite, andererseits stellt auch Geld, wie Sie sagen, kein wirksames Mittel dar –. Es läge nun nahe, an Gewalt zu denken, aber ich warne, ich warne Sie!«

»Aber Herr Doktor –!« fuhr sie dazwischen; ihre Augen blitzten, und ihre Finger zuckten über der Tischplatte. »Aber Herr Doktor –!«

Doch er ließ sich nicht unterbrechen und setzte fort: »Ich könnte es begreifen und verstehen, wenn Sie sich entschlössen, zur Gewalt zu greifen, aber ich warne, ich warne Sie! Ich werfe gar nicht erst die Frage auf, ob es erlaubt ist, gegen eine zwar legale, aber moralisch anfechtbare, ja, niederträchtige Handlungsweise nun selbst mit sowohl illegalen als auch ebenfalls moralisch anfechtbaren Mitteln vorzugehen, denn ich könnte wohl glauben, daß Sie sich in Ihrem Zorn über diese Zweifel hinwegsetzen – aber denken Sie an die Schwierigkeiten! Denken Sie an das Risiko! Denken Sie an die Gefahren! Wollen Sie einbrechen bei dem Herrn? Wie? durch die Tür? durch die Fenster? Mein Kind, glauben Sie es mir, schon bei den ersten Vorbereitungen, ja, schon bei dem ersten Gedanken an diese Vorbereitungen würden Sie sagen: Ich kann es nicht allein durchführen, ich brauche Helfer! Und wo finden Sie diese Helfer und deren Helfershelfer? In der Gosse! Denn was für Menschen würden sich für solch ein Unternehmen zur Verfügung stellen? Zweifelhafte Elemente, verbrecherische Kerle! Und was, wenn diese Menschen, Ihre Mitwisser, diese Kreaturen, die nichts zu verlieren haben, nun selbst eines Tages an Ihnen zu Erpressern werden?«

Giselas Augen weiteten sich, in ihren Blicken lag Unsicherheit und Zweifel, Ärger und Angst vor diesem phantasierenden alten Mann, der ihr väterlich zuredete, von einem Plan abzulassen, den sie doch niemals gehabt.

»Und wie«, sprach er weiter, »wenn es gar nicht gelingt? Wenn etwa die Briefe gar nicht in seinem Schreibtisch sind, wo Sie sie natürlich zuerst suchen lassen würden? Und wenn sie überhaupt nicht in seiner Wohnung sind? Wenn er sie etwa bei sich trägt? Wollen Sie ihn in mitternächtlicher Stunde von gemieteten Räubern überfallen lassen? Und wenn er sich ahnungsvoll mit einer Leibgarde umgeben hat? Wollen Sie es zu Straßenschlachten kommen lassen? Mit Toten und Verwundeten? Wollen Sie, Säbel und Revolver schwingend, die Anführerin sein, den Räuberhauptmann spielen? Und dann Ihr Leben lang im Gefängnis schmachten? Ich sehe schon die riesigen Schlagzeilen in den Zeitungen: Die Besitzerin des photographischen Ateliers Gisela nach einer Straßenschlacht schwer verwundet ins Polizeikrankenhaus eingeliefert!«

»Aber um Gottes willen!« schrie Gisela und sprang auf. »An solche Aktionen habe ich doch niemals auch nur gedacht!«

»Nicht? Um so besser!« sagte er sanft. »Ich aber mußte an sie denken, um Sie zu warnen!«

Giselas Augen sprühten Feuer, sie riß, weil sich ihre Wallung in einer Bewegung des Körpers entladen mußte und sie sich zurückgehalten fühlte, die Faust auf den Tisch zu hauen, wozu sie wohl Lust haben mochte, sie riß mit heftiger Gebärde die Mütze vom Kopf, und augenblicklich verwandelte sich das Bild, das sie darbot, als ihre Frisur zum Vorschein kam, diese Frisur, die, aus unzähligen, winzigen, rings um den Kopf gestellten Löckchen bestehend, mit ihrer Kindlichkeit weder zu ihrem starken, charaktervollen Gesicht noch zu ihrem frauenhaft entwickelten Körper passen wollte und die in ihrer Originalität einen trotzig zur Schau gestellten Protest gegen alle Konvention darstellte. Sie hielt an sich und fragte in strenger Kühle: »Kurz und gut, Herr Doktor, gibt es ein Mittel –?«

»Es ist ein schwieriger Fall«, sagte er und erhob sich. »Lassen Sie mich nachdenken!« Er ging auf und ab, während er die Hand an seine Stirne legte, das Gesicht in schwere Falten warf, die Augen schloß und auf diese Weise tat, als ob er mit aller Kraft einem undurchdringlichen Problem nachgrübelte. Sie sah ihm ratlos zu. Endlich gab er seine Wanderung auf. »Ich hab's!« rief er, pflanzte sich vor ihr auf, und die Lustigkeit strahlte nun breit, unverhohlen, ja, mit Gewalt aus ihm. »Ich hab's! Da uns die Gesetze nicht zur Seite stehen, da einer der seltenen Fälle vorliegt, in denen auch auf den Schuft das Geld keine Wirkung tut, da wir andererseits darüber einig sind, auf Gewalt zu verzichten, bleibt uns nichts anderes übrig, als die List!«

»Und wie –?« fragte sie unsicher und voll Mißtrauen, das sie bei seinem Anblick nicht verlassen konnte.

»Hören Sie gut zu!« Er beugte sich ihr zu und sprach mit leiser, verschwörerischer Geheimnistuerei. »Hören Sie gut zu! Sie versöhnen sich mit ihm – zum Schein! Sie tun so, als ob Sie ihn noch immer oder von neuem liebten, und wenn die neuen Flammen seiner alten Liebe lodern und Sie sich in sein Vertrauen geschlichen haben, dann entlocken Sie ihm unter irgendeinem Vorwand in einer Liebesstunde die Briefe – und wir haben gesiegt! – Wir haben gesiegt!« rief er und leuchtete, als ob die in die Trauben gezogenen Sonnenstrahlen in ihn übergeflossen wären und nun aus ihm hervorbrächen.

»Das kann doch nicht«, rief Gisela nun im offenen Zorn, »Ihr Ernst sein?«

»Doch, doch, mein Kind, es ist mein Ernst! Versöhnen Sie sich – zum Schein natürlich! Verführen Sie ihn, verführen Sie ihn, versöhnen Sie sich!« Er sprach nicht weiter, sah sie nur aus überquellenden Augen an, und endlich kam es über ihn, das stille, doch unbändige Gelächter. Sein Gesicht war von unzähligen Falten und Runzeln durchfurcht, die Haare auf seinem halbnackten Schädel stellten sich auf, die Brauen sträubten sich voll Wildheit, der Schnurrbart war in weitem Bogen über die Lippen gewölbt und erzitterte. Die Manschetten schlugen leise gegen die Ärmel, die Uhrkette klapperte gegen die Westenknöpfe, alles hüpfte, schaukelte, wackelte, wippte und schüttelte sich, und da er seine Hände auf Giselas Schultern legte, schüttelte er auch sie. Ihr verging die Sprache, sie würgte an ihrer Wut, und ihr Gesicht war vom Zorn gerötet.

Feding lachte noch immer, und sein Körper bebte. Um seine Hände von ihren Schultern zu bringen, streckte sie sich und trat einen Schritt zurück. Sie brauchte offenbar ihre ganze Beherrschung, um ihre Empörung nicht zum Ausbruch kommen zu lassen, und stammelte mehr, als daß sie gesprochen hätte: »Ich weiß nicht, warum Sie lachen –! Und ich weiß nicht, wie Sie alles denken! Versöhnung – zum Schein? Wie denn? Was denn –?« Ihre Stimme stockte und versagte.

»Wissen Sie es nicht?« rief er fast jubelnd. »Wissen Sie es wirklich nicht, wie man sich versöhnt? Soll ich Ihnen helfen? Soll ich die Brücke sein? auf der Sie hinübergehen? Der Bote, der Herold, der Engel, der Friedensengel, die Taube, die die Nachricht bringt, daß sich die Fluten des Zornes verlaufen haben? Soll ich, soll ich?« Er hob die im Ellenbogen geknickten Arme und flatterte mit den Händen, um die Bewegungen der Tauben- oder Engelsflügel nachzuahmen, spitzte den Mund, als trüge er zwischen den Lippen den Ölzweig, und vollendete so die kleine Komödie, die ihm unbändigen Spaß zu bereiten schien. In den Augen das Feuer des lustigen Spiels, jede Runzel mit Gelächter, jeden Pore mit Heiterkeit gefüllt, stand er vor ihr, der alte Mann, dessen graue Haare schon da und dort silbern schimmerten und dessen Rücken schon gebeugt war.

Giselas immer röter werdendes Gesicht spiegelte den Kampf, der sich zwischen ihrem Zorn und ihrer Scheu abspielte, jenen sich offen entladen zu lassen. Nur sein Alter bewahrte ihn davor, mit rüden Worten beschimpft zu werden. Schließlich schloß sie gleichsam mit sich selbst einen Kompromiß, indem sie sich aufrichtete und hoheitsvoll mit beherrschter Stimme sagte: »Danke! Ich verzichte auf Ihr Angebot. Darf ich Sie bitten, mir zu sagen, was ich Ihnen für die Konsultation schulde?«

»Wie? Wollen Sie denn schon gehen?« fragte er. »Ärgern Sie sich? Ärgern Sie sich nicht! Was Sie mir schulden? Das ist nicht so einfach! Da muß die Zeit gemessen werden, die ich Ihnen gewidmet habe, die Zahl der Worte, die ich gesprochen habe, muß dazu addiert werden, die Summe muß mit dem Gewicht der Ratschläge, die ich Ihnen gegeben habe, multipliziert werden, und dann muß das Resultat durch meine Sympathie für Sie dividiert werden und nochmals dividiert durch die Freude, die mir Ihr Besuch gemacht hat – und am einunddreißigsten Dezember werde ich Ihnen meine Rechnung schicken!«

»Ich bitte darum!« sagte sie streng und steif, drückte mit heftiger Bewegung die Mütze auf den Kopf und wandte sich zur Tür. »Aber gehen Sie doch nicht! Bleiben Sie!« rief er. »Sie sind ja so reizend! Ärgern Sie sich doch nicht!« Doch sie ergriff schon die Klinke. »Auf Wiedersehen!« sagte sie, überschritt die Schwelle und schloß laut die Tür hinter sich.

Gisela stieg mit zorngerötetem Gesicht die zwei Stockwerke hinunter. Ihre Absätze knallten auf den steinernen Stufen, im Hausflur unten hallten ihre Schritte wie Hammerschläge. Das Tor krachte hinter ihr ins Schloß, und sie stand auf der Straße, offenbar unschlüssig, was sie nun mit sich beginnen solle; aber die für den Nachmittag nötigen Einkäufe waren noch nicht gemacht, und so ging sie daran, sie zu erledigen. Die Gemütsstimmung, in der sie war, setzte sich in Schnelligkeit und Eile um. Ihre Wut war um so gefährlicher, als sie sich gegen den alten Mann, ihren Urheber, nicht hatte entladen können und noch in ihrer ganzen zusammengepreßten Gewalt ihr Inneres ausfüllte. Mit langen, kampflustigen Schritten und erhobenem, fast zurückgeworfenem Kopf und mit verbissenem Gesicht hastete sie vorwärts und benützte die erste Gelegenheit, zu streiten und zu zanken, indem sie einen Passanten, den sie, nicht rechts und nicht links schauend, angestoßen hatte, so überraschend und so gewalttätig anschrie, daß er erschrocken mit offenem Mund stehenblieb; bevor er sich fassen und zurückschreien konnte, war sie schon weg.

Sie eilte von Geschäft zu Geschäft und betrat so energiegeladen, so wutentbrannt die Läden, daß die Verkäufer gar nicht wußten, was sie denken sollten, und ängstlich durcheinanderliefen. In dieser Laune hatte sie auch nicht die Geduld, zu überlegen, was sie brauchte, und nahm eilig und wahllos alles, was man ihr anbot und worauf gerade ihre Blicke fielen. Mit gerunzelter Stirn ließ sie ihre Augen über die ausgestellten Waren laufen, wie über eine Schar von Feinden, und dahin und dorthin zeigend, kommandierte sie: Ein Pfund! Drei Pfund! Fünf Dosen! Fünf Flaschen!, doch in einem Ton, als ob sie riefe: An den Galgen! Erschießen! Kopf ab! – In der Menge, die sie einkaufte, lag ihr ganzer Zorn.

Gisela ließ, was sie eingekauft hatte, in ihre Wohnung schicken, betrat nur noch das erstbeste Restaurant, um kurz etwas zu essen, und fuhr nach Hause. Zwar hatte sie schon am Morgen angeordnet, wie für den Nachmittag die Möbel umzustellen seien; alles andere aber war noch vorzubereiten, und dies war nicht wenig. Sie nützte die kurze Zeit bis fünf Uhr, die ihr noch zur Verfügung stand, mit hastiger Tätigkeit aus, und wirklich, die ersten Gäste kamen schon wenige Minuten, nachdem sie fertig geworden war.

II

Die Zusammenkunft setzte, sozusagen ohne einleitende Takte, mit einer gewissen Heftigkeit ein, wie es zu geschehen pflegt, wenn die Eingeladenen mit dem Vorsatz und der Verpflichtung erscheinen, lustig zu sein, und schon beim Überschreiten der Schwelle augenblicklich daran gehen, sich dieser Verpflichtung zu entledigen. Das Temperament entfaltete sich um so vehementer, als man sich, um die ungewohnte Stunde und die Tagesstimmung zu überwinden, doppelt laut ins Vergnügen stürzte und bestrebt war, die kurze Zeit, die man vor sich hatte, mit konzentriertem Amüsement auszunützen. Die Fülle des Gebotenen, die große Zahl von Flaschen und deren Vielfalt, die Menge der Schüsseln und Teller, auf denen die hochaufgeschichteten Berge und Türme der Brötchen, Salate und Pasteten ragten, dies alles wirkte befeuernd, rief die Lebensfreude und bei manchen die Gier hervor. Jeder der Gäste wurde von Gisela mit einem vollen Schnapsglas und einem aufmunternden, ja, hetzerischen Prosit! begrüßt, wobei sie von Zeit zu Zeit auch selbst, offenbar um einen Sprung in die gute Stimmung zu machen, trotzig ein Gläschen in die Kehle kippte. Der Alkohol löste schnell die Zungen der Ankommenden, befreite ihren Geist aus seinen Fesseln. Stadel sprühte und spritzte seine halben Paradoxa über die sich erst Versammelnden aus, Müller-Erfurt drehte das Grammophon auf und markierte, vor dem Apparat stehend, mit wilden Gestikulationen den Dirigenten der Musik, die Hausfrau selbst sprach so laut, wie sonst erst nach vielen Stunden, und jene Dame, die bei solchen Gelegenheiten – sonst allerdings erst, wenn die Mitternacht vorüber war – die Gewohnheit hatte, sich, groß, mächtig und furchterregend gewölbt, die Hände in die Hüften gestemmt und mit über die Lippen spielender Zunge, breitbeinig vor die Männer hinzustellen und sie zu fragen: Willst du mit mir schlafen? – sie tat dies heute schon um fünf Uhr nachmittag, noch bei Zwielicht, sofort, nachdem sie das erste Zimmer betreten, und angesichts des ersten Mannes, der ihr über den Weg lief.

Ein raffinierter, vom Geist des Humors gelenkter Zufall wollte es aber, daß dies Ruge war, der, bei seinem zurückhaltend-schüchternen und zarten Wesen, vor dieser ihm neuen und frappierenden Situation bis ins Innerste erschrak, fassungslos zwischen seinem Gefühl der Abwehr und seinem Bedürfnis nach Höflichkeit schwankte und ein über das andere Mal stotterte: »Mit großem Vergnügen, gnädige Frau, aber, aber – mit großem Vergnügen, aber –!« Aus seinen vor Verlegenheit verzerrten Zügen sprach eine vielfache Angst: die, ob er für sein immer wieder hervorgestoßenes, stockendes Aber endlich eine plausible Fortsetzung finden würde, die andere, diese offenbar von ihrer Wirkung überzeugte Dame könne erkennen, daß er sich lieber mit Kreuzottern und Vipern in eine Höhle einsperren lassen würde als mit ihr in ein Schlafzimmer, und schließlich noch die undeutliche, doch alles beherrschende Angst, sie könnte ihn in einen Winkel zerren und vergewaltigen; aber man soll ihn nicht auslachen und ihn nicht humorlos nennen, sein Instinkt war auf dem richtigen Weg, denn diese Dame gehörte weder zu den vielen, die nur in ihren Handlungen, noch zu den vielen, die nur in ihren Worten hemmungslos und lasziv, sondern zu den wenigen, die es sowohl in ihren Worten als auch in ihren Handlungen sind. Sie war, ihrem Gebaren und ihrer Lebensführung nach zu keiner gesellschaftlichen Schicht gehörig, eine jener Zwischengestalten, zu denen Gisela sich hingezogen fühlte. Sie nannte sie einen wahrhaft freien Menschen und manchmal gar, allerdings nur in äußerster Kampfstimmung, die Frau der Zukunft.

Es waren im ganzen gegen zwanzig Personen gekommen: Carola als die Hauptperson, zugleich mit ihr Ruge und Krau; die beiden Männer waren zwar auch als Giselas Freunde hier, doch mehr noch als die Begleiter der Rekonvaleszentin, der eine wie in der Funktion eines Leibarztes und der andere als Schutz und Pfleger, der sie nicht allein lassen durfte und in jedem Augenblick zur Verfügung sein mußte, um sie nach Hause zu führen, sobald sie sich müde fühlen sollte. Weiter waren außer Stadel und Müller-Erfurt auch der Dichter Joachim hier und Doktor Meinhardt, Ruges Freund, den Gisela, obwohl sie ihn nur flüchtig kannte, hatte herbitten lassen, weil sie wußte, wie sehr er von Carolas Schönheit, aber auch von ihrem Geist hingerissen war, und der auch tatsächlich den Eindruck erweckte, nur ein Teil ihres Gefolges zu sein; er war übrigens unter allen Männern, die sie bewunderten, der einzige, der sich zu bemühen wagte, nicht immer nur der Bewunderer zu bleiben; und endlich auch Blanche. Allerdings, im letzten Augenblick hatte sie absagen wollen, da sie überaus müde war, denn sie war vom Morgen an herumgelaufen, wahrscheinlich in der Angelegenheit ihres Ateliers; vielleicht verband sich mit der Müdigkeit auch schlechte Laune oder Depression, wie es eben geht, wenn man einer Sache nachjagt, Zeit vergeudet, Worte verschwendet und zum Schluß noch nicht einmal weiß, ob man irgend etwas erreichen wird. Aber Gisela hatte ihr zugeredet, ja, sie gezwungen, die Absage wieder zurückzunehmen, gewiß nur in guter Absicht und wahrscheinlich in der Meinung, daß die lustige Feier ihre Freundin amüsieren und aufheitern würde.

Es trieben sich in den zwei Zimmern noch etliche undefinierbare Gestalten herum, zwar nicht eigentliche Freunde Giselas, doch ihre gelegentlichen Kameraden in den nächtlichen Kaffeehäusern, die sie zur Belebung der Stimmung eingeladen hatte, einige, dem Aussehen und ihrem Gehaben nach auffallende, sonderbare Frauen, deren Seelen gegen die Welt rebellierten; zwar waren es meistens nur Kleinbürgerseelen, doch rebellierten sie gewaltig; ihr Radikalismus, ihr revolutionärer Aufstand gegen alle menschlichen Einrichtungen, gegen den ungeheueren Kreis des gesamten Daseins äußerte sich, in der Welt der Tatsachen, gewöhnlich nur in ihrem engsten, privatesten Lebenskreis und erschöpfte sich – so überraschend sind die Wege der menschlichen Seele – in einem sehr ungeregelten erotischen Leben; ferner einige Männer, nicht weniger merkwürdig anzuschauen; sie alle hatten etwas vom Genie und alle etwas vom Affen an sich; unglückselige Menschen, die einmal von der Kunst gestreift worden waren, die aber, von dieser Berührung durchzuckt, aus allen Fugen geraten waren und dabei ihre menschliche Form verloren hatten, so daß auch die Kunst nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollte. So gingen sie denn, als Zwischengeschöpfe und wie von einem Dämon angeschossen, durchs Leben.

Groß, mächtig und furchterregend gewölbt, stapfte jene Dame, die Ruge in Angst und beklemmende Verlegenheit versetzt, indem sie ihn gefragt hatte, ob er mit ihr schlafen wolle, aus einem Raum in den andern. Immer wieder ertönte ihre volle, etwas tiefe Stimme, wenn sie schallend und lachend erzählte, wie sehr das arme Häschen, der Herr Professor Ruge, vor ihr erschrocken sei. Kam sie in seine Nähe, sprach sie doppelt laut, als ob sie ihn blamieren wollte, und da sie an ihm vorüberging, kraulte sie seinen Kopf und rief: »Es war nur eine Anfrage, mein schüchterner Knabe, kein Angebot!« Dem zu heftigen, in manchen Momenten sich grell überschlagenden Gelächter war zu entnehmen, daß sich in ihre Lustigkeit eine gewisse beklommene Unbehaglichkeit mengte, daß sie nicht nur seinen Schrecken, sondern auch seine Abwehr und am Ende gar seinen Widerwillen empfunden haben dürfte; denn schließlich konnten ihre Instinkte nicht so vergröbert sein wie ihr Verhalten. Daß es aber gerade Ruge, diesem höflich-zarten Menschen, geschehen mußte, einen andern, und gar eine Frau, zu verletzen, zwar nur mit einem Nadelstich, doch mit einer langen, in die Tiefe dringenden Nadel, dies ist eben eine jener scheinbaren Inkonsequenzen, zu denen sich die Konsequenzen manchmal schließen: denn eben diese selbe innere höflich-zarte Wesensart war es ja, die ihn so sehr hatte erschrecken lassen, daß sie gekränkt worden war.

Zwischen den lärmend sich ausbreitenden Gästen schweifte leichtfüßig ein halbes Kind durch die Wohnung, ein heiteres und reizendes, erst sechzehn- oder siebzehnjähriges Mädchen. Es hatte leuchtende hellblaue Augen und trug, was allerdings schon ein wenig kostümhaft wirkte, seine halblangen braunen Locken fächerartig über die Schultern gebreitet. Die noch kindlichen Züge ihres ovalen Gesichts würden sich, so mußte man glauben, wenn man sie sah, im Laufe der Jahre zu denen einer Madonna verschönern, wenn nicht das Leben, das auf sie wartete, diese Entwicklung stören sollte. Sie wurde allgemein nur Hildegard genannt und war mit Hilfe eines Stipendiums Schülerin der Akademie für bildende Künste geworden und hatte tatsächlich ein gewisses naives Talent für die Bildhauerei; vielmehr, ob sich die halb kindliche Geschicklichkeit, die spielerische Handfertigkeit, denn mehr hatte sich bisher nicht gezeigt, zum Talent erweitern würde, mußte erst die Zukunft ergeben. Stadel hatte sie vor einigen Wochen in einem sehr billigen Restaurant angesprochen und sie so lange mit seinen Scherzen und Witzen zum Lachen gebracht, bis sie ihr Mißtrauen gegen ihn wenigstens halbwegs überwunden hatte und sich von ihm noch in ein Kaffeehaus führen ließ. Am nächsten Tag hatte er sie ganz und gar ihrer Anonymität und Verborgenheit entrissen, indem er sie zu einem Fest bei Gisela mitgebracht und als neueste Entdeckung präsentiert hatte. Ihre unbeholfenen, durch das Studium noch unbeeinflußten Kunstversuche gab er, ob er nun wirklich davon überzeugt war oder nicht, für die Werke eines unverdorbenen Originalgenies aus. Man schwatzte ihm nach, was er sagte, nahm sie mit offenen Armen auf, und innerhalb der kurzen Zeit war sie in gewissen Kreisen sehr populär geworden. Wie hätte sie sich dessen nicht freuen sollen!

Nun rüstete sich Stadel, sie entscheidend ins Leben einzuführen, mit ihm fast alle Männer, die hier waren, außer ihnen aber auch noch sehr viele andere, die nicht hier waren, alle Kollegen in der Akademie, alle Freunde in allen Kaffeehäusern, durch die sie gezerrt, alle Bekannten in allen Gesellschaften, durch die sie geschleift worden war, alle männlichen Mitbewohner in der riesigen Pension, in der sie logierte – Hunderte und Hunderte von Männern.

Der letzte Gast tauchte auf. Er war Zeichner und sah aus wie das zum Leben erweckte Werk eines boshaften Karikaturisten: ein Mensch mit einem Wasserkopf, mit einer plattgedrückten Nase, die kaum hervortrat, und einem weit zurückfliehenden Kinn und überdies nicht nur sehr armselig, sondern auch, mit seiner lächerlich geknoteten und verschobenen Krawatte, dem offenbar schon zu lange getragene Hemd und dem mit Schuppen bedeckten Rockkragen, sehr unordentlich und schmutzig gekleidet. Wenn jene große, mächtige und furchterregend gewölbte Dame, von ihrem Bedürfnis nach Rehabilitierung und nach einem Erfolg beherrscht, an diesen gewiß nicht verwöhnten Mann ihre übliche Frage richten sollte, dann hätte er sich wohl, geschmeichelt und allzu bereit, wild wie ein ausgehungerter Stier, auf sie stürzen müssen. Sie stellte sich auch tatsächlich, die Hände in die Hüften gestemmt, mit über die Lippen spielender Zunge breitbeinig vor ihn hin und fragte: »Willst du mit mir schlafen?« – aber es wurde nur ein halber Erfolg, und das kam in diesem Augenblick einem Mißerfolg gleich.

Er erstarrte für eine Sekunde, und dann rief er: »Großartig, großartig! So bleiben Sie! So muß ich Sie zeichnen!«, und schon hatte er aus der Hosentasche einen Stummel von einem Bleistift, aus der Rocktasche einen kleinen Block hervorgeholt, und in wenigen Momenten war mit einigen Strichen ihr Kopf porträtiert. In dem großen, vollen und hübschen, dennoch weniger reizenden als aufreizenden Gesicht auf dem Papier war alles eingefangen, was in dem lebendigen Gesicht der Frau lag: ihr breites, herausforderndes Lachen, die angeborene Sinnlichkeit, die Steigerung dieser Sinnlichkeit durch Übung aller Künste, die närrische Verliebtheit in die Verblüffung der anderen, der verschrobene Stolz auf ihre eigene Vorurteilslosigkeit, in diesem Augenblick auch noch der Anflug von Trotz und Zorn und, weit im Hintergrund, unfaßbar und ungreifbar, der letzte Schatten einer Trauer, die sie selbst nicht fühlte.

Er hielt ihr das Blatt vor die Augen. »Großartig, was?« fragte er, und indem er sich an sie herandrängte und, den Hals vorreckend, seinen Kopf bis dicht an ihren schob, sprach er übersprudelnd und zischend: »Das sind Sie, was? Erkennen Sie sich wieder, ja? Dabei habe ich Sie doch erst ein einziges Mal gesehen! Fragen Sie nur nicht, wieso es mir so gut gelungen ist! Wissen Sie, ich sehe einen Menschen, und schon ist das Porträt fertig! Es ist mir ja selbst rätselhaft – können Sie das verstehen? Ich denke oft darüber nach, denken Sie! Ich selbst! Es kommt eben so angeflogen – verstehen Sie? Angeflogen! Wie aus der Ferne – verstehen Sie? Wie aus der Ferne!« Sein linker Arm fuhr mit weiten, vagen Bewegungen durch die Luft, als ob er die Ferne selbst heranholen wollte, um sie der Dame zu zeigen, und wiederholte: »Angeflogen – verstehen Sie? Wie aus der Ferne!«

Stadel trat heran, packte mit der einen Hand den durch den Raum schwankenden Arm des Zeichners, entriß ihm mit der anderen das Blatt und rief: »So! Und jetzt zeichnen Sie einmal mich!« Er brachte sich in eine komische Positur, es sammelte sich eine Gruppe um die beiden, und ehe man es hätte erwarten können, stand auch schon Stadels Kopf auf dem Papier, dieser bleiche, in die Länge gezogene Kopf ohne Kinn mit seinem aufgerissenen Mund, seiner scharfgeknickten Hakennase und den langen, in der Mitte geteilten, in Strähnen bis über die Ohren fallenden Haaren, dieses extravagante Gesicht, dessen verzweifelt flackernde Blicke zu rufen schienen: Schaut auf mich! Hierher! Hier bin ich! Auf mich! Auf mich!, und dessen vom Geschrei verzerrte Züge nicht so sehr von seinem Temperament zeugten wie von dem gierigen Feuer, das dieses Temperament angeheizt hielt.

Man rief allerlei lustig-anerkennende Worte, doch wurde der Lärm von Stadels Stimme übertönt, der, einen Marktschreier kopierend, brüllte: »Hier ist der Stadel zu sehen! Der Stadel mit dem zu langen, in der Mitte gescheitelten Haar, der Stadel mit der einzigartigen, hervorragenden und hervorstechenden Hakennase, der echten Stadelnase!«

Der Zeichner aber wandte sich währenddessen dahin und dorthin und war bemüht, die Zunächststehenden mit seinen Fragen zu packen: »Das ist der Stadel, was? Großartig, was? Wie er leibt und lebt! Sie möchten wissen, wie mir das gelungen ist, was?«, doch die Aufmerksamkeit war ganz und gar auf Stadel und vom Künstler weggelenkt. Seine Blicke spähten vergebens im Kreis, an wen sie sich anklammern könnten, und als gar Stadel, das Blatt in der Höhe schwenkend, verkündete: »Jetzt wird's versteigert!« und, einen Ausruf er markierend, aufbrach und, vom ganzen Haufen verfolgt, durch die Zimmer ging, blieb er allein, mit etwas glotzenden, verzweifelten Augen nach einem Zuhörer suchend.

Einige Schritte entfernt entdeckte er Ruge, der, mit einem Glas Wasser in der Hand, das er für seine Frau geholt hatte, stehengeblieben war und voll Angst, daß man es ihm vergießen könnte, nicht wagte, sich zu rühren, bis sich das Gedränge verlaufen haben würde. »Haben Sie's gesehen?« rief ihn der Zeichner an, »ich meine das Blatt, das ich von Stadel gemacht habe –?«

»Ja«, beeilte sich Ruge zuvorkommend zu antworten, es sei ausgezeichnet, wirklich ausgezeichnet, es sei erstaunlich, wie gut es ihm gelungen sei, und gar in dieser Schnelligkeit. Der Zeichner ergriff, zu ihm tretend, einen Knopf seines Rocks und sprach auf ihn ein: »Erstaunlich! Ja, ganz richtig: erstaunlich! Aber wissen Sie, wer am meisten erstaunt ist? Ich selbst! Sie wollen wissen, wie ich das mache – wie soll ich es Ihnen begreiflich machen? Hier ist ein Kopf – ja? Und hier stehe ich mit Papier und Bleistift – verstehen Sie? Und das Porträt ist fertig – verstehen Sie? Mehr kann ich Ihnen nicht sagen! Warum? Talent, Talent! Worin besteht das Talent? Das ist eben die Frage – verstehen Sie? Es läßt sich gar nicht erklären! Sie brauchen mich also gar nicht erst zu fragen! Da ist ein Kopf, ja? Da ist mein Auge, ja? Da ist meine Hand mit Papier und Bleistift, ja? Und? Nichts! Fertig! Was ist weiter zu sagen? Nichts! Da ist ein Kopf – ja? Verstehen Sie?«

Ruge stand, das Glas balancierend, während der andere noch immer den Knopf festhielt, angenagelt und gefesselt, beklommen von der Nähe des sich herandrängenden, die Worte herausspritzenden, unsicher, wie mit trunkenem Arm gestikulierenden Mannes, und sagte ein über das andere Mal: »Ja, ja, ich verstehe, ja, ja, ich verstehe!«

Stadel hatte inzwischen seinen turbulenten Marsch durch die Räume beendet und eröffnete nun in einem Winkel des ersten und größten der drei Zimmer die Auktion. Er stand erhöht auf einem Berg von Kissen, die er schnell übereinandergeworfen hatte, in der Nähe eines Sofas, auf dem, bleich und schön, Carola saß, flankiert von Krau und Doktor Meinhardt und vor sich den Dichter Joachim. Es war nicht zu verkennen, daß sie vom Tumult in ihrer Umgebung irritiert und gequält war, doch wer weiß, ob nicht Stadel, gereizt von ihrer immer leidenden Miene, gerade mit Absicht diesen Platz gewählt hatte. Gisela stand abseits, an die gegenüberliegende Wand gelehnt, und folgte mit zusammengekniffenen Augen der Szene. »Ein echtes Stadelporträt!« schrie Stadel immer wieder. »Ein Porträt vom echten Stadel! Kaufen Sie! Bieten Sie! Stadel, wie er leibt und lebt!«

Überraschend, denn man hatte sie bisher nicht beachtet, mengte sich Gisela ein. »Das ist es ja!« rief sie hinüber. »Das ist es ja! Wenn es dir nicht ähnlich sähe, würde ich es ja vielleicht kaufen. Da es aber so ist, wie du leibst und lebst, biete ich nicht einen Pfennig!«

»Gisela bietet nicht einen Pfennig!« schrie er. »Wer bietet noch mehr?«

Hildegard, die kleine Bildhauerin, bot eine Locke ihres Haars und irgend jemand einen neuen Kehlkopf für Stadel, wenn der seine durch das viele Geschrei verbraucht sein sollte, doch er gab nicht nach und randalierte, es werde nur Bargeld angenommen für das Porträt Stadels, des halbverkommenen Genies, dessen Geist aber dennoch, wie manche Leute behaupten, nichts wert sei; Stadels, des Mannes, dessen jeder Satz, wie wiederum andere Leute behaupten, mehr wert sei als die gesammelten Werke der nicht verkommenen, arrivierten Romanschreiber, und er wandte sich grinsend an Joachim: »Herr Dichter Joachim, was bieten Sie?«

In die Unterhaltung mit Carola vertieft, tat Joachim, als hätte er nichts gehört, zugleich aber wurde Stadel Ruges ansichtig, der sich endlich mit dem Hinweis auf das Glas Wasser, das er seiner Frau zu bringen habe, von dem Zeichner losgemacht hatte. Dieser war ihm gefolgt und sah nun, daß sein Blatt zum Mittelpunkt der Vorgänge geworden war, und als seine Blicke im Kreise tappten, um jemanden zu finden, den er ansprechen könnte, blieben sie auf Carola haften, da sie abseits saß. »Haben Sie's gesehen?« fragte er, indem er auf sie zutrat. »Die Zeichnung, meine ich! Gut, nicht?«

»Ja, es ist sehr gut gelungen«, antwortete Carola, unangenehm berührt von der Nähe dieses unappetitlichen Menschen, der sich zu ihr herabzubeugen begann, während er auf sie einsprach. Sie wich allmählich zurück, doch ebenso allmählich und unaufhaltsam rückte er ihr nach, bog seinen Oberkörper immer tiefer zu ihr und brachte sein Gesicht immer näher an das ihre.

»Hallo!« schrie Stadel, auf Ruge weisend, ein neuer Käufer sei aufgetreten, ein seriöser Käufer, ein echter Professor, was er wohl biete? Aber Geld, Bargeld! Ruge versuchte, sich mit Lachen in der Situation zurechtzufinden, doch Stadel beharrte, Ruge sei ein solider Mann, ein echter Professor, ein arrivierter Professor, er müsse Geld bieten, Bargeld. Jemand bot die Schuppen vom Rockkragen des Zeichners. »Bargeld, Herr Professor, Bargeld!« brüllte Stadel.

Carola zog ihren Mann zu sich herab und flüsterte ihm zu: »Gib dem Menschen fünf Mark!« Ruge nahm einen Anlauf, mitten in die Lustigkeit hineinzuspringen, aber sein Versuch, ein wenig Übermut in seine Stimme zu legen, wollte nicht recht gelingen, als er »Hallo!« rief und fünf Mark bot. Großes Ah! und Oh! und Applaus, aber Stadel überschrie alles.

»Pfui!« schrie er. »Zwanzig Mark und nicht weniger!«, und er stürzte sich von seinem Hügel aus Kissen herab, drängte die Dazwischenstehenden beiseite, pflanzte sich vor Ruge auf und hielt ihm die Zeichnung hin: »Zwanzig Mark und nicht weniger!« Man sah gespannt auf den Handel. Da aber wurde der Kreis, der sich um die beiden gebildet hatte, durch energische Stöße zerteilt, daß die Leute erschraken, schwankten und gegeneinander prallten, und Gisela trat herzu, riß Stadel das Blatt aus den Händen und rief: »Genug! Du wirst meine Gäste nicht auch noch anbetteln!«

Man lachte über ihren Zorn, über Stadel und seine Blamage, die er selbst kaum empfand, und der Haufe verlief sich. Gisela ging ins Nebenzimmer. Es blieben wiederum nur Carola und die um sie gescharten Männer hier. Der Zeichner hatte nichts von allem gesehen und gehört, hatte sich immer tiefer zu Carola niedergebückt und sich ihr immer weiter nachgedrängt, so daß sie, schon ganz an die Sofalehne gepreßt, gar nicht mehr zurückweichen konnte, seinen Atem spüren mußte. »Verstehen Sie?« sagte er eben. »Manche Leute glauben, es kommt auf die Maße an – verstehen Sie? Habe ich etwa die Nase vom Stadel mit dem Metermaß gemessen? Wie? Haben Sie ein Metermaß bei mir gesehen? Sie müssen das verstehen, wissen Sie, es gelingt eben – verstehen Sie? Es ist eben da, natürlich, wenn Sie mich fragen, muß ich zugeben, es ist unerklärlich, daß es gelingt – verstehen Sie? Es ist unbegreiflich – verstehen Sie?« und seine Arme strichen mit verzweifelt-schwankenden Gesten durch die Luft, den Begriff der Unbegreiflichkeit zu illustrieren.

Gisela kehrte zurück, sah diese Szene, hielt einen Augenblick ein, und dann eilte sie hin. Sie packte den Zeichner an der Schulter und zog ihn hoch, bis er gerade stand. »Ja«, sagte sie, »es ist unbegreiflich und unerklärlich – verstehen Sie? Es ist rätselhaft und wunderbar und phantastisch und phänomenal – verstehen Sie? Und es ist zum Kotzen – verstehen Sie?« Dann verließ sie dieses erste Zimmer, ging durch das zweite, und in dem dritten, in dem die Möbel, soweit man sie nicht überhaupt entfernt hatte, an die Wand gerückt worden waren, stieß sie auf Blanche, die allein auf einer Couch saß. Gisela blieb in der Tür stehen. »Was tust du hier?« fragte sie. »Nichts«, antwortete Blanche. »Müller-Erfurt war hier, er ist weggegangen, um Kognak zu holen, ist aber nicht wiedergekommen. Außerdem habe ich Kopfschmerzen.«

»So!« sagte Gisela und sah geradezu feindselig auf ihre Freundin. Ja, fügte Blanche hinzu, sie habe die Kopfschmerzen schon seit dem Morgen.

»Ich danke dir herzlichst«, sagte Gisela, »daß du diese strahlend heitere Stimmung mitgebracht hast.«

Sie störe doch niemanden, sagte Blanche. Im übrigen habe sie ja absagen wollen, Gisela wisse es ja.

»Himmeldonnerwetter!« rief Gisela und stampfte auf. »Wärst du doch zu Hause geblieben!« Bevor Blanche antworten konnte, drehte sie sich wütend um und ging zurück.

 

Carola präsentierte sich im ersten Zimmer, an der sichtbarsten Stelle, neben dem Büfett, um das sich alle drängten, bleich, schwach und schön. Um sie hatte sich eine Mauer gebildet, die jeder respektvoll einhielt – außer Stadel, der gern in ihrer Nähe lärmte. Dadurch wurden die um Carola gescharten Männer gegen ihn aufgebracht, was wiederum ihn in um so bessere Laune versetzte. Andere versuchten, wenn auch ohne böse Absicht, es ihm gleichzutun, und obwohl sie nicht sein natürliches Talent hatten, durch Geschrei lästig zu fallen, wurden sie doch vom Alkohol über sich selbst hinausgehoben – vom Alkohol, der mit gar zu großer Plötzlichkeit und nun auch schon zu reichlich in sie eingebrochen war.

Vielleicht konnte im ganzen noch von einer gewissen Lustigkeit gesprochen werden, keineswegs aber von Heiterkeit. Der ganze Zwang, unter dem dieses Fest stand, entsprach dem Zwang, mit dem Gisela es durchgesetzt hatte. Die Wirklichkeit findet eben immer, trotz aller Zwischenfälle, Zufälle und Überraschungen, einen Weg, den Geist des Endes dem Geist des Anfangs anzupassen. Gisela, die jeden der Ankommenden mit Hallo! Hurra! und Prosit! und einem vollen Schnapsglas begrüßt und ihn genötigt hatte, es in einem Zuge zu leeren, und die erreicht, was sie angestrebt hatte: den großen Trubel – sie war jetzt durchaus nicht befriedigt und fühlte sich von den Stillen wie von den Lärmenden geärgert und gereizt. Jedes ihrer Worte war eine kleine, noch gedämpfte Explosion, und man konnte nicht wissen, welches Ereignis die große hervorrufen würde.

Nach einer knappen Stunde war das Aussehen der Wohnung von Grund auf verändert. Nichts stand mehr an seinem Ort, längst war alles durcheinandergeschüttelt, längst waren die nebeneinander aufgereihten oder übereinander geschichteten Teller und Gläser, die vollen Schüsseln und Flaschen von den Tischen gefegt und in die entferntesten Winkel getragen worden. Im mittleren Zimmer verfolgte Hildegard, die kleine Bildhauerin, allein für sich, in unbeschreibliche Freude vertieft und mit jedesmal jubelnd ausgerufenem Hoppla! die Schicksale einer Sardine, die von den auf und ab gehenden Füßen hin- und hergestoßen wurde und auf dem Parkett ihre fetten Spuren hinterließ, bis sie, vom Schuh der mächtigen, furchterregend gewölbten Dame getroffen, mit unermeßlicher Geschwindigkeit, wie eine lebendige Forelle sie noch niemals erreicht hatte, unter einen Teppichrand schnellte und dort eingeklemmt blieb, worauf die Zuschauerin enttäuscht und mit einem ärgerlichen Äh! den Raum verließ.

An der entstandenen Unordnung hatte Stadel seinen wohlgemessenen Anteil. Immer wieder griff er nach einem Brötchen und nahm einen Bissen, doch voller Angst, daß man ihm bei dieser Gelegenheit das Wort abschneiden könnte, gebot er mit heftiger Gebärde, durch welche oft genug Ei und Gurke, Sardine und Sardelle zur Erde flogen, man solle warten, bis er weitersprechen könne. In seiner Furcht, daß man ihm nicht gehorche, setzte er zugleich kauend und würgend seine Rede fort und legte, um ganz ungehindert zu sein, das Brötchen aus der Hand. So waren sie denn überall zu sehen, diese Brötchen mit dem herausgebissenen Halbkreis, auf allen Tellern, Schüsseln und Tischen, und auch sonst überall, waren sie verteilt. Irritiert von dem immer chaotischer werdenden Zustand ihrer Wohnung strich Gisela hin und her und versuchte, wenigstens das Schlimmste wieder gutzumachen. Sie trug den von Stadel aufgehäuften Berg aus Kissen ab, bückte sich von Zeit zu Zeit, um etwas aufzuheben, und ließ, wenn es nötig wurde, das Mädchen vergossenen Likör wegwischen oder die Scherben eines zerbrochenen Tellers aufklauben.

Nachdem das photographische Atelier nebenan geschlossen worden war, erschienen auch Giselas beide Gehilfinnen, die sie aus Gutmütigkeit eingeladen hatte. Es waren zwei arme, häßliche Mädchen, die ihre Sonntagskleider angezogen hatten, die eine erst zwanzig Jahre alt, die andere schon mehr als dreißigjährig und altjüngferlich verblüht, die graugelbe Haut voller Pickeln; bei all ihrer Armseligkeit waren sie jedoch im voraus entschlossen, sich herrlich zu amüsieren. Die beiden blieben überrascht beim Eingang stehen, vielleicht vom grellen Licht geblendet, vielleicht aber auch vom Lärm betäubt. Gisela sah sie unentschlossen in der Tür, eilte ihnen freundlich entgegen, als freute sie sich, endlich alltägliche Menschen und alltägliche Manieren zu sehen. »Kommen Sie, kommen Sie!« rief sie und wies aufs Büfett; sie werde sie gleich mit den anderen Gästen bekanntmachen, zuerst aber sollten sie essen und trinken. Sie ließen sich führen, vorlegen und die Gläser füllen und sahen sich mit einer gewissen Gier nach den Berühmtheiten um, die sie erkannten, und nach all den sonderbaren Frauen und wunderlichen Männern. Sie hatten nicht viel Lust und vor allem wohl keine Geduld, zu essen, denn es juckte sie, sich ins Fest zu stürzen und an seiner Stimmung teilzuhaben; aber ein roter, klebriger, süßer Likör schmeckte ihnen außerordentlich gut. Während sie das zweite und dritte Glas tranken, trat Ruge heran, den sie auch schon photographiert hatten und dessen Bild dann mit Namen und Titel im Auslagefenster gehangen hatte. Die ältere der Assistentinnen stieß die jüngere an: »Natürlich!« sagte sie mit Absicht und zum Scherz sehr laut. »Natürlich! Hier will mich der Herr Professor nicht erkennen!« Er erschrak, weil er sie tatsächlich nicht erkannte, aber er sagte: »Doch, doch, gnädige Frau!«, denn er wollte es nicht eingestehen.

»Doch? Sie erkennen mich?« rief sie, drehte sich ihm zu und präsentierte sich ihm mit ihrer ganzen Gestalt: »Wer bin ich also? Nun? Wer? Sagen Sie's doch! Nun? Erinnern Sie sich?« Sie warf herausfordernd den Kopf ein wenig schief zurück, verschränkte kühn die Arme über der Brust und nahm so, in all ihrer Armseligkeit, die Haltung einer sieghaft schönen Frau an.

Ruge sah in ihr graugelbes Gesicht, in dem da und dort ganze Gruppen von Pickeln saßen.

»Schauen Sie nur! Schauen Sie nur!« rief sie mit greller werdender Stimme, er wisse ja doch nicht, wer sie sei, aber deshalb könne er doch mit ihr anstoßen.

»Prosit, prosit, gnädige Frau!« sagte Ruge und lachte in unbehaglicher Verlegenheit.

Gisela beobachtete mit gerunzelter Stirn die ganze Szene, dann wandte sie sich brüsk ab. Im Nebenzimmer entdeckte sie Müller-Erfurt neben der kleinen Hildegard. Sie saß jetzt in einer Ecke und hatte, den Kopf zurückgelegt und gegen die Wand gestützt, ihre langen braunen Locken umgeschlagen und nach vorn geworfen, so daß sie, dicht wie ein Tuch, ihr Gesicht bedeckten und von diesem nichts als die Nasenspitze sichtbar ließen. Von Zeit zu Zeit, in regelmäßigen Abständen, stieß sie ihren Atem gegen die Haare, daß sie lustig aufflatterten, um sich dann allmählich wieder zu senken und auf die Haut zu legen. Müller-Erfurt stand dabei und streckte eben mit prätentiöser Geste die Hand aus, als ob auf ihr der kristallisierte Geist läge. Wahrhaftig, er wollte auch dieses spielende Kind mit seiner Konversation blenden, aber von weitem schon war's zu erkennen, mit welch horrender Verständnislosigkeit es seinen Bemühungen begegnete.

»Wissen Sie«, sagte er eben, »man müßte eine Physiognomik der Nasenspitze schreiben!«, doch als Erwiderung stieß Hildegard nur die Luft aus ihren Lungen in die Locken, daß sie flogen.

Gisela trat heran. »Bist du sehr geistreich?« fragte sie. »Ja? Ich sehe es dir an! Leugne es nicht! Übrigens kann es tatsächlich sein, daß du unter allen gottverlassenen Trotteln der geistreichste bist! Aber kümmere dich lieber ein wenig um Blanche, sie sitzt nebenan ganz allein!«

Er danke dem gnädigen Fräulein für seine Freundlichkeit und werde seinem Befehl nachkommen, gab er zur Antwort, indem er sich verneigte und zeremoniös die Arme ausbreitete, doch Gisela hörte ihn gar nicht mehr und ging weiter. Im ersten Zimmer hielt sie wieder ein. Zu ruhelos, um sich zu setzen, und doch im Bedürfnis, sich auszuruhen, lehnte sie sich an die Wand, Carola gegenüber, die zwischen Krau und Doktor Meinhardt saß. Gisela beobachtete die Gruppe, ohne daß sie hätte lauschen können, denn man sprach dort recht leise, und ohne daß sie selbst bemerkt worden wäre. Sie blieb stehen, verschränkte die Arme und sah schärfer hinüber auf Carola.

»Sie sind«, sagte eben Doktor Meinhardt, zu Carola gewandt, »Sie sind seit Ihrer Krankheit noch zarter geworden. Aber zugleich spüre ich in Ihnen eine ungeheure Stärke.« Sie sah ihn von der Seite an. Dieser Doktor Meinhardt war ein kluger Mann, und es hieß von ihm, daß er die Frauen sehr gut kenne und daß er ihrer eine Unzahl zu Geliebten gehabt habe. Obwohl er überzeugt war, Carola durchschaut zu haben, und obwohl er sie vielleicht wirklich verstand, schien ihm dieses Verständnis nicht recht zu helfen, denn tatsächlich gelang es ihm nicht, die Wand zu durchbrechen, die um sie aufgerichtet war; aber gerade der Sieggewohnte verbeißt sich um so mehr, wenn er Widerstand fühlt, und gerade so kann er seine große Niederlage erleben. »Ja«, sprach er weiter, und in sein Lächeln kam Andeutung und Zweideutigkeit, »ja, sehen Sie, ich bin im Grunde ein unterwürfiger Mensch, an mir ist ein Sklave verlorengegangen, ein Dienender, und eben deshalb zieht mich diese Stärke an. Die Stärke und die Schwäche ergänzen einander. Ich ließe mir alles gefallen, die Herrschsucht der Frau« – er lachte auf – »und am Ende auch noch Prügel!«

Krau runzelte mißbilligend die Stirn. Er verstand das Gespräch nicht, doch schien es ihm gegen den Respekt vor Carola zu verstoßen. Er fragte voll Sorge, ob es denn nicht schon zuviel für sie sei, es sei doch unmöglich, daß sie noch nicht müde sei, und zugleich sah er sie staunend an, als wundere er sich, daß dieses doch nur aus Seele bestehende Geschöpf noch nicht vom Lärm und Trubel umgeweht worden war. »Nein, ich bleibe noch ein wenig, schließlich hat Gisela«, sagte sie und lächelte wohlwollend, wie man wohlwollend, doch zugleich mit einer gewissen Herablassung die Bemühungen eines braven Kindes belächelt, »schließlich hat Gisela dies alles doch nur für mich veranstaltet!« Sie schloß aufseufzend für einen Moment die Augen und sah dann vor sich hin, schön, fragil und melancholisch.

Es sei reizend von ihr, sagte Krau, daß sie Gisela das Opfer bringe, hierzubleiben. »Aber«, fuhr er fort und hob, wie ein schüchterner Lehrer sich zur Strenge zwingt, mit ungeschickter Energie den ausgestreckten Zeigefinger, »aber ich erlaube nur noch eine Viertelstunde –.« Er wurde unterbrochen, denn von der gegenüberliegenden Wand ertönte deutlich und scharf Giselas Stimme herüber. »Carola!« rief sie. Alle wandten sich überrascht ihr zu. »Carola! Sag einmal – was willst du eigentlich?«

Carola warf einen schnellen, mißtrauischen Blick hinüber, doch sie fragte nur leichthin: »Was meinst du?«

»Nun! Was willst du eigentlich?« wiederholte Gisela mit aggressiver Stimme. Das Blut stieg in Carolas Wangen, zum erstenmal sah man ihr Gesicht gerötet. Alle waren irritiert und wußten nicht, was sie denken sollten. »Ich verstehe dich nicht«, sagte Carola voll Ruhe.

Hartnäckig blieb Gisela bei ihrer Frage: »Nun! Sag doch! Was willst du eigentlich?« Ruge stand in der Tür, neben sich die ältere der Assistentinnen, die ihn nicht mehr verlassen hatte, und mengte sich von der Ferne ein: »Was hast du, Gisela? Was meinst du? Carola weiß nicht, was du meinst?« Aber Gisela beachtete ihn nicht und fuhr fort: »Nun, was willst du? Brauchst du etwas? Wasser? Tee? Limonade? Irgendeine Pille zur Beruhigung? Baldrian? Brom? Irgendwelche Tropfen zur Erfrischung? Eine Injektion zur Belebung? Soll ich einen dritten Arzt holen? Brauchst du einen Schalldämpfer gegen den Lärm? Wohlgerüche gegen den Rauch? Eau de Cologne, Lavendel, Parfüms, Riechsalz? Rosen vor deine Füße und auf dein Haupt? Oder einige Watschenmänner? Oder, ganz allgemein, ein Mittel gegen die Melancholie?«

Man zwang sich zu lachen. »Danke, ich brauche nichts«, antwortete Carola unbeirrt, aber aus ihren traurigen Augen schoß ein böser Blitz hinüber.

»Also schone dich! Wenn du etwas brauchst, ruf mich! Gebt acht auf sie! Nehmt alle Rücksicht auf sie! Sie ist melancholisch! Zieht in Erwägung, ob ihr nicht ein Schlachtopfer für sie darbringt, einen Stier, einen Widder, einen Mann oder einen Esel! Nur dürft ihr sie nicht fragen, was sie eigentlich will, nur das nicht!« Während man sie fassungslos ansah, sie selbst aber auflachte, verließ sie den Raum. Sie war dabei, sich im mittleren Zimmer durch den Tumult zu drängen, als sie auf Blanche stieß. Gisela blieb vor ihr stehen, dann schob sie ihren Arm unter den ihrer Freundin und zog sie mit sich. »Komm!« sagte sie. »Wir wollen uns ein wenig ausruhen!« Sie kamen ins letzte Zimmer, das leer war. »Wir wollen uns hersetzen!« sagte Gisela. Sie ließen sich nebeneinander auf der Couch nieder, Blanche sah Gisela ängstlich von der Seite her an, als erwarte sie, wieder ausgezankt zu werden. Gisela lachte auf: »Hast du Angst vor mir? Hab keine Angst! Ich werde nicht mehr schimpfen!« Sie legte den Arm um Blanches Schultern. »Wann haben wir einander zuletzt gesehen? Heute vormittag? Es scheint mir so viel Zeit seitdem vergangen zu sein. Hat sich inzwischen etwas in deiner Angelegenheit verändert? Ich meine das Atelier. Aber nein, was sollte sich denn verändert haben!« Sie schwieg, dann fragte sie: »Bist du unglücklich?« Ohne die Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Ich auch!« Sie stützte, sich vorbeugend, die Ellenbogen auf die Knie, legte das Kinn in die offenen Hände und starrte vor sich hin. Ihre Augen erglänzten unter Tränen.

»Aber nein!« tröstete sie Blanche. »Du bist nicht unglücklich –!«

»Nein?« fuhr Gisela gegen sie los. Ob denn sie, Blanche, vielleicht allein das Privileg habe, es zu sein.

»Privileg oder nicht«, antwortete Blanche. »Warum solltest du unglücklich sein?«

»Ich weiß es nicht! Aber ich bin's!«

»Nein«, sagte Blanche, »du bist übermüdet, überreizt und übrigens bist du auch närrisch!«

»Und du bist dumm!« rief Gisela und sprang auf. »Ob ich überreizt bin oder übermüdet oder närrisch oder wer weiß was! Das ist mir gleichgültig! Ich bin unglücklich!« und sie führte mit der geballten Faust einen Hieb durch die leere Luft, als stünde vor ihr ein Tisch, auf den sie schlagen wollte, und wandte sich ab.

Blanche wollte sie zurückhalten, doch Gisela war schon in der Tür, wandte sich gar nicht mehr um, verließ das Zimmer und ging trotzig und mit heftigen Schritten durch den mittleren Raum. Als sie aber weitergehen und in den ersten treten wollte, wurde sie aufgehalten, denn es war dort irgendein Gedränge, ein übermütiger Wirrwarr, der ihr den Weg versperrte; es gab da irgendeinen Spaß, eine Allotria, ein Schieben und Stoßen, und ehe sie begriffen hatte, worum es ging, wurde dicht neben ihr ein Serviertisch plötzlich und gewaltsam angestoßen, daß er ins Wanken geriet und ein auf ihm stehendes Glas sich zur Seite neigte. Zwar fand der Tisch wieder seine Balance und auch das Glas, doch war aus diesem durch den Anprall eine kleine Welle aufgeworfen worden, und einige Tropfen fielen auf Giselas Kleid, vielleicht auch einer in ihr Gesicht, und sie erschrak.

»Idioten!« schrie sie auf.

Man lachte über den Spaß, den wackelnden Tisch und das schaukelnde Glas, die beide gedroht hatten, zu fallen, und sich doch im letzten Augenblick besonnen hatten, stehenzubleiben, und lachte wohl auch über Giselas Schrecken.

»Lacht nicht auch noch! Dummköpfe!« Sie wischte mit dem Taschentuch über ihr Gesicht und sah auf ihr Kleid. »Idioten!« Ihr Gesicht war vom Haaransatz bis unters Kinn dunkel gerötet, und man erkannte die Gewalt ihrer Wut.

»Aber, aber –!« hörte man eine begütigende Stimme mit tiefem Klang. »Wegen der paar Tropfen!« Sie kam von einem Mann, der, allein und stillvergnügt, die Flasche vor sich, in einem Winkel saß und Kirschwasser trank.

»Ach was! Es ist ja zu läppisch! Wenn man euch sieht!« Ihre Blicke liefen zornig durch den Raum. »Es ist ja zum –!« Sie vollendete nicht den kurzen Satz, doch aus einer Ecke, aus einem Knäuel von Menschen ertönte eine zweite, eine trunkene, lallende Stimme und fuhr statt ihrer fort: »– Kotzen!«

»Jawohl!« brüllte Gisela. »Du hast es erraten!«

»Aber, aber, Gisela!« war wieder die erste Stimme zu hören. Gisela stand festgewachsen in der Tür, und über alle kam eine gewisse Beklemmung. Der Zorn erstickte sie. Mit mechanischer Bewegung strich noch immer ihre Hand übers Gesicht, die betropfte, längst schon getrocknete Stelle nicht mehr findend. »Wenn man euch sieht – wenn man all das sieht – verliert man alle Lust –!« und wiederum verstummte sie, und die lallende Stimme setzte mit schwerer Zunge ein: »– euch noch Schnaps zu geben!«

»Ach was!« rief sie. »Den Schnaps könnt ihr haben! Ihr könnt euch benehmen wie die Trottel oder wie die Schweine! Wenn ich es nur nicht sehen müßte! Und wenn ich – ich weiß nicht – ich weiß nicht –!«

In ihre Stimme kam zur Wut und zum Zorn ein wildes Klagen, ein entferntes Weinen. »Man verliert, man verliert«, schrie sie, »man verliert alle Lust –!«

Die trunkene Stimme des Berauschten vollendete den Satz: »– zum Leben!«

»Jawohl, jawohl!« rief Gisela in verzweifeltem Jubel. »Jawohl! Du hast es wieder erraten, mein Liebling!«

»Gisela, Gisela! Wegen der paar Tropfen –!« klang wiederum, lauter und warnend, die erste Stimme aus der Ecke.

»Ach was! Ob's ein paar Tropfen sind oder ein Faß oder der ganze Ozean! Er hat's erraten, der besoffene Liebling, man verliert alle Lust zum Leben, wenn man sie nicht längst schon verloren hätte!«

Krau und Joachim traten zu ihr. Dieser versuchte, ihre Hand zu fassen, und begann: »Hören Sie, Gisela!«

Doch sie stieß seinen Arm zurück. »Was soll ich hören? Daß das Leben herrlich ist – wie? Nein, es ist zum –!«

»Kotzen!« lallte der Besoffene.

»Jawohl! Und ich pfeife darauf! Ihr gebt mir den Rest!«

»Gisela, Gisela!« hörte man den anderen Gast.

»Ich hab's satt!« Sie stieß den Fuß gegen den Boden. »Ich hab's satt! Ich pfeife drauf! Ich hab's satt! Ich hab's satt! Ich will nicht! Ich will nicht!« Und sie schleuderte plötzlich und mit einem einzigen Ruck Joachim und Krau, zwischen denen sie stand, zur Seite und setzte sich in Bewegung, stampfte durch den Raum, durch die Tür, durch den Vorraum, verließ die Wohnung, lief über den Flur und hinüber ins Atelier, wohin man, wie immer bei solchen Gelegenheiten, um in der Wohnung einen Raum mehr zur Verfügung zu haben, in ein Kabinett ihre Schlafzimmermöbel geschafft hatte.

Hier und dort lachte jemand auf, doch die meisten blieben betreten zurück und wußten nicht, was zu tun sei.

Im Nebenzimmer war Ruge. Er hatte den Lärm gehört, doch ohne zu wissen, worum es sich handelte, denn er stand, der Bewegungsfreiheit beraubt, in eine Ecke gedrängt, vor sich die ältere der beiden Assistentinnen, die altjüngferlich verblühte mit dem Gesicht voller Pickeln, und eben fragte sie: »Nun? Wer bin ich also? Wissen Sie es noch immer nicht? Soll ich es Ihnen sagen? Nun? Ich will es Ihnen also sagen! Ich bin die Prinzessin von Karelien!«

Ein glucksender Laut, der ein Lachen markieren sollte, entrang sich mühsam seiner Kehle. Sie hatte ihn vom ersten Moment, da sie ihn beim Büfett angesprochen, bis zu diesem Augenblick festgehalten, nicht etwa mit der Macht der Schönheit ihres Geistes oder ihres Körpers, sondern mit Hilfe einer nicht abreißenden Kette von Worten, die sie um ihn schlang, so daß er gebunden und gefangen war. Das Gespräch lebte von ihren immer gleichen Fragen, ob er schon wisse, wer sie sei, ob er sich endlich erinnere, ob er es gern wissen möchte, ob sie es ihm sagen solle, und von ihren immer neuen, scherzhaften Behauptungen, sie sei die Filmdiva Greta, nein, sie sei die Filmdiva Lilian, die Prinzessin von Samarkand, die Prinzessin von Trapezunt, eine Prinzessin von Griechenland, die Königin von England, dann wieder die teuerste Dirne der Welt, namens Georgina Leontina, und dann wieder Kleopatra und Maria Stuart. Ihre armen trüben Augen versuchten zu funkeln, ihre Gesicht hatte sich mit einer leichten Röte überzogen, aus der, dunkelrot und noch deutlicher als früher, die Pickel, einzeln und in Gruppen, hervortraten, und zugleich konnte kein Glied ihres Körpers auch nur einen Augenblick still bleiben, alles hüpfte und hopste, wand und schlängelte sich vor seinen Augen und tänzelte in sich selbst.

Ruge – er hatte hier keine glücklichen Stunden – hatte sich, abgekämpft, in hilfloser Passivität der Situation ergeben, und nur von Zeit zu Zeit, wenn seine Peinigerin wieder eine ihrer Behauptungen aufstellte, wer sie sei, die Kaiserin von Brasilien oder die Primaballerina der Oper, verzerrte sich, da er zu lachen versuchte, sein Gesicht zu einer schmerzhaften Grimasse. Allerdings, es mochte auch ein gewisses Mitleid sein, das ihn bewog, stillzuhalten, oder sein Verständnis für ihr Glück, das er nicht stören wollte, denn aus ihrem Gelächter und ihrem ganzen Betragen waren ihre Gefühle zu erkennen: es ist so herrlich, wie ich es mir vorgestellt habe! Das ist ein Leben! – und schon die Worte zu erraten, die sie morgen unzähligemal ausrufen würde: Ich habe mich wunderbar amüsiert! Dieser Ruge, der Professor, ist ein großartiger Kerl! Ein lustiger Kerl!, und wenn man ein wenig Phantasie aufbrachte, konnte man auch aus ihrem in Übermut grelleuchtenden, in Einsamkeit vergrämten Gesicht den Traum ahnen, den sie heute vor dem Einschlafen haben würde: daß sie, nachdem Scherz und Lustigkeit vorüber wären, Ruge in einem ernsten, stillvertraulichen Gespräch all ihre Beschwerden gegen ihr Dasein vorbringen, sich ihm nun als beseelten Menschen zeigen, aufrichtig all ihre Gedanken über das Leben, die Liebe und die Ehe aussprechen und ihm ihr Inneres offenbaren würde.

Er stand also, in die Ecke gedrängt, vom Lärm nebenan durch die Wand getrennt, die sie mit ihrem Geplapper vor ihm aufrichtete, doch das Geschrei steigerte sich, und er sah durch die Türen Gisela wild und verzweifelt aus der Wohnung stampfen. Endlich fand er die Kraft, sich loszumachen, und eilte zu Carola, um zu erfahren, was vorgefallen sei. Als er es gehört, fragte er sie, ob sie Gisela nicht nachgehen wolle, um nach ihr zu sehen und sie zu beruhigen. Sie aber zögerte, seufzte gequält auf, schön, bleich und melancholisch, und strich über die Stirn, als wollte sie die Pein wegstreichen, die man ihr immer wieder, der Leidenden, bereitete, und so fuhr er denn schnell und wegen der Zumutung, die er an sie gestellt, fast schuldbewußt fort: »Nein, nein! Du natürlich nicht! Bleib! Blanche soll gehen! Wo ist sie?«

Blanche saß noch immer im letzten Zimmer. Als Gisela sie verlassen hatte, war Müller-Erfurt zu ihr gekommen und hatte sich neben sie gesetzt. Er hatte gleich von ihrem Atelier mit ihr zu sprechen begonnen, wie es alle Leute jetzt taten, nicht nur, weil es ein naheliegendes Thema war, sondern auch, weil man wußte, wie sehr ihr diese Sache am Herzen lag. Jetzt aber erschien Ruge, beugte sich zu ihr und flüsterte ihr einige Worte zu. Sie erhob sich und ging, nein, sie eilte und lief, nein, sie flog aus dem Zimmer, durch das mittlere, durchs erste, durch die ganze Wohnung und über den Flur ins Atelier; ihr erst vor wenigen Minuten mit Gisela geführtes Gespräch noch im Ohr, war sie, selbst ein schwermütiger Mensch, leicht geneigt, Unglück zu erwarten.

Während die Zurückbleibenden nicht wußten, was sie denken sollten, während sie noch im Zweifel waren, ob dies alles nur einen Zwischenfall oder das Ende der Festlichkeit darstellte, während sie abwartend, die einen lachend, die andern beklommen, da und dort standen und bevor man sich noch entschieden hatte, wie man sich verhalten sollte, erschien Blanche wieder in der Tür und schrie: »Krau! Krau! Kommen Sie, kommen Sie! Krau! Krau!«

Wenige Minuten später war die Wohnung leer, die Menschen waren hinausgefegt worden, und nur die Spuren ihrer Bewegungen und ihres Temperaments waren zurückgeblieben, als die Spuren eines riesigen Geschöpfs mit vierzig Armen und vierzig Beinen, mit denen allen es zugleich ungeschickt und rücksichtslos agiert hatte. Noch waren die Kissen vom Gewicht der Körper eingedrückt, aber der Atem der Verlassenheit wehte über allem, über den nach allen Richtungen verschobenen Tischen und Stühlen, den noch immer vollen Schüsseln, den eben erst gefüllten oder halbvollen Tellern und Gläsern, den schnell weggelegten Löffeln und Gabeln, auf die schon Speisen geschoben worden waren, über den in der Hast vergessenen Handtaschen der Damen, den allenthalben verstreuten Brötchen mit dem herausgebissenen Halbkreis und über den Bahnen jener Sardine, deren Schwanz unterm Teppichrand hervorlugte.

Blanche hatte ganz und gar den Kopf verloren. Statt mit einiger Geistesgegenwart zwar schnell, doch in aller Heimlichkeit den Arzt zu holen oder, wenn sie schon im ersten verzweifelten Schrecken mit ihren durchdringenden Hilferufen die ganze Gesellschaft hatte in Aufruhr versetzen müssen, nachher wenigstens die Sache zu verkleinern und etwa von einem Unwohlsein oder einem Nervenanfall ihrer Freundin zu sprechen, statt dessen war es ihre erste Sorge gewesen, sobald sie Krau zu Gisela geführt hatte, nochmals in die Wohnung zu stürzen und die Gäste aus dem Haus zu jagen. Ihr Pathos verlangte angesichts des schauerlichen Todesbedürfnisses eines Menschen und angesichts des Todes selbst – wenigstens glaubte sie schon, den Tod zu sehen, und empfand ihn in der Tiefe ihres Herzens – ihr Pathos verlangte nach großen Gesten. Aufgelöst in Jammer, war sie in der Tür erschienen und hatte, eine ekstatische Priesterin des Unglücks, immer wieder ausgerufen: »Geht! Geht! Geht nach Hause! Geht! Geht!«

Da von allen Seiten Rufe und Fragen, was denn geschehen sei, erschollen und da man, erratend, was geschehen war, Einzelheiten hören wollte, hatte sie, immer weiter, nur gerufen: »Geht! Geht! Geht nach Hause! Ich kann es euch nicht sagen! Geht! Geht!« – als man jedoch immer noch zögerte, sich in Bewegung zu setzen, griff sie nach den Zunächststehenden und zog sie hinaus. Man gehorchte ihr schließlich, aber es ergab sich, wie es nur natürlich war, ein Tumult. Die ältere der beiden Assistentinnen packte und preßte wie im Krampf Ruges Hand und versuchte, ihn, als ob sie für Leben und Ewigkeit zueinander gehörten und im Augenblick der Not nicht getrennt werden durften, mit dem flehend-dringenden Ruf: »Kommen Sie! Kommen Sie doch!« wie aus einem brennenden Haus mit sich zu ziehen; er aber riß sich, endlich alle Höflichkeit vergessend, von ihr los, um sich im allgemeinen Durcheinander zu Carola zu schlagen.

Er fand sie halb ohnmächtig, von Joachim und Doktor Meinhardt betreut. Schon als Blanche, zum erstenmal in der Tür erscheinend, nach Krau geschrien hatte, war sie, offenbar erfassend, worum es ging, mit schneller Bewegung aufgestanden, den schmallippigen Mund für einen Augenblick zu einem leisen höhnischen Lächeln verziehend; dann aber war die Schwäche über sie gekommen, sie war noch bleicher geworden, ihr Körper erbebte, sie konnte natürlich nicht nach Gisela sehen und ließ sich hinausführen. Stadel, über alle hinausragend, beugte sich zu dem oder jenem nieder, an den er im Gedränge herangestoßen wurde, und fragte grinsend in jenem Ton, mit dem man auf der Straße einen Fremden um Auskunft bittet: »Pardon, bitte, wann ist das Begräbnis?« Als er die von allen Seiten gestützte Carola erblickte, rief er übermütig: »Sanität! Sanität!« Er beugte sich zu ihr selbst herab und sagte: »Was ist Gisela für eine Dilettantin, nicht wahr?« Doch Doktor Meinhardt stieß ihn mit Gewalt zurück, so daß sich beinahe auch noch eine Rauferei ergeben hätte, aber Stadel wandte sich nun an den Zeichner, der allerdings, aus seiner Welt gerissen, nicht begriff, was um ihn vorging, und blöde um sich schaute, und ahmte seine zischende, spritzende Sprache nach: »Das müßten Sie zeichnen!« und dann wieder schrie er: »Sanität! Sanität!«, während Müller-Erfurt sich an die große, mächtig gewölbte Dame, die am ganzen Körper erzitterte und die der Zufall ihm zugeschoben hatte, wandte und sagte: »C'est la guerre, Madame!«

Zwar war nicht deutlich, was er damit sagen wollte, ob er den Kampf des Lebens, den Kampf der Geschlechter oder irgendeinen anderen Kampf und Krieg meinte, jedenfalls wiederholte er, als müßte er nach allen Seiten seine allen Zwischenfällen des Lebens gewachsene Schlagfertigkeit beweisen, mit gespitzten Lippen, dahin und dorthin, nach rechts und links: C'est la guerre! – c'est la guerre! Doch das einzelne wurde vom allgemeinen Rauschen und Schwirren der Stimmen verschlungen, denn die einen wiederholten immerzu und immer lauter ihre Frage, was denn nun Gisela eigentlich getan und auf welche Weise sie es getan, die anderen riefen ihre Ratschläge, und die dritten boten ihre Hilfe an. Alle aber übertönte mit ihrer gellenden Stimme die jüngere der Assistentinnen, denn während ihr die Tränen über die Backen rannen, schrie und heulte sie ein über das andere Mal: »So eine gute Chefin werden wir nie mehr bekommen!«

Während dies alles geschah, Blanche die Gäste vor sich herjagte, damit nicht profanes Leben neben dem Tod, kein menschlicher Laut in der Nähe des todesbedürftigen Menschen sei, während da einem Betrunkenen vor Schrecken der Rausch verging, dort einer mitfühlenden Frau der Atem stehenblieb und hier schon die Tränen flossen, während all dessen lag Gisela auf ihrem Bett, und sie, die noch vor zwei Minuten gerufen hatte: Ich will nicht leben!, sie wimmerte jetzt, und an allen Gliedern bebend, bat und flehte sie: »Ich will nicht sterben!«

Krau war in der ersten Minute ohne Besinnung, allerdings wurde dadurch kein Schaden gestiftet, da ein Arzt ohnedies kaum notwendig war; denn Gisela hatte, nachdem sie ins Atelier gestürzt und die Lade des Nachttischs aufgerissen hatte, eine jener Tabletten, die sie an Carolas Krankenbett an sich genommen hatte, geschluckt, dann eine zweite, und dann, die dritte in der Hand, war sie, schon von den Flügeln des Todes umrauscht, in allen Gliedern schon das Sterben, auf ihr Bett niedergesunken. Aus ihrem Gesicht war tatsächlich alle Farbe gewichen, alle Lebenskraft geflohen, es war von erschreckender Blässe, eine atemraubende Schwäche war über sie gekommen, und ihr Körper wurde wie von einem Schüttelfrost hin und her geworfen; doch es war nicht die Nähe des Todes, die dies alles bewirkte, vielmehr nur der Glaube an seine Nähe, ein Glaube, der mit der Angst in eins verschwand. Nachdem sie, umwölkt und umnebelt, eine oder zwei Minuten gelegen, dann aber mit ganzer Kraft gefühlt hatte, daß sie noch nicht gestorben war, war sie entsetzt wieder aufgesprungen, und eben als sie beginnen wollte, verzweifelt um Hilfe zu rufen, und sich anschickte, schreiend in die Wohnung zurückzustürzen, war Blanche erschienen, und die beiden Frauen waren in der Tür gegeneinander gestoßen, beide mit fliegender Brust und flatternden Herzen.

Als Krau hörte, was geschehen war, blieb ihm der Atem stehen. Das Gift, das Gift, wieder das Gift, die dritte Unglückstat, die an ihm hing! Nach den ersten beiden hatten gewisse Leute nicht verabsäumt, ihm anzudeuten, daß seine Nachlässigkeit, um nicht zu sagen: seine Gewissenlosigkeit, an allem die Schuld trage. Wie war er auch schon gestraft worden! Das Gift war ausgebrochen, es hatte die Freiheit erlangt, nun lief es davon, und er konnte es nicht einholen, es lief durch ein Labyrinth, in dem er sich nicht auskannte, ebensowenig wie in dem Labyrinth der Seelen, von denen er umgeben war. Er begriff gar nichts mehr und fühlte sich, der Arme, er fühlte sich schuldig, verdammt und verflucht. Er erstarrte, und aus seinen entsetzten Mienen, aus seinen hilflos klagenden Augen sprach nur die Frage: O Gott, wie lange noch, wie lange noch wird mich das Schicksal verfolgen? – Gisela selbst war es, die ihn aus seiner Versteinerung riß und, mit den heftigen Gebärden ihres exaltierten Zustands, ihre Finger immer wieder bis in die Kehle stieß, um zu zeigen, was sie getan habe, dann aber seinen Arm packte, ihn schüttelte und, der Sprache endlich für Hilferufe mächtig, keuchend ausrief: »Gegengift! Magen auspumpen! Apotheke!«

»Gisela«, rief er klagend, »Gisela! Um Gottes willen! Warum haben Sie das getan?«

Sie schüttelte ihn und – war es nun wirklich eine gewisse geistige Verwirrung, in der sie sich für Momente befinden mochte, oder, im Gegenteil, eine übergroße Wachheit und Geistesgegenwart der Verzweiflung, mit der sie seine ihn lähmende Verwirrung erkannte – sie rüttelte ihn und schrie: »Einen Arzt! einen Arzt!« Blanche aber, die jetzt wiederkam, hörte diesen Ruf und glaubte, in ihm schon den Wahnsinn, das Delirium, die letzte Auflösung zu erkennen, und mit tränenerstickter Stimme, in der der ganze Todesjammer lag, flehte sie Gisela an: »Aber Gisela! Gisela! Das ist doch Krau! Erkennst du ihn denn nicht? Krau! Krau ist doch Arzt!«

Endlich faßte sich Krau und fragte: »Wie viele haben Sie genommen?«

Stöhnend hob Gisela die Hand und zeigte ihm drei ausgestreckte Finger.

»Drei?« schrie er. »Nur drei?« Nun war er es, der ihren Arm packte und schüttelte. Beschwörend sprach er auf sie ein: »Gisela, sagen Sie die Wahrheit! Es ist nicht wahr, daß Sie nur drei genommen haben! Sagen Sie die Wahrheit! Es geht ums Leben! Sie sind im Augenblick verzweifelt, aber die Verzweiflung vergeht, doch der Tod –! Besinnen Sie sich! Sagen Sie die Wahrheit! Wie viele haben Sie genommen? Man lebt nur einmal!« beschwor er sie. »Man lebt nur einmal –!«

Da streckte Gisela auch den vierten Finger aus. »Also vier?« rief er. »Und das ist wahr?«

Sie stieß die Hand mit den vier emporgereckten Fingern immer wieder in die Höhe und nickte dazu mit wilder Bewegung, um zu bekräftigen, daß sie jetzt die Wahrheit sage. Er blickte verständnislos von einer zur anderen, Blanche war der Szene gefolgt, und in ihrem Gesicht mengten sich Nacht und Tag. In ihre von der Angst verzerrten Mienen ergoß sich das Licht der Hoffnung, und ihr noch vom Schmerz verzogener Mund begann zu lächeln. Die Lade, aus der die Tabletten genommen worden waren, stand offen. »Aber ja«, sagte Blanche, »aber ja! Sehen Sie doch!«, und sie wies in das Fach, über dessen Boden die übrigen Tabletten verstreut waren. »Sehen Sie doch! Es kann sein, denn hier liegt ja noch die ganze Menge!«

»Wo?« schrie Krau, und seine Blicke stürzten sich auf sie. »Endlich! Nehmen Sie sie! Um Gottes willen, nehmen Sie sie an sich. Und geben Sie sie mir. Sofort! Augenblicklich!« Er ließ nicht die Augen von ihnen, als ob sie davonlaufen könnten.

Blanche gehorchte und las sie eilig auf. Er sah ihr gierig zu, aber während sie noch Tablette um Tablette mit der rechten Hand aufklaubte und in die offene Linke legte, in der sich ein kleiner Hügel aufschichtete, und ehe sie noch damit fertig geworden war, packte ihn Gisela an der Schulter. »Idiot!« brüllte sie – man sieht, das Leben kam ihr wieder – »Idiot! Was soll ich tun?« In ihren Zügen war gräßliche Wut, als sie sah, daß er Blanche müßig zuschaute, statt sich ihrer selbst anzunehmen. So wurde er aufgerüttelt: »Um Gottes willen, ja, natürlich, ja Gisela, ja«, stotterte er, »kommen Sie! Legen Sie sich nieder!« sagte er und führte sie zum Bett. »Gehen Sie zu Bett! Schnell! Schnell!« Er streichelte ihren Kopf. »Haben Sie keine Angst! Es ist nichts! Keine Angst! Gehen Sie zu Bett! Ich warte inzwischen im Nebenzimmer, und dann komme ich wieder. Es ist nichts! Keine Angst! Gehen Sie zu Bett! Schnell! Schnell!«

Er eilte davon, damit sie sich schnell ausziehen könnte. Blanche wurde eben mit ihrer Arbeit fertig und hielt die aufgeklaubten Tabletten in der gewölbten Hand, bereit, sie Krau zu geben, wie er es verlangt hatte, aber er beachtete sie nicht in seiner Hast, war wiederum nur mit Gisela beschäftigt und dachte nicht mehr ans Gift. Staunend sah Blanche, daß er an ihr vorüberlief. Sie senkte den Blick auf den kleinen weißen Berg, der sich im Winkel der gebogenen Hand türmte. »Hier –!« sagte sie und schaute ihm nach mit erstaunend-fragendem Blick, doch er war schon in der Tür. Sie sah nochmals auf die Tabletten herab. Krau war nun schon im Nebenraum. So holte sie aus der noch offenen Lade den Umschlag eines alten Briefes, schüttete den Inhalt ihrer Hand hinein, faltete ihn zu einem Päckchen und ließ es in den Ausschnitt unter ihr Kleid fallen.

Gisela hatte begonnen, sich zu entkleiden. Ihre Kräfte waren erschöpft, sie ließ den Kopf hängen, und ihre Augen schlossen sich, um sich nur mühsam von Zeit zu Zeit für einen geistesabwesenden Blick zu öffnen. Sie streifte das Kleid ab, dann ließ sie sich auf den Bettrand fallen, und Blanche kniete, um ihr die Schuhe von den Füßen zu ziehen. Als sich Gisela wieder erheben sollte, mußte Blanche sie stützen und heben. Wie eine Puppe, aus der die Füllung rieselt, stand sie dort und ließ alles mit sich geschehen. Als fernes Echo ihrer Todesangst entstieg ein hilfloses, kindliches Aufschluchzen ihrer Brust. »Blanche«, murmelte sie weinerlich, »werde ich wieder aufwachen?« Blanche lachte, ohne zu antworten, mit übertriebener Lustigkeit auf, die ihre Sorglosigkeit beweisen sollte. Gisela ließ es um so mehr dabei bewenden, als endlich ihre wiedergekehrte, wenn auch noch traumhafte Besinnung ihr sagen mochte, daß sie nach der von ihr verschluckten Dosis in keiner Gefahr war; und sie wäre auch in keiner gewesen, wenn die Dosis wirklich so groß gewesen wäre, wie sie es in ihrer Verzweiflung Krau angedeutet hatte, um ihn zur Hilfeleistung anzuspornen. Bald lag sie, angetan mit einem hellblau und gelb gestreiften Schlafanzug, im Bett. Ihre Brust hob und senkte sich schwer und gewaltsam, als ob sie mit ihren tiefen Atemzügen den Schlaf in sich ziehen wollte.

Blanche setzte sich ans Bett. Schon undeutlich die Laute formend, fragte Gisela: »Bleibst du bei mir?«

»Aber natürlich! Ich bleibe hier sitzen!«

»Gehst du wirklich nicht weg?«

»Gewiß nicht! Schlaf nur! Ich bleibe hier!«

Gisela gab nur noch einige knurrende Laute von sich. Von Augenblick zu Augenblick versank sie tiefer in der Grube, nur noch einmal kam sie über deren Rand hervor und murmelte, ohne die Lippen zu bewegen, mit kaum mehr verständlichem, unartikuliertem Brummen: »Der Krau ist ein armer Hund!«, und in der nächsten Sekunde schon lag sie im friedvollen Jenseits des Schlafes.

Krau kam zurück, schlich sich ans Bett und ließ sich an dessen anderer Seite nieder. In seinem Gesicht stand Jammer und Tragik, er saß gebrochen auf seinem Stuhl und sah mit stierem Blick auf Gisela. Er war bleich, und seine Wangen waren in diesen Minuten eingefallen. Kein Zweifel, mehr als der Selbstmörderin, die jetzt dessen teilhaftig war, wessen sie wohl am meisten bedurfte, eines tiefen, ebenen, gleichmäßigen Schlafes, mehr als ihr hatte der Selbstmordversuch dem Befinden des Arztes geschadet. Blanche, die, bei all ihrer übergroßen Aufregung, schließlich doch, geistesgegenwärtig wie eine verzweifelte Mutter, das Gebotene getan hatte, saß jetzt erleichtert am Bett des geretteten Kindes. Doch wenn es einmal einer Situation gelungen ist, uns zu verwandeln, indem sie uns gezwungen hat, ihr gemäß zu sein, dann hat sie uns auch schon übers gegebene Ziel hinaus verwandelt, und unversehens hatte Blanche die freie Sicherheit gefunden, und unversehens wurde sie auch zu Kraus Mutter. Wenn sich ihre Blicke von Giselas Gesicht hoben, betrachtete sie voll Mitleid, manchmal allerdings auch mit einem leisen, gutmütig-humorigen Lächeln, den Arzt. Schließlich fragte sie ihn durch Zeichen, ob man sich schon rühren dürfe, und als er ihr mit einer beruhigenden Geste geantwortet hatte, verließ sie mit aller Vorsicht das Zimmer, doch sie kam schnell wieder und brachte ihm Kognak, fast ein halbes Wasserglas voll. Er sah dankbar zu ihr auf und nahm es gern, denn er konnte es brauchen.

Eine Viertelstunde verging. Nachdem er mehrmals auf ihre fragenden Blicke mit tröstlichem Nicken erwidert hatte, erhob sie sich nochmals und winkte ihm, ihr zu folgen. Draußen sagte sie: »So, mein Lieber, ich brauche Sie nicht mehr. Jetzt gehen Sie nach Hause! Gehen Sie zu Bett! – Oder haben Sie noch Visite zu machen?« Er habe schon alle erledigt, antwortete er gehorsam.

»Gut!« sagte sie. »Dann gehen Sie nach Hause! Vielmehr, Sie fahren natürlich! Und wenn Sie zu Hause sind, nehmen Sie ein Schlafmittel! Sie haben doch eines zu Hause? Kein starkes und keine zu große Dosis, damit man Sie in der Nacht, wenn man Sie brauchen sollte, erwecken kann! Im übrigen, es wird am besten sein«, ordinierte sie weiter, »daß Sie nur eine Tasse Baldriantee trinken, es wird genügen, es beruhigt die Nerven, und der Schlaf kommt nach der ermüdenden Aufregung schon von selbst! Sie lassen den Wagen vor einer Apotheke halten und verlangen für zwanzig Pfennig Baldriantee! Aber Tee, müssen Sie sagen, denn es gibt sowohl Baldrian als auch Baldriantee! Soll ich's Ihnen aufschreiben? Sie wissen, wie man ihn zubereitet? Sie nehmen einen gehäuften Teelöffel, übergießen ihn mit siedendem Wasser und lassen ihn eine Viertelstunde ziehen! Sie können ihn auch öfters umrühren, so ist er schneller fertig. Dann gießen sie ihn durch ein Sieb und trinken ihn! Aber wenn Sie das kochende Wasser eingießen, stellen Sie den Löffel ins Glas, sonst springt's! So, mein Lieber, und jetzt gehen Sie!«

Der Arzt hatte ihren Weisungen aufmerksam zugehört und von Zeit zu Zeit wie ein gehorsames Kind genickt. »Sie sind ja so reizend, Blanche«, sagte er mit kläglich müdem Lächeln. »Ich danke Ihnen! Ich danke Ihnen! Sie sind ja so reizend!« Er schüttelte ihr dankbar die Hand. Sie führte ihn über den Flur in die Wohnung, half ihm, den Mantel anzuziehen, schob ihm den Hut zwischen die Finger und schickte ihn fort, nachdem sie ihm versprochen hatte, ihn augenblicklich davon zu verständigen, wenn sie ein beunruhigendes Zeichen an Gisela wahrnehmen sollte. Vorläufig lag Gisela, ruhig atmend, in immer gleicher Lage, ohne sich zu rühren, und tatsächlich, sie schlief dann, mit einer einzigen kurzen Unterbrechung, zwanzig Stunden lang.

 


 << zurück