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Zweites Kapitel

I

Über Mittag verbrachte Blanche nur eine Stunde zu Hause. Sie war so sehr in sich versponnen, daß ihr Vater sie immer wieder lachend fragte, ob es denn bei der todkranken oder vielmehr leicht grippekranken Carola wirklich gar so schön und wunderbar gewesen sei, daß sie noch gar nicht den Mund auftun könne. Sie lachte gutmütig zu diesen Scherzen und erzählte, daß sie am Nachmittag werde im Atelier sein müssen, denn Passow, dieser steife Kerl, habe sich, wenn auch erst für später, bei ihr angesagt, aber schon für drei Uhr habe sie den Gärtner bestellt. Dies war auch wahr, doch beeilte sie sich so sehr, daß sie zu früh draußen anlangte und ihr einige Zeit übrigblieb.

Wie sie es immer tat, wenn sie in ihr Häuschen zurückkehrte, trat sie sofort einen Gang durchs ganze kleine Gebäude an. Sie schweifte durch alle Räume, Winkel und Ecken, als müsse sie sich überzeugen, daß sich in ihrer Abwesenheit nichts verändert habe, daß ihr nicht am Ende Einbrecher das Petschaft vom Sekretär, einen Tulpentopf vom Blumentisch oder oben aus dem Kabinett die blaue Seidenampel von der Decke gestohlen und daß nicht Bösewichter aus der Hölle unten im Biedermeierzimmer die beiden Porzellanleuchter auf dem Regal gegeneinander verschoben und so die Symmetrie zerstört hatten. Nachdem sie wie ein mißtrauischer Wächter diesen Kontrollgang beendet hatte, ging sie in ihr Schreibzimmer und ließ sich dort vor ihrem Sekretär nieder. Sie legte einen Briefbogen vor sich und griff zur Feder, doch sie schrieb nicht und sah nur vor sich hin. Nach kurzer Zeit lehnte sie sich im Sessel zurück, als wollte sie es bequemer haben; abermals nach einer Weile legte sie die Feder aus der Hand, stand auf und ging vors Haus.

Sie lehnte sich an den Türpfosten, und wie jemand, der überlegt und Pläne macht, sah sie über den Garten hin, über dieses alte verwilderte Stück Erde. Vor ihr lag der freie, von Ulmen eingefaßte Platz. Rechts führte von ihm aus der schmale Weg zum Ausgang, links ging das Gelände mit Sträuchern und verwachsenen Wiesen in jenen Garten über, der ums Hauptgebäude lag; wenn sie aber den Blick geradeaus richtete, verlor sich das Gebiet im alten Park. Seine Bäume bildeten vor Blanches Blicken eine Wand, fast schon einen Wald, doch hatte sie auch diesen Teil fast niemals betreten. Seitdem sie das kleine Haus bezogen hatte, war ihre Sorge so sehr auf seine Einrichtung und Ausstattung gelenkt gewesen, daß sie keine Zeit gefunden hatte, sich auch noch seiner Umgebung zu widmen. Zwar war ein und das andere Mal, doch eben selten genug, jener alte Gärtner, den sie heute erwartete, hier gewesen, zwar war der freie, von Bäumen umschlossene Platz vor dem Gebäude hie und da geharkt, waren die wilden Gräser, die dort aus Sand und Kies hervorwucherten, manchmal recht und schlecht ausgezupft worden, war der schmale Gang, der zwischen den Büschen zum Gartentor führte, soweit freigehalten worden, daß die vordringenden Zweige nicht den Weg versperrten und er wenigstens wirklich ein Weg geblieben war, zwar war sogar an der Rückfront des Hauses ein Tulpenbeet angelegt worden, doch dies war auch das einzige Zeichen der Kultivierung, und das Unkraut schoß überall unbekümmert nach; im ganzen wuchs alles, wie es wollte, so daß sich rings um die zärtlich gepflegte Wohnung eine kaum bezähmte Wildnis darbot. Das sollte nun endlich anders, der Garten sollte des Hauses würdig werden.

Blanche stand vor ihrem kleinen Haus. Die Zeit verging, Blanche mochte nicht wissen, wieviel vergangen war, und zu ihrer Überraschung erschien schon der Gärtner. Gemächlich näherte er sich ihr. Über der dunklen, kurzen und gedrungenen Gestalt leuchtete schimmernd sein Kopf; sein Gesicht war von einem dichten, weißen Vollbart überwachsen, in dem, wie Schnee in Schnee, der hängende Schnurrhart verschwand. Obwohl ein Greis, kam er mit gleichmäßig festen, fast stampfenden Schritten einher. Er war klein, doch stämmig, der Brustkorb und die Schultern waren ausladend, die Beine feste Säulen, alles aus dichtem, solidem Material gebildet.

Blanche ging eilig auf ihn zu. »Ah, da sind Sie!« rief sie schon von weitem und streckte ihm die Hand entgegen. Er lächelte freundlich. »Ja, da bin ich«, sagte er und schüttelte gemütlich ihre Hand. »Wie geht es Ihnen, Fräulein? Und wie geht es den Spatzen?«

Blanche lachte auf. Er unterließ es niemals, sobald er ihrer ansichtig wurde, sich zuerst und sofort nach dem Wohlbefinden und Wohlergehen der Spatzen in ihrem Garten zu erkundigen. Diese Gewohnheit hatte er gleich bei seinem ersten Besuch angenommen, als er vor zwei Jahren hier gewesen war, wenige Wochen, nachdem sie sich das Haus erkämpft hatte. Es lag ihr eine kleine Begebenheit zugrunde, die ihn immer von neuem in Fröhlichkeit versetzte und ihm, bei all ihrer Belanglosigkeit, offenbar unvergeßlich blieb. Die Jahreszeit war damals soweit fortgeschritten gewesen wie heute. Blanche hatte mit ihm auf ihrem neuen Besitztum gestanden, vor sich das verwahrloste Gelände, doch hoffnungsfroh und schwärmend, und sie hatten Pläne gemacht, wie sie es verschönern würden. »Ah, wie tot, wie öd es hier aussieht!« hatte sie geklagt.

»Es wird schnell anders werden, Sie werden sehen, wie schnell es anders werden wird!« hatte er ihr zugeredet, und sie ließ sich gern trösten.

»Ja, es wird anders werden!« rief sie aus und sprach freudig weiter: »Der Frühling kommt doch schon! Ich spüre es! In den Fingerspitzen habe ich's, in allen Gliedern, in allen Nerven! Er liegt in der Luft!«

Er hörte lächelnd zu und nickte: »Ja, er liegt in der Luft!«

»Aber ich höre es auch«, fuhr sie fort, »daß der Frühling schon hier ist!«

»Ja?« fragte er, »hören Sie's auch?«

»Ja! Sie hören es nicht? Ich höre, ich unterscheide es! An den Lauten der Vögel erkenne ich es!«

»Ach!« warf er bewundernd dazwischen.

»Ja! Hören Sie doch! Die Spatzen lärmen ganz anders!«

»Ja?« fragte er.

»Ja!« sagte sie weiter. »Lauter, frecher lärmen sie! Mit neuer Energie! Hören Sie doch!« Und sie hob den Arm und legte den Kopf zurück, um in die Luft zu horchen. Auch er horchte, wie sie es von ihm verlangt hatte, in die Luft, und seine Blicke folgten der Richtung ihrer Hand. Sein Gesicht hellte sich auf, und seine Augen begannen zu funkeln.

Er trat an sie heran und hob auch seinerseits den Arm. »Ja!« sagte er. »Ganz anders lärmen die Spatzen, lauter, frecher, mit neuer Energie!« Er schob seinen Kopf an sie heran, und während sein Gesicht in unbändiger Heiterkeit erstrahlte, flüsterte er ihr zu, als wär's ein großes Geheimnis: »Aber sie sind im neuen Jahr auch schon größer geworden, ja, sie sind gewachsen, mit neuer Energie! Und auch ihr Gefieder haben sie gewechselt und sind ganz schwarz geworden – da!« rief er mit vibrierender Stimme und wies auf einen nahen Baum, in dessen Zweigen die eben gekommenen Stare schnalzten, pfiffen und schrien. »Stare, Stare, kleines Fräulein, Stare!« rief er, und sein Körper erzitterte unter seinem Gelächter. So verging geraume Zeit.

»Nein –?« rief sie staunend und schaute ins Gezweige hinauf, sie wollte sich schämen, doch was blieb ihr schließlich anderes übrig – von seiner gutmütigen Lustigkeit angesteckt, lachte sie mit.

Dies war es, was ihm unvergeßlich blieb. Die stille Heiterkeit seines befriedigten Greisentums war längst übers offene, laute Gelächter hinausgekommen, aber er, der im Wirtshaus die saftigen Witze des Stammtischs schweigend, höchstens mit kleinem Schmunzeln an sich vorübergehen ließ, er hatte seit damals diese kleine Geschichte unzähligemal seinen Freunden und Kollegen, seiner Frau und seinen Kindern erzählt, und die Erinnerung daran, wie eine Dame ihm hatte beweisen wollen, daß die Spatzen anders und mit neuer Energie zwitschern und lärmen – und es waren doch in Wirklichkeit schon die Stare gewesen –, diese Erinnerung hätte noch auf dem Totenbett seinen Körper von neuem aufrütteln und in Gelächter schütteln können; und so oft er herging, wartete er in geheimer Hoffnung auf neue Späße und Sensationen.

»Wie geht es den Spatzen?« fragte er also auch heute, als er kam. »Danke, danke!« antwortete Blanche und lachte. »Es geht ihnen gut, und den Staren auch! Aber kommen Sie! Ich habe eben an Sie gedacht und warte schon auf Sie!«

Er hatte den Hut abgenommen, so daß nun auch seine weißen, zu einer geraden Bürste geschnittenen Haare zum Vorschein gekommen waren und sein Kopf erst recht und ringsherum leuchtete. Aus all dem reinen Weiß, mit dem sein Gesicht verwachsen war, traten nur die von der freien Luft all der Jahrzehnte geröteten Bäckchen hervor und darüber das helle Blau der zwei Augen. »Ja? Warten Sie schon auf mich?« fragte er und öffnete gemächlich die unteren Knöpfe seines Mantels, zog eine uralte, übermäßig dicke Nickeluhr hervor, ließ ihren Deckel aufspringen und blickte aufs Zifferblatt. »Ich bin pünktlich«, sagte er, doch dann sah er sich um und wies auf die Umgebung: »Aber Sie, kleines Fräulein, Sie haben mich um ein halbes Jahr zu spät kommen lassen! Wir haben März! Gleich Ende März!«

»Ja –? Und?«

»Und –? Gleich Ende März! Was sollen wir denn jetzt noch schaffen? Ist denn das ein Garten? Es ist ja alles verrottet und verkommen!« Seine hellen Augen trübten sich, und in seinen milden Tonfall kam Traurigkeit. »Ich habe gedacht, daß Sie mir untreu geworden sind und einen Kollegen gerufen haben. Statt dessen sehe ich: Es ist ja alles verrottet!«

Blanche schämte sich und sagte wie eine verlegene Schülerin, daß sie ihm schon längst habe schreiben wollen, um ihn herzubitten, doch nicht dazu gekommen sei.

»Nun, wir wollen sehen!« sagte er. »Wir wollen sehen, kleines Fräulein!«

Sie traten einen Rundgang ums Haus an. Es war nicht viel zu sehen, als einziges an der Rückfront jenes Tulpenbeet, aber es war nur eine verwelkte Oase aus dem vergangenen Jahr, so wüst, wie der Herbst, der Regen und der Sturm sie zugerichtet hatten. Ausgelaugte und wieder schlammig aufgeweichte Blätter, geknickte Stengel und verweste Blütenblätter waren über die Erde verstreut. Als der Gärtner vorüberging, schüttelte er nur den Kopf, aber er schwieg, und bald standen sie wieder vor dem Tor.

Die alten Ulmen umgaben im Kreis den sandigen Vorplatz und trennten ihn von der Wildnis, die sich jenseits dieser Grenze hinzog und in die Blanche kaum jemals vorgedrungen war. Sie dehnte sich nach allen Richtungen, wurde rechts von dem zur Ausgangspforte führenden Weg unterbrochen und auf dieser Seite vom Gitter abgeschlossen, vor das im Innern eine Reihe von Tannen gepflanzt war, die immer welkten, ohne jemals ganz zu verwelken. Ihnen gegenüber, im alten Park, unter den Lärchen, Birken und Buchen, unter den Fichten, Tannen und Kiefern, war der Boden verwildert und überwuchert. Moos, Kräuter, Gräser, Sträucher und Farne bedeckten die Erde, die jüngeren Stämme waren geknickt, auf den Stümpfen der älteren standen die Helmlinge. Die jungen Pflanzen waren emporgeschossen, doch von denselben mächtigen Bäumen, aus deren Samen sie entstanden waren und deren Nadeln und Blätter ihnen auch noch die Erde gedüngt hatten, waren sie wieder erstickt worden. Hatte der von weither streichende Wind über dem Park Halt gemacht, dann waren auch noch fremde Samen hier niedergefallen. Es war ein Urwald geworden, ungezügelt und struppig.

»Nun?« fragte der Gärtner, indem er sich umsah. »Was sollen wir hier schaffen?«

»Ja, wo sollen wir beginnen?« fragte ihrerseits Blanche. Als sie seinen musternden Blicken folgte, wurde ihr offenbar erst ganz bewußt, in welch vernachlässigtem Zustand die Umgebung ihres Hauses war. »Was schlagen Sie vor?« fragte sie schüchtern.

»Was ich vorschlage? Nun, daß wir zuerst einmal mit Kalk und Salzsäure kommen! Mit Feuer und Schwert! Der Weg vom Tor hierher – es ist ja eine Schande! Wir wollen die Sträucher auspflanzen und ein wenig zerteilen, daß sie Luft bekommen, das Mistzeug ausreißen, den alten Dreck sammeln, die alten hohlen Früchte sind ja nur fürs Ungeziefer gut, und alles miteinander verbrennen!« Er wies nach rechts. »Gehen alle Leute, die zu Ihnen wollen, den Weg, den ich gekommen bin?«

»Ja«, sagte sie kleinlaut, »es ist ja der einzige Weg, der herführt.«

Er schüttelte den Kopf. »Wir werden ihn spritzen und vom Moos reinigen und dann geradeziehen. Sonst müssen Sie sich doch schämen, wenn Sie Besuch bekommen!«

»Ja, es sieht miserabel aus. – Aber dann –?«

Er wandte sich dahin und dorthin und dachte nach. »Nun, vielleicht machen wir damit den Anfang, daß wir rings ums Haus Georginen und Astern pflanzen?«

»Astern?« fragte sie erstaunt. »Jetzt? Aber das wäre doch der Herbst!« Und sie sah ihn entsetzt an, als ob er mit diesen zwei Worten, indem er angesichts der kaum erwachten Erde schon von deren letzten Blüten sprach, ein halbes Jahr übersprungen und ihr den ganzen Frühling und Sommer weggezaubert hätte.

Er schmunzelte. »Ja, kleines Fräulein, Sie gehören wohl zu jenen Leuten, die Märzveilchen im April aussäen wollen und erwarten, daß sie im Februar blühen? Es muß doch alles seine Zeit haben! Es muß doch wachsen können! Wenn wir jetzt nicht vorsorgen, dann stehen wir in einem halben Jahr so wie jetzt hier! Ja, so ist es immer, die Herrschaften holen mich zu spät, und wenn sie dann von Astern hören, dann sind sie unzufrieden. Nichts erschreckt die Herrschaften so sehr wie Astern! Ich weiß schon, warum – der Herbst, der Tod, das Grab, aber es gibt doch jetzt so schöne neue Sorten von Astern! Wir können auch Gladiolen setzen, schön nacheinander, in Abständen, daß sie eine lange Blüte haben, bis in den Oktober!«

»Ach! Oktober!« rief sie verächtlich aus. Er lachte. »Ja, kleines Fräulein, gleich Ende März! Sie werden keine Tulpen haben, keine Primeln, keine Schneeglöckchen, keinen Krokus, keine Narzissen, keine Märzbecher, keine Aurikeln, keine Ranunkeln, keine Forsythien! Und was zuerst kommt, ist doch das Schönste! Wenn sich's aus der Erde drängt nach dem langen Winter, das ist doch das Schönste!« Doch da er ihr betrübtes Gesicht sah, fuhr er tröstend fort: »Nun, nun, wir wollen es schon schön machen, wir wollen es versuchen!«

»Was also schlagen Sie vor?« wiederholte sie.

»Zuerst möchte ich hier vor dem Haus aus dieser Sandwüste einen Rasen machen, daß Sie gleich etwas Grünes vor sich haben, wenn Sie aus dem Haus treten.«

»Ach ja!« rief sie aus, »das wäre schön!«

»In den Rand des Rasens wollen wir vielleicht einige Rosenstöcke setzen – nicht?«

»Ja«, sagte Blanche.

»Die Mitte des Rasens würde ich freilassen und mit feinem weißem Sand bestreuen, daß Sie ein Fleckchen für einen Tisch und einen Schaukelstuhl oder Lehnstuhl haben?«

»Ja.«

»Und um dieses freie Plätzchen pflanzen wir vielleicht einige Reihen Reseda?«

Sie schwieg.

»Nun?« fragte er.

»Ja«, antwortete sie, »gewiß, das wäre schön.«

»Und um diesen Rasen«, fuhr er fort, »ziehen wir einen Weg und säumen ihn mit Blumen ein.«

»Und hinterm Haus?«

»Dort hinten?«, und er zeigte in jene Richtung, in der das verkommene Tulpenbeet lag, »dort ist ja noch weniger Platz als hier! Wie wär's mit einem Streifen Phlox oder einem Stiefmütterchenbeet?«

»Stiefmütterchen? Ja.«

Sie hatte von schneeigen Seerosen geträumt, von der Passionsblume, die aus dem das Haus umspannenden Grün blau und rot hervorleuchten sollte, vom Wollgras, dessen seidige Schöpfe im Winde wehen, von Orchideen, dem zierlichen Knabenkraut, der schwarz-rot blühenden Brunelle oder der lila Gymnadenia, der die Gelehrten, sogar sie überschwenglich werdend, um ihres Wohlgeruchs willen den Beinamen odoratissima gegeben hatten, von der phantastisch geformten, blau oder violett überhauchten Stranddistel, von Alpenveilchen, die man neuerdings gezüchtet hatte und die, in allen erdenklichen Farben blühend, wie Maiglöckchen dufteten, vom nickenden Leinkraut, diesem Gewächs der Finsternis mit seinen weißen Blüten, die sich erst am Abend öffnen, um sich am Morgen wieder zu schließen, mit hyazinthenartigem Duft den Herankommenden locken und ihm im schimmernden Mondlicht als weiße Augen entgegensehen – aber all diese Pflanzen bedürfen anderer Bedingungen, des Südens oder der Höhe, des Dünensands, des Alpengrunds, des Waldbodens oder des Moores. Manche von ihnen hatte Blanche auf ihren Reisen gesehen, von manchen allerdings, nach Beschreibungen oder Bildern, nur die Vorstellung gehabt.

»Aber das Haus selbst?« fragte sie schließlich. »Die Mauern dürfen doch nicht so nackt bleiben!«

»Gut! Und was wollen wir da nehmen? Efeu? Wilden Wein? Glyzinien?«

»Glyzinien! – Und dann?«

»Und dann? Und dann? Was denn noch?«, und er wies auf den freien Platz vor dem Haus, der, von den Bäumen begrenzt, tatsächlich für mehr als den Rasen, den Weg und einen Blumenstreifen keinen Raum bot. »Aber dort?« fragte er und sah nach dem vergessenen, verwilderten Park vor ihnen. »Wie sieht's denn in diesem Urwald aus?«

»Ach, dort ist nichts«, sagte sie.

»Nichts?« fragte er verwundert. »Nichts? Das gibt's doch nicht! Wollen wir nicht dieses Nichts anschauen? Gehen wir nur hin! Am Ende können wir aus diesem Nichts etwas Schönes herausholen! Kommen Sie!«, und er setzte sich schon auf seinen strammen, kurzen Beinen unternehmungslustig in Bewegung. Vielleicht lockte ihn die berufliche Neugierde hin, vielleicht hoffte er, ihr noch andere und großzügigere Vorschläge machen zu können, da sie ihm noch nicht recht zufrieden zu sein schien.

Sie überquerten den freien Platz und betraten den Wald. Die trockenen Blätter und Nadeln rauschten, die dürren Äste knackten und zerbrachen unter ihren Füßen. Das Licht war düster. Es wurde kälter, als wäre im Innern des Parks die Winterluft stehengeblieben. Der Gärtner stapfte vorwärts und bahnte Blanche den Weg, indem er das Gezweige der Bäume vor ihr auseinanderbog. Sie folgte ihm zögernd, fast ängstlich. Er lockte sie weiter. »Kommen Sie nur! Fürchten Sie sich?« rief er scherzend. »Glauben Sie, daß hier Löwen sind?«

Doch sie hatten nicht lange zu gehen, nur einen Streifen Waldes zu passieren, und schon standen sie, zu ihrer eigenen Überraschung, wieder im Hellen, am Rand einer Wiese, deren unvermutet große Ausmaße jeden, der zum erstenmal herkam, erstaunen lassen mußten und die in weitem Bogen von einer wellig vor- und zurücktretenden Wand aus Büschen und Bäumen umschlossen war. »Nun!« rief er aus und freute sich, »ist das nichts?«

Sie blieben stehen, vor sich die ausgedehnte, einsame Fläche. Mitten im Rasen stand eine Gruppe von Birken, zu denen aus verschiedenen Richtungen zwei schon verwachsene Wiesenpfade führten. »Ist das nichts?« wiederholte er, »sehen Sie – dort!«, und er wies auf die Bäume, »sehen Sie, wie schön die Birken im Kreis stehen? Dort werden Sie im Sommer wie unter einem Sonnenschirm sitzen, ringsherum die Wiese und dann der Wald! Wie eine Königin werden Sie dort in einem Schaukelstuhl sitzen!« Doch da er sie ansah, unterbrach er sich: »Frieren Sie, kleines Fräulein?« rief er erschreckt. Tatsächlich fröstelte Blanche, denn sie war im bloßen Kleid aus dem Haus getreten. »Hier! nehmen Sie meinen Mantel! Ich brauche ihn nicht! Nehmen Sie ihn nur!« Trotz ihrer Versicherungen, daß sie nicht friere, hatte er schon seinen Mantel ausgezogen und legte ihn um ihre Schultern.

Er trug einen graugrünen, bis zum Hals geschlossenen Rock und Manchesterhosen, die in die starken, bis zu den Knien reichenden Stiefel gesteckt waren. »Nun?« fragte er besorgt, »ist's besser jetzt? Ist's wärmer?«

»Ja!« sagte Blanche. »Danke!« Sie hüllte sich ein und genoß nun die Wärme. Er war befriedigt und wandte sich wieder der Landschaft zu. »Nun, wird es nicht schön? Warten Sie nur, bis wir hier Ordnung gemacht haben! Sehen Sie dort die Weide? Ein Riese, ein Riese! Und dort vor den Tannen, das sind Rotbuchen, und dort die Sträucher ringsherum, sie tragen im Herbst rote Dolden, diese anderen bordeaurote Quasten, dort sind Ebereschen, dort wird's im Herbst leuchten, ah, es ist gut, das hat einer angelegt, der wußte, was schön ist! Es ist lange her, vor meiner Zeit.« Als Genießer und Fachmann zugleich blickte er um sich. »Sehen Sie, wie's abgeschlossen ist? Es wird ein roter Salon sein, rot in allen Tönungen und dahinter die Tannen. Es wird im Herbst ein Paradies sein!«

»Im Herbst, im Herbst! Wenn erst der Frühling da wäre!« rief sie. Er hob mit schneller Bewegung den Kopf zu ihr auf, sah sie an und schien zu überlegen, ob er ihr überhaupt antworten sollte; doch schließlich kniff er voll Heiterkeit seine Augen zusammen, lächelte ihr zu, sein ganzes Gesicht begann mitzulächeln und schwamm in Freude. »Wenn erst der Frühling da wäre!« wiederholte er ihre Worte. »Kommen Sie!«, und er faßte ihre Hand.

»Wohin?« fragte sie.

»Kommen Sie nur, kleines Fräulein, kommen Sie!«, und er ließ sie nicht los, ging voraus und zog sie, die nicht wußte, was er mit ihr wollte, wie ein widerstrebendes Kind, ein Stück über die Wiese hinter sich her, den Blick voraus auf einen Strauch gerichtet, und blieb vor ihm stehen. Es war ein Haselnußstrauch, mit farblos-grauen, noch geschlossenen Kätzchen behangen; der Gärtner aber bückte sich und spähte in die Finsternis des Geästs. »Da!« rief er und zerteilte es. »Sehen Sie?« fragte er stolz. »Sehen Sie?« Auch sie mußte sich bücken und ins Innere des Busches schauen, wo auf einem der dürren Zweige, mit mattem Leuchten in der Dunkelheit, ein winziger violetter Stern stand. »Nun? Sehen Sie? – Das ist die weibliche Blüte des Haselnußstrauchs, man nennt's auch die Fruchtblüte«, erklärte er ihr. »Kommen Sie!«, und er schritt geradenwegs und zielbewußt zu einem alten grauen Baum mit rissiger Rinde, der verdurstet, verhungert und abgelebt aussah, gut genug, wie es schien, um gefällt, zerhackt und verbrannt zu werden, doch er bog ihr einen der trockenen Äste vor die Augen und ließ sie die harten, verholzten Knoten sehen, aus denen sich als helle smaragdgrüne Tröpfchen, wie flüssiges Glas, die neuen Nadeln der Lärche zwängten. »Nun?« fragte er und ging voll Stolz und wie ein heiterer Sieger weiter, doch auf dem Weg hielt er ein. »Hier! Sehen Sie?«, und er streckte den Finger abwärts, nach der Erde hin, wo sich zwischen vorjährigem braunem Laub zwei frische Blätter durchgeschoben hatten.

»Ah!« rief sie entzückt, »Veilchenblätter!«

Er lächelte, fast traurig. »Nein«, sagte er, ein wenig klagend, »das hat mit Veilchen gar nichts zu tun, die Blätter haben nur eine ähnliche Form und fast die gleiche Größe. Wir nennen es Feigwurz, eigentlich heißt's Feigwarzenkraut, Ranunculus Ficaria.« Er bückte sich und bog mit den harten Fingern seiner alten, runzligen Hände, mit der Vorsicht der greisen Menschen, die sich der Ungelenkigkeit ihrer eigenen Glieder bewußt sind, eines der Blätter beiseite, so daß die bisher verdeckte, unscheinbare gelbe Blüte zum Vorschein kam.

Er richtete sich wieder auf und stampfte weiter, immer einige Schritte vor ihr her. Sie gingen den Rand zwischen Wald und Wiese und taten einmal einige Schritte im Freien, dann wieder einige unter den Bäumen. Er zeigte ihr an den Birken die Drillinge der Zäpfchen, die am Ende der Äste, wie deren Fortsetzung, fast unsichtbar seit dem Herbst dort standen, und wies auf die Pappeln, aus deren Hülsen die grauen Kätzchen hervorquollen; doch auf dem weiteren Weg blieb er abermals stehen. »Sehen Sie!«, und er wies auf eine Vertiefung im Boden, in der der letzte geschmolzene Schnee als Wasser stand, auf diesen winzigen Tümpel, an dessen Rand sich das Gras schon belebt und so in der welken Wiese einen hellgrünen Kreis gebildet hatte. Er blieb vor einer Gruppe von Sträuchern stehen, um ihr die neuen Triebe zu zeigen, zugleich aber stieß er mit der Fußspitze einen vertrockneten Ast beiseite, so daß das matte Blau einer Leberblume sichtbar wurde. Er streckte triumphierend den Finger nach ihr hin und zog Blanche mit sich fort, von Baum zu Baum, von Strauch zu Strauch, und fand jede kleine Blüte am dürren Holz, jede lebhafte Farbe im Grau, im Braun und abgelebten Grün und jeden kleinen Glanz in der allgemeinen Mattigkeit.

Kein Zweifel, er liebte dieses kleine Blühen des März mehr als das große des Mai. Er folgte den unhörbaren Schritten des Riesen und fand jede seiner Spuren, aus denen die zärtliche Kraft quillt, die zaghafte Wildheit, diese Schönheit, die nur schamhaft an die Oberfläche treibt. Er selbst, ein stiller, heiterer und in sich geschlossener Mensch, wahrscheinlich ohne alles Verständnis für das ihm inhaltslos scheinende Brüllen der Umwelt, er mochte wohl am jungen Jahr jene Tugend empfinden und lieben, zu der die Menschen erst im hohen Alter, und auch dann nur sehr selten, gelangen: ohne Lärm reich und bewegt zu sein.

Er gab nicht nach und führte sie weiter, zu einer Weide, die mit gelblichen Blattknospen übersät war, doch dann hielt er abermals ein und wies zur Erde. »Und hier? Was ist denn das?« fragte er und sah sie neugierig, fast listig an. Sie neigte sich nieder, zu ihren Füßen standen einige winzige, noch zu Tüten zusammengerollte Blättchen.

»Das weiß ich nicht«, sagte sie. »Das sieht ja aus wie Tüten, das kenne ich nicht!«

»Nein? Das kennen Sie nicht? Nun, kleines Fräulein«, sagte er schmunzelnd und seine Augen sprühten in Fröhlichkeit und Übermut, »nun, das sind wirklich Veilchen!« Lachend klopfte er ihr den Rücken, wanderte weiter, und sie mußte ihm folgen. Er zeigte ihr im Wald die ersten Blätter der Buschwindrosen, wieder im Gras einen gelben Krokuskelch, eine Gänseblume, eine Primel, eine Schlüsselblume, doch da sich die Landschaft mit einemmal erhellte, weil die treibenden Wolken für einen Augenblick die Sonne freigegeben hatten, hob er den Kopf, sah sich um und »da!« rief er in lautem Glück und streckte seinen Arm aus, nach einem Kastanienbaum, der am jenseitigen Rand der Wiese stand. Seine braunen Knospen waren aus dieser Entfernung und bei der trüben Beleuchtung nicht wahrnehmbar gewesen, jetzt aber, von ihrem Lack überzogen und so plötzlich vom Licht getroffen, blitzten sie wie tausend silberne Lämpchen auf. »Sehen Sie?« rief er und blickte ihr, wie wenn er wissen wollte, was sie nun sage, mit fröhlichem Jubel ins Gesicht, als hätte er den Sonnenstrahl hingeleitet und diese Apotheose bewirkt.

Sie blieben stehen. Vor die Sonne war wieder eine Wolke gezogen. »Nun?« fragte er und vollführte über die ganze Gegend hin, in der jetzt wiederum nichts als müdes Gras, nackte Stämme und dürre Zweige sichtbar waren, eine weitausholende, triumphierende Bewegung.

Sie kreuzten noch ein wenig im Park und kehrten allmählich vors Haus zurück. Er machte ihr seine Vorschläge und sagte ihr zu, daß er jetzt noch, damit der Garten bunter werde, Nelken, Levkoyen, Petunien und Löwenmaul ins Mistbeet aussäen und später umsetzen werde. Sie sprachen von Rosen und Lilien, von Schwertlilien und Dahlien, von Gloxinien, Glyzinien, Zynien und wie sie alle heißen, und all die Namen mochten sich schon in Blanches Gefühl in Blüte und Duft verwandeln, denn sie sprach lebhaft, ihr Gesicht färbte sich und wurde hübscher und jünger. Er mußte ihr versprechen, daß der Garten immer bis in den letzten Winkel in Blüte stehen und daß es bis dahin nicht gar zu lange dauern würde, mußte sie darüber hinwegtrösten, daß der Samen, in die Erde versenkt, nicht auch schon im selben Augenblick Stengel, Blatt und Blüte treibt, und ihr jetzt schon, bevor noch etwas gesät oder gesetzt war, Verhaltungsmaßregeln geben.

»Es wird wunderschön, nicht wahr?« fragte sie.

»Man kann's gar nicht schöner haben, kleines Fräulein! Am Morgen werden Sie hier zwischen Rosen und Stiefmütterchen mit ihrem Bräutigam frühstücken, zu Mittag werden Sie dort unter den Birken mit ihm speisen, am Nachmittag hier unter den Glyzinien Kaffee trinken. Kaufen Sie nur beizeiten einen Gartenschirm und Schaukelstühle! Und am Abend und in der Nacht wird sich auch noch ein Plätzchen finden. Kann man's denn schöner haben? – Wie weit aber sollen wir nun mit unserer Arbeit gehen? Wollen wir nur ums Haus den Ziergarten anlegen oder wie weit sollen wir gehen?«

»Das Ganze müssen wir nehmen!« rief sie lebhaft. »Natürlich das Ganze!«

»Das Ganze?« fragte er, »den ganzen Park? Das wird ein schönes Stück Arbeit! Haben Sie auch schon daran gedacht, kleines Fräulein, daß es ein teurer Spaß sein wird? Viele Jahre ohne Pflege, das rächt sich! Ein teurer Spaß!«

»So?« sagte Blanche, »ja, nun, es wird schon irgendwie gehen!«

Er musterte sie schmunzelnd von der Seite und schien aus ihrer Behauptung, daß es schon irgendwie gehen werde, den Schluß zu ziehen, daß es also nicht gehen würde. Und tatsächlich mochten vor ihrem Geist gewisse Vorstellungen erstehen: von unbezahlten Rechnungen, die in einem Fach ihres Sekretärs aufgestapelt lagen, von kleineren und größeren Zahlen, vom Datum des nächsten Monatsersten, der sich ihr als ein sonderbares zweiköpfiges Tier näherte: ein Taubenkopf mit dem Monatswechsel im Schnabel und ein Drachenkopf, der ihr neue Rechnungen vor die Füße spie.

Sie sprachen noch ein wenig hin und her, und dann verabschiedete er sich. Er nahm ihre Hand zwischen seine beiden, schüttelte sie und klopfte freundschaftlich ihren Rücken. »Auf Wiedersehen, kleines Fräulein, auf Wiedersehen!« sagte er, während er mit herzlichen Blicken zu ihr hinaufsah. Es war zu spüren, daß er sie gern hatte. Er amüsierte sich immer ein wenig über diese Kundin, aber darüber hinaus gefiel ihm Blanche, weil sie ihm gern zuhörte, weil sie wenigstens versuchte, sich belehren zu lassen, und weil er die Empfindung hatte, daß sie, wenn auch ohne alle gärtnerische Kenntnisse, fähig sei, die Schönheiten der Natur und eines Gartens zu genießen; und sogar ihren phantasierenden, immer ins Weite schweifenden Geist, den er spüren mochte, nahm er mit väterlichem Lächeln hin.

Blanche sah ihm nach, als er davonging, und lächelt ihm zu, als er sich, um ihr nochmals zuzunicken, freundlich zurückwandte. Kaum war er verschwunden, zog sie einen Zettel hervor, auf dem sie nach seinem Diktat notiert hatte, welche Gartengeräte sie brauchen würde, wenn sie selbst würde arbeiten wollen. Seinen Vorschlag, daß er sie mitbringen oder schicken werde, hatte sie abgelehnt, da sie selbst gehen wollte, sie einzukaufen, womöglich noch heute, wie sie sich und ihm versprochen hatte. Mit einem Blick auf die Uhr wollte sie feststellen, ob es möglich sein würde, all die vielen Besorgungen zu erledigen und doch zur Zeit wieder hier zu sein, bevor Passow käme; sie hätte zugleich Gelegenheit, kleine Einkäufe zu machen, um ihn bewirten zu können; doch sie hob schon den Kopf, schaute dahin und dorthin, sie war wohl wieder beim Gärtner und bei ihrem zukünftigen Garten, und ihre Gedanken schweiften ab. Sie ging mit wenigen Schritten nach dieser und dann nach jener Seite, um nach allen Richtungen einen Überblick zu bekommen, schließlich aber kehrte sie wieder zum Tor zurück, lehnte sich an, und so blieb sie.

Währenddessen betrat, mit einem Strauß Narzissen in der Hand, von der Straße her Müller-Erfurt den Garten. Er war gestern zu dieser Stunde hier gewesen, er nahm an, daß er Blanche auch heute hier finden werde, und wollte sie mit seinem Besuch überraschen. Freudig und mit sich selbst zufrieden, ging er den Eingangspfad entlang, mit leisen, bedächtigen Schritten. Er stellte es sich reizend vor, wenn er plötzlich an ihr Fenster klopfen würde. Wer weiß, vielleicht würde er morgen wiederkommen, vielleicht würde es zu ihrer beider Gewohnheit werden, daß er den Nachmittag hier verbrachte! Seine Phantasie lief den Ereignissen immer so sehr voraus, daß sie niemals nachkommen konnten. Wer weiß, vielleicht würde sie bald vor Ungeduld vergehen, wenn er eines Tages ausbliebe, und am Ende würde jene Gewohnheit zum Vorspiel zu anderen, angenehmeren Gewohnheiten werden. Wer weiß es denn, mit welchen Gedanken, Absichten und Plänen er hergekommen war! Schon hatte er den kurzen Weg zurückgelegt und war im Begriff, auf den freien Platz vor dem Haus zu gelangen, da hielt er ein und stand still. Er hatte sonderbare Geräusche und Schritte gehört, die kräftiger als die seinen waren und ihm entgegenhallten. Mißtrauisch sah er in die Richtung, aus der sie zu ihm tönten, hinüber ins verwachsene Gebiet, das in den ums Hauptgebäude liegenden Garten überging, regungslos horchte er, und tatsächlich, dort zwängte sich durch die Gebüsche ein anderer Mann und winkte Blanche strahlend entgegen, sobald er ins Freie gekommen war.

Müller-Erfurt erstarrte und preßte die Stengel der Blumen in seiner Hand. So stand er ohne Bewegung und sah hinüber. Alles war anders, der Zufall enttäuschte, die Wirklichkeit betrog ihn. Noch beobachtete er, wie drüben der Eindringling vorwärtsschritt, hörte Blanches kleinen Ausruf der Verwunderung, erkannte, daß ihr der andere Besuch ebenso überraschend war, wie es ihr der seine gewesen wäre. Dann drehte er sich behutsam um, ging leise davon, den Weg, den er gekommen war, und betrat durch die Gartenpforte wieder die Straße. Er war kein Kämpfer.

Mit harten Schritten ging der kleine buckelige Mann übers harte Pflaster, gleichmäßig laut schlugen und klappten unbeirrt die Absätze auf, jede Bewegung schien Kraft und Energie wiederzugeben, und es war, als riefe die ganze Gestalt: Seht, wie sicher ich dahinschreite! Es geht mir gut! Es geht mir gut! Ich fühle mich sicher auf der Welt!

Ohne links noch rechts zu schauen, ging er vorwärts, den kleinen Strauß noch immer in der Hand, den Blick unbeweglich vor sich hin gerichtet, und bemerkte es gar nicht, als er den weicheren Boden des Parks betrat, um die Richtung zu seiner Wohnung einzuschlagen. Er ging die lange gerade Hauptallee entlang, unterm wolkigen Märzhimmel, zwischen den alten Bäumen, über die das Leben gekommen war, im Duft der feuchten, neu arbeitenden Erde, doch er atmete nicht auf, um den Duft einzuziehen, warf keinen Blick auf die jungen Knospen und marschierte unentwegt weiter. Was dachte, was grübelte, was träumte er? Woran litt er und was quälte ihn? Was hoffte und was wünschte er? Wie ein Automat sich vorwärtsbewegend, hatte er etwa die Hälfte seines Weges zurückgelegt. War ihm die Welt vergangen, die Erde versunken? Nicht einmal die Neugierde war in ihm, mit der man sich manchmal umschaut, den oder jenen Passanten betrachtet, jene Neugierde, die ja doch eines der Tore ins Leben ist. Schließlich wandte er sich nach rechts in einen schmalen Nebenpfad, ging dort eine gewisse Strecke, und nachdem er um sich geblickt hatte, um sich zu überzeugen, daß er von keinem Passanten beobachtet wurde, warf er die Narzissen ins Gebüsch. Dann bog er wieder zweimal nach links ein und kehrte zur Hauptallee zurück. Noch hatte er ein Stück Wegs zu gehen, endlich aber verließ er den Park und kam wieder zu den Häusern, in jenes Viertel, in dem vor zwanzig oder dreißig Jahren die reichen Leute gewohnt hatten und in dem er jetzt seine beiden möblierten Zimmer hatte. In der Häuserreihe gegenüber dem Rand des Parks war eine große Blumenhandlung, er schritt schnurstracks auf sie zu, betrachtete die Auslage, und dann betrat er den Laden. Als man ihm dienstbeflissen entgegeneilte, sah er sich lässig um, doch war er schnell entschlossen und wählte volle, dunkelrote langstielige Rosen, die schönsten, die es hier gab. Sie waren in dieser Jahreszeit sehr teuer, aber er nahm ihrer genug, daß sie einen schönen Strauß ergeben konnten. Er trug sie weder mit sich davon noch benutzte er Billett und Kuvert, als man sie ihm anbot, er diktierte vielmehr nur die Adresse, seine eigene, an die sie zu schicken seien.

Abwechselnd nach links und rechts einbiegend, ging er noch einige Straßen, und endlich erreichte er das Haus, in dem er wohnte, und betrat durchs schwere Tor die weite Vorhalle, die mit ihrer Raumverschwendung den einstigen Wohlstand der Bewohner demonstrierte.

In seinem Wohnzimmer legte sich Müller-Erfurt auf das alte Sofa, das einstmals, mit vielen gestickten Samt- und Seidenkissen geziert, als weitausladendes, prächtiges Stück im Salon der Frau Schöttler gestanden, dann aber mit vieler Mühe zu einer Art moderner Chaiselongue umgebaut worden war. Er las die Zeitung oder vielmehr, er blätterte nur in ihr. Nach einiger Zeit klingelte es, er hörte eine fremde Mädchenstimme, dann die seiner Wirtin, sie sprachen miteinander, fast stritten sie, doch endlich klopfte es an seiner Tür, und auf der Schwelle stand Frau Schöttler: hochaufgerichtet, mit aufgerissenen Augen, den rechten Arm von sich gestreckt und in der Hand einen großen Blumenstrauß, in Seidenpapier gehüllt, durch das die Farbe roter Rosen zu ahnen war. »Das wurde für Sie abgegeben!« sagte sie und war fassungslos.

»Ah!« warf er mit aller Leichtigkeit hin. »Ist ein Brief dabei?«

»Nein«, antwortete sie streng, »nur Ihre Adresse stand auf diesem Zettel!«

»So«, und er lächelte, während er die Umhüllung entfernte und an den Blüten roch. »Würden Sie so gut sein, sie in eine Vase zu stellen?«

»Bitte!« sagte sie und verschwand, kam aber schnell wieder und stellte die Vase auf den Schreibtisch.

»Danke!« sagte er.

»Bitte!«

Sie war wieder in der Tür, konnte sich aber offenbar noch nicht entschließen, das Zimmer zu verlassen. Irgend etwas, irgendein Wort mußte sie denn doch sagen, obwohl es, wie sie immer wieder ihren Freundinnen gegenüber äußerte, zu ihren obersten Prinzipien gehörte, keine überflüssigen Gespräche mit ihrem Zimmerherrn zu führen, ihre Pflicht zu tun und sonst nichts. Sie stand dort, als wären ihre Füße angeklebt. »Nämlich«, sagte sie, »ich habe die Blumen gar nicht entgegennehmen wollen.«

»Warum?« fragte er mit leisem Staunen, doch so leger, wie es nur möglich war.

»Nun, ich dachte –«, und sie wußte nicht weiter.

»Es stand doch meine Adresse auf dem Zettel«, beharrte er.

»Ja. Gewiß. Bitte sehr! Es liegt mir natürlich fern, mich um die Angelegenheiten fremder Menschen zu bekümmern. Ich habe mich nur gewundert. Zu meiner Zeit nämlich haben die Damen Blumen bekommen.«

»Hm«, machte er.

»Es war nicht Sitte«, fuhr sie fort und versuchte zu lächeln, doch hatte sie es längst verlernt, »daß Herren Blumen geschickt bekommen.«

Ein leises Lächeln ging über sein Gesicht, und seine Hand fuhr langsam durch die Luft, mit einer breiten Geste, die zu fragen schien: Was kann ich tun, wenn sich die Zeiten geändert haben? Kann ich etwas dagegen unternehmen, daß man mir Blumen schickt? Kann ich es jemandem verwehren, mir rote Rosen zu schicken?

Sie sah der Bewegung seiner Hand zu und betrachtete ihn, wie er dort auf der Seite lag, mit eingezogenen Beinen, so krumm und armselig. »Nun ja, die Zeiten haben sich geändert«, sagte sie, aber ihr Blick sprach weiter: Daß sie sich aber auch so sehr geändert haben! Daß sich auch der Geschmack so sehr geändert hat! Daß man den Männern Blumen schickt, was geht's mich an! Aber daß man auch meinem Zimmerherrn Blumen schickt, den ich doch so genau kenne! Als einen nichtsnutzigen Menschen, der immer etwas will und gegen mich, die Dame, nur mit Mühe und Not die einfachste Höflichkeit aufbringt! Ihm schickt man Blumen, diesem widerlichen Krüppel!

Müller-Erfurt beobachtete seinerseits die Wirtin und betrachtete ihr Gesicht. »Ja«, sagte sie abschließend, und endlich, nach einem letzten, fast haßerfüllten Blick auf die Rosen, ging sie.

Er blieb liegen und sah vor sich hin. Dann griff er zur Zeitung, doch nach einer Minute senkte sich seine Hand, und er blickte wieder nur in die Luft. Die Zeit verging, raschelnd entglitten die Zeitungsblätter seinen Fingern, und sich seinen Gedanken oder Träumen überlassend, starrte und starrte er immer weiter ins Leere.

II

Blanche hatte nicht wahrgenommen, daß Müller-Erfurt gekommen war, und nicht, daß er wieder davonging. Sie hatte es um so weniger bemerkt, als ihre Aufmerksamkeit durch andere, kräftigere und vor allem ganz und gar überraschende und seltsame Geräusche in Anspruch genommen wurde, denn so oft auch jemand, selten genug, zu ihr kam, niemand erschien unangemeldet. Doch wer immer es war, er betrat, von der Nebengasse kommend, durch die kleine Pforte den Garten; diesmal aber kamen jene Geräusche, die sie vernahm, aus der Richtung des Hauptgebäudes, aus jenem Gebiet, dessen Vorhandensein sie niemals zur Kenntnis genommen, wohin sie niemals auch nur den Blick gewendet hatte. Aus dieser fremden Sphäre kam's, und nun unterschied sie auch den Klang von Schritten. Sie hielt den Atem an. Ihr mochte wie einem auf eine leere Insel verschlagenen Menschen sein, der wohl aufs Meer hinaussieht, ob sich ein Schiff nähert, eines Tages aber zu seinem maßlosen Erstaunen, in das sich die Furcht mengt, gewahr wird, wie aus ihrem Innern, wo er kein Leben vermutet hat, dennoch ein lebendiger Mensch auf ihn zukommt. Sie erschrak, und mit ihr erschrak die Einsamkeit selbst und die Leere. Voll gespannter, ängstlicher Neugier sah sie hinüber, doch schon erschien, sich durchs Buschwerk schlagend, auf einem schmalen, verwachsenen Pfad der unerwartete Gast. Es war Heinzfurth, ihr Tänzer in der vergangenen Nacht. Er rief schon von weitem: »Hallo! Hallo!« und: »Erschrecken Sie nicht!«, winkte ihr entgegen und kam auf sie zu.

Vor einer halben Stunde war Heinzfurth bei seinem Freund Schröder erschienen, beim Prokuristen des Industriekonzerns, der im Hauptgebäude seinen Sitz hatte. Es war nichts Besonderes, daß Heinzfurth unangesagt seinen Freund aufsuchte, diesmal aber begrüßte ihn Schröder voll Überraschung, denn zu dieser Stunde war jener noch niemals gekommen. Doch bevor er eine Frage tun konnte, rief Heinzfurth schon, es sei gar nichts Besonderes geschehen, er sei nur zufällig hier vorübergefahren, da habe er halten lassen und sei heraufgesprungen, um ihm guten Tag zu sagen. Er war lebhaft und ein wenig lärmend eingetreten, so wie man ihn kannte: die ganze große, selbstsichere und liebevoll gepflegte Erscheinung ein Bild der Fülle, die Schultern ausgestopft und der umfangreiche Brustkorb in einem gutgearbeiteten, zweireihigen Sakko, das sich über den Hüften so sehr verengte, daß sich das Hinterteil massig vorwölbte, Kopf und Gesicht aber, mit dem schwarzen Lack der gescheitelten Haare und des gestutzten Schnurrbarts, mit dem schimmernden Blau des ausrasierten Kinns, dem gesundheitstrotzenden Rot der Lippen und dem glänzenden Rot der Backen, ein leuchtendes Farbenbukett.

Obwohl Heinzfurth, wie er sagte, nur für einen halben Augenblick heraufgekommen war, ließ er sich doch ganz wie ein Mensch nieder, der sich anschickt, ein wenig zu bleiben, und als sie sich zu unterhalten begannen, kam er gleich auf die vergangene Nacht zu sprechen. Er habe, erzählte er, einem Geschäftsfreund das Nachtleben der Stadt zeigen müssen, und schon erwähnte er mit behaglicher Selbstzufriedenheit sein Zusammentreffen mit Blanche. Er habe sie früher gar nicht beachtet, gestern aber habe sie ihm ganz ausgezeichnet gefallen, sie tanze besonders gut, daß einem Mann ganz heiß werden könne, mit einem Elan, der grandios sei, mit einem Temperament, das durchaus, wie er ahne, so rief er lachend, des seinen würdig sei, und einen Körper habe sie, wie er seinesgleichen suche: alles in allem, wenn sie auch keine Schönheit sei, eine Frau, wie man sie sich nur wünschen könne.

Schröder lachte: warum er das alles ihm erzähle, er solle es ihr doch selbst sagen, sie sei vielleicht nicht weit von hier, in ihrem Atelier, er solle nur hingehen. Heinzfurth schlug auf den Tisch. »Mein Lieber!« rief er, »das ist gar kein schlechter Gedanke!«

Schröder schaute ihn lächelnd von unten her an, als ob er den Verdacht hätte, daß Heinzfurth diesen gar nicht so schlechten Gedanken selbst schon gehabt habe. »Geh doch!« rief er und informierte den Freund: er habe gehört, daß sie sich ganze Tage dort herumtreibe, es sei durchaus möglich, daß er sie jetzt antreffe, und allein sei sie auch immer, denn sie habe, soviel er wisse, keinen Geliebten, der Weg ins Paradies sei also nicht verlegt, sollte sie aber nicht dort sein, nun, so würde er ja doch von niemandem gesehen werden, und er habe sich nichts vergeben. »Geh doch, geh doch!« rief er und machte einen unflätigen Scherz, den Heinzfurth allerdings unwillig abwehrte.

Schröder hielt sofort ein und entschuldigte sich mit scherzhafter Ironie: oh, oh, er wolle nicht Heinzfurths Gefühle verletzen, er habe nicht gewußt, daß hier ernstere Interessen im Spiele seien. Er musterte aus zusammengekniffenen Augen den Freund und fragte schließlich lachend: »Verhältnis oder Liaison?« Diese Frage bezog sich auf die Tatsache, daß sie sich im Laufe der Jahre geeinigt hatten, es gäbe, was die Liebesbeziehungen beträfe, sechs Kategorien oder Stufen. Zu dieser Einteilung waren sie in unzähligen, über diesen Gegenstand geführten Gesprächen gekommen, bei denen sie sich in indiskreten Bekenntnissen, in psychologischer Analyse und lüsternen Scherzen ergingen. Es waren in ihr, so mochten sie denken, die Genauigkeit ihres Denkens, die Schärfe ihres Witzes und die Erfahrungen, die Beobachtungen des ganzen männlichen Geschlechts niedergelegt, und sie hatten wohl das Gefühl, auf den Grund der Dinge, auf den Grund aller Probleme gekommen zu sein. Die sechs Stufen waren: Sprung, Abenteuer, Übergang, Verhältnis, Liaison und hors concours. Die dritte hatte ihren Namen von der Tatsache bezogen, daß auf ihr – so wie sie die Dinge sahen – die Sexualität in Erotik übergeht; auf der sechsten standen die sagenhaften, bedenklichen Beziehungen zu einer Frau, von der man geradezu besessen ist, wofür sie als Merkmal die Tatsache ansahen, daß man auch noch nach fünf Wochen nicht das Bedürfnis hat, sie zu betrügen, und es nur tut, wenn die Gelegenheit zwingend ist oder wenn sie länger als zwei Wochen verreist ist.

Schröders Sekretärin, eine kleine, zierliche Person, die, wie man weiß, auch seine Freundin war, betrat das Zimmer, um die Kopie eines alten Briefes zu suchen. Ob sie ihn für ihre augenblickliche Arbeit tatsächlich benötigte, bleibe dahingestellt. Schröder hatte sich daran gewöhnen müssen, daß sie, sei es aus Neugierde, sei es aus ihrem Bedürfnis, des Gastes Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, daß sie, so oft er Besuch hatte, immer einen Vorwand zu finden wußte, sich in seinem Büro zu schaffen zu machen und sich, wenn es nur irgendwie anging, ins Gespräch einzuschieben. Er war wehrlos gegen sie, er mußte Rücksicht auf sie nehmen, denn er kannte ihr um sich schlagendes Temperament, das sich immer dann mit einem Skandal zu entladen drohte, wenn es ihm die meisten Unannehmlichkeiten hätte bereiten können. Diesmal kam ihr der Zufall zu Hilfe, denn kaum hatten die Männer, in unverfänglicherer Form, ihr Gespräch von neuem aufgenommen, als sie auch schon, mit vielen zierlichen und affektierten Entschuldigungen, daß sie störe und die beiden Herren unterbräche, eingreifen konnte; sie habe zufällig, sagte sie, selbstverständlich ohne daß sie hätte zuhören wollen, den Namen Blanche Riedinger gehört, und es sei nämlich ein Brief für eine Dame dieses Namens angekommen, sie habe bei aller Mühe nicht herausfinden können, wer das sei, und da wolle sie sich jetzt erkundigen und um Auskunft bitten, was mit diesem Brief, der doch vielleicht für die Empfängerin von Wichtigkeit sei, zu geschehen habe.

Schröder erinnerte sie an jene Dame, die sie selbst vor etwa zwei Jahren zu dem alten Kutscherhäuschen geführt habe, und bat sie, den Brief zu bringen. »Ausgezeichnet!« rief er dann aus, jetzt müsse Heinzfurth hinübergehen, ob er wolle oder nicht, um Blanche den Brief zu überreichen. Die Sekretärin war in ihrem Zimmer verschwunden. Als sie aber nicht zurückkehrte und, von Schröder gerufen, endlich wieder erschien, mußte sie gestehen, daß sie ihn im Augenblick nicht finden könne. Nun konnte Schröder sie für ihre Zudringlichkeit bestrafen und meinte von oben her, er fürchte, daß sie ihn wohl auch in einem späteren Augenblick nicht finden werde, doch sie ließ sich nichts gefallen und sagte: »Ich werde suchen! Wer sucht, der findet!«

»Wir werden sehen!« rief er und war schon wütend. Man sieht, es war auf dem besten Weg und ging steil aufwärts. »Wetten?« fragte sie, indem sie kokett den Kopf zur Seite neigte und zugleich lächelnd zu Heinzfurth hinüberschielte, als ob sie zwischen sich und ihm eine Bundesgenossenschaft gegen Schröder herstellen wollte.

»Ich wette nicht!« warf er ihr hin, mit scharfer, noch lauterer Stimme, aber sie gab ihm unversehens eine freche Antwort, des Inhalts etwa, daß es doch auf den Preis ankomme, den er sich als Gewinner bei ihr verdienen könnte, worauf er sie, schon wegen dieser Antwort und nicht wegen des Briefes anschrie, was sie mit einer gelassen ausgesprochenen Impertinenz quittierte.

Während es sich für Schröder darum handelte, vor dem Gast seine Autorität zu wahren und vor dem Freund seine Würde als Mann und Lebenskünstler, der mit den Frauen umzugehen weiß, und während es andererseits ihr offenbar darauf ankam, vor dem Fremden zu beweisen, daß sie nicht eine gewöhnliche Büroangestellte sei, mit der man wie mit irgendeiner umgehen dürfe, die vielmehr eine durchaus individuelle Stellung einnahm, während sie außerdem mit der Blamage, die sie ihrem Vorgesetzten beibrachte, ihre Rache dafür nahm, daß er, statt sie zu heiraten, sie betrog und sogar in diesem Hause nicht nur sie, sondern immer noch auch die Tochter des Portiers zur Geliebten hatte, kurz, während der kleine Urwald der Gefühle rauschte, der Chef zum Donnerer wurde und die Giftschlange zischte, während all dessen saß Heinzfurth tief in seinen Sessel zurückgelehnt, beobachtete die Zankenden, genoß den Lärm, trank ein Glas Schnaps ums andere und schüttelte nur von Zeit zu Zeit den Kopf, als ob er sagen wollte: So sollte sich ein Frauenzimmer gegen mich zu benehmen wagen! Er wurde röter vor Behagen und brach schließlich in grölendes Gelächter aus.

Schröders Zorn schien gefährlich zu werden; als er sich aber von seinem Stuhl erhob, wie wenn er etwas Entscheidendes sagen wollte, übertrieb sie ihren Schrecken über diese Bewegung ihres Chefs, indem sie zusammenzuckte, sich duckte und dann, als ob sie schon von seiner Geste verwundet worden wäre, ein wenig humpelnd aus dem Zimmer floh. Schröder blieb verärgert zurück und erging sich in Erörterungen darüber, wie sich die gar zu große Liebe der Frauen in Haß verwandle, denn anders sei, das wisse er leider allzu gut, das Benehmen der Sekretärin nicht zu erklären. Sie sprachen noch ein wenig hin und her, schließlich munterte Schröder seinen Freund nochmals auf, Blanche aufzusuchen, und Heinzfurth brach auf.

Nachdem der Portier ihm nochmals die Richtung gewiesen, schritt er kräftig aus, bog, wo die Büsche ihn behinderten, das Gezweige herrisch auseinander, ließ sich durch nichts beirren und überquerte, um die Strecke noch abzukürzen, eine welke Wiese, und als er Blanche vor dem Tor ihres Hauses erblickte, sie zugleich seiner zwischen zwei Bäumen ansichtig wurde, rief er schon von weitem: »Hallo!« und: »Erschrecken Sie nicht!« und: »Da Sie mir heute nacht weggelaufen sind, muß ich Ihnen nachlaufen!« Sie lachten, schüttelten einander die Hände, und bald saßen sie im Biedermeierzimmer, sie auf dem Sofa an der Wand, er an der Querseite des ovalen Tisches, dem Fenster gegenüber.

Heinzfurth beklagte sich, daß ihm Blanche gestern schon nach dem ersten Tanz entschlüpft sei, und fragte sie schelmisch, ob sie allein und ob sie auch wirklich nach Hause gegangen sei. Nein, sagte sie, sie sei her, ins Atelier, gefahren, kurz nach ihr sei auch ein Mann gekommen, habe an ihr Fenster geklopft, und sie habe ihn zu sich eingelassen. Er sah sie prüfend an, dann schwenkte er verneinend seinen ausgestreckten Zeigefinger: Das möge sie nur einreden, wem sie wolle, er kenne die Frauen gut genug, um zu wissen, daß sie es nicht sagen würde, wenn es wahr wäre. Befriedigt von dieser Psychologie, sprach er noch einiges hin und her, dann wechselte er das Thema, sah mit flüchtigem Blick um sich und lobte die Geschicklichkeit, mit der sie die alte Baracke hergerichtet habe. Er tat dies anfangs nur aus Höflichkeit, da sie ihn aber durchs ganze Haus geführt und er es besichtigt hatte, bewunderte er es tatsächlich, denn es war offenbar hübscher und gepflegter, als er es erwartet hatte.

Sie kehrten von ihrem kleinen Rundgang zurück und setzten sich wieder nieder, wie sie gesessen hatten. Das Zimmer heimelte ihn an, und er begann, sich wohl in ihm zu fühlen. Er trank zwei Gläschen eines scharfen Likörs und wiederholte mit allerlei Scherzen seine Vorwürfe wegen ihrer nächtlichen Flucht. Im Gespräch stand er auf, ging zum Fenster und zurück, dann ließ er sich neben ihr auf dem Sofa nieder und griff nach ihrer Hand; da sie aber seinen Versuchen, sich ihr zu nähern, ihrerseits nicht entgegenkam, ließ er gleich von ihr ab. Er erhob sich wieder und schritt, wie ein Mensch, der sich auf eine Rede vorbereitet oder vor der Durchführung eines Entschlusses steht, nachdenklich auf und ab. Als er sich nochmals auf seinen Stuhl niedergelassen hatte, beugte er sich vorwärts, ihr entgegen, sah sie ernst an und sagte bedeutungsvoll: »Sie gefallen mir sehr gut!« Sie machte wie zum Dank eine kleine scherzhafte Verbeugung. »Ich habe viel an Sie denken müssen!« fuhr er gewichtig fort.

»Oh!« machte sie.

»Wissen Sie«, sprach er weiter, »daß ich heute nacht sehr lange wachgelegen habe? Ich habe viel an Sie denken müssen, vielmehr an uns beide. Ja, viele Gedanken sind mir durch den Kopf gegangen und viele – Vorstellungen!« Er sah ihr in die Augen: »Es waren schöne Vorstellungen!«

»Ach!« meinte sie lachend.

Er nahm ihre kurzen Ausrufe nicht ins Bewußtsein, vielmehr, er hörte sie gar nicht erst, und nach einer kurzen Stille setzte er fort: »Ja, viele Gedanken sind mir durch den Kopf gegangen, und ich bin zu einem Entschluß gekommen!« Er legte die flache Hand auf den Tisch, schob ein wenig den Kopf vor und blickte ihr aus weitgeöffneten Augen starr und fest ins Gesicht: »Sie werden meine Geliebte sein!«

»Ach!« rief sie aus und markierte ein lustiges Staunen.

»Ja!« fuhr er fort. »Und zwar bald! Sehr bald! Früher als Sie ahnen!«

Er erhob sich abermals und schritt in jene Ecke des Zimmers, in der der kleine Kachelofen stand. »Es mag Sie überraschen, daß ich so geradeheraus spreche, aber gerade dies: immer geradeheraus zu sprechen, ist eine meiner besten Eigenschaften! Ich bin mir dessen bewußt, und was ich Ihnen gesagt habe, war durchaus im Ernst gemeint, wenn es auch leicht und ohne Umschweife hingeworfen war. Es ist nämlich oft meine Art, das Gewichtige leicht hinzuwerfen. So manche Entscheidung in meinem Leben ist en passant gefallen.«

Er durchmaß noch einmal hin und her den Raum, kehrte in seinen Winkel zurück, lehnte sich an den Ofen und begann, weit ausholend, mit anderem, breiterem Tonfall: »Ich weiß nicht, wie weit Sie über mich informiert sind und was man über mich spricht, vielmehr, ungefähr weiß ich es doch, aber ich kann nicht ahnen, was gerade Ihnen über mich zu Ohren gekommen ist. Ich bin natürlich Gegenstand sehr vielen Geredes und Klatsches. Andererseits weiß ich auch nicht, wie weit Sie mich kennen, wie weit Sie durchschaut haben, wer und was und wie ich wirklich bin. Das aber ist sicher, daß Sie gerade den Teil meines Wesens – denn ich bin ein Mensch, der viele Extreme in sich vereinigt! – daß Sie also den Teil meines Wesens, der für eine Frau, wie Sie es sind, von Interesse oder von Bedeutung sein kann, nicht kennen. Ich bin entzückt von Ihnen, und, ob Sie es nun glauben oder nicht! Sie werden meine Geliebte sein! Wenn ich Ihnen dies so geradeheraus sage, so stellt diese Art den schnellen Griff eines schnell entschlossenen Menschen dar. Ja! Alle meine Erfolge – auf welchem Gebiet immer – verdanke ich meiner Fähigkeit, schnelle Entschlüsse zu fassen und schnell die Konsequenzen aus ihnen zu ziehen – nicht nur im Geschäftsleben, sondern auf allen Gebieten des Lebens!

Sie gefallen mir ausgezeichnet, und Sie sind klug; dennoch weiß ich nicht, ob Sie sich in meine Lage versetzen können, in die Lage eines Industriellen, der nicht nur eine ungeheure Arbeit zu leisten, sondern auch eine gewaltige Verantwortung zu tragen hat. Sie haben wahrscheinlich keine Vorstellung davon, wie viele Sorgen und Schwierigkeiten einem Menschen in meiner Position das Leben zu einem ständigen Kampf gestalten. Die allgemeine Wirtschaftslage, internationale Verwicklungen und Erschwerungen, soziale Kämpfe – man mag seinen Beruf noch so gut verstehen, man mag über geradezu übermenschliche Kräfte verfügen und, ich darf es wohl sagen, über außerordentliche Fähigkeiten –, was hilft's, die Schläge kommen von außen und müssen immer wieder abgewehrt werden. Dabei spreche ich gar nicht erst von den Ehrenämtern, den humanitären Verpflichtungen, denen man sich in meiner Position nicht entziehen kann, der Repräsentation, zu der ein Mensch wie ich verpflichtet ist! Wenn Sie mich gestern in so einem Lokal wie La Princesse gesehen haben, so nur deshalb, weil ich mich diesem Engländer – er ist einer der größten Industriellen von England – widmen mußte, und wenn Sie mich nicht nur sorglos, sondern auch ausgelassen gesehen haben, so deshalb, weil ich mich, wenn ich mich schon in den Trubel stürze, ihm auch ganz überlasse, denn es ist eine meiner Eigenschaften, was ich tue, ganz zu tun!«

Heinzfurth machte einen vorläufigen Abschluß, und man konnte glauben, daß die Einleitung beendet sei. Er sprach aus voller Brust und mit der Sicherheit eines Menschen, der nicht nur geübt ist, Reden zu halten, sondern auch gewöhnt, daß man ihm zuhört, weil er oft Ansprachen an seine Untergebenen hält. Blanche war von den breiten Wogen seiner Sätze überflutet und von den vielen schnell aufeinander folgenden Worten überrumpelt. So schwieg sie, aber schließlich, wenn man's bedenkt, was hätte sie auf diese Vorrede auch antworten können!

Er fuhr fort: »Es ist vielleicht ein Glück, daß Sie mir heute nacht so plötzlich entglitten sind. Ich spreche mit voller Aufrichtigkeit, und tatsächlich gehören Aufrichtigkeit, Offenheit, Klarheit zu meinen obersten Prinzipien! Ich hatte schon, ich gestehe es offen ein, auf eine schönere Fortsetzung des Tanzes gehofft, denn ich hatte zu fühlen gemeint, daß auch Sie nicht ganz kühl geblieben waren. Aber es ist, habe ich gesagt, es ist vielleicht ein Glück, daß Sie mir so plötzlich entglitten sind und daß sich meine Hoffnungen nicht erfüllt haben. Denn auf diese Art war ich gezwungen, allein nach Hause zu fahren, ich war allein in meiner Wohnung, ich konnte keinen Schlaf finden, und so hatte ich Zeit und Gelegenheit, über mich und mein Leben nachzudenken.«

Er fuhr fort, indem er mit gedämpftem und bedeutungsvollem Tonfall versuchte, die Stimmung der nächtlichen Stunden heraufzubeschwören: »Ja, lange, lange habe ich dort gelegen, habe zur Decke hinaufgeschaut und habe über mich und mein Leben nachgedacht. Und zu welchem Resultat bin ich schließlich gekommen? Daß ich all meine Erfolge lediglich meiner Organisationsgabe und meiner Zeiteinteilung verdanke! Ja, die Fähigkeit, seine eigene Zeit richtig einzuteilen, ist der wichtigste und wertvollste Bestandteil des Organisationstalents! Zeiteinteilung bedeutet Leistungserhöhung! Das ist einer der zehn Leitsätze, die ich in allen Arbeitsräumen meiner Unternehmungen habe anbringen lassen. Die Frauen beanspruchen unsere Zeit – wir haben keine, wir haben die Arbeit, wir haben die Verantwortung, wir haben die Führung! Wir haben nicht nur keine Zeit für jene Frauen, die wir schon besitzen, wir haben auch keine für jene, die uns noch nicht gehören! Daher der eilige Griff, das schnelle Packen nach allem, was ich brauche und will! Es liegt mir viel daran, daß Sie mich ganz verstehen!«

Er ließ eine Pause eintreten, dann setzte er von neuem an und ließ seine Stimme schmelzen: »Der Mensch ist einsam, einsam ist der Mensch. Enttäuschungen begleiten ihn. – Mein Leben war reich und bunt, es war ein immer aufwärts führender Weg: mein Vater hat zwanzig Arbeiter beschäftigt, seine Fabrik war eigentlich nur eine Werkstatt, eine Baracke – ich habe zwölfhundert Arbeiter, und sein Einkommen betrug den vierzigsten Teil des meinen! Ich kann sagen: was ich angestrebt habe, habe ich auch immer erreicht, und wenn ich gewollt hätte, hätte ich auch mehr erreichen können, als es der Fall ist, denn nicht nur einmal hat man mich in die Politik und zu den Staatsgeschäften hinüberziehen wollen. Ich habe meine Position, meinen Namen, ich habe Freunde, Frauen jeder Art habe ich besessen – und dennoch, dennoch –« Er blickte hinaus, durchs Fenster, als ob er in eine unendliche Weite sähe, und abermals erweichte sich seine Stimme, als ob Öl in sie gegossen worden wäre: »Der Mensch ist einsam, einsam ist der Mensch. Enttäuschungen begleiten ihn.«

Blanche setzte sich bequemer, wie ein Mensch, der sich darauf einrichtet, lange auf seinem Platz bleiben zu müssen, schob den Körper ein wenig vor und streckte die Beine aus. Dann brachte sie sich in jene Lage, die sie oft einnahm, wenn sie warten oder zuhören mußte, legte die Hände mit gespreizten Fingern rechts und links neben sich auf den Sitz des Sofas und bog den Kopf ein wenig zurück, daß er die Wand schon berührte.

Er sprach weiter, mit breiter Geste, und es kam jene Rhetorik über ihn, die ihm bei Direktionskonferenzen und Verwaltungsratssitzungen den Ruf eintrug, ein ausgezeichneter Redner zu sein: »Wie man von einem Bergesgipfel eine Landschaft betrachtet, mit ihren Wiesen und Feldern, Hügeln und Tälern, Bergen und Flüssen, mit ihrem Licht und ihrem Schatten, so habe ich heute nacht mein ganzes Leben überschaut. Die Vergangenheit lag ausgebreitet vor mir. Reich und bunt! Üppig und quellend! Doch, Fräulein Blanche, so ist der Mensch! Auch in die Zukunft versucht er zu sehen, und auch ich habe es versucht, wie ich heute nacht dort gelegen habe und zur Decke geschaut habe! Und wer stand dort, im Garten meiner Zukunft? Sie! Wer hat mir entgegengesehen? Sie! Wem bin ich entgegengegangen? Ihnen! Wer hatte auf mich gewartet? Sie!« Er tat abermals einige Schritte auf sie zu, und die Augen in seinem gesundheitsstrotzenden, buntblühenden Gesicht waren bemüht, sich herrisch-suggestiv in ihre zu versenken. »Sie! Ob Sie es wissen oder nicht! Sie!« Doch ihre abwärts gerichteten Blicke hoben sich nicht zu den seinen.

Er durchmaß mit kräftigen Schritten das Zimmer; als er dann stehen blieb, fuhr er auch gleich wieder fort: »Fräulein Blanche, ich habe Ihnen gesagt, daß Klarheit, Aufrichtigkeit, Offenheit zu meinen obersten Prinzipien gehören! Wir leben im Zeitalter der Maschinen und der Präzision – wir müssen dieser Zeit würdig, wir müssen ihr gewachsen sein! Auch der Verstand soll wie eine Maschine arbeiten, nüchtern, sachlich und hart! Daß meiner so arbeitet, ist vielleicht meine größte Stärke! Präzision im Denken, klare Erkenntnisse, Wahrheit, der Wirklichkeit ins Auge schauen! Jeder liebt nur sich selbst, niemals liebt man den anderen Menschen! Man liebt nur das, was man die Liebe nennt, man liebt nur das Vergnügen, das uns die Beziehungen zum anderen Geschlecht bereiten! Aber Liebe? Nein! Es gibt keine Liebe! Klarheit, Aufrichtigkeit, Offenheit! Und ich füge jetzt hinzu: Vorurteilslosigkeit! Alles ist ein Geschäft, und die Liebe ist nicht nur auch eines, sie ist das schwierigste und komplizierteste von allen! Klarheit, Klarheit, Klarheit! Was ist die Wirklichkeit? Egoismus, Kampf, Sieg und Niederlage! Das ist die Wirklichkeit! Aber Liebe? Nein!« rief er mit einer gewissen Begeisterung aus. »Liebe? Es gibt keine Liebe! Aber, Fräulein Blanche, ich bin ein Gentleman, ich bin ein Ehrenmann! Kein Mann kann ohne eine Frau leben, und keine Frau soll ohne einen Mann leben! Das verlangt die Natur – unabhängig von aller Liebe! Kann ein Mann wie ich ohne eine Frau leben? Niemals! Ich bin ein Ehrenmann, ich bin diskret, ich kann galant sein und glaube so manche Eigenschaften zu besitzen, die einer Frau gefallen können! Das ist nicht mein Urteil, sondern das der vielen Frauen, die mich geliebt haben, von der Dirne bis zur Herzogin!«

Er schwieg, doch dann sprach er weiter, leiser und gefühlvoll: »Dennoch, dennoch! Der Mensch ist einsam, einsam ist der Mensch, und Enttäuschungen begleiten sein Leben! Als ich heute nacht dort gelegen habe, zur Decke geschaut habe und Stunde um Stunde verging, da habe ich gedacht und gedacht! Wer bin ich? Was bin ich? Die einen sagen, ich sei ein Salonlöwe, ein Weiberjäger, die anderen, ich sei ein brutaler Geschäftsmann, die dritten: ein harter Willensmensch, die vierten: ein genialer Organisator! Was bin ich wirklich? Vielleicht nichts von allem, vielleicht alles?« Er richtete fragend, fast flehend den Blick auf Blanche: »Was bin ich, was bin ich wirklich?« Doch sie konnte ihm keine Auskunft geben und schwieg. Sie hielt die Augen gesenkt, rührte sich nicht, und es sah aus, als ob sie verurteilt wäre und als ob sie sich längst gefügt hätte, bis ans Ende aller Tage so zu sitzen.

Er dämpfte seine Stimme: »Ach, Fräulein Blanche, wenn Sie wüßten, wie müde ich bin! Gesättigt von dem üppigen Mahl, das mir das Leben serviert hat, müde der schnellen, leichten Erfolge bei den unbefriedigten Frauen anderer, müde der geldgierigen Frauen, müde der Gelegenheitsvergnügungen, müde dieser ganzen verfluchten Unregelmäßigkeit durch die man einmal ausgesaugt wird und dann wieder lange Zeit hungrig bleibt! Ich habe alles überdacht, heute nacht. So ist nun einmal meine Art: alles zu überdenken! Vielleicht ist gerade das meine Stärke! Ich glaube nicht an die Liebe, aber ich bin ein Ehrenmann und will mich nicht besser machen, als ich bin! Gewiß, ich bin ein Egoist, aber stände ich heute dort, wo ich stehe, wenn ich keiner gewesen wäre? Ich bin rücksichtslos, ich gebe es zu, aber muß ich es nicht in meiner Position, in diesen schweren Zeiten sein? Ich bin sogar tyrannisch, ich gestehe es ein! Ich bin launisch, ich verschweige es nicht! Aber den Launen anderer füge ich mich nicht! Das muß gesagt sein!«

Mit steigendem Tonfall warf er die Sätze hin und kam in Schwung, wie es geschehen mochte, wenn er seinen Arbeitern auseinandersetzte, daß sie nicht für ihn, sondern für ein gemeinsames Werk, daß er und sie miteinander lediglich für die Allgemeinheit arbeiteten. »Egoistisch, rücksichtslos, launisch! Ich sage das alles mit voller Aufrichtigkeit! Aufrichtigkeit, Offenheit, Klarheit! Aber mit derselben Aufrichtigkeit sage ich Ihnen, daß Sie mir ausgezeichnet gefallen! Wie ich heute nacht so dagelegen habe, in meiner frischen Erinnerung der Tanz mit Ihnen, an meinem Körper habe ich noch immer Ihren Körper gefühlt – wozu reden! Hier bin ich! Das sagt alles! Und Sie? Für wen haben Sie dieses Haus so reizend eingerichtet? Nur für sich selbst? Nein! Ich sage Ihnen, Sie haben es für einen Mann vorbereitet, es ist ein Nest, in das ein Mann einkehren soll – hier ist er! Da bin ich!«

Er verstummte, durchmaß mehrmals schweigend das Zimmer, doch sein Gehirn arbeitete wohl weiter und weiter und schweifte ab; denn als er, wieder vor Blanche stehen bleibend, weitersprach, war's offenbar nur die Fortsetzung stiller Überlegungen, das breite Finale einer langen Gedankenkette. »Ich verdanke meine Erfolge meinem unbedingten Gerechtigkeitsgefühl, das jeder kennt, jeder meiner Arbeiter, jeder meiner Angestellten, jeder, der mit mir zu tun hat, jenem Gerechtigkeitsgefühl, das sich im Geschäftsleben als zuverlässige Solidität, im übrigen Leben als tadellose Korrektheit zeigt, meinen Arbeitern gegenüber zwar als Strenge, die keine Nachlässigkeit und keine Faulheit duldet, aber auch als Zuverlässigkeit und Einsicht in meine Verpflichtungen gegen sie, jenem Gerechtigkeitsgefühl, das sich nach allen Seiten gleichmäßig auswirkt, nach oben und unten, nach rechts und links, kurz, in meinem ganzen Arbeitskreis, ja, ich möchte sagen – da Arbeit und Leben identisch sind – in meinem ganzen großen Lebenskreis!«

Er schloß, einen Augenblick stand er im Leeren, denn es schien ihm nichts weiter einzufallen, und er setzte sich auf Blanche zu in Bewegung. »Und Sie?« fragte er, »Sie sagen nichts?« Er ließ sich auf einen Stuhl nieder. »Nun? Haben Sie gar nichts zu sagen?« Er neigte sich ihr zu, während er nun leiser und inniger sprach: »Ach, Fräulein Blanche, als ich heute nacht dort gelegen habe –! Dieser Tanz, war er nicht herrlich? Ich will, ich wünsche mir, ich habe das Bedürfnis – Sie müssen mich verstehen! Es liegt mir viel daran, daß Sie mich ganz verstehen!«

Als er seinen Arm um ihre Schultern legen wollte, sie aber sich ausweichend zurückbog, fuhr er mit schmeichelndem Ton fort: »Nun? Sagen Sie nichts? Aber Sie müssen doch etwas sagen! Doch nein, gesprochen habe ich, Sie müssen gar nichts sagen!«, und er war schon auf dem Sprung, aus ihrem Schweigen, so wie er es verstand, irgendwelche tätliche Konsequenzen zu ziehen, doch da sie sich auch jetzt noch widersetzte, sprach er weiter, bat sie um ein Wort, munterte sie auf und bedrängte sie.

Sie hüstelte, aber ihre Stimme war in der langen Zeit wie eingeschlafen, und so schüttelte sie nur den Kopf.

»Wie?« rief er, als er dies sah, mit übertriebener Verwunderung und fuhr mit jenem dringlich-schmeichlerischen Ton fort, mit dem man ein Kind zum Reden bringen will: »Wie? Sie wollen nichts sagen? Und warum? Warum wollen Sie nichts sagen?«

Sie hüstelte, suchte nach einem Wort und fand keines, so schüttelte sie nur noch einmal den Kopf. Als er sie schärfer ansah, erkannte er, was diese Bewegung zu bedeuten hatte. »Wie?« rief er in großem Staunen. »So war's gemeint? Und warum? Er wartete auf ihre Antwort, bat sie und drang in sie, doch sie schwieg mit gequältem Gesicht und wußte offenbar nicht, wie sie sich ausdrücken sollte. Er bat und bedrängte sie wie ein Mensch, der glaubt, durch eine offene Aussprache Probleme lösen und Schwierigkeiten aus dem Weg räumen zu können, und der der Meinung ist, daß schon alles gewonnen sein müßte, wenn es nur zu dieser Aussprache käme. Da sie noch immer schweigend verharrte, kam er ihr gleichsam zu Hilfe, wollte ihr die Antwort erleichtern, damit nachher wiederum er antworten und alle Hindernisse oder Schwierigkeiten aus dem Weg räumen könnte: Ob sie einen Geliebten habe? Er glaube doch zu wissen, daß sie keinen habe. Ob sie Vorurteile habe? Das sei doch ausgeschlossen! Ob sie ihn zu wenig kenne? Aber sie werde ihn noch kennenlernen! Ob sie ihn nicht leiden könne, aber er glaubte doch eher das Gegenteil bemerkt zu haben! Sie solle doch sprechen! Ob sie ihm denn nicht dankbar für seine Aufrichtigkeit sei und ob er nicht die gleiche Aufrichtigkeit von ihrer Seite verdiene?

Endlich war sie bezwungen. Sie richtete sich auf, stellte die ein wenig weggestreckten Füße gerade auf den Boden, holte den Kopf von der Wand, holte die Arme zu sich heran, kurz, sie klaubte sich zusammen, begann widerwillig und zerstreut und griff blindlings in ihre durcheinanderschwebenden Gedanken. »Ja, ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Aufrichtigkeit«, begann sie mit ihrer eingerosteten Stimme. »Doch nein, sehen Sie, schon das ist eine Lüge, ich bin Ihnen nämlich gar nicht dankbar. Es ist wahr, Sie haben sich nicht besser gemacht, als Sie sind. Aber das ist schade. Mein Gott, Sie hätten sich getrost die Mühe nehmen können, sich mir zuliebe ein wenig besser zu machen.«

Er saß mit vorgeneigtem Oberkörper und sah sie mit halb geöffnetem Mund an. Seine ganze Haltung schien zu fragen: Wo soll's hinaus? Wo soll's hinaus?

Blanche lehnte sich wieder an und bog den Kopf ein wenig zurück. Sie sagte aufs Geratewohl, was ihr durch den Kopf ging, und allmählich kam sie in Fluß. Was lag ihr an diesem Mann, der da vor ihr saß! Doch war in ihrer langsamen, eintönigen Sprache die Müdigkeit von zehn Jahren ihres Lebens. Es war deutlich, daß sie nur redete, weil sie von ihm dazu gezwungen wurde, und im Grunde wandte sie sich gar nicht an ihn, sondern sprach nur mit sich selbst oder in die Luft: »Wieviel müssen Sie von sich halten, daß Sie glauben, es sich leisten zu können, alle Ihre Fehler einzugestehen! Es ist wahr, Sie haben sich nicht besser gemacht, als Sie sind. Wie schade, wie schade! Sie hätten mir nicht sagen müssen, daß Sie rücksichtslos, ein Egoist und ein Barbar sind! Sie dürfen mir nun nicht böse sein –: am Ende hätte ich das alles selbst bemerkt. Sie hätten mir nicht sagen müssen, daß Sie ohne Frau nicht leben können; denken Sie, das hätte ich selbst erraten. Sie hätten mir sagen müssen, daß Sie an die Liebe glauben und daß Sie wohl ohne Frau leben können, nicht aber ohne mich, da Sie mich nun einmal kennengelernt haben! Ich möchte nur wissen, was Sie hindert, sich ein wenig angenehmer zu machen, ein wenig dem andern zu schmeicheln! Ich weiß, Aufrichtigkeit gehört zu Ihren obersten Prinzipien. Sind Sie wirklich immer und unter allen Umständen so aufrichtig?

Die Liebe, sagen Sie, ist ein Geschäft, Sie müssen es ja wissen, gut, aber die eigentliche Ware, die bei diesem Geschäft ausgetauscht werden soll, ist doch eben die Liebe. Aber es gibt ja gar nicht die Liebe, sagen Sie, auch das glaube ich Ihnen, ich glaube Ihnen alles, aber, mein Gott, dann bleibt doch immer noch als der wichtigste Ersatz für diese Ware der Glaube an die Liebe. Ich weiß, was Sie sagen wollen, zu Ihren obersten Prinzipien gehören auch Offenheit und Klarheit, und an etwas zu glauben, das es nicht gibt, ist Illusion, Betrug und Selbstbetrug, ja, aber sehen Sie, wir brauchen diesen Betrug, diese Illusionen, sie führen uns in die Wirklichkeit hinüber, wir brauchen sie als Übergang. Aber ja, wir kennen auch die Wirklichkeit, wir müssen uns nur erst an sie gewöhnen, aber gar, sich nicht erst an sie gewöhnen müssen, sondern sie hinnehmen, als wäre sie schön und gut, sich im voraus zu ihr bekennen, das wäre das einzige, das noch häßlicher wäre als die Wirklichkeit selbst.

Was ist es nur, das Sie hindert, ein wenig zu lügen und zu heucheln! Ja, wenn ich wüßte, daß es die Moral ist, die Sie daran hindert, aber ich glaube immer, es ist etwas anderes, irgendeine Überzeugung, irgendeine Weltanschauung, die die Liebe leugnet. Und dabei, wenn Sie Illusionen in mir erweckt hätten, wer weiß, vielleicht hätte ich mich diesen Illusionen hingegeben, vielleicht hätte ich mich an sie geklammert, vielleicht hätte ich nie mehr von ihnen gelassen, aus Liebe, aus dem Glauben an die Liebe, aus Bedürfnis nach Liebe oder wie Sie es nennen wollen – denken Sie, was Sie für ein Gott für mich geworden wären! Und am Ende wäre es Liebe gewesen! Aber Sie sagen, man liebt nie den anderen Menschen, man liebt immer nur die Liebe oder was man so nennt – gut, ich glaube es Ihnen, ich glaube Ihnen alles, aber dann kommt's doch immer noch darauf an, ob man die Liebe auf zärtliche und zarte oder auf gemeine und rohe Weise liebt; tut man's nämlich auf zärtliche Weise, dann kommt die Zärtlichkeit auch jenem Menschen zugute, den man begehrt oder den man besitzt oder mit dem man lebt. Es fällt etwas für ihn ab. Wenn Sie wüßten, welchen Zauber schon das Wort Liebe ausüben kann, schon das Wort! Warum nur die Männer nicht das kleine Opfer auf sich nehmen, in ihren eigenen Augen ein wenig geschmacklos zu werden, indem sie es aussprechen! Aber genug! Dabei habe ich gar nicht mein kindisches Versprechen gehalten, aufrichtig alles zu sagen, was ich denke, weil es mir wichtiger ist, Sie doch noch ein wenig zu schonen. Ich möchte nicht, daß Sie mir beweisen, daß alles, was ich gesagt habe, falsch und ein Unsinn ist. Ich glaube es Ihnen, aber ich möchte nicht die Beweise dafür hören, denn Sie müssen sich vorstellen, daß mir eine Debatte unerträglich wäre!«

»Aber sagen Sie mir nur das eine –!«

»Nichts! Weder das eine, noch das andere! Nichts!«

Er sah sie ratlos an. Da sie zu sprechen begonnen, hatte er sich ihr bereitwillig zugeneigt, wie ein Mensch, der entschlossen ist, geduldig alles anzuhören, um es dann zu einer freien, aufrichtigen Aussprache kommen zu lassen, die zur Einigung führen muß. Doch allmählich ward ihm das Postament, auf dem er gestanden hatte, unter den Füßen weggezogen, und da er auf der Erde angelangt war, mochte jedes ihrer Worte wie Stich um Stich in ihn gedrungen sein. Über den Fluß seiner Rede war der Frost gekommen. Mit einem schwachen Versuch, trotzig zu sein, fragte er tonlos: »Wollen Sie mir auch noch verbieten, zu antworten?«

Die Zeit, die zwischen einer Prophezeiung und ihrer tatsächlichen Verwirklichung vergeht, gleicht nachher einem geraden, übersichtlichen Weg, jene aber, die zwischen eine Prophezeiung und den Moment gelegt ist, in dem erwiesen wird, daß sie falsch gewesen, gleicht einem Nebel und Dunst, der alles verhüllt, eine Tatsache übrigens, unter deren Schutz viele Publizisten und Politiker ihren gefahrlosen Beruf ausüben. Heinzfurth hatte verkündigt und vorausgesagt, daß sie, ob sie es nun schon wisse, glaube, wolle oder nicht, seine Geliebte werden würde. Aber, ach, es war ihm etwas widerfahren, was selten einem Propheten widerfährt: daß schon dem letzten Wort seiner Prophezeiung, während seine Lungen noch aufgepumpt waren, wie ein Schlag auf den noch offenen Mund der Beweis folgte, daß sie nicht zutraf und nie zutreffen werde. Es gibt gewisse Dinge, die weder mit einem kleinen Sieg oder einer halben Niederlage noch mit einem Unentschieden enden können, sondern nur mit einem gewaltigen Triumph oder einer vollkommenen Blamage. Und tatsächlich, die Szene war so gut wie beendet, denn daß er, der so kräftig gesprochen hatte, nun ein männliches »Und dennoch!« ausrufen würde oder ein lyrisches »Erhöre mich, Geliebte!« – das konnte niemand annehmen.

Sie kümmerte sich nicht um seine letzten Worte und fragte ihrerseits: »Sie waren drüben bei Ihrem Freund Schröder?«

»Ja.«

»Und Sie haben ihm gesagt, daß Sie zu mir gehen?«

»Ja«, gab er staunend, doch gehorsam Auskunft.

»Und Sie gehen wieder hinüber zu ihm?«

»Ja.«

»Nun, dann sagen Sie ihm, bitte, daß Sie mich zwar hier gefunden haben, daß ich aber nicht allein gewesen bin, der Gärtner sei bei mir gewesen – er war übrigens tatsächlich vorhin bei mir – und daß Sie sich deshalb wieder davongemacht haben.«

»Aber warum soll ich das alles sagen?«

»Mein Gott, Sie müssen Ihrem Freund doch erklären, warum Sie unverrichteter Dinge weggegangen sind, und ich bin ein wenig eitel, wie alle Frauen, und möchte mir ersparen, daß Sie gezwungen sind, ihm zu sagen, mein Anblick bei Tageslicht hätte Sie enttäuscht, ich habe zwar eine gute Gestalt, sei aber doch nicht hübsch genug, und daß Sie deshalb wieder geflohen sind.«

Er versuchte, mit einem »Aber« zu antworten, doch sie unterbrach ihn nochmals und meinte, daß sie nun von anderen Dingen sprechen wollten. Das wäre doch eine lächerliche Komödie, antwortete er, und es sei wohl besser, daß er sich verabschiede, wenn er ihr nicht antworten dürfe; dies allerdings sei eine große, große Ungerechtigkeit. Blanche hielt ihn nicht zurück, dennoch blieb er sitzen, als ob er auf seinem Stuhl angeklebt wäre.

Er mochte sich erholt haben und allmählich wieder zu Kräften gekommen sein. Kein Zweifel, Tausende und Tausende von Worten reiften in ihm. Eine Erörterung und Widerlegung all dessen, was sie gesagt, schien ihm unabwendbar notwendig zu sein. Wie sind solche Gespräche angefüllt mit Sätzen wie diesen: »Sie haben mich mißverstanden!« – »So habe ich es nicht gemeint!« – »Das habe ich nicht gesagt!« – »Sie verdrehen meine Worte!« – Aber was hilft das alles, entweder sind diese Klagen und Vorwürfe unberechtigt und stellen nur einen schamlosen Versuch des Geschlagenen oder Schwächeren dar, sich selbst nachträglich zu verleugnen, oder aber sie bestehen zu Recht, denn der eine Partner verändert wirklich oft, was er gehört hat, indem er es noch übertreibt, er mißversteht tatsächlich Nuancen, der andere hat wirklich dies nicht gesagt, jenes ein wenig anders gemeint, aber was hilft das alles, dieses vielfältige halbe Mißverstehen ist ja schon ein Beweis für das ganze Nicht-Verstehen. Dies alles aber mochte er nicht begreifen, und so hoffte er noch auf eine Debatte, die mit gutem Willen, Logik und Vernunft alle Widersprüche in ihren Anschauungen auflösen sollte.

»Ich habe heute«, sagte Blanche, »für meinen Vater einen telephonischen Bericht aus seiner Kanzlei aufgenommen, und dabei habe ich auch Ihren Namen gehört.«

»Ja«, antwortete er. »Ich wollte mit ihm sprechen.«

»War's etwas Wichtiges? Er ist krank und muß zu Hause bleiben. Er hatte heute nacht einen Herzanfall. Wir hatten am Abend Gäste, er war lustig und guter Dinge, wollte sogar noch ausgehen, kaum aber hatten sich die Gäste verabschiedet, kam die Attacke über ihn. Es ist schrecklich. Meine arme Mutter war allein mit ihm. Als ich nach Hause kam, war es schon fast vorbei.«

»Und wie geht es ihm heute?«

»Etwas besser, aber er wird mindestens einige Tage nicht ins Büro kommen dürfen, wenn er nicht überhaupt wird wegfahren müssen. Die Ärzte verlangen es, er weigert sich allerdings noch. Aber hoffentlich werden wir ihn doch noch dazu bringen. Selbst wenn es ihm der Arzt erlauben sollte, aufzustehen, wäre er noch zu schwach dazu. Mindestens morgen und übermorgen wird er noch liegen müssen. Aber ich sehe es jetzt schon: sobald er nur schnaufen kann, wird er aufstehen, ausgehen, ins Büro fahren und sich überanstrengen. Es ist immer dasselbe: er vergißt, wie alt er ist, und sobald eine Attacke vorüber ist, vergißt er seine Krankheit.«

»Ist er denn ernstlich krank?«

»Ernstlich, wenn er sich nicht schont und das ihm gemäße Leben führt, aber gar nicht ernstlich krank, sondern fast ein gesunder Mensch, der sich nur schonen muß – wenn er sich eben schont. Meine arme Mutter! Wenn sie es versucht, ihn zur Vernunft zu bringen, ist er so ärgerlich und aufgeregt, daß sie mit ihren Ermahnungen nur das Gegenteil erreicht. Sie weiß gar nicht, was sie tun soll!«

Sie sprach ohne Unterbrechung. Kein Zweifel, sie war entschlossen, dieses ergiebige Thema nicht aus der Hand zu geben, es auszuschroten und bis auf die Neige auszuschöpfen. So gehe es seit Jahren, erzählte sie, ihre Mutter erkenne den nahenden Herzanfall früher als er selbst; wenn sie ihn ermahne, sich zu schonen und ruhig zu verhalten, folge er ihr nicht, wenn aber der Herzanfall dann da sei, gebe er sich nicht selbst die Schuld, nein, er drehe es noch um und behaupte, daß sie mit ihren Ermahnungen die Attacke nur herbeigeführt und ihm suggeriert habe. So sei es auch vor einem Monat gewesen, ja, genau heute vor einem Monat, sie erinnere sich genau.

Heinzfurth erhob sich; hoffentlich erhole sich Doktor Riedinger schnell, er lasse ihm gute Besserung wünschen.

»Danke! Ich werde es ihm ausrichten. Soll ich ihm sonst etwas sagen? Wenn es sich um etwas sehr Wichtiges handelt, können Sie ihn ja in der Wohnung anrufen. Sonst aber wenden Sie sich getrost an Doktor Feding!«

»Ja, danke, das will ich tun!«

Er verabschiedete sich. Sie folgte ihm in den Vorraum. Dort wandte er sich nach ihr um und sah sie an, als wollte er wenigstens noch einige Worte an sie richten; sie aber sagte: »Wenn Sie weggehen, sehen Sie sich bitte nicht um! Seitdem der Gärtner hier gewesen ist, schäme ich mich des Gartens. Er hat mich ausgezankt, weil er so verlottert ist, und da ist es mir erst ganz zu Bewußtsein gekommen. Es ist ja auch tatsächlich skandalös, und ich möchte am liebsten niemand zu mir lassen, solange er in diesem Zustand ist. Aber wir beginnen jetzt mit der Arbeit, und noch im Frühling wird er hoffentlich menschenwürdig oder eigentlich gartenwürdig oder naturwürdig aussehen oder wie man sagen soll.«

Er hatte den Mantel angezogen. Sie sprach und sprach und plapperte. Er öffnete die Haustür. Auf der Schwelle wandte er sich nochmals nach ihr um. »Hier aus dieser Sandwüste«, sagte sie und wies hinaus, »wird ein Rasen werden, ringsherum wird ein schmaler Weg führen, der an seinem Rand von einem Blumenstreifen eingefaßt sein wird. Das Schönste sieht man aber von hier aus gar nicht. Dort hinten, in dem Urwald, ist eine herrliche Wiese, sie ist ganz von Bäumen und Sträuchern umrahmt. Man wird dort wie in einem Saal unter freiem Himmel sein. Vor allem aber muß der ganze Garten umgegraben und gereinigt werden, es ist ja alles ganz verrottet, all das Mistzeug muß verbrannt werden, es ist ja nur fürs Ungeziefer gut, der Garten muß sozusagen gründlich aufgeräumt und dann erst neu angelegt werden.«

»Der ganze Garten?« Er ließ die Blicke schweifen. »Das wird ein tüchtiges Stück Geld kosten!«

»Ja, deshalb soll's auch nur nach und nach geschehen. Der Gärtner hat auch gesagt, daß es sehr teuer sein wird. Deshalb dachte ich vorhin, daß ich eben nur allmählich vorgehen und jedes Jahr nur um ein Stück vordringen sollte, um es urbar zu machen.«

»Nun«, und er richtete sich mit einer gewissen Entschlossenheit auf, »hoffentlich wird es so schön, wie Sie sich's wünschen!«

»Hoffentlich! Ich werde natürlich viel Geduld haben müssen und fleißig sein!«

Er streckte ihr die Hand entgegen: »Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen!«

Er reckte sich zu seiner ganzen Größe auf und schritt davon. Als ob er zeigen wollte, daß nichts an ihm verletzt sei und daß es nur einer Bewegung bedürfe, diese Affäre abzuschütteln, warf er den Kopf zurück und ging gemächlich in aufrechter, stolzer Haltung den Weg zurück, den er gekommen war, mit lauten, trotzigen Schritten, die zu sagen schienen: Bitte sehr! Ich kann verzichten! Bin ich es etwa, der hier zu bedauern haben wird?

Heinzfurth war nicht sehr lange drüben gewesen, und so war Schröder erstaunt, ihn abermals und nach verhältnismäßig kurzer Zeit bei sich zu sehen. Er begrüßte ihn mit einem erwartungsvollen »Nun?«, und Heinzfurth gab seinen Bericht ab und sagte, was Blanche ihm souffliert hatte: daß er sie nicht allein angetroffen habe, daß der Gärtner bei ihr gewesen und daß es zum Verrecken langweilig gewesen sei, den blödsinnigen Debatten über Veilchen, Nelken und Stiefmütterchen zuzuhören.

»Um so besser!« sagte Schröder und fragte, was denn nun aus der Baracke geworden sei, um die sich Blanche damals so gerissen habe. Heinzfurth lobte des Langen und Breiten das kleine Haus und sprach von seiner reizenden, versteckten, weltabgeschiedenen Lage.

»Erinnerst du dich?« fragte er. »Ich hatte damals die Idee, daß wir es mieten und ein Absteigequartier daraus machen. Donnerwetter, ist es nicht schade, daß wir es nicht getan haben?«

»Ja, es ist sehr schade«, stimmte ihm Schröder zu, »ich habe oft daran gedacht.«

»Übrigens«, fuhr Heinzfurth fort und kratzte sich, wie in Verlegenheit, hinterm Ohr, »ich muß dir ein Geständnis machen: ich glaube, ich habe mich blamiert! Ich bin nämlich sehr froh, daß dieses Fräulein Riedinger nicht allein gewesen ist! Sie hat zwar eine gute Gestalt und tanzt brillant, sonst aber –«, und er unterzog Blanche im ganzen und im einzelnen einer eingehenden Beurteilung, sie mit fachmännischer Schärfe kritisierend.

Da es nicht nur zur Freundschaft gehört, die Wahrheit zu sagen und zu hören, sondern auch gewisse Lügen schonungsvoll gleichsam zu legalisieren, sagte Schröder: »Mein Lieber, ich war überzeugt, daß du enttäuscht von ihr zurückkommen würdest. Ich nehme nämlich an, daß du in der Nacht besoffen warst!«

»Wahrscheinlich«, meinte Heinzfurth lachend. »Wahrscheinlich! Schnaps her!« schrie er, schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und schüttelte sich vor Lachen über seine nächtliche Betrunkenheit.

Als ob Schröder nun nach dem Streit mit seiner Sekretärin seine Reputation wiederherstellen und sie vor seinem Freund, vor dem sie so unmäßig keck gewesen, auch bestrafen wollte, klingelte er nach ihr und sagte, sobald sie in die Tür getreten war, streng, ganz von obenher und ohne erst nach ihr hinzusehen, wie wenn sie eine Fremde und eine beliebige kleine Schreibmaschinistin gewesen wäre: »Den Brief an Fräulein Riedinger!« Heinzfurth grinste, und seine Blicke gingen von Schröder zu ihr, von ihr zu ihm zurück.

»Den Brief an Fräulein Riedinger? Einen Augenblick, bitte!« sagte die Sekretärin, trat wieder von der Schwelle und verschwand. Die beiden Männer zwinkerten einander zu und warteten, mit welcher Ausrede sie zurückkommen würde, warum sie ihn nicht bringe; doch die Sekretärin ging in ihr Büro, nahm den Brief, denn sie hatte ihn inzwischen längst gefunden und auf diesen Augenblick nur gewartet, legte ihn, zu seiner Überraschung und sicherlich zu seiner Enttäuschung, vor Schröder, sagte schnippisch: »Hier ist das Gewünschte, Herr Prokurist!« und verließ wieder, während sie, wie in geheimem Einverständnis, zu Heinzfurth hinüberblinzelte, das Zimmer, siegesgeschwellt und im Gefühl, ihren Chef, der ihr Geliebter war, tödlich getroffen zu haben. Wie rauschte wild der Urwald der kleinen Gefühle!

Schröder starrte einen Augenblick fassungslos auf das Kuvert, und Heinzfurth brach abermals in unbändiges, grölendes Gelächter aus, doch dann griff er neugierig nach dem Brief. »Donnerwetter!« rief er und legte ihn auf die flache Hand, als ob er ihn wiegen wollte. »Donnerwetter, das ist aber einmal ein langer Brief!« Tatsächlich, das grau-grüne, billige Geschäftskuvert war unmäßig dick und mußte sehr viele Bogen enthalten. Heinzfurth drehte es um und warf einen Blick auf die Absenderadresse. »Klarens«, las er. »Klarens?« wiederholte er. »Ist das der alte Klarens?«

»Wahrscheinlich«, antwortete Schröder. »Hier, dieses Zimmer, in dem wir sitzen, war einmal sein Rauchsalon.«

 

Der Brief an Blanche, der hier schon einige Zeit lag, kam wirklich von jenem alten Herrn Klarens, der einmal der Besitzer des ganzen Grundstückes gewesen war und zu dem vor zwei Jahren Blanche in der irrigen Meinung, daß er noch immer der Besitzer sei, geeilt war, um ihm das Kutscherhäuschen abzumieten.

In derselben winzigen Wohnung wie damals vor zwei Jahren lebte Herr Klarens auch jetzt noch. So unfreundlich und mißtrauisch, wie er Blanche begegnet war, begegnete er allen Leuten, und eine so miserable Meinung wie vom ersten Augenblick an über sie hatte er von Anbeginn über jeden, der ihm vor die Augen kam. Verbannt zwischen das Pack und das Gesindel dieser Kleinbürgersiedlung, war er ein Königsadler mit gebrochenem Flügel, ein Wolf auf drei Beinen, eine Schlange voller Gift, doch ohne Zahn, er, der Patrizier, zwischen diesem Pack und Gesindel, das glaubte, er wäre seinesgleichen, nur weil auch er in dieses vollgestopfte Mietshaus eingepfercht war, und dessen dreckiger Intimität er sich kaum erwehren konnte. War doch vor einem Jahr, es war ihm unvergeßlich, an seiner Wohnungstür seine Nachbarin erschienen, die Frau des Friseurs aus der Quergasse, und hatte gebeten, Frau Klarens möge ihr bis morgen mit einem Pfund Mehl aushelfen, tatsächlich und wirklich mit einer langen gemütlichen Erzählung, was sie koche und backe und wieso ihr selbst das Mehl ausgegangen sei!

Gehässig umflüstert und ehrfurchtsvoll gegrüßt, schritt er voll Hochmut durch das Haus, doch was half's, sie zerrte an ihm, diese Gesindelwelt, um ihn zu sich herabzuziehen und damit er in ihr aufgehe wie ein Tropfen in einem widerlichen Brei. Noch lag ihm ein Vorfall in allen Gliedern, der sich jetzt erst, vor wenigen Wochen, zugetragen hatte: an einem Abend hatte es geschellt, und da er geöffnet, sah er sich zwei Männern gegenüber, die er vom Ansehen kannte, einem Tischler mit langem, wallendem, braunem Bart, der unten seine Werkstatt hatte, und dem buckligen Besitzer des winzigen Zigarrenladens an der Ecke; sie hatten ein gewichtiges Betragen an den Tag gelegt, sich gleichsam als Deputation gegeben und ihn zu einer Versammlung sämtlicher Mietparteien eingeladen, da sie wegen der mangelhaften Heizung über ein gemeinsames Vorgehen gegen den Hausbesitzer beraten wollten. Obwohl er ihnen antwortete, daß er mit der Heizung zufrieden sei und also mit der Sache nichts zu schaffen habe, ließen sie nicht ab und rückten erst mit ihrer eigentlichen Mission heraus: sie wollten ihn nämlich, vertraulich und halb privat, in ihrem und im Namen eines Teils der Bewohnerschaft, der zweifellos den intelligenteren Teil darstelle, jetzt schon bitten, bei der bevorstehenden Versammlung die Zügel in die Hand zu nehmen, damit die Aktion tüchtig in Gang komme; sie selbst und jener Teil der Bewohnerschaft würden schon dafür sorgen, daß er zum Vorsitzenden gewählt werde; er habe doch aus seiner Vergangenheit Übung, Sitzungen zu leiten; darüber hinaus aber sprachen sie die Hoffnung aus, daß er, als der intelligenteste und gebildetste Mieter und als die imposanteste Erscheinung, auch dem Hausbesitzer gegenüber als ihr Vertrauensmann auftreten werde, mit ihnen beiden gemeinsam natürlich, so daß sie drei miteinander sozusagen den Ausschuß bilden würden, der die sechsundvierzig Familien mit insgesamt über zweihundert Personen nach außen hin vertrat. Auch sonst sei ja ein solidarischer Zusammenhalt wegen der vielen Mißstände notwendig, an denen allerdings in vielen Fällen die Bewohner selbst die Schuld trügen; so hätten manche von ihnen die Gewohnheit, erst nach der Vorüberfahrt des Müllwagens die Mülleimer vors Tor zu stellen, so daß diese fast volle vierundzwanzig Stunden dort stehen, das Haus verschandeln und übrigens Unglücksfälle verursachen können, wie er selbst, Herr Klarens, am besten beurteilen könne, da er ja am letzten Mittwoch, um elf Uhr nachts, beim Nachhausekommen mit dem Schienbein gegen solch einen Eimer gestoßen sei. Woher sie denn das wüßten, fragte er. – Ach, antworteten sie, das wisse doch jeder im Haus, es sei sehr viel darüber gesprochen worden.

Sie hatten, der Tischler mit dem wallenden Vollbart und der bucklige Zigarrenverkäufer von der Ecke, ihre Rede gut eingelernt und waren nicht zu unterbrechen gewesen. Klarens ließ sie, die auf ein vertraulich-ernstes, Parteien und Gegenparteien gründendes Gespräch in seinem Wohnzimmer gerechnet hatten, auf dem Hausflur stehen und schüttelte sie ab, indem er sich nur hie und da ein rauhes Wort abrang und bevor sich sein Inneres aus seiner Erstarrung zu einem Wutausbruch gelockert hatte. Die kommende Nacht aber war für ihn voll Unruhe, er sprach und schrie aus dem Schlaf, und immer wieder hörte Frau Klarens seine scharfen Rufe: »Geehrte Schmeißfliegen!« – »Schreiben Sie, Fräulein! Im Namen von über zweihundert ungeheiztem Ungeziefer –!« und: »Es ist die Hölle, es ist die Hölle!«

So fristete Herr Klarens sein Dasein, so litt er, doch hinter seinem Rücken ging das Leben weiter. Als Herr Miklas, ein fleißiger und zäher Mann, hinter dessen kleinbürgerlichem Gehaben sich vielleicht mehr Schlauheit verbarg, als man ahnte, zum Konkursverwalter des Klarensschen Vermögens bestellt worden war, hatte er mit Klarens aufrichtiges Mitleid empfunden als einem alten Patrizier, dessen Reichtum, schon von Erben ererbt, nicht mehr den Geruch der frischen Beute an sich hatte, sondern, schon mit Patina überzogen, sozusagen adeliges Geld darstellte und dessen Abfall ins Elend deshalb um so erschütternder auf ihn wirkte. Auch noch der Anblick des toten Löwen hatte in ihm Schauer der Ehrfurcht erregt.

Gewiß, Miklas durfte nicht den Wunsch haben, zugunsten des Herrn Klarens die Gläubiger zu schmälern, aber er vergaß nie, daß er diesen Wunsch gehabt hätte, wenn er ihn hätte haben dürfen. Bei der verworrenen Sachlage, bei der Größe der Klarensschen Unternehmungen und bei der sich daraus ergebenden Größe des Zusammenbruchs war die Erledigung der Angelegenheiten äußerst schwierig. Deshalb wurde er einerseits bei seiner Arbeit von einigen früheren Freunden des Herrn Klarens unterstützt, andererseits nahm aber dennoch die Abwicklung Jahr um Jahr in Anspruch, und immer noch ein Jahr, so daß allmählich die meisten der Gläubiger die Geduld verloren und sich lieber, indem sie auf alle weiteren Ansprüche verzichteten, mit einer kleinen Abschlagszahlung zufrieden gaben, anstatt, was doch immerhin möglich wäre, wie man ihnen andeutete, am Ende gar nichts zu bekommen. Später wurde für die in Auflösung begriffenen Klarensschen Unternehmungen die Lage dadurch begünstigt, daß einige der Schulden an sie selbst, die Herr Miklas nicht für eintreibbar gehalten hatte, von ihm doch hatten eingetrieben werden können. Schließlich blieben gleichsam nur zwei Großmächte übrig: ein großes Minus und ein großes Plus, dort die reduzierte, doch in ihrer Höhe endgültig festgelegte, Schuld an eine Bank und hier der Klarenssche Grundbesitz in einer Gegend der Stadt, in der der Boden am teuersten war. Dieses Besitztum war bisher unverwertbar gewesen, da die Industriegesellschaft, die als wohlinstallierte Mieterin in der ehemaligen Villa festsaß und deshalb vor allem als Käuferin in Betracht kam, dennoch von einem Kauf nichts hatte wissen wollen. Aber jetzt war es Miklas endlich doch gelungen, sie zu ernsteren Verhandlungen zu bringen, und nun galt es, jenes Plus und jenes Minus in ein befriedigendes Verhältnis zu bringen. Die Kaufsumme soweit zu erhöhen, daß sich ein Überschuß für Herrn Klarens gebildet hätte, wollte Herrn Miklas nicht gelingen, so daß er schnell alle derartigen Bemühungen aufgab, ganz abgesehen davon, daß diese Transaktion mit ihrem sichtbar günstigen Resultat denn doch den einen oder anderen der früheren Gläubiger noch nachträglich hätte verärgern können. Die Gesellschaft konnte nicht mehr an Geld, wohl aber konnte sie Geldeswert opfern. Miklas Vorschlag, das Grundstück um ein Teilchen zu beschneiden, war nicht undiskutabel, schließlich wolle die Gesellschaft, so setzte er den Herren, die sie vertraten, auseinander, weder Terrainspekulationen treiben noch etwa inmitten der Stadt eine Landwirtschaft begründen sondern nur eigenes Bürohaus auf eigenem Grund besitzen, ob dieser nun um einige Quadratmeter größer oder kleiner sei, ob irgendein an eine Seitengasse grenzender Winkel, den ja doch niemand betrete, ob dieses Abschnitzel zu ihm gehöre oder nicht, sei nicht der Rede wert. Man zwinkerte und blinzelte ihm verständnisvoll zu, schließlich gab man nach, und die Verträge wurden geschlossen. Nachher lachte man, sehr gut habe er es gemacht, sagten ihm zum Abschluß die Herren, ausgezeichnet, nur dürfe er sie jetzt nicht für Trottel halten, denn sie wüßten natürlich sehr gut, daß jenes Abschnitzel, wie er es zu nennen beliebe, mehr wert sei als ein großes Schnitzel!

Da sich Klarens in seinem Trotz für desinteressiert an jenen Angelegenheiten erklärt hatte, die früher die seinen gewesen, über den Stand der Dinge gar nicht informiert werden wollte und der Bitte des Konkursverwalters um einen Besuch nur widerstrebend, meistens erst nach ein- oder zweimaliger Wiederholung der Aufforderung nachzukommen pflegte, entschloß sich Miklas an jenem Tag, da alles sichtbar zum Abschluß gebracht war, obwohl es schon auf den Abend zuging, selbst den alten Mann aufzusuchen, um ihm die gute Nachricht so schnell wie nur möglich zu überbringen.

Von seiner Langeweile gequält und voll von Mißtrauen, öffnete Klarens, wenn die Glocke schellte, immer selbst die Wohnungstür, um Bettlern, um Auskunft bittenden Leuten und anderem zweideutigen Gesindel sofort und ohne langes Fackeln, wie er sagte, die Tür vor der Nase zuschlagen zu können. So hatte denn Miklas gleich den Siebzigjährigen vor sich. Zwar hatte Klarens allmählich und halbwegs eingesehen, daß Miklas nicht sein Feind war, doch sah er ihn, als einen Boten aus der feindlichen Welt, nicht gern.

Miklas eröffnete ihm mit einer gewissen Feierlichkeit, daß nun endlich, endlich seine Tätigkeit abgeschlossen sei, und machte ihm Mitteilung von dem, angesichts der gegebenen Umstände, immerhin günstigen Resultat, daß ihm, Klarens, denn doch zum Schluß ein gewisser Teil seines Vermögens verbleibe, ein Teil seines Grundbesitzes, jener Teil des Gartens, in dem, er werde sich erinnern, das Gärtnerhäuschen stehe.

Klarens schwieg, er zeigte weder Freude noch Überraschung, sein Gesicht blieb unbewegt. Vergebens wartete Miklas auf den Dank. Endlich fragte Klarens: »Und in welchem Zustand ist die Baracke?« Das wisse er nicht, und darauf komme es wahrlich nicht an, antwortete Miklas, vielmehr nur auf das Grundstück selbst und dessen Wert, über den sich auszubreiten er sich anschickte, doch Klarens unterbrach ihn und rief, ihn interessiere nur die Baracke.

Er ging auf und ab, überlegte und warf nur hie und da knurrend eine Frage hin: ob dies nun endgültig sei, ob er sich, bei der Niedertracht der Menschen, darauf verlassen könne, ob er diesen Fetzen von seinem alten Grund und Boden und das Haus nun tatsächlich und praktisch in Besitz nehmen dürfe. Es sei alles in Ordnung gebracht, geregelt und erledigt, gab Miklas Auskunft, nur einige Unterschriften des Herrn Klarens seien nötig, damit es in Rechtskraft trete; inzwischen aber könne er es getrost schon als rechtskräftig betrachten.

Wie teuer wohl, fragte Klarens, die Herrichtung der Baracke bis zu ihrer Bewohnbarkeit wäre. Darüber allerdings konnte Miklas keinen Bescheid geben; es sei auch, fügte er hinzu, indem er abermals vom Wert des Grundstücks zu sprechen versuchte, eine überflüssige Sorge, man sollte eher danach fragen, wie teuer ihre Abtragung sein würde. Doch Klarens rief voll Strenge, Herr Miklas möge es ihm überlassen zu beurteilen, welche Sorge überflüssig sei und welche nicht. Er werde übersiedeln, und wenn die Baracke auch nur aus einem Loch bestehen sollte, das könne er, der Herr Konkursverwalter, vielleicht nicht verstehen, es genüge, daß er, Herr Klarens, es verstehe. Hinaus aus dieser Heringsschachtel! rief er, schlug auf den Tisch und verabschiedete kurzerhand Herrn Miklas.

Als er allein war, ging er einige Zeit auf und ab, dann rief er seine Frau aus der Küche zu sich und teilte ihr mit, daß sie übersiedeln würden. Ihr blieb der Atem stehen.

»Wohin?« hauchte sie. »Wann?«

»Selbstverständlich morgen!« schrie er sie an, doch das war natürlich eine Übertreibung. Er teilte ihr mit knappen Worten das Notwendigste mit; sie würden, und zwar allerschleunigst, übersiedeln, morgen solle mit den Vorbereitungen begonnen werden, und wenn es drüben auch nur ein Mauseloch wäre. Sie allerdings glaubte sich zu erinnern, als sie einmal die kranke Frau des Gärtners besucht habe, mehrere Räume gesehen zu haben. Er fand dies gleichgültig, gab ihr immerhin einige Tage Frist zur notdürftigen Instandsetzung des Hauses und beauftragte sie, in Erfahrung zu bringen, welcher Spediteur der billigste sei. Die Miete hier sei so und so bezahlt, und sie möge verfallen.

Am nächsten Morgen machte sich Klarens auf, um, von seiner Frau begleitet, den Rest seines Besitzes, das ihm verbliebene Grundstück und das kleine Gebäude, zu besichtigen. Frisch rasiert und ausrasiert, mit straffem, wohlgepflegtem Körper, penibel und adrett in seinen all die Jahre über geschonten und nur für den Ausgang bestimmten Kleidern, wirkte er, zwar um die verlebte Zeit gealtert und vom Hauch einer vergangenen Mode umweht, im übrigen nicht anders als vor zehn Jahren. Das Monokel vor dem Auge, streng und hochmütig über alles hinwegsehend, schritt er durch die Straßen und betrat durchs breite Tor sein ehemaliges Besitztum. Er ging unbewegt vorwärts, vor sich die schloßartige Villa, die er ignorierte wie einen früheren Freund, über den man hinwegsieht, weil man für immer von ihm beleidigt worden ist, und bog, vor der Rampe angelangt, nach links ein. Er wußte nicht genau, wo sein Gärtner gewohnt hatte, denn er hatte jenen abgelegenen Teil des Gartens fast nie aufgesucht, doch kannte er die allgemeine Richtung, und sein Instinkt, die halbe Erinnerung führten ihn den richtigen Weg.

Seine Frau fragte ihn, ob er den Schlüssel zum Gärtnerhaus habe. »Wo sollte ich ihn denn herhaben?« antwortete er. »Miklas hat mir ihn doch nicht gegeben! Schöne Wirtschaft! Übrigens«, fügte er mit bitterem Lachen hinzu, »werde ich wohl kaum einen Schlüssel brauchen. Zehn Jahre! Ich werde wohl den ganzen Plunder mit einem Fußtritt öffnen!«

Die gepflegten Wege verloren sich unter Moos und Laub, der Rasen verschwand unter den verdorrten Zweigen der Büsche, den abgefallenen Nadeln der Bäume; der Lärm der Stadt verklang. Sie durchschritten, zwischen dem Park und Blanches Revier, die neutrale Zone, sozusagen das Niemandsland. Frau Klarens sah sich befangen um, während er strenge Blicke auf seine Umgebung warf, sich weder durch die Stille noch durch die Einsamkeit milder stimmen ließ und immer mit gleichen, selbstbewußten Schritten einherging, so daß die Laubschicht, seit zehn Jahren nur manchmal vom Wind durchzogen, nur manchmal mit ihren aufflatternden und wieder sinkenden Blättern aufgewirbelt, unter seinen Füßen in monotonem Rhythmus einen rauschenden Gesang anhub und die Zweige knackten, der eine leise unter der Blätterschicht und wie aus weiter Entfernung, der andere laut und krachend, als wollte er aufschreien: Ich bin zerbrochen!

In den Kreis der Ulmen, zwischen zwei der Stämme tretend, sahen sie, bevor sie es noch erwartet hatten, das kleine Gebäude vor sich. Frau Klarens atmete erleichtert auf: »Nun, ich habe es mir schlimmer gedacht«, sagte sie. Ihr Mann hielt zwischen den zwei Bäumen ein und betrachtete die stille Front. Er runzelte die Stirn, er schien irritiert zu sein, doch war's ihm noch nicht zu Bewußtsein gekommen, was ihn verwirrte. »Komm!« sagte er, und sie traten einen Gang ums Haus an. Als sie an dem verwelkten Tulpenbeet vorübergehen wollten, blieb er stehen: »Was ist denn das? He? Wer hat denn hier seine Privatgärtnerei angelegt?«, und mit einem heftigen, plötzlichen Ruck wandte er sich um, streckte den Arm aus, wies aufs Haus und schrie: »Da! Schau! Ich wußte doch, daß etwas nicht stimmt! Gardinen!« Beide standen einige Augenblicke erstarrt.

»Aber vielleicht«, wandte seine Frau ein, »hängen sie noch von damals?«

»Und die Fenster?« rief er mit einer gewissen Wildheit. »Schau doch! Blitzblank! Auch von damals? Ich wußte doch, daß etwas nicht stimmt!«, und er drehte sich um, eilte zum Tor und klopfte. »Aufmachen!« forderte er, und da es innen still blieb, denn Blanche war nicht hier, wiederholte er: »Aufmachen!« und polterte gegen das Holz. »Aufmachen!« schrie er und trat einige Schritte zurück, um das Haus aus der Entfernung anzustarren; dann kehrte er zum Tor zurück und schlug nochmals dagegen. Er konstatierte, daß die Klinke blankgeputzt war, entdeckte den Weg, der zur Nebengasse führte, und sogar den neuen Ausgang, er versuchte abermals, die Tür zu öffnen, wartete, klopfte, doch nichts gab ihm Antwort, das Haus blieb verzaubert und stumm. Zum letztenmal versuchte er es, bearbeitete die Tür und schrie: »Aufmachen!« Er rief in die Luft: »Ist jemand hier?«, doch auch der Garten verharrte in störrischem Stillschweigen.

»Komm!« sagte Klarens zu seiner Frau und ging denselben Weg mit ihr zurück, durch das öde Niemandsland, durch den Garten, durchs Tor und trat auf die Straße, um zum nächsten Telephonautomaten zu eilen, Herrn Miklas anzurufen und ihm seine Beobachtungen mitzuteilen. Das sei ja eine tolle Sache, rief Miklas und versicherte ihm, daß niemand auf der ganzen Welt, außer ihm selbst, das Haus habe vermieten und niemand auf der ganzen Welt es habe beziehen dürfen und daß selbstverständlich der Eindringling gezwungen werden müsse, es zu räumen. Ob es denn nicht nun endgültig sein Haus sei, fragte Klarens, ob er, Miklas, es ihm nicht gestern ausdrücklich so gesagt habe, ob denn nicht alles rechtskräftig sei, ob denn da nicht wieder einmal etwas absolut Ungesetzliches vorgehe, ob es denn nicht eine Unverschämtheit sei. Ja, ja, ja, versicherte ihm immer wieder Miklas, es werde sich alles sicherlich sehr schnell aufklären und in Ordnung bringen lassen. Aber das sei doch eine Art Diebstahl, rief Klarens, das sei doch Raub, und ob man denn nicht die Polizei verständigen sollte. Gewiß, antwortete Miklas, wenn es nötig sein sollte, werde man auch ihre Hilfe in Anspruch nehmen, vorläufig müsse man versuchen, den unliebsamen Bewohner zu identifizieren und zu hören, welche Rechte er für sich in Anspruch nehme; ob er, Klarens, da er doch schon in der Nähe sei, nicht nochmals zurückgehen wolle, vielleicht habe er Glück und finde die Leute; sollte es aber nicht der Fall sein, könnte man sich immerhin beim nächsten Polizeikommissariat erkundigen, ob denn jemand dort und wer gemeldet sei.

Klarens trat mit gerötetem Gesicht aus der Zelle. »Miklas sagt, daß es eine tolle Sache ist!« sagte er zu seiner Frau. »Komm!«, und sie gingen zurück, während er von Zeit zu Zeit aus seinen Gedanken einen Ruf oder Satz hervorstieß: »Tolle Sache! – Beziehen mein Haus, mir nichts, dir nichts! – Das nennt der Miklas rechtskräftig, der Idiot! – Wenn das noch Recht sein soll!«

Je mehr er sich dem Bereich des Hauses näherte, desto schneller eilte er vorwärts, von Kampflust beflügelt. Nun hatte er endlich das offene, deutliche Unrecht vor sich, nun hatte er es beim Zipfel gepackt und konnte ihm ins Auge sehen, nun hatte er die Welt und die Menschheit erwischt, nun hatte er Gott in flagranti ertappt, wie er sich gegen ihn benahm! Als er an die Ulmen gekommen war, hastete er wiederum zum Tor, klopfte, schlug, hämmerte und drosch, doch das Haus änderte sich nicht und nicht die Stille, und es waren nur Mauern, Möbel, leere Räume und Luft, denen er immer wieder mit der Polizei drohte. Obwohl es längst schon überflüssig war, suchte und fand er immer noch neue Beweise, daß jemand hier wohnte. Zum letztenmal hieb er die Faust gegen die Tür, er horchte, doch alles blieb stumm. »Gut!« sagte er zu seiner Frau. »Komm!« und ging zum nächsten Polizeikommissariat.

Dort ergab sich nur Lärm und Geschrei. Man stellte fest, daß unter der Adresse des Grundstücks nur die Industriegesellschaft gemeldet war und der Portier des Hauptgebäudes, der dort wohnte; im übrigen aber kannte man sich in Klarens Reden nicht recht aus. Sobald die Beamten in Umrissen begriffen hatten, um was es ging, rieten sie ihm, sich mit einer Räumungsklage an die Gerichte zu wenden; alles lief zusammen und scharte sich um den aufgeregten alten Herrn, aber man war nicht bereit, auf Grund seiner, eines Privaten, Angaben, der sich nicht einmal legitimieren konnte und keine Unterlagen vorwies, etwas Tatsächliches zu unternehmen. Als er, voll von Empörung, von blankgeputzten Fenstern, von den herrlichen Gardinen, von neu angelegten Wegen sprach, lachte einer der Beamten und meinte, Herr Klarens sollte doch den fremden Leuten für all das nur dankbar sein. Doch darüber geriet er in schreckliche Wut und schrie und schimpfte. Der Polizeileutnant tat – sei es aus Bequemlichkeit, sei es aus Mitleid mit dem alten Mann –, als überhörte er gewisse Worte, um nicht gegen ihn vorgehen zu müssen. Soweit also sei es gekommen, rief Klarens, daß fremde Leute von fremdem Besitz Besitz ergreifen dürfen! »Was für Leute?« fragte man ihn. »Das weiß ich doch nicht!« schrie er. »Es wäre Ihre Sache, es zu wissen! Deshalb bin ich doch hier! Wie kann ich's denn wissen? Bitte sehr! Schauen Sie sich doch die Gegend an! In einem abgelegenen Teil des Gartens, der nie betreten wird, siedelt sich fremdes Gesindel an, ohne sich anzumelden! legt eigene Wege an! Ein eigener Ausgang in ein winziges verschwiegenes Gäßchen! Ich weiß doch nicht, was dort vorgeht! In dieser Zeit kommt alles vor! Vielleicht haben Falschmünzer ihre Werkstatt dort aufgeschlagen? Vielleicht hat man dort ein geheimes Bordell eröffnet? Vielleicht hat sich eine Dirne eigenmächtig dort niedergelassen, um ihrem schmutzigen Gewerbe nachzugehen? Ich weiß es doch nicht!«

Man versprach ihm, die Gegend im Auge zu behalten, und entschloß sich schließlich, damit sofort etwas getan sei, einen jungen Beamten mit Klarens hinzuschicken; doch wurde ihm im geheimen der Befehl gegeben, sich zu keiner irgendwie gearteten Amtshandlung gegen die Feinde des alten Herrn von diesem überreden zu lassen. Der Leutnant bot Klarens an, ihm vielleicht lieber einen Beamten in Zivilkleidung mitzugeben, doch er klopfte streng auf den Tisch: »Uniform, bitte! Keine Rücksicht!«

Frau Klarens hatte die halbe Stunde vor der Tür gewartet und erschrak nun beim Anblick des Uniformierten. »Komm!« sagte Klarens und schritt neben dem jungen, offenbar etwas hilflosen Beamten forsch und energisch einher, als ob er den Polizisten verhaftet hätte. Dieser ging, sobald sie angelangt waren, rings ums Haus und konstatierte, daß es bewohnt sein dürfte. Als Klarens nach einem Protokoll rief, schrieb er einige Worte in sein Notizbuch und machte sich schleunigst wieder davon.

Von all diesen Vorgängen hatte Blanche natürlich keine Vorstellung und auch keine Ahnung.

Da der Polizist, ohne etwas ausgerichtet oder auch nur versucht zu haben, davonging und Klarens wieder allein blieb, sah er ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Er lehnte sich an die Hauswand, nahm das Monokel vom Auge, sein Körper sank in sich zusammen, sein Gesicht verfiel, und nun sah man, wie alt er war. »Siehst du«, sagte er und wies in jene Richtung, in der der Beamte verschwunden war, »so geht man mit mir um!« Doch er straffte sich wieder. »Komm!« sagte er zu seiner Frau und ging, um seinen Anwalt anzurufen. Es war schon Mittag, die Bürozeit vorüber. So setzten sie sich in ein kleines Kaffeehaus, Klarens aß nichts, seine Frau getraute sich nicht, mehr als zwei Semmeln zum Kaffee zu nehmen. Das war ihr Mittagsmahl. Um drei Uhr, da er den Anwalt nochmals anrief, lud dieser ihn zu einem Besuch ein. Sie fuhren über eine halbe Stunde hin. Der Anwalt versuchte, einen Überblick über die Dinge zu bekommen, doch Klarens war nicht geneigt, ein nüchternes Gespräch zu führen. »Fremde Leute ergreifen Besitz von meinem Besitz!« rief er immer wieder. »Ist denn das nicht Anarchie? Räuberei? Faustrecht?«

Ob er, der Anwalt, schon jemals so etwas erlebt habe! rief Klarens aus. Ja, antwortete der Anwalt, im Laufe der Jahre habe er einige solcher Fälle gehabt; im übrigen zweifle er nicht, daß jedes Gericht einer Räumungsklage gegen den Unbekannten stattgeben würde, nur eben dies, daß es sich um einen Unbekannten handle, bringe eine Verzögerung mit sich. Er nehme an, daß es sich um einen armen Teufel handle, der sich ein billiges Obdach habe verschaffen wollen; aber er werde die langwierigen Amtswege zu umgehen versuchen und durch einen Beamten oder Diener der Industriegesellschaft recherchieren lassen, worum sich's handelt.

»Sehr gut!« rief Klarens, aber das könne er auch selbst tun, und verabschiedete sich augenblicklich. »Komm!« sagte er zu seiner Frau, die im Wartezimmer saß, und fuhr mit ihr zurück.

Abermals schritt er durchs große Gartentor. Vor dem Haus stand der Pförtner. Nur widerwillig und erst nach langem Zögern gab sich Klarens zu erkennen. Der Portier fühlte sich geehrt durch die große Vergangenheit, die vor ihm stand und von einer noch immer so noblen Erscheinung repräsentiert wurde, er gab bereitwillig Auskunft. Er erinnerte sich, daß sich vor etwa zwei Jahren eine ziemlich junge Dame oft nach dem kleinen Haus erkundigt habe, da sie es habe mieten wollen; er habe sie doch, sagte er weiter, auch zu Herrn Klarens selbst geschickt. »Allerdings!« warf Klarens ein, »und ich habe sie auch prompt hinausgeworfen!«

Ja, das habe sie ihm erzählt, sagte der Portier und berichtete weiter, daß er dann später die Dame, weil sie ihm keine Ruhe gelassen habe, auch zur Schwester des Herrn Klarens, zur Frau von Hamborn, geschickt habe. »So ein Blödsinn!« warf Klarens dazwischen. Gewiß, aber er, der Portier, habe es sozusagen nur aus Verzweiflung getan und um die Dame loszuwerden; seitdem habe er sie auch tatsächlich nicht mehr gesehen. Den Namen der jungen Dame habe er leider vergessen, aber am Ende kenne ihn Frau von Hamborn, und es sei doch ein Leichtes für Herrn Klarens, seine Schwester zu fragen.

»Danke!« sagte Klarens zum Portier und »Komm!« zu seiner Frau, die draußen vor dem Gartentor wartete, und fuhr zu seiner Schwester, die er seit dem finanziellen Zusammenbruch nicht mehr gesehen hatte. Sie wohnte noch immer in demselben möblierten Zimmer, in dem Blanche sie vor zwei Jahren aufgesucht hatte.

Es kam niemals ganz an den Tag, was sich bei Frau von Hamborn abgespielt hat. Klarens scheint, als er seine Schwester aufsuchte, gar nicht in Erwägung gezogen zu haben, daß eine Schuld sie treffen könnte, und nur in der vagen Hoffnung hingegangen zu sein, den Namen jener jungen Dame zu erfahren oder irgendeinen anderen Hinweis zu bekommen. Die Vermieterin des möblierten Zimmers hörte, wie sie später erzählte, nebenan zuerst nur die weder laute noch zornige Stimme des Gastes, der in knappen, strengen Sätzen Fragen zu stellen schien, während die alte Frau leise ihre Antworten gab. Mit einemmal aber sei die männliche Stimme lauter geworden, habe sich zum Geschrei erhoben und sei zum Gebrüll angeschwollen, dann aber sei plötzlich eine unheimliche Stille eingetreten, während welcher man nur gewisse Geräusche gehört habe; da habe sie sich verpflichtet gefühlt, ohne weiteres einzutreten. In der Mitte des Raumes habe Herr Klarens gestanden, zitternd vor Wut, mit verschobener Krawatte und mit zerknülltem Anzug, während sich die halb blödsinnige Greisin mit hängenden Haarsträhnen wie flüchtend in eine Ecke des Sofas zurückgedrängt und aus entsetzt aufgerissenen Augen auf ihren Bruder gestarrt habe, mit Blicken wie die eines Tieres in stummer Todesangst.

Auf der Straße zeigte Klarens seiner Frau, die vor dem Haus gewartet hatte, den Mietvertrag. »Schau dir das an!« rief er, doch bevor sie noch einen Blick aufs Papier hatte werfen können, sagte er »Komm!« und eilte zur Haltestelle der elektrischen Bahn, um wiederum zum Anwalt zu fahren. Dieser gratulierte ihm zu seinen detektivischen Talenten, als er aber den Namen Blanche Riedinger hörte, lachte er auf. »Die Tochter eines Kollegen!« rief er und meinte, mit einem einzigen Anruf werde der Unsinn aus der Welt geschafft sein. »Danke!« rief Klarens abweisend; da er nun einmal diese tolle Sache ohne fremde Hilfe aufgeklärt habe, werde er sie auch mit eigener Energie zu Ende zu führen wissen. Der Anwalt zuckte die Achseln und begriff nicht, warum jener ihn überhaupt nochmals aufgesucht hatte. Klarens verabschiedete sich schnell. »Komm!« sagte er zu seiner Frau, die draußen im Wartezimmer saß, und sie fuhren nach Haus.

Als sie die Wohnung betraten, fragte Frau Klarens, ob er nun noch das Mittagessen oder schon das Abendessen wolle, denn, tatsächlich, es war fast Abend, doch er rief »Nichts!« und eilte ins Wohnzimmer. Dort legte er ein Briefpapier auf seinen Schreibtisch, ging noch mehrmals mit festen, kampfesfreudigen Schritten auf und ab, ließ sich nieder und schrieb.

Es wurde dunkler, und er schrieb noch immer. Als seine Frau vorsichtig durchs Zimmer schlich, rief er, ohne den Kopf zu heben, »Licht!« und schrieb weiter. Er nahm Bogen um Bogen, Frau Klarens hatte das Abendessen längst fertig gekocht, es wurde Nacht, und Klarens schrieb noch immer. Nur einmal unterbrach er sich, um sich an seine Frau zu wenden, die Licht sparen wollte und deshalb hier in einem Winkel ihre Messer putzte. Er legte die Feder weg und lehnte sich zurück. »Erinnerst du dich«, fragte er, »daß dieses Frauenzimmer damals hiergewesen ist?«

»Ja, natürlich erinnere ich mich.«

»Und erinnerst du dich, was ich dir gesagt habe, nachdem ich sie hinausgeworfen hatte?«

»Nein, daran erinnere ich mich nicht.«

»Nein?«

»Nein.«

»Ich habe gesagt: heutzutage sind eben alle Frauen Huren! Erinnerst du dich?«

»Ja. Jetzt erinnere ich mich.«

»Na also!«, und er beugte sich wieder vor und schrieb weiter.

›Aufgepaßt, meine Dame!‹ schrieb er unter anderem. ›Wir werden Ihnen Beine machen, wenn Sie es nicht vorziehen, schleunigst Ihre Tätigkeit anderswohin zu verlegen, worin diese auch bestehen mag, was ich aus Diskretion nicht weiter untersuchen will –‹, und dies war eine jener Wendungen, die er, nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, als fein-ironisch und als stilistische Delikatesse empfand. Wenn er sie trotz der von ihm vermuteten Gefahr, daß die Empfängerin sie nicht verstehen könnte, stehen ließ, so deshalb, weil er sich vornahm, an anderen Stellen des Briefes um einige Nuancen deutlicher zu werden.

Der Brief war voll von Drohungen, Beleidigungen, Verdächtigungen und übertriebenen, unhaltbaren Forderungen. Er verlangte von Blanche, daß sie das Haus innerhalb von zwölf Stunden räume und es innerhalb einer Woche in jenen Zustand bringe, in dem es gewesen, bevor sie es bezogen hatte; er stellte eine Rechnung über die Miete der vergangenen zwei Jahre auf und drohte mit neuen Forderungen für jeden einzelnen Tag, um den ihm das Haus später zur Verfügung stehen würde; er beanspruchte eine Entschädigung dafür, daß er das Haus durch Blanches Gegenwart nicht anderweitig habe vermieten können, und sprach davon, daß sie ihm die Miete, die er für seine jetzige Wohnung bezahlt habe, werde zurückerstatten müssen. Seine Phantasie führte ihm das gegebene Thema in allen Variationen vor, aus jedem Aspekt, der sich ihm bot, leitete er neue Forderungen ab. Die juristischen Konstruktionen wurden immer kühner und verrieten, daß die Empörung über das ihm angetane Unrecht ihn ganz und gar aus den Fugen gebracht hatte. Selbstverständlich, schrieb er, behalte er sich alle Ersatzansprüche für den Schaden vor, der ihm durch die Veränderungen des Hauses, durch die Anlage des Weges verursacht worden sei und vor allem durch die Wertminderung, die dadurch entstanden sein müsse, daß die ganze Gegend, wie er leider vermuten müsse, in einen üblen Ruf gekommen sei. Was aber die strafrechtlichen Folgen betreffe, die sich aus ihrer Veruntreuung, ihrem Betrug und ihrem Hausfriedensbruch ergäben, überlasse er alles weitere dem Staatsanwalt, von dem sie demnächst hören werde. Daß er sich vorbehalte, auch gegen ihre Mitschuldigen vorzugehen, sei ja nur selbstverständlich; gegen seine betrügerische Schwester, die, möge sie auch schon idiotisch sein, woran er nicht zweifle, dennoch gerade so viel Verstand habe, daß sie zur Verantwortung gezogen werden könne; gegen den Konkursverwalter, der seine Pflicht verletzt habe, gegen die Industriegesellschaft und gegen den Portier, der selbst zugebe, Blanche zu Frau von Hamborn geschickt zu haben. Eine Unterstellung ergab sich aus der andern, er sah offenbar eine ganze Verschwörung vor sich, er bekriegte die ganze Welt und bedrohte im weitesten Umkreis alle Menschen mit Prozessen – den Schlosser, der doch gewußt haben müsse, daß er eine unrechtmäßige Handlung begehe, als er die Tür aufbrach, den Polizeileutnant, weil er sich geweigert hatte, Blanche auf der Stelle an die Luft zu setzen, den Schutzmann, der in auffallend flüchtiger Weise seine Obliegenheiten erfüllt habe, und es fehlte nur, daß er auch noch die Spatzen und Amseln in die Anklagebank ziehen wollte, die damals, als Blanche gekommen, in den Zweigen der Ulmen gesessen hatten und doch ihren Einzug nicht verhindert, nicht einmal gemeldet hatten, oder die Schlangen und Tiger Indiens, die in ihrem Heimatland geblieben waren, statt herüberzukommen und sich in seinem Garten anzusiedeln, um ungebetene Gäste abzuwehren.

Klarens las den Brief seiner Frau vor, und sie fand ihn, wie er es erwartete, weder zu freundlich noch zu scharf. In später Nacht ging er aus und machte den weiten Weg bis zum nächsten Postamt, damit er früher ankomme, und im Bett berechnete er mit seiner Frau, wann Blanche ihn erhalten und wann er eine Antwort haben werde.

III

Sobald Heinzfurth sich verabschiedet hatte, trat Blanche ins Haus zurück, doch nur über die Schwelle in den Vorraum, um unsichtbar zu sein, wenn er sich nochmals nach ihr umdrehen sollte; als aber er selbst hinter den Gebüschen und Bäumen verschwunden sein mußte, trat sie wieder vor und blickte in jene Richtung, in der noch immer seine festen und harten Schritte tönten. Sie klangen siegreich, und Blanche, den Anflug eines ironischen Lächelns im Gesicht, horchte ihnen nach, wie sie dumpfer und leiser wurden, im Schatten der Entfernung verhallten und schließlich im Nichts aufgingen.

Sie blieb, an den Türpfosten gelehnt und mit immer noch hingewandtem Kopf, dort stehen, doch das Lächeln verlor sich, der Blick wurde leer, die Züge waren voll Müdigkeit und fast voll Widerwillen. So verging geraume Zeit, dann richtete sie sich auf, mit einem kleinen Aufatmen und einer winzigen Handbewegung, mit denen sie alles von sich wegzuschieben schien, und ging ins Haus. Dort klopfte sie die Kissen auf, rückte die Stühle zurecht und räumte die Gläser und die Flasche weg, deren Rest Heinzfurth ohnedies fast ganz ausgetrunken hatte. Sie sah auf die Uhr und zog jenen Zettel hervor, auf dem notiert war, was der Gärtner ihr diktiert und was sie für ihre Gartenarbeit einzukaufen hatte: einen großen Korb, einen kleinen Korb, Handschuhe, eine große Schere, eine Zwickschere und noch vieles andere. Er hatte ihr wohl viel mehr angegeben, als unbedingt notwendig war, nur weil es ihr viel Freude bereitet hatte, seinem Diktat zu folgen. Wäre sie vorhin einkaufen gegangen, wie sie es gewollt, hätte sie diesen unerwarteten Besuch versäumt; jetzt aber war's tatsächlich schon zu spät, jetzt hatte sie für den erwarteten Gast hier zu sein, denn Passow sollte ja kommen. Er interessiere sie nicht, hatte sie heute Carola gesagt, dieser steife Kerl, der keinen anderen Gesprächsstoff habe als ihre Malerei, und überhaupt, so spät angesagte Besuche waren ihr niemals recht willkommen, denn sie ließen ihr keine Zeit, die Bewirtung vorzubereiten und das Haus in den gehörigen Stand zu setzen. Unangemeldet kommende Gäste konnten nichts erwarten, wenn sie sich aber anmeldeten, dann sollten sie es lieber beizeiten tun. Und dabei war ihr Haus doch in Wirklichkeit immer in seinem Paradezustand.

Jetzt war es für alles zu spät, was sollte sie denn jetzt noch vorbereiten, und da das Ganze und Vollkommene ohnedies nicht mehr erreichbar war, hatte sie keine Lust mehr, sich überhaupt erst an die Arbeit zu machen. So stellte sie nur zwei Aschenbecher und den Zigarettenbehälter auf den Tisch des Biedermeierzimmers; als sie aber den Kasten öffnete, enthielt er zwar mehr als genug Zigaretten, denn Passow konnte ja gar nicht länger als eine Stunde bei ihr bleiben, mehr als genug auch für einen Kettenraucher, aber als sie hineinsah, schien es ihr nicht zu gefallen, daß sie nur eine dünne Schicht bildeten; sie nahm zwei heraus und noch eine und noch eine, und schon sah man den Boden. Es war so armselig! Andere Zigaretten hatte sie nicht, so entschloß sie sich, wegzugehen, um noch eine Schachtel zu holen.

Die kleine Nebengasse war nur von Gärten eingefaßt, und Blanche mußte in die große Straße einbiegen, die entlang des Parks dahinlief und in der Laden neben Laden lag; aber sie besann sich anders und beschloß, ihrem Gast wenigstens auch eine Tasse Kaffee anzubieten, doch da sie nicht wußte, ob ihr Vorrat ausreichen würde, wollte sie im Spezialgeschäft noch eine gewisse Menge ihrer gewohnten Sorte holen, und sie ging weiter, als sie es vorgehabt hatte. Als sie die Augen hob, sah sie sich neben einem Obstgeschäft. Einige Orangen wollte sie denn doch mitnehmen, und sie trat ein. Im Nebenladen bekam sie die Zigaretten; nachdem sie aber ihren Weg hundert Schritte fortgesetzt hatte, fiel ihr Blick auf ein Schaufenster, in dem, zu zierlichen Hügeln aufgeschichtet, hübsches kleines Gebäck ausgestellt lag. Es gefiel ihr besonders gut in seiner Appetitlichkeit und Frische; sie holte eine Tüte voll und eilte weiter. Es ist langweilig, nur Orangen auf den Tisch zu stellen, die Schüssel sieht öde aus; Blanche hielt Ausschau und fand bald eine Delikatessenhandlung, in der sie Äpfel, eine Schachtel Feigen und etwas getrocknete Trauben kaufen konnte. Es war einige Zeit vergangen, sie durfte keine mehr vergeuden und beschleunigte ihre Schritte.

Endlich hatte sie auch den Kaffee eingekauft und wandte sich zurück, um wieder nach Hause zu kommen, aber sie erinnerte sich, daß sie zwar Kognak, aber nicht ein Tröpfchen Likör im Hause habe; so betrat sie abermals einen Laden, und nachdem sie einige Zeit verhandelt, sich über die Qualitäten und die Eigenschaften der einzelnen Marken hatte informieren lassen, entschied sie sich, statt für eine große, für drei halbe Flaschen Likör: für einen süßen, einen scharfen und einen dritten, der ein Mittelding zwischen den beiden Extremen war. Nun hatte sie wieder einige Minuten verloren, sie begann zu laufen, und auf dem weiteren Weg kaufte sie nur noch ein Fläschchen Sahne, für jeden Fall in einem Haushaltungsgeschäft einen neuen Korkenzieher und schließlich schnell noch einige Blumen, strahlend schöne weiße Rosen. Die Straße war voller Herrlichkeiten. In der Auslage eines Tabakladens lagen reizende kleine Packungen mit nur drei oder fünf Zigarren, sie blieb stehen, dachte nach, um aber mit weiteren Überlegungen nicht noch mehr Zeit zu verlieren, stürzte sie ins Geschäft und ließ sich eine dieser Schachteln geben. Nun war es schon außerordentlich spät geworden, es blieb ihr nichts anderes übrig, als für den kurzen Rückweg einen Wagen zu nehmen. Sie drängte sich, die Flaschen und Blumen an sich gepreßt, ins Auto, saß ungeduldig auf dem Rücksitz, trieb den Chauffeur zu schnellerem Tempo an und kam schließlich so sehr mit Paketen beladen vor dem Atelier an, daß sie sie kaum mit beiden Händen und Armen und nur unter Anwendung komplizierter Jonglierkünste vom Eingang durch den Garten ins Haus tragen konnte.

Es war zehn Minuten vor vier Uhr. Die Pakete fielen auf Tisch und Stühle. Blanche riß die Mütze vom Kopf und den Mantel vom Körper. Es lag jetzt die scheinbar unerfüllbare Aufgabe vor ihr, in dieser kurzen, ihr noch verbleibenden Zeit doch wenigstens den Tisch zu decken und, was sie mitgebracht, auch wirklich in Glanz und Pracht erstehen zu lassen. Sollte sie lieber auf alle Vorbereitungen verzichten? Doch sie faßte sich schnell, und schon warf sie sich mit Vehemenz in die Arbeit, in solcher Eile, als gelte es, einem Menschen das Leben zu retten, und in solcher Versunkenheit in ihre Tätigkeit, als wär's ihr tiefstes Herz, das hier arbeitete.

Mit einer Bewegung war die Decke vom Tisch gezogen, mit einer zweiten die andere aufgelegt, nach einer dritten hing sie gleichmäßig nach allen Seiten und war geglättet. Blanche rannte hinaus, mahlte Kaffee, schüttete ihn in die Maschine, ließ Wasser in sie, goß Spiritus ein, und schon stand sie, rasch noch abgerieben, blinkend auf dem Tisch, daß man nur noch ein Streichholz brauchte, um sie in Aktion treten zu lassen; und schon stand der Streichholzständer bei ihr. Sie holte aus der Vitrine ein Service und wußte selbst nicht, wie es so schnell gegangen war, die Tassen, die Teller, die Bestecke waren auf ihrem Platz; ein Griff, sie waren genau an ihre Stelle gerückt, die Löffel in die richtige Lage gebracht, die Henkel ausgerichtet. Zigarren, Zigaretten, die Sahne, das Obst, das Gebäck, die Flaschen und Gläser – die Tischplatte füllte sich. Sie öffnete und schloß Schränke und Kästen, brachte noch Wassergläser und eine Karaffe, Aschenbecher und Obstmesser und trug als letztes eine große Vase mit jenen langstieligen Rosen herbei, die sie eben eingekauft hatte, reinen, weißen, königlichen Blüten, die über dem Ganzen schwebten und es krönten. Sie schob noch manches hin und her, überprüfte das Bild, das sich ihr bot, und plötzlich – was fehlt noch? Was fehlt noch? – plötzlich fehlte nichts mehr, und sie war fertig.

An den Türpfosten zwischen den beiden Zimmern gelehnt, betrachtete sie ihr Werk. Es wurde stiller, die Unruhe ihrer Eile vibrierte nur noch nach, als wäre über ihren letzten hastigen Bewegungen ein riesiges Pedal getreten worden.

Alles glänzte und leuchtete ihr entgegen, kein Ding durfte um einen Millimeter anders stehen, als es stand. Draußen war zwar noch voller Tag, doch hier unten im Erdgeschoß, vor allem in diesem Zimmer mit seinem dichten Vorhang, herrschte ein etwas trübes Licht. Sie entzündete den kleinen, alten venezianischen Lüster, in dem die Birnen auf künstlichen Kerzen standen, zog vor den Store auch noch den Samtvorhang, und die weltabgeschiedene, heimliche, gemütliche Idylle war geschaffen. Sie lehnte sich abermals an den Türrahmen und sah verträumt vor sich hin. Da hörte sie draußen im Kies knirschende Schritte, schrak aus ihrer Versunkenheit auf, erinnerte sich, daß sie dies alles doch für einen lebendigen Menschen vorbereitet hatte, und ging ihm erfreut und herzlich entgegen.

Mit einem kleinen Blumenstrauß in der Hand, der aus sechs Märzbechern bestand, erschien Herr von Passow. Mit dem ganzen höflich-zurückhaltenden Respekt seines Wesens betrat er erwartungsvoll das Haus, und bald saßen sie beim Tisch, Blanche auf dem Sofa an der Wand, er an der Schmalseite dem Fenster gegenüber.

Er erkundigte sich nach dem Befinden ihres Vaters, ob er fiebere, ob er Schmerzen habe, ob er sehr geschwächt sei, welche Mittel verordnet seien – Medikamente? Bettruhe? Kompressen? –, und fragte, ob die gestrige Attacke die erste gewesen und, da dies nicht der Fall war, wann also die erste aufgetreten sei und in welchen Zwischenräumen sie ihn zu überkommen pflegten und ob man nicht Vorbeugungsmaßnahmen gegen sie anwenden könne. Blanche gab Antwort und Auskunft. Sie äußerten Vermutungen über die Art und die Schwere der Krankheit, wobei gewisse hohle Pausen im Gespräch durch leise Seufzer und Ausrufe: Schrecklich, schrecklich! und: Hoffen wir's, hoffen wir's! ausgefüllt wurden. Er bedauerte Blanche wegen des Schreckens, den sie hatte ausstehen müssen, gemeinsam aber bedauerten sie ihren Vater, ihre Mutter und auch den nun arbeitsüberlasteten Doktor Feding; sie priesen die Gesundheit und sprachen die Hoffnung aus, daß Riedinger sich sowohl von diesem Anfall schnell erholen, als auch, daß der nächste nicht so bald folgen, als auch, daß das ganze Leiden sich abschwächen, vielleicht gar ganz verschwinden werde.

Er saß etwas hölzern auf seinem Stuhl, mit höflich ihr zugeneigtem Oberkörper, sprach besorgt, teilnahmsvoll und mit gedämpfter Stimme, als ob er im Krankenzimmer selbst wäre, und war offenbar auch noch durch ihre Anwesenheit und die ihm unbekannte Atmosphäre des Zimmers eingeschüchtert.

Nach einer kurzen Stille erkundigte er sich, ob Doktor Riedinger einen guten Arzt habe und ob ihm nicht eine Reise, noch eher ein stiller Landaufenthalt eine momentane oder allgemeine Erholung bringen würde. So sprachen sie von Sanatorien und stellten sie in Vergleich mit den Krankenhäusern. Er wollte wissen, ob ähnliche Erkrankungen in ihrer Familie schon vorgekommen oder ihr wenigstens bekannt seien, und sie streiften die Möglichkeit einer Vererbung. Während all dessen sah er sie aus seinen harmlosen Augen bewundernd an, verfolgte all ihre Bewegungen, betrachtete ihre vollen Wangen, ihren ausgereiften Körper, die kräftigen Arme, den prangenden Busen, von Zeit zu Zeit aber versuchte er verstohlen mit kleinen Blicken, heimlichen Seitensprüngen der Augen, die Umgebung in sich aufzunehmen, schaute auf die Wände, die Möbel, auf das glänzende Parkett, den so liebevoll gedeckten Tisch, schien benommen von dem verdunkelten und künstlich erhellten Raum bei vollem Tageslicht und atmete staunend die ihm fremde Stimmung ein. Er erkundigte sich, ob Riedingers Körper, sehe man vom Herzen ab, was Lunge, Magen, Nieren und die anderen Organe betreffe, gesund und intakt sei, nickte befriedigt, als sie ihm dies bejahen konnte, und senkte den Kopf, um auf seine Knie niederzublicken. Als er ihn wieder hob, fragte er, ob man eine Krankenschwester gemietet oder ob Frau Riedinger selbst die Pflege übernommen habe, ob sie allein oder gemeinsam mit ihr, mit Blanche. Er wollte wissen, ob Riedinger nach dem Anfall noch geschlafen habe, wie lange und wann er am Morgen aufgewacht sei, ob der Arzt noch in der Nacht herbeigerufen worden, und ob er also, da dies nicht der Fall gewesen, in aller Frühe gekommen, ob es ein moderner Arzt und wie alt er sei und wo er wohne.

Blanche unterbrach die Reihe seiner Fragen. »Aber Sie rauchen ja gar nicht!« rief sie erschreckt, wies mit der einen Hand aufs Zigarettenkästchen und holte mit der anderen die reizende Zigarrenpackung heran, die sie eben gekauft hatte. Er rauche niemals, gab er zur Antwort, oder genauer gesagt: fast niemals, wenn er es aber dennoch einmal tue, dann müsse es eine Pfeife sein. So habe, meinte er, jeder Mensch seinen eigenen Geschmack. Blanche bot ihm Kognak an, doch er dankte, auch Likör lehnte er ab, sowohl den scharfen als auch den süßen als auch den dritten, der ein Mittelding zwischen den beiden Extremen war, und fragte, ob auch schon Spezialisten zugezogen worden seien, wie lange sein Arzt ihren Vater schon behandle, ob er einen eigenen Wagen habe oder wenigstens, für den Fall, daß man ihn eines Tages augenblicklich brauchen sollte, in der Nähe seiner Wohnung ein Droschkenhalteplatz sei und ob Riedinger Appetit habe, ob ihm eine bestimmte Diät vorgeschrieben und Alkohol, Coffein, Nikotin verboten sei und ob er, wenn er so im Bett liegen müsse, lese, ob es nur Zeitungen seien oder auch Bücher.

Er konnte von diesem Thema nicht wegkommen, er ließ es nicht von seinem Mund, wie ein Hund einen Knochen nicht freigibt, auch wenn alles von ihm geholt ist, was zu holen war, und er bis auf die letzte Faser abgenagt ist. Er verglich die Unannehmlichkeiten dieser Krankheit mit der Gräßlichkeit anderer und erkundigte sich nach der Gesundheit von Frau Riedinger und nach der von Blanche, ob ihr Vater zwischen den Attacken sich nicht überanstrenge und sie also heraufbeschwöre und ob immer alle in Betracht kommenden Medikamente im Hause seien, denn sonst könnte es eines Tages geschehen, daß eines von ihnen zwar dringend benötigt, dennoch von der Apotheke nicht ausgefolgt werde, weil die spezielle ärztliche Vorschrift fehle; so sei es einmal einem Verwandten ergangen.

Blanche bemerkte, daß sie seinen kleinen Strauß auf dem Tische hatte liegen lassen, und stand auf, um eine Vase zu holen. Als er allein blieb, hatte er Gelegenheit, seine Umgebung zu prüfen. Er tat es in scheuer Art, betrachtete alles, was vor ihm stand und lag, warf einen Blick zum brennenden Lüster hinauf und nach dem Fenster hin, das vom Vorhang verdeckt war, und auf die vielen Blumen, die roten Rosen, die Narzissen, Tulpen, Nelken und die weißen Rosen, die vor ihm standen. Blanche nahm die hohe Vase vom Tisch und stellte sie auf die Vitrine. Die pathetisch sich öffnenden Rosen auf ihren hohen Stielen in ihrem schlanken Gefäß, von Blanche vorsichtig getragen, schwebten davon und mit ihnen ihr Duft. Dann stellte sie an ihre Stelle ein niedrigeres Glas, an dessen Wand sich die sechs Märzbecher lehnten. Passow sah zu ihr auf und fragte, ob ihr Vater auch Kopfschmerzen habe. Sie verneinte. Er schwieg und sah vor sich hin. Dann wies er mit trauriger Gebärde auf die Blumen, die er mitgebracht hatte. »Ach bitte«, sagte er schüchtern, »stellen Sie das doch wieder weg!«

»Warum?«

»Es sieht so armselig aus! Wie schön waren die Rosen!«

Ob denn die Rosen, sagte sie, nur weil sie höher seien, auch schon schöner seien, ihr Weiß sei langweilig, ihr gefalle, mit dem satten Gelb der Märzbecher, der Tisch so besser, aber er schüttelte den Kopf: »Sie sind sehr liebenswürdig! Aber die Rosen sind wirklich schöner! Als ich es kaufte, gefiel es mir so gut, und jetzt –!« Er schaute wehmütig drein und mochte sich selbst armselig fühlen, schäbig und ein Bettler an Leib und Seele und Geld. Sie betrachtete ihn lächelnd und ordnete liebevoll nochmals die kleinen Blumen im Glas.

»Unlängst«, sagte er, »hat jemand behauptet, es sei heutzutage lächerlich, einer Dame Blumen zu schenken. Das sei, hat er gesagt, eine Sache des vorigen Jahrhunderts.«

»Nun ja, gewiß«, lachte Blanche auf, »es ist voriges Jahrhundert, dennoch können Sie Ihrem Bekannten, der es gesagt hat, ausrichten, daß er ein Idiot ist!«

Herr von Passow stieß einen leisen, rauhen, unartikulierten Laut aus, so plötzlich brach das Gelächter über diesen unerwartet kräftigen Ausdruck aus ihm. Er lachte unbändig, soweit er überhaupt etwas unbändig tun konnte, und freute sich, daß ihre Stimmung sich zu lösen schien und ein ungebärdiges Künstlertum zum Vorschein kam. »Ich will es ihm ausrichten!« rief er und richtete sich auf, als ob er sich selbst einen Stoß gegeben hätte. »Ich will es ihm ausrichten! Und ich will ihm sagen, daß das Urteil der Dame, die es abgegeben hat, für mich von maßgeblicher, maßgeblichster, allermaßgeblichster Bedeutung ist!« Er wagte es, ihr geradezu ins Gesicht zu blicken, offenbar stolz, daß auch er zu größerer Freiheit gekommen war und als ob er erforschen wollte, wie ihr der lustig-kühne Scherz dieser Steigerung gefallen habe.

Ob dies seine wirkliche Meinung sei, fragte sie. »O ja, o ja!« rief er und sah sich abermals um, seine Blicke gingen von Strauß zu Strauß und blieben schließlich wieder auf den weißen Rosen. »Könnten so viele Blumen hier sein«, sagte er, »wenn Ihre Bekannten nicht wüßten, daß Sie sie gerne annehmen? – Ach!« rief er. »Wie müssen Sie verwöhnt sein!«

Nun ja, antwortete sie, man sei doch schließlich eine Frau, mein Gott, man sei doch schließlich eine Frau.

Der Kaffee war inzwischen fertig geworden, er kostete ihn und war entzückt von seinem Geschmack. Er bewunderte das Aroma und daß er genau die angemessene Stärke habe, er bewunderte die Maschine, in der er gekocht worden war, und bewunderte das Porzellan, in dem sie ihn servierte, und besonders die Zierlichkeit des Sahnekännchens. Doch er wagte sich weiter, verließ Kaffee und Tisch, stieß erobernd in den Raum vor und bewunderte nun auch die Einrichtung des Zimmers, alles was er sah, den Tisch, die Tischdecke, die Stühle, das Regal, die brokatene Streichholzschachtel und das ganze Haus, die Farbe der Wände, den Samtvorhang vor dem Fenster und die Zuckerzange, den venezianischen Lüster und den Ring an ihrem Finger; nur war die Phantasie seiner Sprache nicht geübt, sein Wortschatz klein, so daß er darauf angewiesen war, immer die drei selben Worte zu gebrauchen: reizend, entzückend und geschmackvoll, und da es ihm auch an Mut und also an Schwung gebrach, wirkte die mit immer gleich gedämpfter Stimme vorgetragene Aufzählung der von ihm gelobten Gegenstände ein wenig monoton und spröde. Er nahm nichts von dem Obst, das sie ihm anbot, und erst nach einigem Zögern und nur um der Form zu genügen, wie er sagte, ein einziges Stückchen des Gebäcks. Er fand es, da er es angebissen hatte, so gut, wie er noch niemals eines gegessen, bewunderte die Schüssel, auf dem es lag, das Besteck und das Service, das Geschick, mit dem sie den Tisch gedeckt hatte, war hingerissen von dieser Vielseitigkeit ihrer Talente, dieser Vereinigung von Künstlertum und hausfraulicher Begabung, doch in der Art, in der diese sich zeige, offenbare sich, so meinte er, schon der Geschmack der Künstlerin. Er bewunderte auch ihre Gestalt und deren gesunde Fülle, sie selbst, ihr eigenes Selbst.

Natürlich, dies anzudeuten, wagte er nicht, doch seine Augen wurden größer, wölbten sich vor, füllten sich mit immer neuer Begeisterung bei jedem neuen Ding, das er nannte und pries, denn er meinte bei allem doch auch immer sie selbst; seine Augen füllten sich mit immer neuem Glanz, daß sie sich schon feuchteten, und da er sie ansah, vielleicht mit dem Versuch, seine Blicke in ihre zu versenken, quollen sie schon über, während er sagte: »Es ist hier wirklich alles reizend und geschmackvoll!« Doch als müßte er emporklimmen auf der Stufenleiter der Bewunderung, als müßte er dieses Phänomen von einem Menschen in seiner ganzen Vielseitigkeit und Größe kennenlernen, als hätte er das Bedürfnis, nun endlich auch in die tiefsten und geheimsten Teile ihres Wesens einzudringen, damit er sich ganz und rückhaltlos in Verehrung auflösen könne, erinnerte er sie in aller Bescheidenheit an ihr Versprechen, ihm ihre Bilder zu zeigen. Sie hatte, wie es schien, nicht viel Lust, sie ihm vorzuführen, doch da er sie nach einiger Zeit wiederum, wenn auch mit all seiner Zaghaftigkeit, mahnte, sah sie ein, daß ihr nichts anderes übrig bleiben würde. So stand sie auf und ging ihm die Stiegen ins Stockwerk voran. Er folgte ihr, stumm und erwartungsvoll, mit leisen Schritten und angehaltenem Atem, zur Tür ins Heiligtum, ins Rätselhafte.

Schon beim Eintritt ins Atelier stutzte Passow. Ihn schien die strenge Kahlheit der weißgekalkten Wände und die Leere des länglichen Raums zu ergreifen. Er betrachtete die Staffelei und die dicken Griffe, mit deren Hilfe das Bild höher und niedriger geschraubt, vorwärts und rückwärts geneigt werden konnte, und zu deren Bedienung männliche Kräfte zu gehören schienen. Es stand ein Bild auf der Leiste, jenes fast fertige Seestück, an dem Blanche eben malte, doch war ein Tuch darüber geworfen, und sie ließ es stehen, wie es war.

Die fertigen Bilder waren, ihre bemalte Seite der Wand zugekehrt, auf dem Fußboden unter den Fenstern aufgereiht, immer fünf und fünf hintereinander geschichtet und nach ihrer Entstehungszeit geordnet. Blanche schritt auf diese Sammlung ihrer Werke zu, die die Früchte ihrer verschiedenen Lehrzeiten bei verschiedenen radikalen Lehrern darstellte. Da sie nur eine Pflicht erfüllte, griff sie wahllos eines heraus und hob es auf.

Passow trat vor und stellte sich, in der Positur eines Menschen, der sich darauf vorbereitet, ein gründlicher und liebevoller Betrachter zu werden, vor das imposante Gestell. Das Gemälde wurde von der Seite her vor das zugedeckte geschoben. Passows Gesicht verzerrte sich ein wenig vor Verlegenheit und Erregung, und er hob gespannt und ehrfurchtsvoll den Blick, doch ihm, der in diesem Augenblick bereit gewesen wäre, Sinn, Wesen, Bedeutung und Urgrund aller menschlichen Kunstbetätigung verstehen zu lernen, alles Sein als ein Nichts und nur das Kunstwerk als das gestaltete Etwas zu betrachten, der bereit gewesen wäre, sich vor der Schöpferin dieses Etwas in Weihrauchduft aufzulösen, der ihre Gestalt umschwelt, oder in ein Blümchen zu ihren Füßen zu verwandeln, wie zu Füßen einer Madonna, ihm blieb, als er das Bild gesehen hatte, der Atem stehen; so sehr war er erschrocken, der Arme.

Dieses Bild verdankte nämlich seine Entstehung einer jener vorgestrigen Kunstrichtungen, von denen Passow keine Kenntnis gehabt, deren Originalwerke er natürlich niemals gesehen hatte und von denen Blanches Werk nun auch noch nur ein Epigonenwerk war und als solches auch noch nach allen Seiten übertrieb. Da war auf der linken Seite des Bildes ein Frauenkopf zu sehen, nein, nur ein halber Frauenkopf, denn er war von oben bis unten, vom Scheitel über Stirn, Nasenrücken und Mund bis zum Kinn in glatter Fläche durchgeschnitten, und nur die eine Hälfte also war zu sehen, obwohl auch für die andere auf der Leinwand Raum genug gewesen wäre; über dem Kinn lag schief, die einzelnen Teile in Quadrate und Rechtecke aufgelöst, eine Violine und bedeckte auch noch jene leergebliebene Fläche, auf der unter normalen Verhältnissen der andere Teil des Gesichts gewesen wäre; rechts stand unter vier Palmen ein Klubfauteuil, auf dessen Sitz eine Mondsichel auf ihrer Spitze balancierte. Es trieben noch manch andere Erscheinungen ihr Unwesen, und nur weil er bei Passow, wie aus seinen Blicken zu ersehen war, geradezu schmerzliche Verzweiflung auslöste, sei eines Bindfadens Erwähnung getan, der in der Nähe des linken oberen Winkels auf die Leinwand geklebt war. Er war dick, fast schon ein dünner Strick, zerfasert, haarig und hob sich hell von dem gemalten dunklen Grund ab. Die Hoffnung, die der Betrachter einen Augenblick gehabt haben mochte, daß er nur aus Zufall oder aus nicht zu erratenden technischen Gründen hingeraten sein könnte, wurde schnell durch die Tatsache hinfällig, daß die Linie, die er plastisch bildete, an seinen beiden Enden durch gemalten Bindfaden fortgesetzt war.

Passow also blieb der Atem stehen. Er war sprachlos, und wie alle Menschen, die angesichts eines Kunstwerks sprachlos sind, zwang er sich doch, etwas zu sagen, und wie alle Menschen in seiner Lage gab er das Urteil ab, daß das Gemälde sehr interessant sei. Dieses Urteil wiederholte er von Zeit zu Zeit, und es gelang ihm nicht, es in anderen Worten zu variieren.

Schließlich glaubte Blanche, ihm genügend Zeit gelassen zu haben. »Nun, jetzt ein anderes«, sagte sie, hob das Bild von der Staffelei und brachte ein zweites herbei. Er erblickte es, und ihm war wie einem Menschen, der sich von einer gewaltigen, auf seine linke Wange versetzten Ohrfeige zu erholen versucht, sich mühsam aufrichtet und in dem Augenblick, da er schon, zwar noch taumelig, dennoch schon langsam die Balance wiederzufinden beginnt, überraschend von rechts her eine zweite, ebenso kräftige Ohrfeige verabfolgt bekommt, so daß er nun nach der anderen Seite wankt und stürzt. Es war ein Gemälde aus jener Epoche, da Blanche von sozialen Empfindungen überwältigt, nein, da sie von Bildern überwältigt worden war, die von Malern stammten, die ihrerseits von sozialen Empfindungen überwältigt worden waren. Es standen Frauen da, lang und dünn wie Besenstiele, ihre Gestalten waren unmodelliert und die Gesichter unsagbar mager. Über die andere Hälfte des Bildes gingen und krochen kleine, schleimige, männliche Wesen mit ungeheuren, bis zu den Knien hängenden Bäuchen, auf denen gewisse Zahlen standen: eine Million, zwei Millionen, hundert Millionen, einmal in Ziffern, einmal in Buchstaben.

In der Mitte des Bildes leuchtete eine Sonne, deren grelle Strahlen, nur nach der einen Seite fallend, nur das ekelerregende Bauchgelichter in übervolle weiße Helligkeit tauchten, während jene ausgemergelten Frauengestalten in stumpfem rotviolettem Licht standen, dessen Ursprung und Quelle unsichtbar war. Passows Augen liefen ängstlich über die Leinwand, wie auf der verzweifelten Suche nach einer Zuflucht, sie liefen nach oben, unten, nach rechts und links und in alle Winkel, als könnten sie irgendwo einen Kommentar, eine Lösung, einen Halt finden. Kopf und Körper blieben erstarrt und gebannt, und nur einmal rührte er sich, um sich mit der fast traumhaften Bewegung eines Betäubten vorzubeugen und zu lesen, was auf den Bäuchen geschrieben stand: eine Million, zwei Millionen, hundert Millionen.

Fortan ließ Blanche ihm weniger Zeit zu Betrachtung und Studium und wechselte immer schneller die Bilder. Es taten sich Ungeheuerlichkeiten vor ihm auf, Phantasien und Phantasmagorien, Stilisierungen, die er nicht begriff, Farbenzusammenstellungen, die ihm gräßlich ins Gebein fuhren, schmerzhaft unlogisch gebogene und geknickte Linien, dunkle Inhalte und gewalttätige Experimente. Bild folgte auf Bild, und das bedeutete: Hieb auf Hieb; es war ein Ohrfeigenregen, ein Backpfeifenhagelschlag, der so lange währte, bis Blanche endlich sagte: »Nun, für heute ist es wohl genug!«

»Schon?« sagte er. »Schade!«

Sie gab nach: »Nun, noch dieses eine!« und holte eines aus ihrer ersten Kunstperiode hervor, als sie Schülerin eines Nachfahren der Impressionisten gewesen, und auf dem ein Teil des Gartens vor ihren Fenstern dargestellt war.

Passow warf einen Blick auf dies Gemälde, und nun war es ihm, als ob zwei mitleidige Arme ihn, den Geprügelten und Taumelnden, freundlich aufgefangen, unter den Achseln gestützt und wieder auf die Beine gestellt hätten. Er atmete auf. Ein kleines glückliches Leuchten ging über sein Gesicht. »Das ist eine Landschaft!« rief er aus.

»Allerdings!« sagte Blanche.

Er streckte den Arm aus und wies entzückt auf eine Fläche im unteren Teil des Bildes. »Das ist ein Rasen!«

»Gewiß!« sagte Blanche.

»Ein Baum! Ein Strauch! Der Himmel!« rief er, und seine Blicke gingen in rasender Schnelligkeit über das Bild; es war ein Wiedersehen, er erkannte die Welt. Er neigte den Kopf nach rechts und links, visierte, trat zurück, trat wieder vor, und sein Körper erwachte aus seiner Erstarrung; er räusperte sich und hätte vielleicht die Anbahnung eines Kunstgesprächs versucht, wenn nicht Blanche, ermüdet und vielleicht zufrieden mit diesem verhältnismäßig guten Abschluß, ein Ende hätte machen wollen. »Nun ist's aber wirklich genug!« sagte sie und stellte das Bild wieder an seine Stelle.

Auf der Staffelei war wiederum nur das graue Tuch zu sehen, hinter dem das Seestück stand. »Hinter diesem Vorhang«, sagte Passow voll ehrfürchtiger Scheu, »hinter diesem Vorhang verbirgt sich wohl das eben im Entstehen begriffene Werk?« Ja, sagte sie, es sei das Bild, an dem sie eben arbeite. Glaubte er nun, Interesse bekunden zu müssen, oder war's sein Bedürfnis, das augenblickliche Geheimnis ihrer Schöpferkraft kennenzulernen, er wagte es und fragte, ob sie ihm, wenn profanen Augen das Unfertige überhaupt vorgeführt werden dürfe, ob sie ihm erlaube, es zu sehen, für einen Moment nur, daß er wenigstens das Sujet kennenlerne und wisse, womit sie jetzt in ihrem Inneren beschäftigt sei. Sie gab nach; warum nicht, meinte sie, es sei ja doch fast fertig.

Sie schlug das Tuch von ihrem letzten Werk, an das sie gegangen war, nachdem sie sich von allen Lehren und Lehrern, Kunsttheorien und Dogmen befreit hatte, und vor Passows Augen dehnten sich, in leidenschaftlich grellen Farben, das himmelblaue Meer und über ihm der marineblaue Himmel; es schaukelte der bräunlich-rote Kahn, und auf dem Bänkchen saß, in ekstatischer und zugleich durchaus keuscher Umarmung, das Liebespaar; der Kopf des Mannes war noch nicht ganz ausgeführt, die füllige Gestalt der Frau in schleierartige Gewänder gehüllt, die wallend ihre Formen verbargen. Träumerisch sahen die Glücklichen mit zurückgeneigten Köpfen in die Höhe und Ferne, es leuchteten in buntem Blau die Flächen, die abgründige Tiefe des Wassers war zu lieblichen Wellen verzierlicht, der gewaltige Luftraum ohne Luft, das ganze ohne Nuancen, reinen und aufrichtigen, doch unkünstlerischen Herzens gezeichnet und gemalt, verzeichnet und vermalt.

Sie schlug also das Tuch zurück, er sah das Bild, und ein kurzer, rauher, unbeschreiblicher Laut entfuhr ihm, wie das Echo einer inneren Explosion, wie ein knarrendes Aufstöhnen, seine Augen wölbten sich vor, seine Brust hob sich unter einem tiefen Atemzug, und sein Gesicht rötete sich unter dem Andrang des Blutes. »O Gott« rief er aus, und er rief es aus tiefster Seele. »O Gott! gnädiges Fräulein, ist das schön!«

Blanche hatte sich abseits gestellt, wie um ihre Anwesenheit auszulöschen und nur die Kunst wirken zu lassen, doch bei seinem Ausruf hob sie lächelnd und mit lächelnden Augen den Kopf.

Passow starrte auf die Leinwand, auf die Meeres- und die Himmelsfläche, den Kahn und die beiden Gestalten, sein Blick lief übers Wasser, die kleinen Wogen, die winzigen Schaumkronen und die weißen, rosa angehauchten Lämmerwölkchen. Er schwelgte und schwärmte, kein Zweifel, durch sein Inneres flossen die warmen Ströme der Begeisterung. Dieses Bild ließ sein Herz schneller schlagen, er liebte es, er bewunderte es; denn er verstand's. Er verstand, wahrscheinlich zum erstenmal in seinem Leben, ein Kunstwerk.

Wie sonderbar muß einem Menschen zumute sein, der bisher immer vor den Toren der Kunst als Neugierig-Fremder und als Gutgläubig-Fragender gestanden hat, wie sonderbar muß ihm zumut sein, wie ergriffen, wie glücklich muß er sein, wenn sich ihm plötzlich, sein Gefühl anpackend, der Bereich der Kunst eröffnet! Wenn sich mit einem Schlag die rätselhafte Welt auftut, wenn ein Werk zu sprechen beginnt, wenn es vor seinen Sinnen Blut, Leben und Atem bekommt. Zum erstenmal verspürt er nicht nur einen Inhalt, sondern auch einen Gehalt, eine Schönheit, ein Bekenntnis, eine Gestaltung, zum erstenmal das Mehr des Kunstwerks, und plötzlich und endlich, endlich! glaubt er zu erkennen, warum die Menschheit Kunst betreibt. Dabei, genau betrachtet, ist er ja gar nicht von Kunst ergriffen, er begreift nur die Gefühle des Künstlers und fühlt sie ihm nach; doch dies ist gleichgültig, es ist ja nicht von Kunst hier die Rede, sondern von Passow. In entzückter Freude und in rührender Hingabe verharrte er vor der Staffelei. Auch Blanche schien gerührt zu sein; zwar neigte sie, fast schamhaft, den Kopf abwärts, doch es war mütterliche Wärme in ihren Blicken, als sie ihn, der wie ein beglücktes Kind dastand, von unten herauf verstohlen betrachtete.

»Wunderbar! Wunderbar!« rief er immer wieder. Er suchte nach anderen Worten, es zuckte und flackerte in seinem Gesicht, er kämpfte um Ausdruck, er hätte gewiß gern zum Lobe des Bildes Arien gesungen, doch er hatte nun einmal keine Stimme. So stand er wie angeklebt und starrte auf diese Idylle, auf dieses glückliche Paar, dessen Gefühl so heftig war, daß unter dessen Kraft der Kahn fast kippte. Er verstand's! Er verstand's! und jetzt endlich, endlich glaubte er einen Blick in ihre Seele getan zu haben, und in welch eine Seele! Was mußte sie gefühlt, was mußte sie durchlebt haben, ehe es sich so aus ihr herausgerungen haben konnte!

Er wandte den Kopf ihr zu, die an die Wand gelehnt stand und, gleichsam als unbeteiligte Person, zu Boden sah; er traute sich nicht, seine Augen auf ihrem Gesicht ruhen zu lassen, offenbar aus Angst, ihre Blicke könnten sich überraschend heben und dann den seinen begegnen; so gingen sie denn abwärts, über ihre Schultern, ihre Arme, ihren Busen, den ganzen Körper entlang, und siehe! siehe! wie schön war, was sie sahen! Welch eine Gesundheit und Pracht! Wie konnten die Augen spazieren und schweifen, über die Flächen, die Hügel und Kuppen! Und daß es auch die Hände tun könnten, war unvorstellbar wie ein fernes Wunder.

Sie rührte sich, tat einige Schritte und fragte: »Nun, wollen wir wieder hinuntergehen?«

»Gern!« erwiderte er und folgte ihr über den winzigen Korridor und die Treppe.

Jetzt wäre vielleicht der Augenblick gekommen, da er nicht hinter ihr hätte gehen müssen, sondern sich neben sie hätte bringen können, da er ein Wort hätte sagen oder gar ihre Hand hätte fassen können, aber er wollte sich nicht vergessen und bezähmte mit all seinen Kräften sein winziges Temperament.

Bald saßen sie wieder unten im Biedermeierzimmer, sie auf dem Sofa an der Wand, er an der Querseite des ovalen Tisches, dem Fenster gegenüber. Der Kaffee war über dem Kerzenflämmchen warmgehalten worden, doch Passow trank nicht mehr und aß auch nichts, aber er langte, nachdem er um Erlaubnis gefragt, nach dem silbernen Kästchen, denn zur Feier des Tages, so sagte er, zur Feier des Tages werde er eine Zigarette rauchen. »Das ist recht!« antwortete sie mit freundlicher Aufmunterung und gab ihm Feuer.

Er saß aufrecht und sah in feierlicher Stille auf seine Knie nieder. Endlich hob er den Kopf. »Heute ist's mir aufgegangen«, sagte er, »etwas wie Großes es um die Kunst ist. – Man traut sich gar nicht, über dieses Gemälde zu sprechen, so sehr ist es über alles Lob erhaben! Wann wird das Werk wohl fertig sein?«

Sie wisse es nicht, antwortete sie, aber sie wolle annehmen: in acht Tagen. Wie lange sie schon daran arbeite, forschte er weiter, und sie sagte ihm, daß es vier Wochen seien.

»Vier Wochen –!« wiederholte er grübelnd. Wenn sie ihm geantwortet hätte, zehn Jahre brauche sie für jedes Gemälde, es wäre ihm begreiflich gewesen, denn welch eine gigantische Arbeit erforderte solch ein Werk! Jeder Pinselstrich eine Leistung! Jede Linie voll Gefühl! Aber es wäre ihm auch glaublich erschienen, wenn sie ihm erklärt hätte, daß in derselben Minute, in der sie es vor sich sehe, es auch schon so gut wie fertig sei.

Er setzte von neuem an und fragte mit schüchterner Stimme, welches von ihren Bildern ihr selbst das liebste sei. Sie erwiderte, indem sie die Augen niederschlug: »Das Seestück«, und wer kann entscheiden, ob sie da die Wahrheit gesprochen, indem doch das letzte Werk, wie das jüngste Kind, dem Herzen immer am nächsten steht, oder ob sie, um ihn nicht zu enttäuschen und ihm zuliebe, nur glaubte, daß es die Wahrheit sei. Er nickte verständnisvoll, das habe er erwartet, sagte er, das habe er erwartet, und fragte, ob die Inspiration plötzlich über sie komme oder ob sie vorher Anzeichen für ihr Auftauchen verspüre, durch eine gewisse Unruhe etwa, und ob sie mit einer ungefähren Regelmäßigkeit über sie komme. Ob die Verschiedenheit des Stoffes oder Inhalts eine verschiedene Malweise erfordere, ob also etwa eine Gebirgslandschaft mit anderen Mitteln darzustellen sei als das Meer, und ob ihr überhaupt die Erlernung der Technik bis zu ihrer vollständigen Beherrschung große Mühe bereitet habe.

Sie gab ihm Auskunft, so gut sie konnte, aber endlich forderte sie ihn auf, getrost ihr Bild und ihre Malerei zu vergessen, er möge doch auch von sich sprechen, sie müsse ihm die Schande eingestehen, daß sie gar nicht wisse, welchen Beruf er im Augenblick habe; allerdings sei sie halbwegs durch die Tatsache entschuldigt, daß er öfter seine Tätigkeit gewechselt habe. Er winkte ab. Was er denn, schien diese wegwerfende Geste zu sagen, was er denn, er Wurm, für einen Gesprächsstoff abgeben würde! Er erkundigte sich, ob sie lieber nach der Natur oder nach Phantasievorstellungen male, ob sie den Süden oder den Norden vorziehe, wie lange und bei wem sie studiert habe und ob sie auch selbst schon Schüler habe und ob sie bereit wäre, das Seestück zu verkaufen. Sie lachte auf: es gehe darum, ob sich ein Käufer finden würde! Aber dieser Gedanke ging ihm nicht ein. Ob man es denn überhaupt schon in weiteren Kreisen kennengelernt habe, fragte er; er könne es nicht glauben, daß jemand, der nur ein wenig Gefühl für die Kunst habe und nur halbwegs in den entsprechenden Verhältnissen sei, nicht mit tausend Freuden danach greifen sollte! Ob, zum Beispiel, der hiesige Museumsdirektor es schon gesehen habe? Ob es denn so schwer wäre, ihn zu einem Besuch in ihrem Atelier zu veranlassen? Allerdings, dieses Gemälde dürfe nicht zwischen zehn oder zwanzig anderen ausgestellt sein, wie es Sitte sei, so dürfte es nicht profaniert werden. In einem großen Saal müsse es hängen, begann er zu schwärmen, an der Stirnseite, dem Eingang gegenüber, in einem prachtvollen Rahmen, unter idealen Lichtverhältnissen und als einziges im großen Saal!

»Sie träumen!« sagte sie und lächelte ihm zu. »Lassen Sie nun das Bild! Sie sind sicherlich ein sehr guter Mensch.«

Er sah zu Boden, dann hob er wieder den Kopf und fragte mit innig gedämpfter Stimme: »Sie lieben wohl sehr das Meer?«

»Ja!« antwortete sie. »Sehr!«, und er erkundigte sich, ob sie es auch schon in anderen Jahreszeiten gesehen habe als im Sommer, und in welcher Stimmung sie es am meisten liebe, am Morgen, am Abend, zu Mittag, in der Dämmerung, im Sturm oder in der Ruhe, während der Ebbe oder der Flut. Er horchte ehrfurchtsvoll auf ihre Antworten, und nachdem er sie schweigend gleichsam in seinem Innern verarbeitet hatte, rief er nach geraumer Weile aus: »Wie stolz müssen Ihre Eltern auf Sie sein!«

Zwar versuchte sie von Zeit zu Zeit, ihn von seinem Thema abzuziehen, doch es gelang ihr nicht. So fügte sie sich, aber sie fügte sich in aller Güte, indem sie ihm Rede stand und Auskunft gab, und legte eine fast mütterlich-liebevolle Geduld an den Tag.

»Allein die physische Anstrengung!« rief er und erkundigte sich, ob Blanche wenigstens für die grobe Arbeit eine Hilfe habe, fürs Waschen der Pinsel, fürs Spannen der Leinwand, fürs Reinigen der Paletten, und ob die Staffelei immer am selben Fleck bleibe oder hin- und hergeschoben werden müsse und ob sie all jene Farben zu kaufen bekomme, die sie benötige, ob sie vorrätig seien oder bestellt werden müßten. Sie bat ihn abermals, nun endlich nicht mehr an ihr Bild und ihre Malerei zu denken; schließlich, sagte sie, seien sie doch auch Privatmenschen. Er schüttelte den Kopf, als ob er widersprechen wollte. Sie lachte auf: Wie? Sie seien keine Privatmenschen? Am Ende überhaupt keine Menschen?

Er sah sie groß und innig an und vollführte eine etwas eckige Geste, die das ganze Haus umfassen sollte. »Nein!« sagte er feierlich. »Nein! Nicht in diesen Räumen!« In diesen Räumen höre alles Private, alles Persönliche, ja, er möchte sagen, alles Menschliche auf.

Er beleidige sie, rief sie heiter aus. Als ob sie keine Frau wäre! »Bin ich nur die Malerin meiner Bilder? Ah, für Sie scheine ich tatsächlich nichts anderes zu sein!«

Er schwieg, sah auf seine Hände nieder und lächelte wehmütig wie über einen Scherz, der im geheimen schmerzt und sticht; doch er trug es und fragte, ob es nicht herrlich sei, sich so begnadet zu wissen. Sie gab keine Antwort, und so fragte er denn, ob sie auch schon Gebirgslandschaften gemalt habe, Hochgebirge, Mittelgebirge, Gletscher, und ob auch schon Ebenen und Teiche. Sie unterbrach ihn: »Sie nehmen gar nichts? Kein Gebäck? Kein Obst? Keinen Kognak? Keinen Likör? Sehen Sie doch, diese drei Flaschen habe ich eigens für Sie und Ihnen zu Ehren gekauft und selbst hergetragen!«

»Eigens für mich?« wiederholte er staunend. Dies sei ihm, sagte er, das Unbegreiflichste von allem, daß sie auch noch solche Nebensächlichkeiten mitbedenken könne, und wollte wissen, ob sie denn die Bedürfnisse und Notwendigkeiten des Alltags nicht gar zu sehr störten, ob sie bereits auf dem Weg ins Atelier mit der Arbeit beginne, und brachte das Gespräch darauf, ob sie sich entschieden oder überhaupt schon darüber nachgedacht habe, wie denn nun dieses Seestück heißen solle, ob sie viele Skizzen mache, ehe sie an ein Gemälde herangehe, und ob man aus einer gewissen, beschränkten Zahl von Farben jede gewünschte Nuance durch Mischung erzielen könne. Er erkundigte sich, ob sie viel gereist sei, allein, mit ihren Eltern, mit Freunden, ob ihre Tageslichtlampe ungefähr oder durchaus das Sonnenlicht ersetze.

Sie saßen unbewegt, Blanche aufrecht, den Kopf zurückgelegt, daß er die Wand fast berührte, die Hände rechts und links neben sich auf dem Sofa, Passow vorgeneigt, die Augen fragend und wartend in ihr Gesicht gebohrt. Kein Laut drang von außen herein. Wie an einem stillen Abend nach dem Regen von zwei benachbarten Dächern nacheinander die Tropfen in regelmäßigem Rhythmus fallen, so fiel seine Frage und dann ihre Antwort, und nur manchmal, wenn er nachdachte, entstand eine Pause.

Er fragte und fragte. Doch schließlich war für Blanche auch diese Stunde vorbei; Passow nahm an, daß sie noch arbeiten würde, und brach auf. Nachdem er ihr gedankt und sich verabschiedet hatte, ging er stumm in den Vorraum. Dort stand er ihr nochmals gegenüber, über den linken Arm den Mantel geworfen, den jetzt anzuziehen ihm zu umständlich gewesen wäre, Hut und Schirm in der linken Hand. Als ob er die Größe des Augenblicks nicht durch Worte entweihen wollte, drückte er nur stumm mit der Rechten die ihre, mit festem, innigem Griff, der zu sagen schien: Dank! Dank! Zugleich sah er ihr lange, kräftig und unbeirrbar in die Augen, mit einem Blick, der dieses Dank! Dank! wiederholte. Als wollte er betonen, daß nichts mehr hinzuzufügen sei, jedes Wort eine Entheiligung des wortlosen Blicks und Händedrucks wäre, wandte er sich schnell um und schritt davon. In einer gewissen Verwirrung hatte er vergessen, den Mantel anzuziehen. So ging er durch den kühlen Märznachmittag im bloßen Anzug, der aus einem dünnen, grauen, etwas armseligen Stoff gearbeitet war. Der Rock saß zu knapp, der Stehkragen war zu hoch, die Krawatte zu schmal, sein Hut hatte eine zu schmale Krempe, die auch noch zu steil hinaufgebogen war. Sein Gesicht, eben, übersichtlich und friedlich, war wie ein unbebauter Acker.

Welchem Jahrhundert gehörte Passow an? Gar keinem, er wäre in jedem ein Fremdling gewesen. Er war eines jener seltenen Wesen, die aus unendlicher Ferne zu kommen scheinen, mit unverdorbener Luft um sich, ihr Merkmal ist die Unberührtheit von der Zeit und ihre Unberührbarkeit.

Passow hatte seit Jugend und Kindheit nur einen einzigen Freund. Die beiden waren einander sehr ähnlich. An diesem Abend saßen sie in seinem möblierten Zimmer und nahmen ihr bescheidenes Abendessen ein, das sie in der Delikatessenhandlung einer Nebenstraße eingekauft hatten. Passow sprach von Blanche und versuchte, dem anderen eine Vorstellung von dem Seestück, doch auch einen Begriff von den anderen Bildern zu geben, die er zwar nicht verstehen könne, an deren Bedeutung er aber nicht mehr zweifeln dürfe, nachdem er jenes eine herrliche kennengelernt habe. Er beschrieb das Haus, die Zimmer und das Atelier mit allen Einzelheiten und erwähnte auch die vielen Blumen, die er dort gesehen und bewundert hatte, wobei er ihre Schönheit ins Märchenhafte steigerte. »Ich begreife sehr gut«, sagte er, »gar zu gut, daß man sie verwöhnt, daß ihr Haus mit kostbaren Blumen überfüllt ist. Was mir aber unbegreiflich bleibt, ist, daß man es wagt, unabhängig von Höflichkeit und platonischer Verehrung für die große Künstlerin, wie man es wagen kann, ihr als persönliche Huldigung, als eine Art von Annäherung Blumen zu schicken, oder daß man sonst einen Schritt tut – du verstehst mich?«

»Wenn sie so ist, wie du sie schilderst«, antwortete der Freund, »meine ich, daß man solchen Frauen getrost huldigen kann. Sie sind es gewohnt. Ich denke, sie lassen sich huldigen, sind aber selbst über die Liebe erhaben.«

»Ja«, gab Passow zur Antwort, »du wirst wohl recht haben. All ihre seelischen Kräfte gehen in der Kunst auf, und nur, was sie sozusagen in der Kunst nicht unterbringen, bleibt für die Liebe. Es ist natürlich bloß ein Rest, sozusagen.«

»Ja! So ist es wohl.«

»Aber«, fuhr Passow fort, »bei Blanche Riedinger ist die Kunst so groß, es geht so alles in ihr auf, ihre Zeit und das ganze Gefühl, dessen ein Mensch fähig ist, daß für die Liebe gar nichts bleibt, auch nicht dieser Rest.«

»Hm, ich kenne sie nicht, aber es wird schon so sein, wie du sagst!«

So trieben die beiden Freunde, selbst zu unerfahren und schlicht, als daß sie Kenner der menschlichen Natur hätten sein können, ihre simple Psychologie.

»Und noch etwas!« fügte der Freund hinzu, sich mit verlegenem Lächeln zu dieser Kühnheit, dieser indiskreten Analyse zwingend. »Noch etwas!« sagte er zögernd. »An der Liebe ist doch, wie wir alten Knaben wissen, auch der Körper beteiligt!« Passow nickte ernst und sah schamhaft zu Boden. »Und sie erfordert«, sprach der Freund weiter, »wie wir wissen, seine Kräfte.«

»Gewiß!« sagte Passow leise.

»Wenn nun die Bilder«, fuhr der Freund fort, »wirklich so groß und schwer sind, wie du sagst, die Staffelei so schwierig zu handhaben und von so riesigem Gewicht, und wenn man bedenkt, daß man bei dieser Arbeit Stunden und Stunden auf seinen Füßen stehen muß, und die weiten Wege täglich von der Wohnung zum Atelier und zurück, und manchmal vielleicht zweimal täglich, ganz abgesehen von den Laufereien, den Besorgungen der Utensilien –« er hob die Schultern und breitete die Arme zu einer fragenden Geste aus, »siehst du, sind da nicht am Abend alle Körperkräfte aufgezehrt?«

»Vielleicht«, sagte Passow traurig, »vielleicht spielt auch das eine große Rolle!«

Der Freund legte kameradschaftlich die Hand auf Passows Schultern. »Du verübelst es mir doch nicht«, fragte er, »daß ich mich auch auf dieses Gebiet gewagt habe?«

»Aber bitte, bitte!« antwortete Passow. »Wir sind doch erwachsene Männer!«

Sie schwiegen und dachten nach. Dann aber begannen sie von neuem, vertieften sich immer mehr in ihren Gegenstand und in alles, was damit zusammenhing, philosophierten über die Liebe, sprachen über Blanche, debattierten über die Kunst, die Natur des Künstlers und blieben bis spät in die Nacht und viel länger beieinander, als es jemals vorgekommen war.

 

Aus der Entfernung war die Dämmerung schon zu ahnen, schon begann sie dem Licht allmählich die Kraft zu entziehen. Es war ganz und gar windstill und alles wie erstarrt, jeder Baum war nur wie die Statue eines Baums, und kein Blatt erzitterte in der Luft. So stand auch Blanche auf der Schwelle ihres Häuschens, dem Garten zugewandt, auch sie nur die Statue eines Menschen.

Vor wenigen Minuten erst war Passow gegangen; sie war halb ins Freie getreten und in der offenen Tür geblieben. Nur ihr Gesicht regte sich, vielmehr, es wurde bewegt, als striche ein Wind darüber hin – ein sich drehender Wind aus allen Welt- und Schicksalsrichtungen. Zuerst hatte sie Passow zugelächelt, wie man eben einem scheidenden Gast freundlich zulächelt; dann hatte sie ihm, als er seines Weges ging, nachgelächelt. Noch hatte es ihm gegolten, doch war's schon wie ein zu sich selbst gesprochenes Wort, ein gutmütiges Urteil über den steif und befangen dahinschreitenden Mann; und in das Lächeln glitt die Ahnung eines Bedauerns mit, der Schatten eines Mitgefühls. Hinhuschende, weiterwandelnde Gedanken, Mitgefühl und Bedauern verschmolzen in Wehmut, in Trauer. Wem galt die Wehmut? Wem die Trauer?

Es war wie ein Wetterleuchten auf allen Seiten, als wollte es von allen Horizonten heraufziehen und sich zusammendrängen. In dem wehmütigen Lächeln tauchte Bitterkeit auf. Wohin flogen die Gedanken? Ironie und Selbstironie waren abzulesen, das Lächeln verlor alle Freundlichkeit. Waren die Augen dunkler geworden? Hatten die Lider sich um ein unwägbares Maß gesenkt? In das Lächeln trat Verdüsterung, der Anflug eines Hohns, der Anflug einer Verachtung. Bei wem hielten die Vorstellungen? Bei jemandem? Bei niemandem? Bei der ganzen Welt? Bei ihr selbst? Plötzlich war alles Dunkle verfärbt, ein großer Zorn war zu lesen, ratloser, verzweifelter Zorn. Es war, als dränge sich Gefühl vom Leben in einem einzigen Moment zusammen. Das Gesicht war wie in Auflösung, es war etwas Wildes in ihm, doch noch immer war's ein Lächeln, wenn auch ein anderes, eines der Bitternis, der Klage und Empörung.

Nochmals verwandelte sich das Lächeln. Der Zorn erschlaffte, die Verzweiflung wurde matter, und übrig blieb nur eine Müdigkeit, die vielleicht dem vergangenen Tag, vielleicht vergangenen Jahren galt, ein müdes Lächeln, und dieses blieb nun lange Zeit.


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