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Erstes Kapitel

I

Am nächsten Morgen um zehn Uhr verließ Blanche das Haus, um Carola zu besuchen. Sie war bleich nach der letzten Nacht und schwärzlich unter den Augen. Nach einer Fahrt von einer halben Stunde stieg sie in einem anderen, unbelebten Viertel aus, in dem, von Gärten umgeben, neue Mietskasernen und Villen in schnurgeraden, schweigenden Straßen standen, und schritt durch die schon halb ländliche Gegend auf einem ungepflasterten, erdigen Gehsteig dahin, rechts die Gartengitter und Mauern, die, ineinander übergehend, eine einzige Linie bildeten, links, am Rand des Trottoirs, eine Reihe junger, nackter Ahornbäume, denen jenseits der breiten, leeren Fahrstraße eine ebensolche Reihe entsprach. Es fuhr nur selten ein Wagen, und nur wenige Menschen waren zu sehen – einige, die von der Elektrischen kamen, wie sie selbst, andere, die zur Haltestelle eilten, und hie und da ein Spaziergänger oder ein Kind. Blanche hatte einen geraden Weg von etwa vier Minuten vor sich, nur bis ans Ende der Straße, wo diese sich in freies Erdreich und noch unbenutzte Baugründe verlor, denn Ruge und seine Frau wohnten am vorläufigen Rand der Vorstadt.

Der Gedanke an Carola war für Blanche im Laufe der Nacht von den vorüberwirbelnden Stunden allmählich verdrängt worden, am Morgen jedoch, als sie erwachte, stand, als erste, drohende Begrüßung des Tages, unerbittlich vor ihr das Bild der Kranken, der von Leid Umwehten, vom Tod schon Gefärbten, und abermals durchfuhr sie der Schrecken, dieser Schrecken mit seiner Atemlosigkeit, mit diesem Einhalten des Herzens, diesem plötzlichen Stillestehen des ganzen Innern. Noch wußte sie nicht, was im einzelnen vor sich gegangen und wodurch es heraufgeführt worden war, sie wußte nicht, ob ihr in der kleinen Villa der Vorstadt der Atem der Tragödie, der Hauch des Todes oder nur der Verwesungsgeruch einer Liebe entgegenwehen würde; aber wer kein eigenes Schicksal hat, pflegt lüstern nach fremden Schicksalen zu sein, und Blanche fühlte sich mit wollüstiger Hoffnung hingezogen, als ob ihr dort, am Herd des fremden Unglücks, endlich ein wirkliches Leben vorgeführt werden würde.

Da sie, vor dem unversperrten Gartentor, schon die Hand auf die Klinke gelegt hatte, hielt sie ein und zögerte; erst nach einigen Augenblicken raffte sie sich auf und trat ein; sobald sie aber die Tür hinter sich geschlossen hatte, war's, als ob sie die Welt verlassen hätte. Sie hörte keinen Laut, und nichts rührte sich. War auf der Straße nur wenig Bewegung, so war dort doch immerhin Leben gewesen, hier aber konnte man die Empfindung haben, plötzlich in eine andere, windstillere Gegend versetzt worden zu sein. Den Garten umsäumten hohe Pfeifensträucher, die, innen das Gitter weit überragend und schon vor ihrer Blüte stehend, eine zweite, dichtere Grenze gegen die Außenwelt bildeten. Über Gebäude und Garten war die Haube der Stille gestülpt, und man konnte das Gefühl haben, daß sich die ängstliche Stille des Krankenzimmers bis ins Freie erstreckte.

Blanche hatte bis zum Hauseingang nur etwa dreißig Schritte auf einem geraden kiesbestreuten Weg zu gehen. Schüchternen Ganges schritt sie vorwärts, das Knirschen unter ihren Füßen, so gut es ging, dämpfend. Der Pfad führte zwischen unbepflanztem, doch schon aufgelockertem, bräunlich und lila schimmerndem Erdreich, in dessen Mitte auf jeder Seite je ein dürftiges, in seiner Winterstarre noch lebloses Aprikosenbäumchen gesetzt war; ringsherum waren die beiden Flächen von einem abgelebt-grünen Rasenrand eingefaßt, in dem strohumhüllte Rosenstöcke standen.

Die weiße Villa, die fünf Zimmer enthielt, bestand, außer dem Erdgeschoß, nur aus einem Stockwerk und hatte, mit ihrem flachen Dach, die Gestalt eines Würfels. Ihre Mauern waren kahl, von mehr breiten als hohen Fenstern und einer gradflächigen Tür unterbrochen. Blanches Blicke liefen über die Front des Gebäudes, nach einem Zeichen des Lebens suchend, und gingen von Fenster zu Fenster. Links unten war das Arbeitszimmer Ruges, in dem er den größten Teil seiner Tage und manche Nächte verbrachte. Er war theoretischer Physiker und erwartete seit Jahren eine ordentliche Professur, nachdem er sich längst habilitiert hatte. Man hielt ihn für außerordentlich begabt, manche in der Welt verstreute Gelehrte nannten ihn genial. Er dachte mit dem freien Mut der Phantasie und mit der Überzeugung, daß die Bilder, Zusammenhänge und Gesetze, die sich seinem scheinbar der Wirklichkeit abgewandten Geist darboten und aufdrängten, sich doch mit denen der Wirklichkeit deckten.

Dieses Haus hatte Ruge gebaut, obwohl er nicht wissen konnte, wann ihn ein Ruf in eine andere Universitätsstadt bringen werde, nicht so sehr für sich, wie für seine Frau, weil er gespürt hatte, daß sie es so wünschte, und weil immer ihre Wünsche und Bedürfnisse es waren, die ihm die Richtung für seine Handlungen und sein Leben wiesen. Er hatte dafür den vorletzten Teil jenes Vermögens verwendet, das von seiner Mutter auf ihn gekommen war; von dem letzten Teil aber hatte er dann gezehrt. Allerdings, bei all dem hatte er mit einer Professur rechnen können, die nicht mehr lange ausbleiben konnte, mehr noch aber mit der Erbschaft seines kranken, als reich geltenden Vaters, die ihm eines Tages zufallen mußte. Tatsächlich war auch der alte Mann vor einigen Monaten gestorben, doch nach der Untersuchung der verworrenen Verhältnisse hatte es sich herausgestellt, daß außer einigen Wertgegenständen und Kostbarkeiten nichts für den Sohn geblieben war; denn der Vater hatte nicht, wie man geglaubt hatte, von den Zinsen seines Vermögens, sondern von dem Vermögen selbst gelebt, das bei seinem Tod fast aufgebraucht war. Ruge hatte sich nicht entschließen können, sich seinen Freunden anzuvertrauen, die ihn, als den Universalerben, für reich oder wenigstens für vermögend hielten. So kannte niemand seine Lage, niemand wußte, daß er vor dem Nichts stand – vielmehr, mit voller Bestimmtheit, daß wirklich niemand es wußte, konnte Ruge selbst nicht behaupten, denn als er sich in den nun kommenden Wochen endlich doch Gisela anvertraute und sie ihn im Laufe des Gespräches fragte: »Weiß Carola etwas davon? Oder ahnt sie es?« antwortete er nicht mit einem eindeutigen Nein!, sondern nur: »Ich glaube nicht.«

Blanche näherte sich nur langsam, bedenklichen Sinnes, und ihre Schritte wurden immer schwerer. Vor dem einen Fenster, dem äußersten rechts oben, vor jenem in Carolas Schlafzimmer, war jetzt, am hellen Tag – ein bedeutsames Zeichen –, der dunkelgraue Laden vorgelegt, als müßte es gegen die Welt abgeschlossen werden. Alles schien erstarrt, alles Lebendige weit weggeschoben zu sein. Man mußte sich einsam fühlen. Auf der Straße erklang wohl die Stimme eines kleinen Kindes, das laut und hell jemandem etwas zurief, doch es war Blanche, als käme der Laut gar nicht übers Gitter in den Garten herüber, sondern als wüßte sie nur, daß er draußen ertönte.

Als sie angelangt war, horchte sie und zögerte abermals. Endlich drückte sie den Klingelknopf, aber es erklang kein Glockenzeichen, der Knopf versagte seinen Dienst, und mit dieser Beharrlichkeit, mit diesem Widerstand gegen jede Unterbrechung vertiefte sich die Stille nur noch in sich selbst. Nachdem Blanche es zum zweitenmal, und wiederum vergebens, versucht hatte, stieß sie zwei- oder dreimal den Knöchel des rechten Zeigefingers gegen die Türfüllung, doch von einem Klopfen kann nicht gesprochen werden, denn unter der Suggestion der ringsumher herrschenden Bewegungslosigkeit, unter der bedrohlichen Leblosigkeit hinter diesen Mauern tat sie es so schüchtern und ängstlich, daß nur sie selbst dieses ins Holz geflüsterte Geräusch, doch niemand im Haus es hören konnte. Sie wiederholte ihren Versuch, heftiger und stärker, wie sie glauben mochte, in Wirklichkeit aber nur um so wenig lauter, daß lediglich präzise Instrumente der Akustik den Unterschied hätten feststellen können. Nichts rührte sich.

Eine solche Stille hat den Charakter der Endlosigkeit, der Grenzenlosigkeit, hat die Kraft des unheimlichen Nichts, und es ist dem wartend-horchenden Menschen schwer vorstellbar, daß sie eines Augenblicks durchbrochen werden könnte, schwerer vorstellbar, als daß etwa ein ständig und gleichmäßig dauernder Lärm, den er hört, einmal doch zu Ende geht; natürlich, man weiß ja, was nach den Geräuschen eintreten wird: die Pause, die Stille, während, womit die Ruhe beendet werden könnte, man nicht einmal ahnen kann.

Eben, da Blanche schon zum drittenmal den Arm hob, ertönten, zwar nur gedämpft, doch unbefangen als natürliches Leben in die Grabesruhe einbrechend, verschiedene Geräusche, überraschend und wunderbar, wie es in diesem Moment jedes Geräusch gewesen wäre; es öffnete sich nämlich oben im Stockwerk eine Tür, zwei Männer traten aus einem der Räume in den Korridor und stiegen die Stufen hinunter. Man hörte sie sprechen, die eine Stimme war die Ruges, und schon die Hand erhebend, um sich bemerkbar zu machen, legte Blanche das Ohr an die Tür, um zu erkennen, wem die andere, die leisere, gehöre; darüber aber zögerte sie einige Sekunden zu lang, denn plötzlich waren sie innen vor der Tür angelangt, öffneten sie, und – sie hatte gerade noch Zeit, sich aufzurichten – vor ihr standen Ruge und Doktor Krau, der Arzt Doktor Krau, in dessen Wohnung das unglückselige Dienstmädchen versucht hatte, sich zu vergiften.

»Blanche –!« rief Ruge, als er sie so plötzlich, kaum einen halben Meter vor sich, aufgepflanzt sah. Er war nicht nur erstaunt, sondern auch, wie es schien, ganz und gar aus der Fassung gebracht, schaute hilfesuchend auf Krau, nach dem nun auch Blanche mit stummer Frage hinsah, wogegen auch der Arzt seine Augen zwischen den beiden anderen hin- und herwarf, und die nächsten Momente waren von stummer Verlegenheit, von einem ratlosen Blickespiel ausgefüllt.

Ruge war noch nicht vierzig Jahre alt und von magerer, langgliedriger, unbeholfener Größe. Seine Bewegungen waren unsicher und schüchtern und, wenn sie schneller wurden, fahrig-eckig. Sein Rücken war aus Gewohnheit ein wenig vornübergebogen, der Kopf etwas vorgeschoben, wie wenn er immer bereit sein wollte, sich zuvorkommend zu kleineren Leuten niederzubücken. Über seine Züge war der Schleier des viel in seine Gedanken vertieften, in sich selbst eingeschlossenen Menschen gebreitet, in seinen etwas verträumten Augen lag gutmütig-naive Weltfremdheit, und in seinem Wesen offenbarte sich denn auch die etwas ungeschickte Höflichkeit jener Leute, die, in ihre eigene Sphäre gebannt, sich nicht leicht zurechtfinden und immer fürchten, da oder dort anzustoßen, wenn sie aus ihr heraustreten müssen. Im Augenblick trat die längliche Hagerkeit seines Kopfes noch mehr hervor, in seinen Wangen saßen die Löcher, er war seit mindestens zwei Tagen unrasiert geblieben, und unter dem Schwarz der harten Bartstoppeln schimmerte matt die fahle Weiße der Haut. Er machte einen verwahrlosten, fast einen verkommenen Eindruck; allerdings schien er selbst das Bewußtsein davon zu haben und ein unangenehmes Gefühl, sich so zeigen zu müssen. Das konnte Blanche nicht entgehen, und dies mochte wiederum er empfinden, und so fühlte sich denn jeder prüfend vom andern betrachtet. Der Arzt warf seine stummen Blicke bald auf Blanche, bald auf Ruge. Die verlegene Situation, wie sie durch die gegenseitige Überrumpelung entstanden war, wurde noch unsicherer, zweifelhafter und fast atemlos. Selbst in ihrem Schweigen war noch ein Stottern.

»Blanche!« rief Ruge noch einmal. »Ja, wie –? Wieso –?« Er erwartete, daß sie seine unvollendete Frage beantworten, sie wartete, ob er weitersprechen werde. Beide suchten im geheimen Krau, er wiederum sah auf sie, und die Zeit, während der nun abermals der eine seine Blicke zwischen dem zweiten und dritten, aber auch der zweite und dritte zwischen den beiden anderen ängstlich hin und her laufen ließ, die Zeit schien für einen ewig-winzigen Bruchteil ihrer selbst ihren Gang vergessen zu haben und, stockend und erstarrt, mit geronnenen Sekunden zwischen ihnen zu stehen.

Auch Krau war blaß und übernächtig. Er war etwas jünger als Ruge und mittelgroß, seine blonden Haare waren gescheitelt. In seinem rundlichen Gesicht gab es keine Geheimnisse und keine Hintergründe, kaum ein Merkmal, aus seinen Zügen sprach eine gutmütige, fast rührende Naivität, die Komplikationen nicht gewachsen sein durfte.

Endlich begann Blanche und rief mit unvermittelter Lebhaftigkeit: »Ja, was gibt's denn bei euch? Ich stehe da und läute und niemand öffnet mir! Ihr wollt wohl nichts von mir wissen?«

»Ach Gott, ach Gott!« klagte Ruge. »Sie stehen vor dem Tor –!«

»Ist die Glocke beschädigt?«

Er lachte nervös auf: »Ja, beschädigt, aber wir selbst haben sie beschädigt!«, und sich zu ihr neigend, fuhr er mit geheimnisvoller Stimme und in jenem eindringlichen, singend-staunenden Ton fort, in dem ein »Denken Sie nur!« liegt und der den Hörer auffordert, mitzustaunen: »Wir haben sie nämlich abgestellt, Blanche, Sie wissen es ja noch gar nicht, Carola war sehr krank! – Sehr krank!« wiederholte er. »Sehr krank!«

»Ach, so ist es!« rief Blanche. »Jetzt verstehe ich's! Habt ihr vielleicht auch das Telephon abgestellt?«

»Natürlich, natürlich! Es mußte doch Ruhe im Hause herrschen!«

»Ach so, ach so!« In der nun entstehenden Stille wandte sich Blanche an Krau. Er sei also nicht zufällig hier, er habe einen Krankenbesuch gemacht? Der Arzt murmelte einige Worte, die Blanche nicht verstand.

»Ich habe gestern mehrmals versucht anzurufen. Seit wann habt ihr denn das Telephon abgestellt?«

»Seit drei oder vier Tagen«, antwortete Ruge. – So lange sei sie krank? – »Ja, so lange wird es wohl her sein – nicht wahr?« wandte er sich an Krau.

»Ja«, sagte dieser, »es war Montag.«

Jetzt erst entschloß sich Blanche zu fragen: »Ja, und was hat ihr eigentlich gefehlt?«

»Grippe, Grippe!« antwortete Ruge, »Grippe mit hohem Fieber!« – Warum man sie nicht verständigt habe? – Krau habe gemeint, daß man niemand der Gefahr der Ansteckung aussetzen solle – nicht wahr? Und er blickte auf seinen Freund, der sofort zustimmend nickte.

»Ja, nun, und wie geht es ihr heute?«

»Besser, besser, nicht wahr?« Er blickte abermals auf Krau, der wiederum stumm bejahte.

Ob sie gefiebert habe?

»Ja. Hoch, sehr hoch!«

»Und heute?«

»Heute ist es glücklicherweise vorüber, aber sie ist noch sehr schwach, sehr schwach!«

»So, und wie ist's nun? Darf man sie besuchen?«

»Was meinst du?« fragte Ruge seinerseits den Arzt, doch Blanche rief dazwischen: Aber natürlich! Warum sollte sie die Kranke nicht besuchen dürfen!

Krau räusperte sich und sagte den steifen Satz: »An und für sich hätte ich als Arzt nichts gegen einen kurzen Krankenbesuch einzuwenden, aber es hängt natürlich auch von dem subjektiven Befinden der Patientin ab.«

»Eben, eben! man müßte sie fragen!« warf Ruge voll Eifer ein.

»Ach was!« rief Blanche und schwang sich zu einer gewissen Munterkeit auf, natürlich werde sie sie besuchen, wenn sie schon hier sei! Krau versuchte, Autorität an den Tag zu legen, und pumpte mühsam ein wenig Energie in seine belegte Stimme: »Nun, nun, so geht es nicht! Ich lege den größten Wert darauf, daß sie geschont wird! Aber wir wollen der Patientin selbst die Entscheidung überlassen!«

»Ich werde Carola fragen!« sagte Ruge. »Ich werde sie fragen gehen!«

»Gut!« sagte Krau, aber Ruge ging nicht, auch Krau, der sich doch schon hätte verabschieden können, tat dies nicht, und so blieben sie auf ihrem Fleck, wie wenn ihre Sohlen angeklebt gewesen wären. »Jedenfalls«, fuhr Krau fachmännisch fort, »darf es sich nur um einen kurzen Besuch handeln!«

»Ach was!« rief Blanche übermütig, »ich werde so lange bei ihr bleiben, wie sie mich haben will und sie mich brauchen kann! – Seit wann ist sie denn krank?«

»Seit drei oder vier Tagen.«

Ruge stand auf der Schwelle, Blanche auf der mittleren der drei Vorstufen und der Arzt schon im Garten, wo er umständlich in den Taschen seines Mantels nach den Handschuhen suchte. Sie rührten sich nicht. Es waren drei gute, aber ungeschickte Menschen, die hier standen und nicht die Kraft hatten, die Situation zu beenden.

»Da hat sie sich wohl irgendwo angesteckt?« begann Blanche von neuem.

»Sicherlich« antwortete Ruge.

»Und wo mag das gewesen sein?«

Krau nahm mit einer gewissen Gewichtigkeit das Wort: »Das kann man niemals wissen. Man kann sich überall anstecken. Wo Menschen sind, sind auch Bazillen, die Luft ist mit ihnen geschwängert. Man atmet sie ein, ohne es zu wissen, und das kann überall sein, denn, wie gesagt, wo Menschen sind, dort sind auch Bazillen. Ja, die Luft ist eben mit ihnen geschwängert.«

So sprachen sie weiter, und es war gar nicht abzusehen, wie lange Krau noch seine Erklärungen, die doch niemandem etwas Neues sagen konnten, fortgesetzt hätte; da aber ertönten von oben her durch das Haus, durch das Tor, ins Freie heraus in den hohlen Garten und in ihr hohles Gespräch, zwar sanft und freundlich, doch eindringlich in ihr Gespräch schneidend, helle, summende, singende Klänge, die Klänge einer Glocke, einige leichte Schläge des Klöppels gegen einen wahrscheinlich silbernen Mantel.

Sie hoben die Köpfe. »Carola –!« rief Ruge und blieb, mit offenem Mund, atemlos horchend, doch nur eine Sekunde, und schon warf er sich herum, lief ins Haus, als hätte er seine Frau seit Stunden vernachlässigt und als schwebe sie jetzt in Lebensgefahr, rannte er, die Hand am Geländer, immer drei Stufen zugleich nehmend und den Oberkörper so vorbeugend, daß er in den Hüften fast einen rechten Winkel bildete, die Treppe hinauf.

Blanche lächelte gerührt über diesen Schrecken, dann aber wandte sie sich hastig und ernst an den Arzt: »Nun! Wie geht es Carola? Was ist's mit ihr?« Krau verschränkte die Hände hinterm Rücken und antwortete dozierend: mit der Grippe sei es eine verfluchte Sache, sie könne schlimmer und ärger sein als so manche berüchtigte und gefürchtete Krankheit. Ihre Bazillen scheinen sich in allen Organen gleich wohl zu fühlen, habe man sie hier verjagt, tauchen sie dort wieder auf, und überall gedeihen sie ausgezeichnet. Dagegen helfe nur eines: sie dort, wo sie gerade sind, energisch und tödlich zu treffen. Carola sei übrigens nun einmal sehr labil, werde schon von jedem kleinen Unwohlsein sehr angegriffen, sie, Blanche, wisse ja, daß sie zu einer gewissen Melancholie, zu Depressionen neige, und eine solche Schwächung des ganzen Organismus durch das Fieber übe naturgemäß einen ungünstigen Einfluß auf ihren psychischen Zustand aus.

Blanche unterbrach ihn ärgerlich: »Gut, gut! Ich danke Ihnen für Ihren Vortrag, vor allem für den Vortrag über die Grippe, aber sagen Sie mir lieber: ist Carolas Zustand sehr ernst? Besteht Gefahr?«

»Gefahr? Gefahr? Von welcher Gefahr sprechen Sie? Aber es ist doch alles vorüber! Die Grippe ist vorüber! Das Fieber ist geschwunden, sie muß sich schonen, vor allem geschont werden, das ist alles!«

Oben war wieder Ruge hörbar geworden, war in schnell trippelndem Takt über die Stufen heruntergeeilt, und nun berichtete er, im Türrahmen erscheinend, noch atemlos vom Laufen: »Ja! Es war Carola! Sie hat die fremde Stimme gehört und wollte wissen, wer hier ist! Sie sollen zu ihr hinaufkommen, Blanche! Sie will Ihnen guten Tag sagen. Kommen Sie!«

»Sehen Sie!« rief Blanche triumphierend. »Ich komme! – Auf Wiedersehen, Krau!«, und sie streckte die Hand aus, um sich von ihm zu verabschieden.

Doch dies gab Ruge nicht mehr zu, er legte vielmehr seine Hand auf ihren Arm. »Kommen Sie, kommen Sie!« wiederholte er drängend, als ob er nicht begreifen könnte, daß man auch nur den Bruchteil einer Sekunde zögerte, wenn Carola etwas wünschte. »Kommen Sie! Carola will Ihnen guten Tag sagen! Kommen Sie, kommen Sie!«

»Aber ja, aber ja! Ich komme doch schon!« lachte sie und ging mit ihm.

Krau blieb allein, doch er ging noch nicht fort. Er schaute den beiden nach und schaute auf die Tür, hinter der sie verschwanden, dann aber sah er empor zu dem geschlossenen Fensterladen im Stockwerk und ließ lange und unbeweglich seinen träumenden Blick auf ihm ruhen, wie wenn er durchs Holz hindurch die Frau wahrnehmen könnte, die dort lag. In diesem Blick der guten, treuen, etwas wäßrigen Augen lag Liebe, lag unendliche Bewunderung und zugleich die vollkommene Hoffnungslosigkeit. Es war der Blick zum Unerreichbaren, der Blick des Lahmen zu den Bergesgipfeln. Schließlich wandte er sich seufzend dem Ausgang zu und trottete traurig davon.

Nachdem Ruge Blanche bis zum Treppenhaus geführt, ließ er ihren Arm frei und legte, als Mahnung zur Stille, den Finger vor den Mund; zugleich bückte er sich, duckte sich und zog sich in sich selbst zusammen, als ob er sich leichter und kleiner machen wollte, was bei der schlaksigen Länge seiner Glieder ungeschickt genug, geradezu rührend-ungeschickt ausfiel. Er setzte die Zehenspitzen nur auf die Stufenränder, ging mit heimlich-leisen Schritten vor seinem Gast einher und hob nur einmal seine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger, wie zum Kommando: piano! piano! – lauter Maßnahmen, die eigentlich überflüssig waren, die aber der Gewohnheit der letzten Tage, der Atmosphäre des Hauses entsprachen und wohl auch seiner eigenen Freude an diesem Spiel, an diesen Äußerungen der zärtlichen Rücksicht, an dieser Entkerkerung des Gefühls aus dem Gefängnis des Innern zur Freiheit der Bewegung. Er schien sich zu freuen, daß Blanche gekommen war, daß Carola Besuch bekommen sollte, daß alles so klappte und daß ein Atem von draußen hereingedrungen war.

Oben im Korridor legte er das Ohr an die Tür des Schlafzimmers, um zu erhorchen, was Carola jetzt tue, dann brachte er, als sollte Blanches Eintritt eine große Überraschung werden, sachte und behutsam die eine Hand auf die Klinke, während die andere durch das Holz hinein ins Zimmer wies und er Blanche lächelnd-listig ansah, ihr zunickte und zuzwinkerte, was etwa sagen sollte: Achtung! Achtung! gleich ist es so weit, gleich sind wir bei ihr! Er drückte, mit etwas vorgeschobenen Lippen, zusammengezogenen Brauen und vielen Stirnfalten eine kindliche Grimasse schneidend, nur allmählich und vorsichtig, um nur ja auch das geringste Geräusch zu vermeiden, die Klinke nieder – Blanche betrachtete ihn und konnte nicht anders, sie mußte lächeln angesichts dieser gutmütigen, heiteren Clownerie eines so erwachsenen, so großen, so wild-unrasierten Mannes, eines Mannes von bedeutendem Geist, denn daß er das sei, wurde ihr immer wieder versichert, und bei Betrachtung seiner Züge konnte sie es auch wohl glauben –, nun schob er langsam die Tür nach innen, jetzt mit hinaufgezogener Stirn und gespanntem Ausdruck, Zentimeter für Zentimeter, und endlich – er hatte sich, den Rücken am Türpfosten, zur Seite gedrückt, wie einer, der feierlich allen Platz dem Gast überlassen will, endlich also war es so weit, und Blanche stand auf der Schwelle, vor sich den Raum und Carolas Bett, das, gerade der Tür gegenüber, groß und ausladend, mit dem Kopfende an die Mitte der Rückwand stieß.

Blanche trat nicht gleich ein, sondern blieb einige Sekunden frappiert und erstarrend im Türrahmen stehen.

Es gibt kein gütigeres und friedlicheres Licht als das unter dem Gezweige eines jungen Laubwaldes, auf den von oben her die Sonne scheint; es hat den Himmel in sich und zugleich den Schatten, das Gewalttätige des Sonnenbrandes ist zurückgehalten, nur sein Schimmer ist gedämpft durch die Blätter getreten und hat sich zu gleichmäßig-grünlichem Schein verteilt; und so, gerade so wirkte, kam man aus der grauen Atmosphäre des Korridors, die Beleuchtung in Carolas Zimmer. Es war nämlich das Licht des Tages durch den geschlossenen Laden abgehalten und durch ein erstaunlich künstliches ersetzt worden, das dadurch zustande gekommen war, daß man mit Hilfe von vielen Schnüren, Kontakten, Zwischen- und Doppelschaltungen elektrische Stehlampen in die Winkel und andere verborgene Stellen des Zimmers verteilt und ihre Birnen mit grünen Seidentüchern umkleidet hatte. Die aus den Ecken und Verstecken des Zimmers kommenden abgeschwächten Strahlen vereinigten sich zu leichter, schwebender Helligkeit, die, freundlich und die Nerven schonend, mit ihrem Dämmer den Raum erfüllte, die nichts von allem, was zur Erheiterung, Erfrischung und Freude der Kranken hierhergebracht worden war, verbarg, aber den Dingen, die so regungslos dastanden, ein wenig vom Geheimnis des Schattens gab, das Feierliche noch feierlicher, die blasse Kranke aber noch blasser, kränker und leidender erscheinen ließ. Es war jedoch nicht nur dieses sanft-grüne, hell-dunkle Licht wie aus gemildertem Sommergrün, das Blanche überrascht auf der Schwelle einhalten ließ, es war im ganzen der Umstand, daß sie das ihr so wohlvertraute Zimmer, wie es sich ihr jetzt darbot, nicht wiederzuerkennen glaubte. So sehr war es verändert.

Ihr erster Blick fiel auf einen mächtigen Strauß von hohen Fliederstämmen mit schweren und vollen, ins Rötliche schillernden blauen Dolden. Er erhob sich, über die Bettstatt reichend, aus einer neben dem linken Fußende des Bettes auf der Erde stehenden Vase, so daß Carolas vor sich hingerichteter Blick nicht anders als auf ihn fallen konnte; als müßte die Symmetrie hergestellt werden oder als müßte verhütet werden, daß ihre Augen ins Leere träfen, wenn sie rechts gingen, stiegen auch auf dieser Seite, aus einer zweiten, schlankeren Vase hochstielige Blumen auf, strahlend weiße und große geöffnete Rosen. Der Duft der einen und der anderen Blüten, mit noch anderen süßen und herberen Düften vermengt, drang betäubend auf Blanche ein.

Das Bett wurde zu beiden Seiten von länglichen, aber breiten Tischen flankiert. Auf dem rechten der beiden schwang sich, neben Carolas Kopf, aus einem hohen Kelch aus farblosem, leicht irisierendem Glas der Zweig einer Orchidee, ein königliches Exemplar, mit kleinen, weißen, zarten Blüten überschwenglich besät. Die Rispe stieg, an die Glaswand gelehnt, umschäumt von den Blüten, stieg immer höher mit ihrer dichter werdenden Last, bis sie hoch oben einen weiten berauschenden Bogen schlug, sich dann wieder als schwebende, fallende Wolke niedersenkte und mit der letzten ihrer Blüten an eine dunkelgrün-schwärzliche, feuchtglänzende Fläche von Kaviar streifte, dessen weißer Napf mit einem Löffel auf einem Teller stand und zur Hälfte geleert war. Daneben sah man eine Schüssel mit Biskuits, eine andere mit leichtem Konfekt, eine dritte mit winzigen Brötchen und allerlei Gefäße mit all jenen Leckerbissen, die ein Kranker verträgt und die zugleich seine Eßlust anregen sollen. Der Tisch war so dicht belegt, daß kein Pünktchen seiner Platte sichtbar blieb.

Auf dem anderen Tisch stand, für Carola am nächsten und für ihre Hand bequem erreichbar, ein dunkelblau samtenes Kästchen, das die Form einer vorn abgeplatteten Halbkugel hatte; ihre ebene Fläche, Carola zugewandt, stellte ein zweiteilige Tür dar, und eine winzige, silberne, drehbare Kugel in ihrer Mitte konnte im Innern einen kleinen Riegel in Bewegung setzen und so das Miniaturtor verschließen; im Augenblick aber standen die beiden Flügel offen wie die Seitenflügel eines Altars und ließen eine dickwandige bräunliche Parfümflasche sehen. Karaffen mit Getränken, Flaschen mit Toilettewässern, Schachteln mit Süßigkeiten, dort ein neues Grammophon, daneben ein Stoß von Platten; über die Fußwand des Bettes war vorsichtig ein Kleidungsstück gebreitet; im Raum verteilt ein Stapel von Büchern, einige Paare von Handschuhen, dort ein Juwelenkästchen, ein neuer Manikürekasten, geschlossene Etuis und Behälter, die die Geschenke verbargen, ein Hut und ein Schirm, ein geöffneter Koffer, daß man seine Inneneinrichtung sehen konnte, dazwischen die Kleinigkeiten für eine Frau, ein Schminkstift, eine Puderdose, ein winziges zusammenklappbares Kämmchen, wiederum dazwischen Vasen und Väschen mit den ersten Frühlingsblumen; die Glocken einer Amaryllis, die Sterne einer Cineraria, eine Schale, in der Wasserrosen schwammen, und auf einer hochstieligen, sich weit wölbenden Schüssel ein kunstvoll aufgeschichteter und ausbalancierter Obstberg: es schimmerte das leise glänzende, spiegelnde Gelb des Calvilleapfels, das satte Gelb der fleckenlosen Banane, das stumpfe Gelb der Grapefruit, das grünliche Gelb einer riesigen Birne, das rötliche Gelb einer Frucht, die Blanche noch niemals gesehen hatte, und in dieses Konzert aus Gelb und Gelb, hineingetupft und hineingetropft, wo ein freier Winkel, ein Fleckchen blieb, das feuchte Rot der frischen Gartenerdbeere; es war März, die Gewächshäuser hatten ihren Reichtum hergegeben, der Süden seine Früchte herschicken müssen. Der erste, schnellfliegende Blick konnte nicht alles aufnehmen, und man mußte die Empfindung haben, daß in allen Ecken und Winkeln, wohin man auch geschaut hätte, noch etwas zu entdecken gewesen wäre, so wie man ja auch zwischen den Düften den von weißen Narzissen spürte, ohne die Narzissen selbst schon gefunden zu haben. Es war eine Blumenausstellung, eine Delikatessenhandlung, ein Warenlager.

Hier hatte jemand alle Maße verloren, hier hatte ein Mann sich nicht halten können und mit vollen Händen ausgeschüttet, hier hatte ein Narr gekauft und herbeigeschleppt, was er nur hatte finden können, hier hatte ein Herz die Besinnung verloren unter seiner Leidenschaft, den andern zu erfreuen und noch einmal und wieder und wieder zu erfreuen.

Blanches Blicke hatten ihren Flug durchs Zimmer beendet und fielen nun unwillkürlich wie mit dem Ausruf: Was ist das! Was ist das! fragenden Tones auf Ruge. Er lächelte in glücklichem Stolz, und sein Gesicht strahlte auf. Kein Zweifel, dies alles war sein Werk. Blanche schüttelte mit kurzen Bewegungen den Kopf, atmete auf, und ein Lächeln, in das sich Staunen, Freude, vor allem Bewunderung, aber auch ein Schatten von Schmerz mengte, überzog ihr Gesicht. Sie öffnete schon den Mund, als ob sie ausrufen wollte: Mein Gott! das gibt's! das gibt's! das gibt's also wirklich! Mein Gott! – aber sie hielt ein.

Blanche drängte sich durch das Gewirr des Zimmers und schob sich zwischen das Bett und das eine der Tischchen, während sie in ihrer Verlegenheit drauflosplapperte, in ihrer Stimme aber das schlagende Herz zu hören war. »Carola, was ist mit dir? Ich wußte gar nicht, daß du krank bist! Ich habe euch zu erreichen versucht, es ist mir aber nicht gelungen! Erst gestern hat mir Gisela gesagt, daß du erkältet warst! Warum habt ihr mich nicht benachrichtigt? Wer hat dich denn gepflegt? Georg sagt, daß es dir besser geht! Auch Krau sagt es. Mein armes Kind! Ich habe gar nichts gewußt! Ich wäre doch gekommen! Jetzt aber bin ich hier! Nun, wie fühlst du dich? – Ah, du bist ja noch schöner geworden!« Sie schaute prüfend auf Carola herab, um den Zustand zu erkennen, in dem sie sei, zugleich aber betrachtete sie voll Bewunderung das Gesicht ihrer Freundin.

Carola war tatsächlich sehr schön, von einer besonderen schwermütigen Schönheit, der sich niemand entziehen konnte. Ihr bleiches Gesicht war ein edles, sanft geschwungenes Oval, ihr ganzer Kopf eine Harmonie des Leids, ihre Stimme ein leise vibrierender Alt. Diesem Bild entsprach ihr Gehaben, dem eine Sordine aufgesetzt zu sein schien, so daß sich jeder, der in ihre Nähe kam, auf seine Zehenspitzen hob und seine Stimme dämpfte. Die glatte Stirn war hochgewölbt, die braunen Haare waren in der Mitte gescheitelt, die länglichen Augen unter den schmalen Brauen voll von dunkler Schwere. Sie lag regungslos auf dem Rücken, und als sie jetzt zur Begrüßung ein wenig den Arm hob, die schmalen Lippen mühsam auseinanderschob, lag in der Art ihrer langsam-müden, willenlosen Bewegungen Gebrechlichkeit und Klage. Man konnte glauben, daß es ihr ein Opfer bedeutete, die Tür überhaupt öffnen zu lassen und sich anderen Menschen zu zeigen.

Neben ihr auf dem Bettuch lag alles bereit, was sie brauchen mochte, wenn sie allein war: die silberne Glocke, der Lichtschalter, ein Kristallflakon mit Gummischlauch und -ballon, so daß ein kleiner Handgriff genügte, es zu erfassen; und wirklich waren die Kissen und Tücher unzerknüllt, als ob sie sich nicht gerührt hätte, seitdem sie aufgelegt worden waren. Aber auch an ihr selbst war alles in unübertrefflicher Ordnung: Aus ihrer Frisur ragte auch nicht ein einziges Härchen hervor, die Brauen waren glattgestrichen, daß sie wie der Streifen eines leise schimmernden Tuches waren; die Arme ruhten auf der Decke, die Ärmel des Bettgewandes lagen faltenlos an und waren, wo sie unten weiter wurden, fast symmetrisch ausgebreitet. Wie aus einer Glocke aus Seide wuchsen über die zierlichen Gelenke die Hände hervor. Sie waren lang und schmal, die Finger zartgliedrig und fragil. Auch wer sie jetzt und hier zum erstenmal gesehen hätte, wie sie bis zum Kinn zugedeckt lag, hätte ahnen können, wie ihr Körper sei: schlank und hochbeinig, doch er hätte nicht erraten, selbst wenn er sich Gedanken darüber gemacht hätte, daß ihre Brust klein, schlaff und leer war.

Die Frauen hielten sie auch für sehr klug; jedenfalls vereinigte sich der Eindruck, den ihre Schönheit machte, mit der Suggestion, die von ihrem trauervollen, in sich geschlossenen, niemals vom Temperament oder vom Moment mitgerissenen Wesen ausging, zu jenem großen Einfluß, den sie als Frau auf Männer, als Freundin auf ihre Freundinnen und im allgemeinen auf ihre ganze Umgebung ausübte.

Carola hatte keine Kinder, und sie wünschte nicht nur, niemals eines zu haben, da sie sich zu schwach fühlte, es auszutragen und das lebende großzuziehen, sie war auch, wie festgestellt worden war, für alle Zeiten unfruchtbar.

Ruge stand in der Tür und sah befriedigt der Begrüßung zu.

»Es geht mir schon besser«, antwortete sie, und es klang wie aus einem Cello; dann wandte sie sich an ihren Mann und sagte mit leise klagender Bitte: »Georg, ach, bitte, schließ doch die Tür! – Kommst du herein?«

»Nein, nein! Ich lasse euch allein!« rief er. »So werdet ihr euch besser unterhalten! Was soll ein Mann dabei!« Er verabschiedete sich schnell mit einer scherzhaften, übertrieben tiefen, etwas ungeschlachten Verbeugung und zog sich, vorsichtig und leise die Tür schließend, zurück.

Blanche holte einen Stuhl heran. »Nun also, Carola«, begann sie, indem sie sich bemühte, ihre Erschütterung zu verbergen, und in jenem freundschaftlich-vertraulichen Ton, der auch den andern zur Vertraulichkeit aufmuntern soll: »Nun also, was ist mit dir?«

Carola hob resigniert die Schultern: »Mein Gott, eine Grippe!«

»Seit wann bist du krank?«

»Seit drei Tagen.«

»Und warum hast du mich nicht verständigen lassen?«

»Warum solltest du dich anstecken?«

»Es kam ganz plötzlich über dich?«

»Ja, von einer Stunde zur andern.«

»Du hast gefiebert?«

»Ja.«

Dieses Gespräch war, wie man sieht, nur eine Wiederholung jenes, das Blanche vor dem Tor mit Krau und Ruge geführt hatte. Immer wieder redeten sie von dieser Grippe, vom Fieber und der Ansteckung und warfen einander die leeren Bälle ihres Frage- und Antwortspiels zu. Carola lag regungslos mit zur Decke gerichteten Augen auf dem Rücken, ihr leise vibrierender Alt schwang sich gedämpft durch den Raum. Als Blanche Müller-Erfurt erwähnte, kam sie auf den gestrigen Abend zu sprechen, auf die kleine Gesellschaft im Haus ihrer Eltern und auf das Lokal »La Princesse«, doch es stellte sich heraus, daß Carola schon durch Gisela, die sie am Morgen besucht hatte, über alles unterrichtet war. So erzählte denn Blanche, was sich nachher zugetragen hatte, und sprach von ihrem Schrecken, als plötzlich inmitten der nächtlichen Stille ans Fenster geklopft worden war, Stadel draußen gestanden und Kaffee verlangt habe, und von der Mahlzeit, die sie ihm dann serviert habe.

»Nun und –?« fragte Carola. »Er wird doch nicht nur Kaffee von dir verlangt haben?«

»Mein Gott! Davon wollen wir lieber nicht sprechen! Findest du Stadel so begehrenswert?«

Da aber antwortete Carola mit ihrer Cellostimme: »Ich finde ihn nicht begehrenswert, sondern widerlich. Weißt du, er gehört zu jenen Männern, die von irgendeinem Luder, irgendeinem Aas von Frau zu Tode gequält werden müßten. Aber er kann wohl kaum mehr tödlich gequält werden, kaum noch ein wenig, das Schwein.«

Diese Sprache war immerhin kräftiger, als man es von dieser zarten, kranken Frau, die Ausdrücke eindeutiger, aufgedeckter, als man es von ihrem zugedeckten Wesen hätte erwarten können, als es dieser müden Regungslosigkeit, der Mattigkeit ihres Tonfalls entsprach; aber Blanche hatte gar zu oft schon Gelegenheit gehabt, sich über die aus diesem morbiden Körper aufsteigende Energie und unbekümmerte Stärke zu wundern, und so wunderte sie sich diesmal nicht erst von neuem. Sie rief nur auflachend: »Aber du kennst doch Stadel gar nicht recht! Nun, lassen wir ihn! Aber du, wie lange wirst du noch im Bett liegen müssen?«

»Nur noch wenige Tage.«

»Ja, Krau sagt, daß es dir besser geht.«

»Ja.«

»Gisela sprach nur von einer Erkältung. – Übrigens«, rief Blanche, offenbar froh, zu einem lebendigeren Thema zu kommen, »übrigens, weißt du, daß Linde von der Reise zurückgekommen ist?«

»Ja, ich weiß es.«

»Ich fürchte«, lachte Blanche, »es wird noch Lärm und Skandal geben. Es gibt noch irgendwelche Konflikte zwischen ihnen, wegen irgendwelcher Briefe, die sie zurückverlangt, die er ihr aber nicht ausfolgen will. O weh, o weh, Gisela sagt, sie ist bereit zu kämpfen, sie ist zu allem entschlossen, sagt sie.«

»Zu allem entschlossen!« sagte Carola. »Zu allem entschlossen! Sie hätte früher zu allem entschlossen sein sollen!«

»Was hätte sie denn tun sollen? Hätte sie sich in einen Ringkampf einlassen sollen?«

»Nein. Daß sie durchgebläut worden ist, bedauere ich nicht, da sie es einmal so weit hat kommen lassen. Da es aber einmal so weit gekommen war, hätte sie es nicht dabei bewenden lassen dürfen!«

»Was hätte sie denn tun sollen?«

»Ich weiß es nicht. Es gibt vielerlei. Sie hätte ihn zum Beispiel auch nochmals in ihre Wohnung locken können und ihn dort für zwanzig Mark von zwei Männern durchprügeln lassen können, genauso wie sie durchgeprügelt worden ist, aber kräftiger, mit einem Stock oder einer Peitsche!«

Blanche lachte auf: »Mein Gott, was du für Phantasien hast!« Sie sah auf Carola herab, und ihr nachdenklicher Blick blieb auf ihr haften, auf diesem schönen bleichen Gesicht, dem edel geschwungenen Oval und den schwermütigen Augen. »Wenn du nur wieder gesund wärst!« sagte sie.

»Ja.«

»Wo magst du dich angesteckt haben?«

»Das weiß man doch niemals.«

»Es war doch schönes Wetter!«

»Glaubst du nicht, mein Kind, daß wir meine Krankheit nun genügend erörtert haben?« fragte Carola, schloß zum Zeichen, daß sie müde sei, die Augen und erzwang so von Blanche mit dieser winzigen Bewegung ihrer Lider, von dem Gespräch abzulassen.

»Soll ich gehen? Bist du müde?«

»Nein, nein, bleib nur!«

Die nun entstehende Pause benützte Blanche, um aufzustehen. Es hielt sie nicht mehr, sie war ohnedies nicht ganz bei der Sache gewesen, immer wieder hatte sie, überwältigt von der Fülle und Überfülle in diesem Zimmer, zwischen Frage und Antwort, zwischen Rede und Gegenrede, ihre Blicke erhoben. Sie waren durch den Raum gegangen, übers Ganze hinschweifend und dann wieder bei einem Ding stehen bleibend, bei der Parfümflasche oder bei einer der Lampen und Schnüre, als ob sie verfolgen wollte, auf welche Weise diese geheimnisvolle, etwas extravagante, aber mit liebevoller Mühe erzeugte Beleuchtung zustande gebracht worden sei. Jetzt erhob sie sich und trat einen Gang durch den Raum an. Zuerst wandte sie sich der Orchidee zu, da diese ihr am nächsten stand und ohnedies am meisten in die Augen sprang, und versank in den Anblick dieses auf- und absteigenden Schaums aus Blüten. Sie waren nur mäßig groß, nur größere Bohnenblüten, doch von strahlend schimmerndem, unberührtem und unberührbarem Weiß, und in jede, nur ungefähr in die Mitte ihrer Lippe, die sich zu krausen Fäden und Fädchen zerfranste, war ein zartgelber, wolkiger Fleck mit zerfließenden Rändern hingehaucht; diese Blütenblätter schienen aus Seide und Luft gemacht zu sein, sie waren so dünn und zart, daß man glauben mußte, sie würden, wenn nur ein Kinderfinger sie berührte, ein Windhauch sie streifte, augenblicklich tödlich getroffen zusammenschrumpfen und verwelken. Die Fransen flatterten erzitternd unter dem Atem der neben ihr Stehenden auf.

»Ach!« rief Blanche aufatmend aus. »Das ist die schönste Orchidee, die ich jemals gesehen habe!« Sie ging zu den Rosen und Fliederstämmchen, bückte sich da und dort und zog den Duft ein. Als sie wieder aufgerichtet stand, warf sie einen Blick über den ganzen Raum. »Nein, wie schön! Wie schön! Hat dir all das Georg geschenkt?«

»Natürlich! Wenigstens das meiste.«

Blanche stand schon beim Grammophon, öffnete es, zog es auf, legte eine Platte auf und ließ einige Takte spielen. »Es klingt sehr schön«, sagte sie. »Auch von Georg?«

»Ja.«

Nun ergriff Blanche das über die Bettstatt hingelegte Nachtgewand, entfaltete es vorsichtig, hob es mit ausgebreiteten Armen an den Schultern in die Höhe. »Oh!« machte sie. »Oh!«, und da sie es wieder zurückgelegt hatte, wandte sie sich den Büchern zu und las deren Titel. »Ah, du hast aber Lektüre! Du hast Lektüre genug! Und sie alle sind von Georg? Mein Gott, er ist rührend!«

»Ja, fast alle sind von ihm, nur das eine hat mir Meinhardt geschickt, und das andere dort ist von Sauer, einem Kollegen Georgs.«

Blanche entnahm den Ring seinem Etui, drehte ihn hin und her und hielt ihn unter eine der Lampen, damit der Schein auf ihn falle, sie hob sich die Vasen zu und roch an den Blumen und zog die Parfümflasche aus ihrem Kästchen. »La vie Heureuse« las sie und versuchte, am Ausgang des Halses den Duft aufzufangen. Von ihrer Neugierde war die letzte Hülle gefallen, ihr Wunsch, ja, der Drang, alles kennenzulernen, trat offen zutage, sie nahm jedes Ding zur Hand, stellte unumwunden immer die gleichen Fragen, sie wurde zur pedantischen Chronistin, der nichts entgehen darf, ein kleiner, unruhiger Dämon schien in ihr aufgestanden zu sein, daß sie kreuz und quer durch den Raum getrieben wurde, um alles zu sehen, ja, um alles zu genießen oder nachzugenießen, als ob sie es wäre, der es geschenkt worden war.

Carola lag bewegungslos und verfolgte ihre Wege nur mit ihren langsamen, müden Blicken, beobachtete sie, wie man einen Menschen beobachtet, den man kennt und immer wieder als denselben erkennt, und beantwortete mit gleichmäßigem Klang ihre Fragen, ja, kam hie und da den Fragen zuvor, da diese ja doch immer gleich waren.

Blanche stand wieder bei der Orchidee, verfolgte den Aufstieg und Abstieg der Rispe, und mit der letzten Blüte fiel ihr Blick auf den Kaviarnapf. »Ah, Kaviar!« rief sie aus, und obwohl Kaviar für sie nicht, wie für viele Menschen, ein besonderer Leckerbissen war, schien ihr jetzt das Wasser im Mund zusammenzulaufen. Sie hob eine ziegelrote, mit Primeln gefüllte Vase in der Gestalt eines antiken Wasserkrugs vom Toilettentisch. »Von Krau«, sagte Carola. »Der Topf ist ein wenig geschmacklos.«

Blanche bückte sich, da sie vor dem Bett ein Paar neuer Pantoffeln entdeckt hatte; sie hob sie auf, sie schienen ihr reizend zu sein und waren aus rotem Glacéleder, wattiert, das Futter aus rosa gesteppter Seide; als sie sie wieder zurückgestellt hatte, ging sie zum Fenster und betrachtete die Blumen, die blau schillernde Knospe der Kaktusblüte und die Tulpen; sie ging weiter, dahin und dorthin, kreuz und quer, immer fand sie noch etwas, das sie noch nicht betrachtet hatte. Jetzt ergriff sie die Handtasche, öffnete sie, zog die Einrichtungsgegenstände heraus. »Sehr praktisch und sehr schön!« sagte sie.

»Ja«, antwortete Carola, »vom Baron Schüßler.«

Schließlich stand Blanche vor der Obstschüssel und sah reglos auf die Früchte nieder, auf diesen leise duftenden, in allen gelben Farben leuchtenden, aus allen Formen zusammengesetzten Berg, jedes einzelne Stück, seine ganze Köstlichkeit mit den Blicken genießend. »Wie das aufgebaut ist! Wunderbar! Hat das Georg so schön arrangiert?«

»Gewiß!« antwortete Carola.

»Großartig, großartig! Wie es ausgewählt ist! Immerhin, was doch ein Mann zuwege bringt, nicht?« Sie blieb stehen, und schließlich ließ sie verträumt und mit unendlicher Behutsamkeit ihren Finger über eine der schwarzblauen Beeren der Weintraube gehen, um zu sehen, ob der graue Hauch und Nebel, der sie bedeckte, unter dieser Berührung verschwinde oder nicht.

Vielleicht wäre einem anderen Menschen als Blanche, besonders einem, der Ruges materielle Verhältnisse gekannt hätte, der Gedanke gekommen, daß er eine Unmenge Geldes ausgegeben haben müsse; aber in seinem Schrecken hatte eben Ruge alle Wirklichkeit vergessen, in seiner atemraubenden Sorge sich überstürzt, er hatte nur das eine Bedürfnis, der sterbensbereiten Frau die kleinen Freuden des Lebens zu zeigen, den einen Wunsch, ihr das Bewußtsein zu geben, daß sie geliebt werde. War es in seiner ohnedies verzweifelten Lage nicht ganz gleichgültig, ob die letzten Gelder, über die er noch zu verfügen hatte, ein wenig schneller oder langsamer ausgegeben wurden? Er wäre sich selbst wahrscheinlich als kleinlicher Philister, ja, als Verbrecher erschienen, wenn er in diesen Augenblicken, da der Tod vor dem Tor seines Hauses hockte, daran gedacht hätte, zu sparen.

Endlich aber mochte Blanche doch die Empfindung haben, daß sie alles erkundet hatte, sie blieb stehen und umfaßte das Zimmer mit einem Blick, als ob sie nochmals die ganze Vielfalt, die ganze Pracht und Leidenschaft genießen wollte, die dies alles in ihrem Überschwang hergeschleppt hatte. »Mein Gott, Carola, mein Gott!« sagte sie leise. »Man kann es gar nicht glauben!« Sie setzte sich wieder ans Bett: »Ich begreife dich nicht, Carola!« sagte sie, sich freundlich niederbeugend. »Ich begreife dich nicht!«

»Was begreifst du denn nicht?«

»Daß du nicht glücklicher bist! Was ist mit dir?«

»Mein Gott, eine Grippe –!«

»Ah, du bist nicht aufrichtig! Es ist nicht nur diese Grippe! Was ist mit dir?«

»Nicht aufrichtig? Doch, doch! Nicht nur die Grippe? Aber selbstverständlich, mein Kind, selbstverständlich ist es nicht nur die Grippe! Du weißt es doch, du weißt doch, daß ich ein trauriger, schwerblütiger Mensch bin!«

Blanche schüttelte den Kopf, ließ die Blicke durchs Zimmer gehen und setzte schon zu einer Bewegung an, um auf den zärtlichen und zugleich überquellenden Rahmen hinzuweisen, der um das Bild der Leidenden geschlagen war. Carola verstand diese Geste. »Mein Gott!« sagte sie. »Ich habe nichts von all dem verlangt!«

»Verlangt! Aber warum bist du traurig? Warum, worüber?«

»Warum! Worüber! Wie du fragst! Wie kindisch! Warum! Gibt's denn darauf überhaupt eine Antwort? – Sieh, mein Kind«, begann sie düster, »sieh, mein Kind, was ist das Leben! Wie soll ich es sagen?«

Sie sah zur Decke und schien sich in Gedanken zu verlieren. Dann setzte sie von neuem an, nun aber sprach sie in leise getragenen Melodien, und es erinnerte, wie sie so redete, an einen edel geschwungenen Vortrag, an ein Gedicht in Prosa mit hervorgehobenen Rhythmen und Refrains. »Sieh, mein Kind, was ist das Leben? Es weht mich an wie ein müder Abendwind. Ich habe gar keine Kraft. Kein Frühling ohne Herbst, was aufblüht, muß verblühen, und manche Frucht ist giftig. Sieh, mein Kind, was ist das Leben? Was ist der Mensch? Mühsal, Arbeit und Krankheit – sieh nur, wie ich hier liege! Ich habe gar keine Kraft. Sie schinden und schuften, die Kreaturen, nicht, um ihr Leben zu fristen, sondern nur, damit ihr Körper sich stärkt und sie von neuem schuften und schinden können! Ich spür's, ich spür's, die Zeit weht um mich wie ein Nebel und betäubt mich mit ihrem ewigen Wehe! Ah, ich habe gar keine Kraft! Was ist das Leben! Schon die Geburt beginnt mit Qualen, und wie oft beginnt sie schon mit dem Tod! Er läßt das neue Dasein nicht in die Welt, der Tod, oder er macht sich bezahlt, wenn er es doch einlassen muß, mit einem andern! Ah, was ist das Leben, was ist das Leben!«

Es war, als ob die Luft von diesem Trübsinn dicker geworden wäre. Die Stimme verhallte in leisen Vibrationen, und Carola schwieg, die Blicke der schweren Augen müde emporgerichtet, die langen, schmalen Hände, die fragilen Finger auf die Decke vor sich hingelagert. Blanche sah ratlos auf sie nieder. »Ach Carola«, sagte sie schüchtern, »ich verstehe dich nicht! Hast du denn schon die Qualen einer Geburt empfunden?«

»Laß nur, laß nur!« antwortete Carola noch leiser und müder. »Du wirst mich nicht trösten!«

Aber Blanche fuhr fort, befangen und ein wenig gequält: »Du sagst: kein Frühling ohne Herbst, andere aber sagen: kein Herbst ohne neuen Frühling!«, doch Carola schloß ermattet die Augen und seufzte auf, so daß Blanche verstummen mußte.

Erst nach geraumer Zeit begann Carola und flüsterte: »Nun, du hast noch gar nicht über dich gesprochen! Hast du viel gemalt?«

»Nein, in der letzten Zeit nicht viel«, antwortete Blanche und winkte ab.

»Und warum nicht?« fragte Carola weiter.

Blanche zuckte mit den Achseln: »Lassen wir mich aus dem Spiel! Was hast du getan – ich meine: bevor du erkrankt bist?«

»Ich? Nichts! Das Leben ist langweilig und trist. – Wie hast du dich heute nacht amüsiert?«

»Ach, laß doch!« wehrte Blanche ab. »Sprich nicht von mir! – Wieso ist das Leben langweilig und trist? Und warum gerade für dich?«

»Jetzt«, antwortete Carola, »jetzt sage wieder ich: Laß mich doch aus dem Spiel!«

So ging es noch eine Weile hin und her. Es war nicht zu verkennen, daß keine der beiden Lust hatte, ihre Person zum Gegenstand der Unterhaltung zu machen, als habe jede Angst, das Gespräch könnte zu weit vordringen und sie enthüllen; aber ihre Positionen gegeneinander waren nicht gleich, denn mochte Blanches Verhalten in einzelnen Momenten nicht ganz erklärlich sein, ja manchmal ein wenig närrisch erscheinen, und mochte sie, wie jeder es tut, ihr Eigentlichstes unausgesprochen lassen, so war sie doch im ganzen vor dem klugen Blick Carolas längst enträtselt, während diese, in ihren Mantel der Schönheit und Trauer gehüllt, in seinem Faltenwurf verborgen und von der Würde ihrer Melancholie umgeben, für Blanche ganz und gar undurchsichtig blieb. So ergab sich denn immer wieder zwischen ihnen ein Spiel wie das zwischen einem nur leicht geschminkten und einem maskierten Menschen; aber man weiß ja, daß eine Maske durchaus nicht immer geradezu von der Heuchelei vorgelegt sein muß, daß sie vielmehr, unauswechselbar, angewachsen oder gar eins mit der Haut, nicht weniger zur ersten Natur eines Menschen gehören kann als das, was sie verdeckt.

Sie schwiegen. »Carola«, versuchte Blanche von neuem zu beginnen, indem sie sich noch tiefer herabbeugte, »wenn man dir doch zeigen könnte –!«

Doch Carola unterbrach sie: »Was willst du mir zeigen? Wie schön das Leben ist? Ach, mein Kind, wenn du wüßtest!«

»Was denn?« fragte Blanche fast flehend, »was – wenn ich wüßte?«

»Sieh dich doch um! Ah, was ist das Leben!«, und wiederum schwebte es, hallend und nachhallend, mit zugedecktem Pathos durch den Raum, während sich Carolas Augen allmählich feuchteten. »Sieh, hier in der Nähe, an einer Ecke, steht ein uralter Bettler, vom Morgen bis zum Abend steht er dort; er ist sicherlich weit über achtzig Jahre alt; da er sich kaum aufrechthalten kann, muß er sich auf einen Stock stützen, und er sagt, nein, da er zahnlos ist, murmelt er immer wieder den gleichen Satz: ›In meiner Jugend war ich ein Künstler, in meiner Jugend war ich ein Künstler!‹ – Wie er das eintönig murmelt! Es ist fast blind, bei jedem Wetter steht er dort und hält den Hut vor sich hin. Täglich sehe ich ihn, und also übersehe ich sein ganzes Leben. Sein ganzes Leben? Nein, denn seine Nächte kenne ich nicht, aber ich würde viel darum geben, auch sie noch kennenzulernen, den Raum, in den er nach der Tagesarbeit tritt und in dem er dann schläft. Ah, was für ein Loch muß das sein! Ich könnte den ganzen Abend und die ganze Nacht dort stehen und ihn betrachten. Ah, wenn ich ihn sehe, kommt mich die Schwermut des Daseins an!«

Blanche seufzte auf und griff behutsam nach Carolas Hand. »Carola«, sagte sie schüchtern und zaghaft, »Carola, bist du wirklich jedesmal von neuem erschüttert, wenn du Unglück siehst?« Nun seufzte Carola auf, als ob sie sagen wollte: So bin ich eben! Schloß wieder müde die Augen und rührte sich nicht mehr.

Blanche suchte nach Worten, nach einem neuen Anfang, doch da ertönte im Garten ein Pfiff.

»Das ist Gisela«, sagte Carola. »Sie wollte kommen, um nach mir zu sehen«, und tatsächlich öffnete sich nach einer Minute leise die Tür, und Ruge steckte den Kopf herein. »Gisela ist gekommen«, flüsterte er. »Aber wir bleiben wohl unten, nicht? Wir wären sonst unser zu viele hier, nicht?«

»Gut, mein Junge!«

Er kam herein und beugte sich über seine Frau. »Brauchst du etwas? Wünschst du etwas?«

»Danke, ich habe alles.«

»Nun, dann braucht man mich hier nicht! Hinaus, hinaus!« sagte er und lief zum Scherz mit übertriebener Eile und Angst zur Tür, winkte aber von dort nochmals fröhlich den beiden Frauen zu, im ganzen ein Gehaben, das seinem eingefallenen Gesicht, der Blässe seiner Haut, der Müdigkeit seiner Augen nicht entsprach und das er wohl nur vorführte, um in Carolas Umgebung eine harmlos-heitere Stimmung zu schaffen und vor allem um seinen eigentlichen Zustand zu verbergen.

»Wenn du mich brauchst, klingle! – Klingle, Glöckchen, klingle!« zitierte er und schüttelte lachend die erhobene Hand, als ob eine Glocke in ihr wäre; dann schloß er behutsam die Tür und ging wieder hinunter.

II

Gisela wartete unten in Ruges Arbeitszimmer. Sie hatte die Pakete, die sie mitgebracht, auf ein Tischchen in der Fensterecke geschleudert und sich, im Mantel und die Mütze auf dem Kopf, mit einem erleichterten Ah! in den daneben stehenden Sessel geworfen, ganz wie ein Mensch, der gern die Gelegenheit ausnützt, die Ruhe eines stillen Raumes zu genießen und sich auszuschnaufen. Die letzten Tage mit ihren Schrecken und Sorgen, aber auch mit ihrer immerwährenden aufgeregten Hast, denn sie war vom Morgen bis zum Abend unterwegs zwischen ihrem photographischen Atelier und Ruges Haus, hatten ihre Kräfte offenbar aufgebraucht und ließen ihre Nerven vibrieren. Sie saß, sich ihrer Erschlaffung überlassend, vorgebeugt und ließ die verschränkten Hände zwischen die Knie hängen. Als Ruge eintrat, hob sie den Kopf und sah ihm mit fragendem, Auskunft verlangendem Blick entgegen.

»Ja, es geht nicht schlecht«, sagte er resigniert und mit trauriger Stimme, »Krau ist zufrieden, aber sie ist außerordentlich niedergeschlagen und leblos. Ich selbst bin nicht zufrieden.«

Er war ein anderer geworden. Da er nicht mehr unter dem im Krankenzimmer herrschenden Zwang zur Unbefangenheit stand, offenbarte sich sein Zustand, der sich bisher nur in seinem Äußeren verraten hatte, nun auch in seinem Gehaben. Er durchschritt langsam, mit gesenktem Kopf den Raum und ließ sich ermattet und aufseufzend in den Sessel vor dem Schreibtisch fallen.

Sie betrachtete ihn. Er war ein niedergekämpfter, um seine Kräfte gebrachter Mensch.

»Nun, was gibt's denn wieder?« begann sie mit gutgemeinter Aggressivität, als ob sie ihn aufrütteln wollte. »Du siehst aus, daß einem übel werden könnte! Der Jammer rinnt dir ja aus allen Poren! Was gibt's denn wieder?«

Sie hatten in all den Tagen kaum Gelegenheit gehabt, mehr als einige Worte ungestört miteinander zu sprechen, denn so oft Gisela auch hier gewesen, war sie nicht nur mit dem Haushalt beschäftigt gewesen oder hatte an Carolas Bett gesessen, sie hatten überdies den Eindruck der Unbekümmertheit, die sie zur Schau stellten, nicht durch längere Gespräche unter vier Augen, die der Kranken ja doch nicht entgangen wären, zerstören wollen. Nun aber war Carola von ihrem Besuch in Anspruch genommen, und sie hatten ein wenig Zeit füreinander. Sie sprachen nur leise, um oben nicht gehört zu werden, aber schnell und gehetzt, um die Minuten auszunützen.

»Nun also!« wiederholte Gisela. »Was gibt's denn wieder?«

»Nichts; wenigstens nichts Neues.«

Nun also, rief sie, dann sei doch alles vorbei! Carola werde sich erholen, und es werde täglich besser werden. Er solle wieder an seine Arbeit gehen! Er solle Alltag machen! »Es ist alles vorbei!« schloß sie.

»Ja«, antwortete er leise. »Für diesmal!«

Sie hob hastig den Kopf: »Wieso? Was willst du damit sagen? Du meinst –? Warum sollte sie es noch einmal tun?«

Er beugte sich vor: »Aber Gisela –!« fragte er klagend, »warum hat sie es denn vor drei Tagen getan?« – Das wisse sie nicht! Aber er werde schon seinen Teil Schuld daran haben.

»Ich –?«

»Nun, es kam doch nicht aus dem blauen Himmel?«

Sie stand auf, warf den Mantel ab und zog die Mütze vom Kopf, so daß ihre tausend Löckchen zum Vorschein kamen und sich der Charakter ihrer ganzen Erscheinung veränderte. Indem sie sich vor ihm aufpflanzte, hielt sie ihm einen kampflustigen Vortrag über die Fehler, die sie an ihm vermutete, seine Zerstreutheit, seine Ungeschicklichkeit, sie steigerte sich und verbreitete sich zankend über den Mangel an Zartheit, die Rücksichtslosigkeit, die Plumpheit der Männer. Gewiß, die Vorwürfe, die sie dem anderen Geschlecht entgegenschleuderte, waren weder ihrem Inhalt noch der Form nach neu, aber wie eben die Dinge sind, ob im großen oder im kleinen, sie bleiben immer gleich aktuell und sind, wahrscheinlich seitdem die Menschheit Worte hat, so oft schon ausgesprochen worden, daß neue Variationen kaum mehr möglich sind; im übrigen dürfte sie bei ihrer resoluten Polemik auch von dem instinktiven Wunsch geleitet gewesen sein, was vorgefallen war, aus der Stimmung des Tragischen, des Schrecklichen in den Bereich der Alltagskonflikte hinüberzuziehen und es so zu bagatellisieren.

»Ah!« sagte sie, »Carola ist die schönste und zugleich die klügste Frau! Ich wollte, wir alle wären so klug wie sie! Du weißt, wie empfindsam sie ist, wie sensibel, Krau hat ganz recht, wenn er sagt, daß sie psychisch außerordentlich labil ist!« Alle Männer, alle, sie alle ohne Ausnahme, rief sie schließlich, seien Barbaren, er, Ruge, hätte ja sein Dienstmädchen heiraten können, Carola sei eine ganz besondere Frau, eine einmalige Individualität, daraus müsse er die Folgerungen ziehen, er müsse alle, alle Rücksichten auf sie nehmen, und, wie es nun einmal sei, dürfe er selbst keine von ihr verlangen, gar keine, überhaupt keine, und alles müsse nach ihren Bedürfnissen eingerichtet sein.

Es sei bei ihrem zu augenblicklichen Übersteigerungen neigenden Temperament dahingestellt, wie weit sie dies alles wirklich und wörtlich so meinte und zu welchen Schlüssen sie noch mit ihren Anklagen und Forderungen gekommen wäre, aber Ruge benützte eine Atempause, die sie machen mußte, und kam endlich zu Wort.

»Gut, gut!« sagte er und schob dies alles mit einer müden, aber entschiedenen Geste von sich. »Gut, gut! Setz dich nur wieder!« Er selbst kam herüber und ließ sich an dem kleinen runden Tisch nieder, so daß sie nun einander gegenübersaßen. »Bleib nur ruhig! Wir wollen den Streit, wer Rücksichten auf den anderen zu nehmen hat, welche, wie viele, wann und unter welchen Umständen, den kleinen Leuten überlassen! Ich denke immer, das sind Dinge, die sich zwischen geradegewachsenen, nur ein wenig auf ihre Würde haltenden Menschen von selbst ergeben und regeln. Aber das alles ist es nicht, das alles ist es nicht –! Du hast gesagt: es kam doch nicht aus dem blauen Himmel – gut, gut, ich weiß es nicht mehr, es mag einen kleinen Disput gegeben haben, gut, aber tut man denn so etwas, wenn sich der Himmel nur ein wenig bewölkt? Sieh, Gisela –!«

Er schwieg und atmete auf; dann setzte er von neuem an und sprach weiter, klagenden Tones, mit einem leisen, kaum merkbaren Zittern in der Stimme, das an das Zittern der an Wimpern hängenden Tränen erinnerte: »Sieh, Gisela, alles Geschaffene ist so geschaffen, daß es Widerstand leisten kann, und ein Lebewesen, das nur unter idealen und vollkommenen Umständen leben kann, hört auf, ein Lebewesen zu sein, und es wird ein Wesen des Todes. Ich bin kein Gott, nicht einmal ein vollkommener Mensch, und kann Carola kein vollendetes Dasein schaffen. Überdies ist meine Person nicht das einzige Element ihres Lebens – wie, wenn einer von uns beiden erkrankt? Oder sich unsere Vermögenslage ändern sollte? Ja, ja, man kann doch niemals wissen, was kommt, aber das wollen wir lassen, wie also, wenn irgend etwas eintritt, etwas Störendes, nur etwas Unwillkommenes, wird dann immer ihr erster Gedanke sein: sterben? Wenn ich sie gekränkt haben sollte, warum hat sie sich nicht gewehrt, warum nur gelitten? Und wenn sie gelitten hat, warum gleich –?«

Er führte den Satz nicht zu Ende, dann sprach er in leiser Gleichförmigkeit, mit der suggestiven Kraft der Eintönigkeit weiter: »Es geht nicht, Gisela, es geht nicht! Als ob das Leben nur ganz ohne Leid ein Leben wäre! Es geht nicht, daß ein Mensch gegen alle Beschwernisse immer den Gedanken an den Tod bereit hält wie gegen seine Müdigkeit den Gedanken an den Schlaf! Denn es führt, wenn auch nicht zum Tod, so doch zu einem todesähnlichen Leben! Es geht nicht, Gisela, es geht nicht! – Aber, weißt du, es geht auch meinetwegen nicht! Ich gehe ein, ich bin entkräftet, das Mitleid mit ihr, die Angst um sie machen meine Seele zu einem Fetzen! Alles stockt mir, der Atem, das Herz, das ganze Leben! Ich will ihr helfen, aber ich kann sie nicht mit meinem eigenen Atem erhalten! Wenn ich auf dem Podium stehe und meinen Vortrag halte, dann wird es plötzlich dunkel vor meinen Augen, ich habe das Bild vor mir, wie sie mit langsamer, trauriger Bewegung, eine Träne im Auge, den Revolver aus einem Versteck hervorholt. Immer dieses: vielleicht jetzt! vielleicht jetzt. Es geht nicht, Gisela, es geht nicht! Immer geht ein schattenhaftes Wesen mit erhobenem Arm hinter mir, und ich weiß nicht: ist's die Gestalt des Todes oder Carolas Gestalt!«

Von dem gleichmäßigen, tiefen Rauschen seiner Stimme eingeschüchtert, hatte Gisela sich geduckt und schwieg. Endlich fragte sie zaghaft, ob er denn gewußt habe, daß sie es tun würde. Er beugte sich zu ihr und flüsterte noch leiser: »Aber Gisela, glaubst du denn wirklich, daß es das erste Mal gewesen ist?«

Sie schob den Kopf vor, dem seinen noch näher, und fragte nur noch hauchend: »Wie –? wann –? Ich weiß doch nicht –!«

»Vor zwei Jahren, vor zwei Jahren!«

»Wie? Warum –? Ich weiß doch nicht –!« wiederholte sie.

»Natürlich! Natürlich weißt du nichts!« rief er lebhafter werdend. »Woher solltest du auch etwas wissen! Hör zu, hör zu!«

Er stand auf und durchmaß mit langen Schritten das Zimmer. »Hör zu!« rief er und tastete nach einem Anfang, doch da er an ihr vorüberging, packte Gisela, bevor er begann, seinen Arm, und als er stehengeblieben war, wies sie mahnend nach oben, wo Carola lag, und dann auf einen Sessel. Er setzte sich auch tatsächlich nieder, ihr gegenüber, und dämpfte wieder seine Stimme, doch er erzählte in vorwärtshetzender Schnelligkeit, und da die Tür nun aufgestoßen war, stürzte alles, mit dem Wesentlichen auch die unwesentliche Einzelheit, hervor: »Hör zu! Du weißt, daß ich seit drei Jahren an einem großen Werk arbeite, an einem entscheidenden Werk. Wovon es handelt? Du verstehst es ja doch nicht! Es ist fast fertig, es enthält all meine Ideen. Weißt du, was es bedeutet: vor der Vollendung eines entscheidenden Werkes zu stehen? Nein, aber was Leidenschaft ist, weißt du doch? Nun also! Es war fast fertig. Der letzte Teil, der alles zusammenfassen, die letzten Folgerungen ziehen sollte, hat gefehlt, nun, es mögen sechzig, es mögen achtzig Seiten sein, gleichgültig – seit dem Herbst habe ich auf diese Ferien gewartet, denn ich wußte, in diesen Ferien würde es fertig werden. Da und dort war ich noch nicht zufrieden, hier schien es ein Loch zu haben, dort schien ein Pfeiler zu schwanken. Aber es durfte nicht Hypothesen enthalten, sondern sicher fundierte Theorien. Nun hatte sich mir alles gefügt, alles war rund und klar. Sechs Wochen noch, rechnete ich, sechs Wochen für die Durchsicht des Ganzen und die Niederschrift der letzten Teile, ich wollte mit vollen Lungen darangehen und hatte schon die Ärmel aufgekrempelt, das war vor einer Woche, und ich habe Carola gesagt: Hör zu, die nächsten Wochen werde ich ein wenig einsiedlerisch sein, du verstehst es doch, nicht wahr? habe ich sie gefragt, und sie hat geantwortet: Natürlich, mein Junge, natürlich! und ich dachte: Eine kluge, eine einsichtige Frau! Ich gehe also an die Arbeit, ein glücklicher, ein ganz selbstvergessener Mensch – und zwei Tage später, ich war schon eingesponnen, zwei Tage später, da wurde das Netz, in das ich eingesponnen war, zerrissen, zwei Tage später nämlich hat sie es getan! Als ob das Schicksal nicht erlauben wollte – was kann das Schicksal dagegen haben, daß ein Mann sein Werk zu Ende bringt? Als ob es sagen wollte: Hier bin ich! Du willst dich der Leidenschaft deines Geistes hingeben? Deiner eigenen Leidenschaft? Mach deine Rechnung nicht ohne mich! Was will das Schicksal? Was will das Schicksal?« Er stand auf und breitete mit pathetischer Geste die Arme aus: »Der Tod ist noch größer und stärker als das Leben, und wenn ein Mensch so weit, so ganz bis ans Ende gekommen ist, daß er sterben will, dann kann ich nicht verlangen, daß er, sich im letzten Augenblick umwendend, Rücksicht auf ein unfertiges Manuskript nimmt, aber –!« Er beendete nicht den Satz, ließ nur die Hände gegen die Schenkel fallen und tat einige hastige Schritte zur Tür hin.

»Sieh, Georg«, begann Gisela schüchtern, und es war nicht zu verkennen, daß sie ergriffen war, »daß es gerade an diesem Tag geschehen ist, daß sie gerade an diesem Tag in ihre verzweifelte Stimmung gekommen ist, scheint dir jetzt, in diesem zufälligen Zusammenhang, wesentlich, aber, mein Gott, du wirst dich wiederfinden und wirst eben für eine Arbeit, die dich drei Jahre gekostet hat, zwei Wochen oder einen Monat mehr verwenden. Das ist nicht das Entscheidende –«

»Gewiß nicht, gewiß nicht!« warf er ein.

»Das Entscheidende ist«, fuhr sie fort, »daß auch sie sich wiederfindet!«

Mit zwei gelaufenen Schritten, die schon wie Sprünge waren, stand er wieder vor ihr und beugte sich tief zu ihr nieder, daß sein Gesicht ganz bei dem ihren stand: »Aber ich sage dir doch, ich sage dir doch«, flüsterte er, »daß es nicht das erste Mal gewesen ist!«

»Aber wann denn?« fragte sie zaghaft. »Setz dich!«

Er ließ sich nieder: »Hör zu, hör zu!« begann er wieder in hervorgesprudeltem Geflüster. »Hör zu! Erinnerst du dich: als wir heirateten, geschah es so sehr in aller Heimlichkeit, daß wir auch noch die Zeugen nicht aus unseren Freunden ausgesucht, sondern von der Straße hergeholt haben – erinnerst du dich? Und weißt du, warum das so geschehen ist? Weil ihr Arm noch in einer Schlinge war, von einem Schuß her, mit dem sie sich verletzt hatte!«

Gisela hauchte nur: »Und warum?«

»Warum? warum? Sonderbar, sonderbar war's und nicht ganz begreiflich, begreiflich sozusagen nur in der Theorie! Hör zu! Wir waren auseinandergegangen, sehr friedlich und freundschaftlich. Nach drei Tagen aber bekam ich einen Brief, einen Brief von einem Leichnam sozusagen, denn sie teilte mir mit: ihn zu schreiben sei das letzte, was sie tue, bevor sie sich nach seiner Beendigung erschießen würde. Und warum hat sie es getan? Ah, warum, warum? Denk nur, nicht etwa, weil sie mich noch geliebt hätte, oh, nein! denk nur! Sie tat es, weil es so traurig ist, daß alles zu Ende geht, schrieb sie, weil es nicht lohne, in einer Welt zu leben, in der die Liebe endet! Dieser Brief, er war so schön wie ihre Züge, so edel wie ihre Gestalt, so schmerzlich-leidend wie ihre ganze Erscheinung, kurz, es war ein wunderbarer Brief, er hätte in jede Briefsammlung aufgenommen werden können, ich war natürlich zerschmettert, und doch, siehst du, daß eine Frau sich töten will, nachdem sie in Frieden von einem Mann gegangen ist, nicht aus unglücklicher Liebe, sondern weil eine Liebe in Frieden zu Ende gegangen ist – es ist ein wenig sonderbar, nicht wahr, ein wenig kompliziert, und ich kann verworrene psychologische Linien schwer verfolgen, ich, weißt du, ich liebe die großen Flächen –«

»Ich verstehe es nicht«, sagte sie, »aber ich glaube immer, daß sich hinter einem verworrenen Netz, das nur mit vielen Worten zu beschreiben ist, meistens etwas sehr Einfaches verbirgt, das mit wenigen Worten auszudrücken wäre.«

»Bravo!« schrie er fast auf. »Aber wo ist das Einfache?«

»Und weiter?« fragte sie, um ihn an seine unterbrochene Erzählung zu erinnern.

»Ich bin zu ihr gestürzt, der Blutenden, der Verbundenen, sie war doppelt schön in ihrer Blässe. Du wirst leben, du wirst leben! rief ich ihr zu. Ich habe an ihrem Bett gesessen, ein zerschmolzener Mensch, Tag und Nacht, es war nicht die schlechteste Zeit für uns beide, an ihrem Krankenbett.«

Sie schwiegen. Er schien sich in abschweifende Gedanken zu verlieren. »Der einzige Arzt, den sie um sich duldet, ist Krau. Nun, du weißt es, er ist ein alter Kamerad, ein guter, braver Mensch, aber, nicht wahr, wir wollen uns doch nicht täuschen, er ist ein wenig dumm. Carola ist psychisch sehr labil, sagt er, und das ist seine Diagnose! Mein Gott! Labil, labil! Was sagt denn dieses Wort? Ein blödes Wort! Ja, nie steht sie fest, und ich, der zitternde Zuschauer, ich schaue und warte: Wann wird sie in die Arme des Todes fallen? Heute? oder erst morgen?«

»Überhaupt nicht mehr!« sagte Gisela mit plötzlicher Entschlossenheit, als ob sie sich vorgenommen hätte, nun selbst einzugreifen und nach dem Rechten zu sehen.

Er lachte verzweifelt auf: »Überhaupt nicht mehr?« rief er, und plötzlich aufspringend, trat er an ihren Sessel heran und brachte seinen Mund an ihr Ohr. »Und der Rest?« flüsterte er als schreckliches Geheimnis. »Der Rest der Tabletten?«

Sie bog den Kopf zurück, um ihm ins Gesicht sehen zu können, und blickte ihn verständnislos an. Wovon er denn spreche, fragte sie.

»Sie hat noch den Rest der Tabletten! Sie muß ihn haben! Frag nur Krau! Wenn sie alle eingenommen hätte, dann hätte sie es nicht überlebt! Wir haben im geheimen das Zimmer durchsucht, aber nichts gefunden! Sie hat noch den anderen Teil, sie hat ihn noch!«

Nun aber sprang auch Gisela auf: »Ihr seid toll, du und Krau! Ich habe sie doch an mich genommen, alle, die ich finden konnte –!«

Sie sagte die Wahrheit. Carola hatte tatsächlich nur einen Teil des Mittels zu sich genommen, den Rest aber hatte Gisela, nachdem sie ihre Freundin bewußtlos vorgefunden, rechtzeitig entdeckt und im ersten freien Augenblick an sich gebracht, um ihn aus Carolas Bereich zu schaffen; im allgemeinen Wirrwarr allerdings hatte sie vergessen, ihn Krau endlich auszufolgen, nachdem er herbeigeholt worden war; und als sie nun am frühen Morgen nach schrecklich durchwachter Nacht erschöpft nach Hause gekommen war, die Tabletten in der Tasche wieder entdeckt, sie hervorgeholt, in der hohlen Hand vor sich hingehalten und betrachtet hatte, da hatte sie sich nicht entschließen können, sie wegzuwerfen oder auf andere Weise unschädlich zu machen. Mag es das Gefühl eines besonderen Besitzes, mag es die Faszination gewesen sein, die von der immer noch sehr großen Menge des Todesmittels ausging wie von einem Abgrund, zu dem der Mensch magisch hingezogen sein kann, oder mag in ihr, die entsetzt, entnervt und überdrüssig all der Lebensverwicklungen war, was immer vorgegangen sein, sie entledigte sich ihrer nicht und verwahrte sie in ihrem Schrank, in einem Winkel der Rückwand hinter den Stößen ihrer Wäsche. Es ergab sich von selbst, daß sie mit niemandem davon sprach, um so mehr, als sie gar nicht danach gefragt wurde, und so war ihr unversehens ein Geheimnis daraus geworden.

»Ihr seid toll!« wiederholte Gisela. Ob er denn nicht, fragte sie dann, oder ob Krau nicht Carola gefragt, mit ihr darüber gesprochen habe.

»Doch, doch! Wir haben sie gefragt, wir haben sie beschworen, uns ihr Versteck zu verraten! Sie hat allerdings geleugnet, daß sie sie hat, aber wir haben ihr nicht geglaubt, denn ihre ganze Art war so, daß wir ihr nicht glauben konnten, so schwach, so matt, sie hat so geleugnet wie ein Mensch, der nicht die Wahrheit spricht, wir sind in sie gedrungen, aber du kennst sie doch, wir haben gespürt, wie sie von unserem Gespräch gequält wird, ach, wir haben sie wahrscheinlich wirklich gequält, die Arme, ach, sie hat so unendlich müde die Augen geschlossen und geseufzt, die Arme, so haben wir's dabei bewenden lassen, aber wir waren überzeugt, ja, sie hat sie, sie hat sie!« Gisela war die Sprache vergangen. Nun hatte sie alle Orientierung verloren.

Er ließ sich in seinen Sessel sinken und fiel in seine Klage zurück: »Habe ich nicht alles getan? Ich bin wehrlos, alles krampft sich vor Mitleid mit ihr, vor Angst zusammen! Ach, was habe ich gesprochen und gesprochen, sie zu überreden, zu überzeugen versucht – ach, Gisela, man glaubt immer, man muß nur ein vernünftiges Wort sagen, der andere hört's, versteht's, begreift's, und alles ist gut. Ja! Das Wort ist vernünftig, der andere hört's, versteht's, begreift's und – alles bleibt beim alten! Die Arme, die Arme! Was macht sie aus sich! Aber was macht sie auch aus mir!« Plötzlich hob er unter neuem Schrecken, neuer Angst den Kopf: »Gisela! Du lügst! Du hast sie nicht, die Tabletten! Carola hat sie! Du sagst es nur, um mir die Angst zu nehmen!«

»Du phantasierst! Ich werde sie dir bringen!«

»Nein! Ich phantasiere nicht!« rief er, in seine Angst verbissen. »Und wenn du mir sie selbst zeigst, was beweist mir, daß es nicht andere sind? Sag nichts, sag nichts, ich glaube dir ja doch nicht! Carolas Art zu leugnen, sagt mir mehr! – Gisela, Gisela, ich bin gefangen, gefangen und gefesselt! Die Arme, wann wird es wieder über sie kommen? Es geht nicht, Gisela, es geht nicht! Es ist ein vernichtender Kampf, ich bin wehrlos! Man kann nicht immer den Tod bereit halten! Ich ersticke! Es geht nicht, Gisela, es geht nicht!«

Der Atem setzte ihm aus. »Es geht nicht, es geht nicht!« wiederholte er und schien doppelt gequält zu sein, weil er immer nur dieselben Worte fand. Seine Züge verzerrten sich unter seiner Verzweiflung, doch die Verzweiflung verwandelte sich in furchtbaren Zorn, das Blut strömte in sein Gesicht, die Augen traten vor, und endlich brach es aus ihm hervor: »Es geht nicht, es geht nicht!« brüllte er und sprang auf, daß alles rings um ihn erbebte. Er hob die geballte Faust. »Ich revoltiere! Ich revoltiere!« schrie er und ließ sie bei jedem Ausruf krachend auf die Platte des Schreibtischs fallen.

Auch Gisela war aufgesprungen. Er hob nochmals den Arm und öffnete mehrmals den Mund, doch sie flüsterte ihm zu: »Leiser! Carola könnte erschrecken!« Und er wiederholte flüsternd: »Ich revoltiere!« Und die Faust fuhr zwar durch die Luft, hielt aber über der Platte an und schlug nicht auf.

Das Blut war wieder aus seinem Gesicht geströmt, seine Haut hatte nun die Farbe des Pergaments, und er ließ sich mit jener ewigen Gebärde in den Sessel fallen, mit der der Mensch, überwältigt und im Glauben, daß er den Augenblick nicht überstehen kann, nach seinem eigenen Herzen greift.

Gisela ließ ein Minute, eine zweite verstreichen, damit er sich erholen könne. Die Flammen, die ihn zum Kochen gebracht und gewaltsam aufgebrochen hatten, hielten ihn noch in Wallung, er saß regungslos, mit starrem Blick und mit geballten Fäusten, aber von Zeit zu Zeit horchte er in seinem umnebelten Zustand, seiner Gewohnheit getreu, hinauf und ins Haus, ob nicht Carolas silberne Glocke ertöne.

Gisela sah auf die Uhr. »Mein Gott, wie lange wir hier schon sitzen! Wie du aussiehst! Denk nur, wenn dich Carola jetzt ruft! So kannst du dich ihr nicht zeigen!«

»Es ist wahr«, sagte er ängstlich. Sie redete ihm zu, er solle gehen, seinen Kopf in kaltes Wasser stecken, es wäre schrecklich, wenn ihn Carola in diesem Zustand sähe, er solle sich waschen, rasieren, sich herrichten, Carola könne jeden Moment klingeln, und was sollten sie dann sagen! Er nickte von Zeit zu Zeit, wie ein Mensch, der zeigen will, daß er ja alles einsieht, aber er hatte offenbar noch nicht die Kraft, ihr zu folgen. Schließlich stand er doch auf.

Gisela selbst packte Mütze und Mantel, um sie in der Garderobe unterzubringen, klaubte ihre Pakete auf und ging in die Küche, um ein schnelles Mittagsmahl zu bereiten. Das Mädchen war unter einem Vorwand in Urlaub geschickt worden. Dies war eine jener Maßnahmen, die man zur Geheimhaltung des Geschehenen ergriffen hatte. Sie mag nicht geschickt gewesen sein, da doch jede auffallende Tatsache erst recht die Blicke dorthin lenken mußte, von wo sie abgelenkt werden sollten, ebensowenig geschickt wie die anderen Maßnahmen, zu denen man sich entschlossen hatte: die Hausglocke unbrauchbar zu machen und das Telephon abzustellen; aber Ruge war besinnungslos gewesen, Krau war ein unbeholfener Mensch, Gisela hatte sich nur der Kranken gewidmet, und so war denn alles genauso geschehen wie Carola es, bei all ihrer Schwäche, in ihrer Art umsichtig, verlangt oder angeordnet hatte; nur durfte man sich dann eben nicht wundern, daß sich die Nachricht dessen, was sich zugetragen hatte, erst recht verbreitete.

Blanche saß, es war geraume Zeit vergangen, noch immer neben Carola, die bewegungslos ruhte und, von den Blüten, Früchten und all den Geschenken umgeben, wie ein Monument des Leidens war, um das, von den Gesunden und Glücklichen dargebracht, die Opfergaben aufgestellt worden waren. Blanche betrachtete dieses Gesicht, das durch seinen Schmerz in keinem Winkel, in keiner Falte verzerrt, sondern im ganzen nur verschönt worden, wie von einem Schleier aus Wehmut überzogen war, als hätte sich eine edle Träne zu einem sanften Hauch und Nebel aufgelöst. Ruges einziger Aufschrei war vor mehr als einer Viertelstunde heraufgedrungen, deutlich genug, daß auch Blanche das gebrüllte Wort hatte verstehen können, dieses Wort: Ich revoltiere, ich revoltiere!, und voll Angst hatte sie auf Carola geblickt, daß auch sie durch die heraufschallenden Rufe erschreckt und geängstigt werden könnte, aber die Kranke hatte nur einen Moment hinuntergehorcht und dann mit dem Hauch eines Lächelns gesagt: »Gisela und Georg philosophieren hie und da miteinander, und wenn sie sich über ein Problem nicht einigen können, dann gibt es eben auch ein wenig Geschrei. Wahrscheinlich debattieren sie auch jetzt.« Blanche hatte etwas gezwungen aufgelacht, denn die Erklärung mochte ihr nicht recht glaubwürdig erscheinen, aber froh, daß Carola, indem sie eine so harmlose Deutung fand, nicht irritiert wurde, hatte sie sich gern zufrieden gegeben.

Im übrigen aber huschte und tanzte das Gespräch hin und her, von einem Gegenstand zum andern, doch immer wieder zu denselben Gegenständen zurückkehrend. Einmal sprachen sie von der Grippe, dann wieder versuchte Blanche, sich vorzutasten, um zu erforschen, wo die Geheimnisse ihrer Freundin lägen, aber Carola blieb unerschütterlich in ihrer Schwermut und undurchsichtigen Tragik, deren Kern nicht zu erfassen war und irgendwo im Unendlichen zu liegen schien.

»Wo lebst du!« rief Blanche aus. »Sieh dich doch um! Ja, jetzt sage ich: sieh dich doch um! Du lebst nicht in der Wirklichkeit!«

»Lehr du mich die Wirklichkeit kennen!« seufzte Carola. »Wer kennt sie besser, du oder ich?« Sie schien sich in trüben Gedanken zu verlieren und fuhr dann klagend fort: »Weißt du, wo ich unlängst gewesen bin? Was ich gesehen habe? Ah! soll ich's dir sagen? Um zwei Uhr in der Nacht, unlängst, war ich auf jener Station, auf der die Mädchen von der Straße zusammengetrieben werden, um untersucht zu werden, weil sie verdächtig sind, krank zu sein! Inmitten von ihnen allen habe ich gestanden –!«

Aber warum sie hingegangen sei, unterbrach sie Blanche, wie sie, um Gottes willen! dorthin gekommen sei! Meinhardt habe sie mitgenommen, ein Freund von Ruge, er sei Arzt und habe dort Dienst in dieser Nacht gehabt. »Er hat mich als Kollegin, als Ärztin ausgegeben, die ihn zu Studienzwecken begleitet.«

»Aber warum bist du mitgegangen? Warum? Sag mir doch, Carola, was zieht dich zum Unglück?«

Es hat mich interessiert. Man muß es gesehen haben. Das, mein Kind, ist die Wirklichkeit, das ist sie! Ah, dieses Unglück! Dieses Unglück zu sehen! Diese zerfetzten Kreaturen, die sich in jedes Bett, auf jedes Sofa werfen lassen müssen und –!« Sie atmete schwerer, ihre Zähne bissen aufeinander, und ihre Nasenflügel weiteten sich, doch dies alles nur einen Augenblick, und ihre Züge klärten sich wieder zu Harmonie und Schönheit, ihre Stimme begann wieder klagend zu singen, das leise schwankende Auf und Ab ihrer Melodien hallte wieder leise durchs Zimmer. »Du hättest sie sehen sollen, die zerfressenen, kranken Gestalten, die verhungerten Seelen, die mißhandelten Kreaturen! Wie leben sie, wovon leben sie, in welchen Löchern hausen sie, die verhungerten Seelen? Ah, was ist der Mensch, was ist das Leben!«

»Aber warum, Carola, bist du hingegangen?« fragte Blanche nur noch leise und schon fast verzweifelt. »Du darfst nicht lang mehr liegen bleiben, sonst verlierst du dich in diesen Erinnerungen, du mußt aufstehen, sonst versäumst du den ersten Frühling! An eurem Gitter blühen schon die Pfeifensträucher. Hast du es gesehen?« Carola schüttelte nur traurig den Kopf. »In meinem Garten«, fuhr Blanche fort, »schlagen die Sträucher aus. Heute nacht habe ich es entdeckt, im Mondlicht. Denk nur, gerade im Mondlicht, als ich heute nacht ins Atelier ging! Steh auf und lebe! Du müßtest glücklich sein! Ah, du bist es auch! Ich kann es nicht anders glauben! – Wenn man so geliebt wird –!« fügte sie leise hinzu. »Steh auf, atme die Märzluft, dann kommt der April und der Mai, der Frühling und der Sommer! Steh auf und lebe!« Und es kann nur Carolas Einfluß gewesen sein, daß auch sie, gegen ihre Art, in Melodien zu sprechen, ein wenig larmoyant zu singen begann, mit wiederkehrenden Rhythmen und Refrains: »Steh auf und lebe! Du wirst aufblühen mit dem Frühling! Hat die Traurigkeit keinen Grund, so muß auch die Fröhlichkeit keinen haben! Alles kann Grund sein, um fröhlich zu sein, die Märzluft, die Aprilsonne, der Mai! Steh auf und lebe! Du wirst aufblühen mit dem Frühling!«

Carolas Gesicht verschloß sich unter diesen Reden und wurde abweisend. »Du tust so«, sagte sie, »als ob du es erfunden hättest, daß man den Frühling genießen kann. Ach, mein Kind –!«, und sie sprach weiter, leidend und voll Jammer: »Ach, du verstehst mich nicht! Ihr alle wollt mich nicht verstehen! Ihr seid Egoisten! Ihr denkt nur an eure Freiheiten und Vergnügungen! Auch ich bin unlängst gegangen, auch ich habe gesehen, daß die Sträucher ausschlagen, auch ich habe die Märzluft gespürt, aber, mein Kind, hör zu! Wie ich so draußen auf einem schmalen Weg vor der Stadt gegangen bin, kam ich an ein Gitter, das von innen verwachsen war, aber dann stand ich an einer Stelle, an der das Strauchwerk schütter war, und ich konnte durch einen Spalt hineinsehen. Was habe ich gesehen? Was, glaubst du, habe ich gesehen? Einen Kinderspielplatz, und es haben auch wirklich dort Kinder gespielt, aber lauter, lauter verkrüppelte Kinder! Es war so eine Anstalt –. Ah, eine Hühnerbrust und hinten ein Buckel, Stelzen und Prothesen!«

Nun aber war es Blanche, die gequält war. »Sei still!« schrie sie auf und legte ihre Hände an die Ohren. »Sei still!«

Augenblicklich verstummte Carola und sah mit bewegungslosen Blicken zur Decke. Schon erschrak Blanche: »Du bist doch nicht böse?«

»Nein, nein«, antwortete Carola. »Ich schweige schon. Du hast ganz recht!« Sie verharrte stumm und regungslos, während ihre aufwärts gerichteten Augen sich abermals feuchteten und erglänzten; diesmal jedoch trockneten sie nicht, sie blieben blinkend und waren schon von der unendlich dünnen Wasserfläche zweier sich bildender Tränen bedeckt.

Behutsam schob sich die Tür auf, und Ruge zeigte sich auf der Schwelle. Er hatte sich rasiert, im ganzen hergerichtet, sein Gesicht war erfrischt und ein wenig gerötet. Er trat mit heiterer Miene an Carolas Bett und beugte sich zu ihr. »Wie geht es dir?«

»Danke, mein Junge!« sagte sie leise.

»Habt ihr euch gut unterhalten?«

»Gewiß, mein Junge!«

»Brauchst du etwas?«

»Danke, nein, ich brauche nichts.«

Er hatte ihre Hand ergriffen, während seine andere über ihre Haare strich.

Blanche betrachtete die beiden, auf ihre Weise diese kleine Szene mitempfindend, lächelte und hörte ihnen zu, während sich ihr Kopf allmählich zur Schulter neigte. Sie war übernächtig und bleich, ihre Backen waren schlaff, sie wirkte älter als sie war, und jemand, der sie nicht leiden gemocht hätte und deshalb zu unfreundlichen Vergleichen bereit gewesen wäre, hätte vielleicht gesagt, daß sie dasitze wie eine altjüngferliche Tante, die zu den Liebkosungen eines jungen Ehepaares süß-säuerlich lächelt.

Es war seit Ruges Eintritt erst kaum eine halbe Minute vergangen, Carola hatte ihm ihren Kopf zugewandt, und wie er neben dem Bett stand, beschattete er, da doch das Licht von unten aus der Ecke kam, ihr Gesicht. Ihre Augen hatten sich, bevor er gekommen, mit dem Wasser der Tränen überzogen; während des kurzen Gespräches aber hatte es sich gesammelt, zu zwei Tropfen vereinigt; sie waren herausgetreten, hatten sich zitternd an die Wimpern gehängt, lösten sich schließlich los, und zwei große schwere Tränen glitten langsam und majestätisch über ihre Wangen. In diesem Moment richtete sich Ruge auf und trat zur Seite, ihr Gesicht war wieder erhellt, er erkannte, daß sie weinte, und erstarrte vor Schrecken. »Carola –! Was gibt es –?« hauchte er, während ihm der Atem stehenblieb und seine Blicke ratlos und fragend von seiner Frau zu Blanche, von Blanche zu seiner Frau jagten.

»Was denn –?« flüsterte Blanche, ihrerseits über seinen Schrecken erschreckend.

»Carola weint doch! Sie wissen nicht, daß Carola weint –? Sie wissen es nicht –? Carola –! Um Gottes willen –! Carola –!« wiederholte er, indem er sich über sie neigte, gelähmt und nicht fähig, mehr als abgerissene Rufe auszustoßen.

»Was denn, was denn?« fragte Blanche und bückte sich von ihrer Seite her über ihre Freundin.

»Laßt mich doch!« hauchte Carola.

Die Tür wurde abermals geöffnet, und Gisela erschien, nicht mehr so behutsam das Zimmer betretend wie in all diesen Tagen; in ihren Zügen lag Entschlossenheit, ja, ein gewisser Grimm; aber sie hielt auf der Schwelle ein. »Was gibt es?« fragte sie, trat die drei Schritte zur Fußwand und beugte sich von dorther über das Bett, so daß Carola von drei Seiten von den fragenden, besorgten, entsetzten Gesichtern umrahmt war.

»Laßt mich doch!« wiederholte Carola. Das edle Oval ihres Gesichts lag regungslos auf den Kissen. Wie zart war der Strich der schmalen Brauen über den schwer niedergefallenen Lidern! Um ihre hohe, klare Stirn rauschte der Flügelschlag des Leids, wie schmal waren die langen Hände, wie dünn die langen Finger mit ihren gepflegten, sorgsam zugespitzten Nägeln, in deren zartem Rosa der Halbmond weißlich schimmerte! Wer konnte sich dieser Schönheit entziehen! Auch Gisela erschrak, und ihr verging alle Entschlossenheit, aller Grimm. Die drei gaben einander stumme Zeichen. Die Tränen waren ans Kinn gelangt und von dort auf die Brust getropft. Auf den Wangen waren ihre Wege noch sichtbar. Gisela legte den Finger vor die Lippen und wies mit den Blicken zur Tür. Blanche trat denn auch sofort auf Zehenspitzen an Carola heran, küßte ihre Stirn und verließ lautlos den Raum. Ruge schlich sich hinter ihr her. Gisela setzte sich ans Bett.

Blanche zog sich an, um zu gehen, doch noch als Ruge ihren Mantel vom Haken holte und ausbreitete, tat er es mit sanftester Behutsamkeit, als ob die Falten des Stoffes, einander berührend, die Stille des Hauses durchbrechen und Carola stören könnten. Er begleitete Blanche, um zu erfahren, was sich zugetragen hatte.

Indessen saß Gisela wartend bei Carola, und erst als diese die Augen nach ihr wandte, begann sie das Gespräch, in so leichtem Tonfall, wie es ihr nur möglich war. »Was gab es eigentlich? Habt ihr am Ende miteinander gestritten?«

»Gestritten? Nein, warum sollten wir das?«

»Was also gab es zwischen euch?«

»Nichts. Wir haben gesprochen. Ganz allgemein –«

»Und dabei weint man?«

Carola seufzte auf: »Ach laß doch, Gisela, laß doch!«

»Gut, gut! Ich bohre nicht. Aber willst du dich nicht ein wenig ausruhen? Willst du nicht schlafen?«

Carola antwortete nur mit einem leichten Zucken ihrer Schultern, einer Bewegung, die ebensowohl bedeuten konnte, daß ihr alles gleichgültig sei, wie auch ihrem Zweifel Ausdruck geben, ob sie würde einschlafen können. Gisela dachte nach, sie schien etwas im Kopf zu haben und zu überlegen, ob jetzt der richtige Augenblick sei, es auszusprechen. Sie stand auf und machte sich, auf und ab gehend, im Zimmer zu schaffen, als ob sie Ordnung machen wolle, und warf die Sätze scheinbar nachlässig hin. »Hör einmal, Carola!« begann sie. »Kann man jetzt mit dir über eine gewisse Sache sprechen? Nur ein paar Worte, nur eine halbe Minute?«

»Ja –? Was ist es?« antwortete Carola und atmete tief, als wollte sie sagen: Ich weiß schon, daß man mich wieder peinigen wird!

»Es ist besser, ich sage es dir jetzt, da du nun einmal ein wenig aus der Fassung gebracht bist, als daß ich dich morgen von neuem aus der Fassung bringen müßte.«

»Ja –? Was ist es?« wiederholte Carola.

»Hör einmal, weißt du, daß Georg voll von entsetzlicher Sorge ist, weil er glaubt, daß du noch einen Teil dieser verfluchten Tabletten irgendwo versteckt hast?«

Carola hatte die Brauen in die Höhe gezogen, als ob sie klagen wollte: Ich wußte es doch, ich wußte es doch!, und sagte leise: »Aber ich habe sie doch nicht mehr!«

»Ich weiß es, mein Kind, ich weiß es, aber er weiß es nicht.«

»Aber ich habe es ihm doch gesagt!«

»Auch das weiß ich! Aber er glaubt zu fühlen, daß die Art, in der du es ihm sagst, nicht überzeugend ist. Kannst du es ihm nicht so sagen, daß er dir glaubt?«

Carolas Qual steigerte sich zu vorwurfsvollem Jammer: »Wie schrecklich seid ihr!« klagte sie. »Wahrscheinlich verfüge ich eben nicht über jene Töne, die man von mir erwartet oder gar verlangt! Auch du quälst mich!«

Gisela warf einen furchtsamen Blick hinüber: »Bleib nur ruhig, mein Kind, bleib nur ruhig! Ich wollte, ich mußte es dir sagen. Versuch doch, ihn zu überzeugen! Erspar ihm die Sorge und Qual! Er verdient's!«

»Was kann ich denn mehr tun, als ihm sagen: Ich habe sie nicht!«

»Es so überzeugend und ungefragt sagen, bis er es glaubt!«

»Außerdem glaube ich«, fuhr aber Carola fort, die diese eindeutige Mahnung überhört zu haben schien, und zum erstenmal lächelte sie, »daß den Männern eine gewisse Unruhe wohltut, daß sie ihre eigenen Qualen lieben, ja, daß sie sie brauchen.«

Gisela stand beim Fenster und befühlte die Erde in den Blumentöpfen, ob sie feucht sei. Sie runzelte die Stirn: »Glaubst du das? Ich weiß nicht, ob es wahr ist.« Sie zwang sich aufzulachen, und es gelang ihr nur unvollkommen, als sie sich bemühte, in scherzhaftem Ton zu sprechen: »Aber wenn es wahr ist, dann befriedigst du dieses Bedürfnis ausgezeichnet! Aber, weißt du, ich habe einen guten Gedanken: du könntest einmal, um eine gewisse Abwechslung zu schaffen und weil du so gefällig bist, andere seiner Wünsche erfüllen – er wird doch gewiß noch andere haben, nicht?« Carola antwortete nicht, und so fuhr Gisela fort: »Oder sollte es dir Vergnügen machen, gerade nur diese, von dir entdeckten, diffizilen Wünsche zu erfüllen?«

Carola hatte nicht mehr hingehört, denn ihre Brust hatte sich schneller und schneller gehoben, ihr Mund hatte sich hilflos geöffnet, ihr noch bleicher gewordenes Gesicht hatte sich ein wenig verzerrt. »Ah!« machte sie jetzt, und ihr Leib hob sich in Krampf und Schmerz. »Was hast du?« rief Gisela, wandte sich um und eilte zu ihr. Carola griff nach ihrem Herzen und flüsterte: »Hör nur, wie es geht! Wie es rast! Entsetzlich! Ah –! Und jetzt setzt es aus!«

Gisela beugte sich über sie und horchte an ihr Herz, das in schwachen, kaum gehauchten Schlägen, doch in fürchterlicher Schnelligkeit jagte.

»Jetzt geht es wieder besser«, hauchte Carola.

»Soll ich Krau rufen?«

»Nein, nein, es geht vorüber, ich kenne es, es geht vorüber, es geht schon besser.« Und sie atmete befreit auf.

»Bist du mir böse?« fragte Gisela zaghaft.

»Nein«, antwortete Carola freundlich und lächelte milde. »Worüber sollte ich böse sein? Es ist alles wieder gut. Blanches Besuch hat mich wohl überanstrengt.«

»Du brauchst Ruhe. Versuch zu schlafen! Willst du etwas? Brauchst du etwas?«

»Danke, mein Kind, ich brauche nichts, ich habe alles.« Sie schloß die Augen, regte sich nicht mehr, und Stille und Ruhe umgab die Kranke.

Gisela blieb noch neben dem Bett und sah mit nachdenklich gerunzelter Stirn herab. »Nun also«, sagte sie dann, »ich gehe, und wenn du etwas brauchst, klingelst du!« Sie wandte sich ab, mit grübelndem, ja, mit verbissenem Gesicht, doch sie ging ganz leise, indem sie sich auf die Zehenspitzen hob, sie ging, Schritt um Schritt gleichsam flüsternd, mit dem vorgebeugten Oberkörper die Balance haltend, bis sie bei der Tür angelangt war, die sie behutsam öffnete und, damit es sei, als wäre das Holz aus Samt, nur mit allmählicher, vorsichtiger Bewegung, Zentimeter für Zentimeter, hinter sich zuzog.

Carola blieb allein. Die Gespräche, die Geräusche waren verstummt, die Gestalten verschwunden, und sie blieb allein mit dem sanften Licht, den Blüten, ihrem Duft und ihren lebhaften, durch die Dämmerung gedämpften Farben. Noch rührte sie sich nicht, sie lag regungslos.

Ihre Züge waren noch leidumflort, aus ihrem Gesicht schwebte die Schwermut empor, sie seufzte, ihre Augen waren weit geöffnet, bereit für die Tränen, die in sie treten könnten. Wie süß kann das Leid an der Welt sein, ja, wie süß das Mitleid mit ihr, wie süß die Träne aus der Harmonie der Wehmut, die nicht beißt wie der Schmerz und nicht reißt wie die Wut, sondern streichelt wie ein lauer Wind!

Freundlich und bunt umrahmt von Geschenken, Blumen und Früchten, in diesem umhegten Frieden, blieb Carola sich selbst hingegeben. Sie rührte sich nicht, sah zur Decke empor, und wieder ging mit leisen, vorsichtigen Schritten ein wenig Zeit durch den Raum. Doch endlich mußten sich Carolas Blicke regen; sie wandten sich zur Seite und glitten entlang der Wände, hielten da und dort für einen Moment ein, einmal bei dem lila Fliederstrauß zu ihren Füßen, ein zweites Mal bei der blau schillernden Knospe des Kaktus, dann wieder bei einer Platte, auf der winzige belegte Toaststückchen hergerichtet waren, und kehrten schließlich gleichsam zu sich selbst zurück und richteten sich wieder zur Decke.

Carola atmete auf und griff nach dem Spiegel, der neben dem Kissen auf dem breiten Bett lag, hob ihn über sich und betrachtete lange regungslos ihr Bild. Schließlich strich sie langsam und mit spitzem Finger über die langen, schmalen Brauen, dann mit der offenen Hand über die beiden glatten, vom Scheitel zur Seite gehenden Flächen der Haare, daß keines von ihnen sich krümme, emporrichte oder selbständig welle, denn, tatsächlich, sie lagen so eben und gleichmäßig beieinander, daß sie schon wie ein schimmerndes Seidentuch waren. Carola schob den Spiegel näher vor die Augen, wie eine Frau, die ihre Haut prüfen und nach Fehlern oder Fehlerchen durchsuchen will, legte ihn endlich zurück und langte nach dem Eau de Cologne-Flakon, drückte behutsam auf den Gummiballon, und schon sprühten mit kleinem, gemütlichem Zischen die Strahlen hervor, die sie auf Stirn und Hals und unters Hemd auf die Brust lenkte. Dann lag sie wieder mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Währenddessen öffnete sich die Tür zu einem Spalt, und Gisela schob sich herein, um die Rosen, Narzissen, Nelken und den Flieder, damit ihr starker, das Zimmer erfüllender Geruch der Kranken nicht schade, auf einem Tablett, das sie mitgebracht hatte, einzusammeln und, schleichend, wie sie gekommen war, hinauszutragen.

Als Carola wieder aufschaute, zog sie aus dem blauen Samtkästchen die Parfümflasche hervor, roch vorerst nur am Ausgang des Halses, um den vielleicht entströmenden Duft aufzufangen, dann aber öffnete sie die Flasche und sog den vollen konzentrierten Duft ein; das Parfüm schien ihr zu gefallen, denn ein leichtes, kaum gehauchtes Ah! des Wohlgefallens vermengte sich mit ihren schmerzlichen Seufzern. Schließlich betupfte sie mit dem Glas des Stöpsels behutsam die Oberlippe.

Nach kurzer Weile legte sie sich mit matten Bewegungen auf die Seite, zog eines der beiden Tischchen näher an sich heran, kramte in den Heften, Zeitungen und Bänden, die dort aufgeschichtet waren, und holte schließlich zwei illustrierte Bücher hervor. Das eine hieß ›Die Schönheit des menschlichen Körpers‹, das andere, ein populärwissenschaftliches, sexual-psychologisches Werk ›Eros auf Irrwegen‹. Sie stützte den Kopf in die offene Hand, blätterte lässig von Seite zu Seite, von Bild zu Bild, hielt da kurze Zeit an, dort gar nicht und hier wieder lange, und aus ihren vertieften Mienen war zu schließen, daß sie Zerstreuung oder Freude an dieser Beschäftigung fand.

Sie ließ die beiden Bände, da sie durchgeblättert waren, auf der Decke und legte sich wieder auf den Rücken. Bald begannen ihre Blicke wieder zu wandern, hie und da stehenbleibend, bei der Orchidee, beim neuen Nachtkleid, das über die Fußwand gebreitet war, und blieben auf dem Kaviarnäpfchen haften. Sie zog auch dieses Tischchen näher an sich heran, ergriff den Löffel, füllte sein Spitzchen mit den feucht schimmernden Körnern und naschte so ein wenig, füllte das Spitzchen zum zweitenmal, zum drittenmal, es schien ihr zu schmecken, und die Hand ging hin und her vom Tiegel zum Mund und vom Mund zum Tiegel, bis dieser fast leer war und der Löffel, der müden Hand entgleitend, mit leichtem Klirren auf den Teller fiel. Doch die müde Hand, denn der Appetit war angeregt, hob sich abermals, um nach einem der Brötchen zu greifen, unter den vorsichtigen Bissen krachte leise der Toast, ein zweites, ein drittes Brötchen wurde herangeholt, dann aus der Reihe der zierlich geformten Konfektstückchen zuerst ein kaffeebraunes, dann ein schokoladenes, schließlich ein zitronengelbes ausgesucht. Langsam kaute der schöne, schmallippige Mund im leidenden Gesicht die schaumige Masse. Der prächtige Hügel aus Obst stach der Kranken in die Augen, ihre Blicke gingen ihn langsam aufwärts und abwärts, endlich entschied sie sich, und ihre schmalen, köstlichen Finger brachen zärtlich den höchsten Gipfel des Hügels ab, die vollste und reifste der Erdbeeren, die dort als Abschluß und kleine Krönung hingelegt war, doch sie biß nur ein winziges Stückchen an der Seite der Frucht ab, um diese dann vor sich zu halten und ihr Inneres, das saftige, rosarote Fleisch, zu betrachten und auch mit den Blicken zu genießen; endlich schob sie die ganze Beere in den Mund, kaute langsamer und länger, als es dieses zarte Gewebe erfordert hätte, als ob sie, ehe sie schluckte, mit Gaumen und Zunge den noch unausgesprochenen, noch sanft-frühlingshaften Geschmack ganz herausholen und auskosten wollte. Sie aß eine Banane, dann aber hielt sie sich doch an die Erdbeeren und klaubte allmählich alle von dem schön geschichteten Berg.

Es war sehr still in Garten und Haus. Nichts wagte sich zu rühren, und das milde Licht umfloß die Leidende. Sie lag wieder still und seufzte tief auf. Ihre Lider fielen zu, öffneten sich bald wieder zu umschleierten Blicken, die schon etwas mühevoll im Raum hin- und hersahen, und schlossen sich zum zweitenmal, nun für längere Zeit. Ihre Muskeln entspannten sich, in gleichmäßigen Zügen atmete sie ein und aus; in wohliger Seligkeit lagen die Arme, lagen die Hände so leicht über der Decke, daß sie zu schweben schienen; kein Leid mehr in diesem regelmäßigen, edlen Oval. Noch einmal öffneten sich die kaum mehr etwas wahrnehmenden Augen, noch einmal stieg, leicht aufatmend, die Brust, in sanften Zügen entwich durch Mund und Nase die Luft, Arme und Hände lagen nun schwerer; noch einmal zuckten, schon wie im Traum, spielerisch die Finger, und sie schlief ein, der ganze Raum nichts als eine freundliche Welt des gleichmäßigen, ruhevollen, ebenen Schlafes. Um ihre hochgewölbte Stirn flatterte mit lautlosen Flügelschlägen der gütige Engel des gesunden Schlummers. Es lächelte die Luft um sie.

Ruge hatte mit Blanche nur einige Schritte gehen, nur in aller Eile ihren Bericht anhören wollen, um dann schleunigst zu Carola zurückzukehren, aber eben weil sie über Carola redeten, war er in dem Gespräch befangen geblieben und hatte sie bis fast zur Haltestelle begleitet. Dann aber war ihm bewußt geworden, wieviel Zeit vergangen war; die Angst um Carola hatte ihn durchzuckt, und unvermittelt hatte er begonnen, sich hastig zu verabschieden.

»Gisela ist ja bei Carola!« tröstete ihn Blanche, während sie ihm die Hand reichte. »Auf Wiedersehen! Ich komme bald wieder!« Sie sah ihm in die Augen und sagte mit stiller Emphase: »Wie glücklich müssen Sie sein!«

Der bleiche, ausgemergelte Mann sah sie fragend, fast fassungslos an. Ihre Augen blickten schwärmerisch, als sähe sie wirklich einem großen Glück ins Gesicht, wenn auch nicht dem eigenen. Sie sah nur seine Sorge um die kranke Frau, das blumenüberfüllte Zimmer, die Geschenke, die zärtliche Stille des Hauses, das kurze Gespräch, da er ihre Hand gehalten und ihr Haar gestreichelt hatte, und vergessen war, weshalb sie hergekommen war, vergessen die Krankheit, vergessen die Ursache der Krankheit, und sie sah nichts anderes als die Sorge um die leidende Frau, nichts als Liebe und Glück. Wovon der Mensch träumt, das glaubt er überall zu sehen. So blind ist er, wenn er träumt.

»Wie lange sind Sie verheiratet?« fragte sie.

»Zwei Jahre.«

»Aber vorher wart ihr doch schon beisammen. Wie lange?«

»Drei Jahre.«

»Das sind fünf Jahre. Da wird es schon zwischen euch so bleiben, wie es ist!«

»Ja! Ich denke, gewiß, ja«, sagte er voll Unsicherheit und Verlegenheit. »Ja, ich denke, aber ich muß laufen! Auf Wiedersehen, Blanche!«, und er wandte sich und ging davon; nach einigen Schritten setzte er sich in Trab.

Sie blieb stehen und sah ihm nach. Er begann zu laufen, immer schneller zu laufen, und das Bild des vorwärtsgehetzten Mannes, des langen, ausgewachsenen Mannes, der, ohne Hut und Mantel, wie ein Schuljunge bedenkenlos in der Mitte der Straße rannte und rannte, dieses Bild gab ihr den letzten Eindruck von ihrem Besuch. Sie legte den Kopf zur Seite und lächelte. Ah, sagte ihr Lächeln, er läuft zu seiner Frau.

Er beschleunigte seinen Lauf, die Beine flogen, und die Brust keuchte. Was trieb und jagte ihn? Was würde ihm Gisela berichten? Was war inzwischen zu Hause geschehen? Saß Gisela bei Carola und tröstete sie? Oder war am Ende die Arme allein? Wie mochte es in ihr aussehen? Wenn schon in Gegenwart anderer Menschen ihre Tränen nicht zurückzuhalten sind, wie mögen erst, wenn sie allein ist, die Ströme der Melancholie sie durchwallen!

Blanche stand noch immer auf ihrem Fleck, ihr Lächeln verklärte sich, sie sah ihm nach, bis nur die Umrisse seiner Gestalt erkennbar waren und er in seinen Garten einbog. Dort blieb er stehen, um zu Atem zu kommen, dann ging er ins Haus und horchte. Es war nichts zu hören, und so schlich er hinauf. Er nahm vorsichtig Stufe um Stufe, damit die Treppe nicht knarre, schob aber schon den Kopf vor, um hinaufzulauschen, und näherte sich so allmählich und, bei aller Angst und Sorge, nur langsam dem ersten Stockwerk.

Er mochte sich jetzt in jenem Zustand der Erwartung und Spannung befinden, in dem der Mensch gar nichts denkt und währenddessen in seinem Innern nur undeutlich schattenhafte Bilder vorüberhuschen: und mögen diese auch noch so unkonturiert, noch so verschwommen bleiben, so können sie doch gespenstisch und Entsetzen erregend sein.

Endlich war er oben angelangt, und zitternd legte er sein Ohr an die Tür. Da er nichts hörte, brachte er sich in die Kniebeuge, um durchs Schlüsselloch ins Zimmer sehen zu können. Sich mit den Händen rechts und links an die Türpfosten klammernd, starrte er mit angehaltenem Atem in den Raum. Gemächlich hob sich Carolas Brust, und leise fiel sie nieder. In ihren entspannten Zügen lagen Wohlgefühl und Behaglichkeit. Sie schlief nicht nur, sie genoß auch im Schlaf die Süßigkeit des glücklichen Schlafes.

Nachdem er lange genug hineingeschaut hatte, war er wohl überzeugt, daß ihr kein Unglück zugestoßen war. Er richtete sich auf, legte, aus der tiefsten Tiefe aufseufzend, den Kopf zurück und wandte die Augen aufwärts, doch über ihm hätte nicht die Decke des Korridors sein dürfen, sondern sich der Himmel wölben müssen, denn diesen meinte er mit seinem Blick, in dem ein Dankgebet enthalten war: Carola lebte! Noch einmal war sie nicht gestorben! Er bückte sich abermals, um hineinzuspähen, und richtete sich zum zweitenmal auf. »Gott sei Dank!« flüsterte er vor sich hin und wandte sich zur Treppe, um sich hinunterzutasten und Gisela zu suchen. Er stützte seinen Arm gegen das Geländer, und in seinem Bemühen, daß auch nicht ein Hauch seiner Bewegungen die vollkommene Stille des Hauses unterbräche, verbog und verkrümmte er seinen Körper und wiederholte dabei: »Gott sei Dank! Gott sei Dank!«, doch so leise, daß auch ein Flaum vor seinem Mund nicht hätte aufflattern können.

Gisela saß währenddessen seit langem regungslos in dem leeren, seit Tagen nicht benutzten Eßzimmer an der Spitze des länglichen Tisches, die Ellenbogen aufgestützt, das Kinn in die offenen Hände gelegt, und sah mit blitzenden Augen vor sich hin. Wer sie kannte und sie so gesehen hätte, der hätte gewußt, daß es jetzt gefährlich gewesen wäre, sie zu reizen. In ihrem bewegungslosen Blick lagen Ratlosigkeit, Wut und Ekel. Ohnedies schon von der Jagd zwischen ihrer Wohnung, ihrem Atelier und dieser vorstädtischen Villa überanstrengt, durch den Schrecken, den sie hatte überstehen müssen, durch die Angst um ihre Freundin aus der Fassung gebracht und auch noch ohne Schlaf, weil sie am Abend zu ruhelos gewesen war, um nach Hause zu fahren, und sich vielmehr die Nächte in Diskussionen oder in überheiztem Übermut um die Ohren geschlagen hatte, ohnedies also schon fast ohne Herrschaft über sich und ihre Nerven, sah sie sich hier immer noch weiter zwischen Ruges hilflose Zerrissenheit und Carolas edles, schönes Leid mit seinen zähen, lebentötenden Klagen gestellt.

Sie mochte das Bedürfnis nach Übersicht über die Dinge haben, sie mochte Widerwillen gegen das Chaos in diesem Haus und gegen diese Stümperei des Lebens empfinden. Ihre Zähne waren zusammengebissen, ihre Lippen krampfhaft geschlossen und trotzig vorgeschoben, und die erstarrten Augen glänzten. Dabei war von ihren eigenen, persönlichen Verhältnissen noch nicht einmal die Rede; wie es um sie stand, ob sie zufrieden und glücklich oder unzufrieden oder gar unglücklich war, wußte niemand, da ihre eigentlichen Zustände immer hinter ihrem wellenschlagenden Temperament verborgen waren. Sie rührte sich nicht, aber es war nicht zu verkennen, daß sie in eine zornig-pessimistische Exaltation geraten war. Gewiß, sie war mit ihrem nach außen gehenden, explosiven Wesen nicht dafür geschaffen, eine allgemeine Trauer oder einen besonderen Kummer lange in sich selbst zu tragen und wachsen zu lassen, um sich endlich mit der angesammelten Verzweiflung in einem tödlichen Ausbruch gegen sich selbst zu wenden. Dennoch hätte ein Freund, der sie jetzt gesehen hätte, Angst bei dem Gedanken haben können, daß sie zu Hause jene Menge des Giftes aufbewahrte; er hätte besorgt sein können, daß sie in einem umdüsterten, verworrenen Augenblick eben doch etwas tun könnte, was ihrem Wesen nicht entsprach, denn es gibt doch bezwingende äußere Situationen und augenblickliche innere Zustände, die stärker sind als der Charakter. Ja, was ist stärker, jene Situationen und Zustände oder der Charakter? Welche Kompromisse werden sie miteinander schließen?

Als Ruge eintrat, rüttelte sie sich aus ihrem erstarrten Zustand auf. Er verlangte ängstlich einen genauen Bericht über das Gespräch, das sie in seiner Abwesenheit mit Carola geführt hatte, und es ist gleichgültig, wieweit sie in ihrer Erzählung, im ganzen und in Einzelheiten, bei der Wahrheit blieb.

 

Blanche ging weiter ihren Weg zur Haltestelle, immer noch das verklärte Lächeln in ihren Zügen, als ob sie das Unendliche gesehen hätte. Sie wurde nur einmal aufgestört, als sie gegrüßt wurde. Als sie aufschaute, sah sie schon fast neben sich Frankenfelde, der einen großen Blumenstrauß trug, und sie konnte in der menschenleeren Straße nicht an ihm vorübergehen, ohne wenigstens einige Worte mit ihm zu wechseln.

Frankenfelde war etwa zwanzig Jahre alt. Sein Körper war schlank und elastisch, sein schmales Gesicht bleich und hübsch, die braunen Haare wie Seide und die Haut zart wie die eines Mädchens. Er war mit unauffälliger Eleganz gekleidet, sein Benehmen war voll natürlicher Wohlerzogenheit, in der sich respektvolle Zurückhaltung mit dem bescheidenen Wunsch nach sicherer Haltung vermengte.

»Sie gehen zu Carola?« fragte Blanche. Ja, er habe gehört, daß Frau Ruge krank sei. Woher er es denn wisse, fragte sie. Er wurde verlegen, sein blasses Gesicht überzog sich mit zarter Röte. Durch einen Zufall habe er es erfahren, sagte er und vermied es, zu stottern. Er habe in den letzten Tagen mehrmals bei Frau Ruge angerufen, doch keine Antwort bekommen, da sei er gestern ganz zufällig vor dem Tor der Universität ihm, dem Professor, begegnet und habe so erfahren, daß die gnädige Frau nicht wohl sei.

Blanche unterdrückte ein Lächeln über dieses Zusammentreffen, das er einen Zufall nannte. »Nun, gehen Sie nur!« sagte sie, allerdings, fügte sie hinzu, wisse sie nicht, ob Carola ihn auch schon würde empfangen können. Das habe er auch nicht zu hoffen gewagt, antwortete er, er wolle sich nur erkundigen, wie es der gnädigen Frau gehe, und diese Blumen abgeben.

»Was sind es für Blumen?« fragte sie.

»Flieder, weißer Flieder.« Hoffentlich, fügte er hinzu, habe die gnädige Frau noch keinen weißen Flieder.

»Nein, weißen Flieder hat sie noch nicht. Auf Wiedersehen!«

Tatsächlich empfing Carola, die inzwischen erwacht war, den Knaben nicht. Gisela nahm ihm die Blumen ab, ließ ihn wieder gehen und kehrte zu Ruge zurück. »Daß es das noch gibt!« sagte sie, als Frankenfelde wieder den Garten durchquerte und sie ihm durchs Fenster nachschaute. »Daß es das noch gibt! Wo Carola das auftreibt!«

An der Haltestelle mußte Blanche warten. Es war Mittag, die Stunde für förmliche Besuche. Als ein Wagen aus der Stadt kam, entstieg ihm ein einziger Fahrgast. Es war ein Herr, der den Schaffner nach dem Weg fragte und dabei die Hausnummer von Ruges Villa nannte. Er trug einen Pelz mit breitem Biberkragen, braune Glacéhandschuhe, deren linker am Handgelenk umgekrempelt war, und hatte in der einen Hand einen Stock mit einem Silberknopf, in der anderen einen Blumenstrauß. Sein graumelierter Spitzbart war sorgfältig zugestutzt und gekämmt, vors Auge war ein Monokel geklemmt. Seine Erscheinung lag in der Mitte zwischen der eines alternden Bonvivants und einer Karikatur auf einen alternden Bonvivant. Blanche sah ihm nach, wie er sich, in den Hüften wiegend, selbstgefällig vorwärtsbewegte.

Auch er wurde nicht vorgelassen; daß Ruge zu Hause war, verschwieg ihm Gisela. Auch ihm nahm sie die Blumen ab und ließ ihn gehen, und auch ihm sah sie nach, wie er sich wiegend vom Haus zum Gartentor bewegte. »Sieh dir das an!« rief sie, »ich bitte dich, sieh das an! Den wollen wir bei der nächsten Antiquitätenauktion versteigern! Wo Carola das nur auftreibt! Wo sie das auftreibt!«

Er war inzwischen beim Tor angelangt. Sich umwendend, erblickte er Gisela und zog nochmals den Hut mit weitem, rundem, gewaltigem Schwung, den er für elegant und sehr weltmännisch hielt. Sie nickte nur schnell und trat vom Fenster, um zuerst lachend diese Bewegung nachzuahmen, dann aber, mit Grimassen und Verrenkungen, den ganzen Menschen zu karikieren. So kehrten wenigstens für den Moment ihr natürliches Temperament und ihre Lustigkeit zurück.

Blanche war inzwischen in die Elektrische gestiegen, als sie aber durch die Stadtmitte und durch die Straßen fuhr, in denen die großen Hotels standen, erinnerte sie sich, daß in einem von ihnen Frau Leonhardt wohnte. Da ihr Vater sie gebeten hatte, ihr ein wenig Zeit zu widmen, und sie ohnedies eine halbe Stunde übrig hatte, stieg sie aus, um sich durch einen kurzen Besuch, wenigstens vorläufig, ihrer Verpflichtung zu entledigen.

III

Blanche trat an die große Barriere, hinter der die Angestellten des Hotels standen und mit den Gästen verhandelten. Als sie sich, um angemeldet zu werden, an den von Fremden umringten Portier wandte, einen biegsamen, ohne Ruhe und Pause nach allen Seiten sich drehenden Menschen mit klugem Gesicht, der mehrere, unabhängig voneinander arbeitende Gehirne zu haben schien, um alle Fragen der ihn Umlagernden zugleich hören und verstehen, und mehr als einen Mund, um dahin und dorthin sie alle fast in einem beantworten zu können, glaubte sie, daß er, von allen Seiten angesprochen und so vielfältig beschäftigt, ihre Bitte überhört habe. Er übergab eben zwei älteren Damen einen Führer durch die Stadt, reichte einem reisefertigen Herrn die Rechnung, teilte einem unmäßig dicken Mann mit einem sinnlichen, verfressenen Gesicht Namen und Adresse des besten vegetarischen Restaurants mit, wies eine weißhaarige, zittrige Dame, die wissen wollte, wo man am besten destilliertes Wasser kaufe, an die Apotheke nebenan und versicherte ihr auf ihre immer wiederholten ängstlichen Fragen, daß diese Apotheke eine der verläßlichsten der Stadt und daß das dort erhältliche destillierte Wasser wirklich und wahrhaftig ganz ausgezeichnet destilliert sei, blätterte währenddessen im Fahrplan, bedauerte, einem nervösen zappligen Herrn, der einen Freund abzuholen hatte, nicht sagen zu können, ob der Pariser Schnellzug, der in einer Minute im Westbahnhof einzufahren hatte, verspätet oder pünktlich ankommen werde, und beugte sich zu einem bleichen, sehr unmodern gekleideten Mann mit hohem Stehkragen, blondem Spitzbart und schwarzgerändertem Zwicker, der ihm eben, wie in trotzigem Stolz sich straffend – wahrscheinlich ein Stolz auf irgendwelche vorurteilsfreie Lebensüberzeugungen –, einen mit zwei Worten beschriebenen Zettel zugeschoben hatte, und flüsterte ihm zu: »Habe ich nicht, mein Herr! In der Apotheke, rechts, das zweite Haus!«, doch nun richtete er zu ihrer Überraschung seine Aufmerksamkeit auch auf Blanche. »Frau Leonhardt? einen Augenblick bitte!« sagte er und erfaßte einen der Hörer.

Frau Leonhardt saß im Schlafzimmer vor dem Toilettentisch und sah in den Spiegel. Sie hatte sich vor wenigen Minuten dort niedergelassen, um, nicht zum erstenmal im Laufe der letzten Stunde, ihr Gesicht, dessen Teint und Farbtönung zu überprüfen, und hatte bei dieser Gelegenheit nochmals den Schminkstift leicht über die Lippen gezogen, doch war er mit der unglückseligen Bewegung einer Sekunde, da sie durch ein Geräusch erschreckt worden war, um einen Millimeter vom Bogen der Oberlippe abweichend, einen Zentimeter lang zu hoch dahingefahren und hatte einen winzigen Strich Farbe dort hinterlassen, wohin sie nicht gehörte. Zwar hatte sie diesen Hauch von Rot gleich wieder weggewischt, doch schien sie nicht sicher zu sein, ob er auch wirklich ganz verschwunden sei. So ließ sie ihren Finger nochmals und nochmals über die Stelle gleiten, putzte ihn an einem Tüchlein ab, und mit der immer wieder gereinigten Hand reinigte sie den Mundwinkel von neuem. Unter der fortwährenden Berührung aber rötete sich die Haut, sie konnte nicht mehr unterscheiden, was es für ein Rot sei, das sie dort sah, und mußte warten, bis sich das Blut verlaufen hatte; dann begann sie von neuem ihre Tätigkeit, strich von neuem über die Haut, prüfte von neuem die verunglückte Stelle. Sie war, weltverloren, ganz in ihre Arbeit versunken, ihre Augen starrten in den Spiegel, und ihr Gesicht rückte immer näher zu ihm hin, bis es das Glas fast berührte.

Als ihr Blanche telephonisch gemeldet wurde, erschrak sie. »Ich bin nicht zu sprechen«, sagte sie in ihrer langsamen Art, mit leiser Stimme, und nachdem sie einen Augenblick nachgedacht hatte, fügte sie hinzu: »Sagen Sie, daß ich nicht zu Hause bin.« Der Portier gab diese Auskunft weiter; er habe nur mit der Zofe der Frau Leonhardt gesprochen, und er notierte Blanches Namen. Als sie, das Hotel verlassend, die Halle durchquerte, erblickte sie Joachim, der sie eben betreten hatte, doch sah er sie nicht, und sie hatte keine Lust, ihn zu begrüßen.

Er trug einen braunen Mantel aus einem dicken, flauschartigen, etwas haarigen Stoff und einen hellbraunen, seidigweichen, schmiegsamen Velourshut. Unten waren die strengen Bügelfalten der Hosen seines dunkelgrauen Anzugs zu sehen und die länglich-schmalen neuen Schuhe, oben im Ausschnitt ein schmal weißblau gestreiftes Hemd und eine hellgraue Krawatte mit dunkelblauen Punkten. Über die linke Hand war ein Wildlederhandschuh gezogen, sein Rand lässig umgekrempelt, den anderen trug er in der Rechten. Die Farben waren gut gegeneinander abgestimmt, die Kleider von einem ausgezeichneten Schneider gearbeitet, was gekauft war, offenbar in den teuersten Läden gekauft, und alles aufs sorgfältigste gepflegt. Es haftete seiner Erscheinung nur der Fehler der übergroßen Genauigkeit, ja, der Berechnung an und der allzugroßen Mühe, bei all seiner Eleganz, die er selbst bis ins letzte Nervenende zu fühlen und zu genießen schien, sich dennoch ganz leger zu geben. Immerhin, er hatte eine gute Gestalt und gab eine gute Figur ab. Sein Gesicht zeigte zwar die ersten schwachen Spuren des Alterns und hatte schon Neigung, aufzuschwemmen, doch von weitem konnte man noch glauben, daß er einen schmalen, scharfen Kopf habe. Er war Stammgast der mondänen Hotelbar, und der Portier begrüßte den bekannten Schriftsteller mit einer gewissen Vertraulichkeit. Auch Joachim ließ sich bei Frau Leonhardt melden. »Ich fürchte, Herr Joachim«, sagte der Portier, »daß die Dame nicht zu Hause ist!«

»Versuchen Sie es nur!« antwortete der Dichter mit stiller Sicherheit.

»Gewiß, gewiß!« rief der Portier und fügte, während er abermals den Hörer erfaßte und sich verbinden ließ, hinzu: »Es hat sich nämlich eben eine Dame melden lassen, und ich habe die Auskunft bekommen, daß Frau Leonhardt nicht zu Hause ist!« Aber schon sprach er ins Zimmer hinauf und schon warf er auch Joachim einen heimlichen Blick zu, dessen Frechheit unbeweisbar blieb, und rief ihm mit dem Anflug eines Lächelns, in humorig-pathetischem Tonfall zu: »Die gnädige Frau läßt bitten!«

Nichts, außer der Physiognomik und den Schriftzügen, offenbart einen Menschen so deutlich wie sein Gang. Joachim setzte, während er durch die Halle ging, den eigenen Blick geradeaus gerichtet und sich den fremden Blicken bereitwillig preisgebend, langsam Fuß vor Fuß, und eben diese Langsamkeit, mit der er sich Zeit ließ, obwohl ihn schon der Fahrstuhlführer entdeckt und die Tür weit für ihn geöffnet hatte, eben diese Gemächlichkeit verriet, daß er gern hier durchschritt und wie er diese Minute genoß. Die ringsum sitzenden, nichtstuenden Menschen betrachteten ihn, doch sein Kopf, sein Körper hielt allen Augen stand. Er schaute nicht rechts noch links, obwohl ein kleines Schweifen des Blicks nur natürlich gewesen wäre; er hatte, so meinte er, nicht zu schauen – man hatte ihn anzuschauen. Schön ist's, ein berühmter Dichter zu sein, schön ist's, ein eleganter Mann zu sein, schön ist's, bei Frauen Erfolg zu haben, aber wie schön ist es erst, in souveräner, weltmännischer Verschmelzung dies alles zugleich zu sein! Die Blicke, die Joachim trafen, verdichteten sich, umspülten und wärmten ihn. Er spürte sich und seine Existenz, er spürte die sichere Eleganz seiner Bewegungen und die Tatsache, daß ihn oben eine hübsche Dame, nachdem sie eben einen anderen Besuch abgelehnt hatte, offenbar nicht ungern erwartete, er spürte die Seidenwäsche an seinem Körper und spürte zugleich sein meisterhaftes Spiel mit der Sprache, die besondere Art, in der er sublime Fremdworte in seine Essays einflocht, er spürte die scharfen Züge seines Gesichts, die sowohl die Schärfe seines Verstandes als auch die Energie des Sportsmannes wiedergeben sollten, er spürte die erhabene Verachtung, mit der er, wie er zu sagen pflegte, auf alle Bewunderung herabsah, und spürte zugleich die langgeschwungenen Linien seines Rennwagens, der draußen wartete, er spürte die Behauptung einer Zeitung, daß er die indische Landschaft mit gigantischer Kraft beschrieben habe, nachdem er, halb als Reporter und halb als Gast, an einer von einem englischen Baumwollfabrikanten veranstalteten Löwenjagd hatte teilnehmen dürfen, er spürte dieses Lob, er spürte in tiefster Seele die Berechtigung dieses Lobs, er spürte die goldene Zigarettendose in seiner Westentasche und den dünnen silbernen Reifen an seinem linken kleinen Finger, diesen exquisit wertlosen Ring.

Oben im Salon kam ihm Frau Leonhardt mit jenem steifen und verlegenen Gang entgegen, der nur die Beine bewegt, den übrigen Körper aber, wie wenn er gefesselt und eingeschnürt wäre, ganz gerade und unbewegt läßt, als ob er davor bewahrt werden sollte, sich selbst zu fühlen und in Unruhe zu geraten, mit jenem Gang, der das leibliche Widerspiel zu übertriebener Prüderie ist, welche ja auch den leicht zu erregenden Organismus davor schützen soll, von zu lebhaften Vorstellungen überkommen zu werden und in Wallungen zu stürzen. Schlank und zierlich, mit dem sanften, fehlerlosen Teint des hübschen Gesichts, aus dem die etwas vollen Lippen hervortraten, gepflegt und geordnet, als wüßte jedes Haar in den braunen, locker zurückgekämmten Wellen, zwischen welchen zwei anderen Haaren es zu liegen habe, frisch und wie neu, so stand sie vor ihm, als hätte man sie eben von einem Lager aus Watte und Seidenpapier gehoben. Sie trug ein graues Tuchkleid, das von einem Gürtel aus dem gleichen Stoff mit einer glatten, mattsilbernen Schnalle zusammengehalten wurde, graue Strümpfe und graue Schuhe. Im kleinen Ausschnitt lag um den Hals eine Kette aus winzigen Perlen, wie man sie etwa einem fünfzehnjährigen Mädchen schenken könnte. Ihre Erscheinung mußte um so appetitanregender wirken, als mit allen künstlichen Mitteln gespart und die Übersicht über den klaren, unverbrauchten Körper nicht gestört war. Der Busen war hinter dem lockeren Wurf des Stoffes versteckt, doch hatte das gestrige Abendkleid seine kleine und feste Form gezeigt, der Rock war kurz, man sah die angenehmen Linien der Beine; er war auch eng, so daß sich bei jedem Schritt die Form eines Schenkels abzeichnete. Der zarte Hauch eines Blumenparfüms, undefinierbar und unfaßbar, wie aus der Ferne der Duft eines Buketts aus fremden, unbekannten Blüten, wehte als süße Wolke um ihre Gestalt.

In einer Ecke des Zimmers stand hinter einem Tischchen ein Sessel mit hoher Lehne, in dem sich Frau Leonhardt niederließ, nachdem sie aus einem Schränkchen Sherry, Gläser und Zigaretten geholt hatte. Sie saß, die Hände auf die Seitenlehnen gestützt, nur auf dem vorderen Teil des Sitzes, aufrecht und etwas steif, als wäre es ihr verboten, sich zu rühren. Er nahm den Stuhl neben dem ihren. Sie sagte: »Beinahe hätten Sie Blanche Riedinger hier getroffen. Ich habe bei ihr angerufen und wollte sie einladen, jetzt herzukommen, aber sie war nicht mehr zu Hause.«

Er hielt es für richtig, so zu tun, als ob er ihr glaubte. »So!« sagte er und sah sie sehr ernst an. »Das ist nicht schön!«

»Warum?«

»Weil ich mich gefreut habe, mit Ihnen allein zu sein! Wußten Sie nicht, daß ich kommen würde?«

»Ja, ich habe es halb und halb angenommen und habe gedacht, daß es Sie freuen würde, eine gute Bekannte hier zu finden.«

»So«, sagte er, seine Stimme wurde etwas gedämpfter, sein Blick noch ernster und tiefer, »und wußten Sie nicht, daß ich mich freuen würde, Sie allein zu sehen?«

»Haben Sie denn«, fragte sie mit belegter Stimme, »haben Sie denn mehr von mir, wenn wir allein sind?«

»Ja!« rief er. »Ich habe mich gefreut, mit Ihnen allein zu sein, obwohl ich eigentlich Angst vor Ihnen habe!«

»Angst?«

»Ja! Angst! Und wissen Sie, wovor? Vor Ihrer Schweigsamkeit! Sie sind einsilbig und wortkarg, aber die Schweigsamkeit einer Frau, wie Sie eine sind, ist gefährlich. Sie gehören zu jenen Menschen, die wenig sprechen, weil sie immer beobachten und denken. Sie sagen nur ja! oder nein!, aber dieses Nein!, dieses Ja! hat Gewicht. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als von Ihnen gelobt zu werden, ich spüre es, wie Sie den Dingen und Menschen bis auf den Grund sehen.«

Man sieht, er war klug genug, ihr nicht mit jenen Vorzügen zu schmeicheln, über die sie tatsächlich verfügte, sondern mit anderen. Daß alle Männer verlangend nach ihr sahen, war sie gewohnt; daß auch er nach ihr verlangte, spürte sie; daß sie einen reizenden, fehlerlosen Körper hatte, wußte sie. Und daß sie hübsch war, mochten ihr schon viele gesagt haben; daß ihr aber einer unterstellte, Geist zu haben, war ihr noch nicht widerfahren. Aber ach, sie hatte nicht einmal Geist genug, um die Beweisführung zu verstehen, mit der er ihr nachwies, daß sie viel Geist habe.

»Sie überschätzen mich!« sagte sie, doch er war schon in seinen Redestrom geglitten und sprach weiter: »Die Größe eines Frauengeistes besteht darin, daß er auf alle Argumente verzichten kann, ja, daß er über sie erhaben ist – er hört, sieht und urteilt auf Grund eines göttlichen Instinktes mit unabweislicher Richtigkeit! Sehen Sie, ich war in Indien auf der Löwenjagd und hatte keine Angst, ich stand vor einem Pistolenduell, das erst im letzten Augenblick verhindert wurde, und ich hatte keine Angst – nur vor Ihnen fürchte ich mich.«

Er beugte sich zurück, lehnte sich an, sah sie an, die sich nicht rührte, und sprach mit gleichmäßig starker Stimme, indem er jeden Satz als fertiges Gebilde hervorhob und voll Zufriedenheit die Formung genoß, die er ihm gab: »Das Fluidum einer Frau ist das Parfüm ihrer Seele, das sich zerstäubt. Durch jede Pore dringt ein Atom in mich ein, und ich verwandle mich in meinem Innern. Mein Geist gibt sich aus, wenn ich allein bin, aber er sammelt seine Kräfte in der Gesellschaft kluger Frauen. Können Sie das nicht verstehen?«

»Doch!« sagte sie.

»Liebe ist nichts anderes als das Gefühl, der Körper einer Frau sei nur das verdichtete Fluidum ihrer Seele. Ich spüre das Fluidum, und so glaube ich an die Seele, und weil ich an die Seele glaube, glaube ich an ihre Unsterblichkeit. Finden Sie nicht, daß das der einzig mögliche Weg zur Metaphysik ist?«

»Ja«, sagte sie und hob den etwas nebligen Blick.

»Ich habe einmal darüber geschrieben«, fuhr er fort, »und ein junger Kritiker hat über meinen Essay von vier Seiten einen Aufsatz von sechs Seiten verfaßt. Er meinte, was ich geäußert habe, könnte die Basis für eine ganze Philosophie abgeben. Und so ist es auch. Aber ich verteile gern Anregungen, das Leben ist zu kurz, und mein Dasein ist zu sehr erfüllt, als daß ich selbst alles zu Ende führen könnte.« Er lachte leicht auf: »Ich werde nach meinem Tod so manche Nüsse hinterlassen, an denen die Nachwelt zu knacken haben wird! Aber ich glaube, man bekommt schon allmählich das Gefühl dafür, daß ich nicht nur ein Modeschriftsteller bin, wie meine Feinde behaupten, daß vielmehr die Eleganz meiner Werke nur den Faltenwurf darstellt, hinter dem sich so manches verbirgt.«

»Sicherlich!« sagte sie.

»Ich gebe immer in Gedanken dem Fluidum einer Frau eine bestimmte Farbe und einen bestimmten Duft. Ihres wäre dunkelviolett und duftete nach Tuberosen.«

Ihre Lider senkten sich, sie schienen schon die Augen zu verschließen, es war, als ob sie für einen Augenblick den in den Körper dringenden Duft der schweren Tuberose spürte; zugleich griff sie nach dem Glas und nahm einen winzigen Schluck. Als sich ihre Hand wieder auf die Lehne gelegt hatte, betrachtete er sie, die klein und schlank war, er betrachtete die schmalen Finger, die mattglänzenden Nägel, die ebenmäßigen Halbmonde, die Hand, die nicht nur gepflegt war, die auch verriet, daß sie seit Jahren und immer gepflegt und niemals der Gefahr ausgesetzt gewesen war, ihre Glätte zu verlieren. »Sie haben eine edle Hand«, sagte er. »Eine aristokratische Hand«, und er griff nach ihr. Sie schüttelte kaum merklich und wohl ohne es selbst zu wissen den Kopf, als ob sie sagen wollte: »Bitte nicht!«, und entzog sie ihm, doch im Laufe der nächsten Minuten griff er ein zweites Mal, er griff ein drittes Mal nach ihr, und sie ließ sie ihm.

»Wieso sind wir«, sagte er leise, »einander noch nie begegnet?«

Sie saß aufrecht und steif und rührte sich nicht, als wäre ihr ganzer Körper aus sprödem Glas, das bei der leisesten Berührung in Scherben fallen müßte. Eine alte Stockuhr auf dem Kamin meldete scheppernd die Zeit, und der Zahl der Schläge konnten sie entnehmen, daß er erst zehn Minuten hier war. »Wie können Sie es dort, in Ihrem Nest, aushalten? Eine Frau wie Sie! Sind Sie nicht ganz verloren? Sie – dort! Wie verbringen Sie die Zeit?«

»Ich lese sehr viel, und der große Haushalt gibt viel Arbeit«, antwortete sie, aber in Wirklichkeit las sie nur Modezeitschriften, und der große Haushalt wurde vom großen Personal besorgt.

»Es ist ein Wunder«, sagte er, »daß wir einander nicht früher begegnet sind. Wir sehen einander erst zum zweitenmal, aber es ist mir, als ob wir einander schon seit Ewigkeiten kennten. Einer einzigen Frau bin ich begegnet, die Ihnen ähnlich ist. Vor gar nicht langer Zeit. Es war wie eine Ankündigung und wie eine Vorbereitung auf Sie. Es war in Indien, sie ist die Nichte des englischen Vizekönigs.«

Er stand auf, um die antike Uhr zu betrachten, und kehrte zu ihr zurück. »Wissen Sie, daß ich schon einmal dort gewesen bin, in Ihrem Nest? Vor drei Jahren. Ich habe über die kosmische Revolution gesprochen, in der unser Weltall begriffen ist, und über das neue Weltalter, dem wir uns bedingungslos hingeben müssen. Glauben Sie nicht, daß wir das müssen?«

»Gewiß«, sagte sie.

Er schwieg, und sie fragte: »Halten Sie oft Vorträge?«

»Vorträge? Mein Gott, das ist nicht das richtige Wort! Ich extemporiere, ich öffne mich. Ich halte keine Vorträge, ich stehe auf dem Podium, blättere bloß in den Menschen und polarisiere die geistigen Kräfte im Saal. – Wissen Sie, was ich meine?«

»Gewiß!« sagte sie und hob den verschleierten Blick.

Er stand dicht bei ihrem Sessel und legte den Arm auf den oberen Rand der Lehne. »Wir müssen überhaupt die geistigen Kräfte polarisieren«, sagte er, »aber auch die seelischen – finden Sie nicht?«

»Ja«, antwortete sie ein wenig hauchend.

Er neigte sich plötzlich über sie und brachte sein Gesicht vor das ihre; sie zuckte zurück, er aber sagte mit aufgerissenen Augen, die, so nahe vor ihr, sie anstarrten, und mit leidenschaftlichem Flüstern: »Was uns widerfahren ist, nennen die Inder Yo-Ghin-Rha, die Franzosen coup de foudre, die Chinesen Hai-mai-lai – aber das Indische sagt's am besten: Yo-Ghin-Rha!« Er näherte seinen Kopf dem ihren, sie wich zurück, er folgte ihr, und als sie die Lehne des Sessels erreicht hatte, holte er sie ein und küßte sie, nachdem ihr noch ein dunkler Laut, ein verkrüppelter Ansatz zu einem Nicht! entschlüpft war. Ihre Hand stemmte sich gegen seine Brust, doch eben die Leichtigkeit des Drucks mußte seine Sicherheit stärken. Ihr Atem ging schwerer, er wich nicht mehr zurück, hob sie auf, um sie zu umarmen, und legte seine Hand an ihre Brust. Sie schob sie weg, er brachte sie zum zweitenmal, er brachte sie ein drittes Mal hin, und sie ließ sie dort ruhen. Er huschte über sie hin, wollte nesteln und suchte die Knöpfe, doch es war eines jener Kleider, die man über den Kopf ziehen muß. Er flüsterte ihr einige Worte zu, er flüsterte sie ein zweites Mal, lockerte die Umarmung und flüsterte sie zum drittenmal, und sie machte sich ganz von ihm los und ging mit gesenktem Kopf, langsam, mit etwas schweren Schritten, wie zu einem unabweisbaren Opfer, ins Schlafzimmer nebenan. Nach Ablauf der angemessenen Zeit folgte er ihr.

Von nun an besuchte er sie täglich, solange ihr Aufenthalt währte. Sie trafen alle Vorkehrungen, daß es ihr Geheimnis bleibe. Frau Leonhardt folgte den Verpflichtungen jeder Art, stattete die notwendigen Besuche ab, nahm alle Einladungen an, pflog den Verkehr, der sich ergab, und machte ihre unzähligen Besorgungen, Bestellungen und Einkäufe. So war ihre Zeit scheinbar ganz ausgefüllt, und nur zwei unkontrollierbare frühe Nachmittagsstunden stahl sie sich ab. Sie schrieb jeden Morgen ihrem Mann, um ihm, wie er es wünschte, einen genauen Bericht über den vergangenen Tag zu geben, und er selbst schrieb ihr allabendlich.

Saß sie mit Joachim im Salon, sprach er von seinen Reisen, seinen Büchern, seinen Erfolgen, am liebsten aber, obwohl sie von den politischen Zusammenhängen nicht mehr verstand als ein afrikanischer Buschmann, von den Informationen, die er in privaten, vertraulichen Gesprächen von diplomatischer oder von Regierungsseite erhalten hatte, Informationen allerdings, die er, genau genommen, ebensogut den Meldungen der Tageszeitungen hätte entnehmen können. Sie saß geduldig und regungslos auf ihrem Sessel und warf nur ein kurzes Wort hin, wenn eine direkte Frage eine Antwort erforderte oder wenn er unverkennbar einen Ausruf des Staunens oder der Bewunderung von ihrer Seite erwartete. Ihre Einsilbigkeit aber war nicht geeignet, ihn anzuregen, ihre Wortkargheit wurde ermüdend, der Gesprächsstoff ging ihnen aus, und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als einander zu lieben. In der Stunde der Umarmung war sie nicht gesprächiger. Manchmal, in bestimmten Augenblicken, ein hingehauchtes Du!, manchmal ein schwaches »Liebst du mich denn?«, eine Frage zwar, die, im allgemeinen, in gewissen ungeduldig-heftigen Situationen an einen Mann gerichtet, einer Erpressung gleichkommt, hier aber, so leise und so schüchtern, so armselig und zaghaft vorgebracht, mit der Überzeugung, daß das Ja! der Antwort eine Lüge darstellen wird, die ganze Melancholie der zwar vom Wind gejagten, doch leeren und einsamen Wüste, die ganze Trauer der dem Dasein ausgelieferten Kreatur enthielt.

Damit sie auch rede, fragte er sie oft nach ihrem Leben in der kleinen Stadt. Sie antwortete meistens: »Ich lese sehr viel, und der große Haushalt gibt viel Arbeit!« In Wahrheit war es ihr eigener Körper, der ihren einzigen Zeitvertreib und ihr einziges Spielzeug darstellte, er war ihre Seele und die Seele des Hauses. Der Dienst an ihm füllte den Tag aus, nach seinen Bedürfnissen und Erfordernissen, nach den aus diesen sich ergebenden unumstößlichen Regeln waren die vierundzwanzig Stunden eingeteilt. Eher hätte sie trockenes Brot gegessen als etwas, das ihr nicht bekömmlich war, eher etwas, das ihr zum Grauen gegen ihren Geschmack ging, als daß sie gehungert hätte. Nur ein Erdbeben hätte sie veranlassen können, später als um zehn Uhr zu Bett zu gehen, nur eine Feuersbrunst, später als um elf Uhr das Licht zu löschen, und niemals hätte sich die Sonne über einen Tag niedersenken können, ohne ihren Nachmittagsschlaf gesegnet zu haben, eine halbe Stunde nach der Mahlzeit beginnend und eine halbe Stunde dauernd. Der Morgenritt und das Bad, Maniküre und Pediküre, Massage und Turnübungen, Florett und Atemübungen, der kurze Vormittags- und der längere Nachmittagsspaziergang, der lange Schlaf der Nacht und der kurze des Nachmittags, die eigentlichen Mahlzeiten und die kleinen Zwischenmahlzeiten, dies alles bildete das straffgespannte Netz des Daseins, jede dieser Tätigkeiten war ein unverrückbarer Knotenpunkt im Lauf der Stunden.

Sie hatte für die Pflege des Körpers einen selbständigen und durch Erfahrung und Beobachtung geschärften Verstand, einen Spezialverstand, der ahnte, was ihm zuträglich war, und für jede Schädlichkeit die Witterung hatte; sie wich allen Modenarrheiten, allen Kuren, jeder Gewalt und jedem Experiment aus, und an die künstlichen Toilettemittel ging sie nur mit der größten Behutsamkeit heran, ja, sie fürchtete sie wie ein Tyrann das Gift in den Speisen, und auf das Geschwätz in den Alchimistenküchen der Parfümerien: diese Crème sei gut am Morgen, jene am Abend und diese zu Mittag, diese sei ausgezeichnet bei Regen und jene in der Dämmerung, diese Salbe sei vorzüglich, wenn man sie abwechselnd mit der zweiten verwende, diese Essenz sei zu gebrauchen, wenn die Haut ein wenig, jene, wenn sie sehr ermüdet sei, diese Paste sei speziell für den Sonntagnachmittag, dieses Wasser in der runden Flasche sei ein Mittel gegen Runzeln, das in der dreieckigen gegen Falten, dort aber jenes in der hohen, dunkelvioletten, gerillten mit dem reizenden hellblauen Vögelchen als Stöpsel sei sowohl gegen Runzeln als auch gegen Falten – auf dieses Geschwätz gab sie gar nichts, und sie ließ sich niemals von ihm verführen. Im Grunde glaubte sie nur an die natürlichen Mittel, die gegeben sind, an eine entsprechende und günstige Ernährung, die milde sein mußte, daß sie die Nerven nicht reize, und doch kräftig, ohne wiederum den Magen zu belasten, und die eine freundliche Verdauung verschaffte, sie glaubte an Licht und Bewegung, an die richtige Dosierung und Ausbalancierung zwischen Ruhe und Training, Sonnenschein und Schatten, Abhärtung und Schonung; die wenigen Mittel aber, die sie tatsächlich verwendete, wurden von den Chemikern der Fabrik analysiert, und es konnte geschehen, daß einer von ihnen sie aufgeregt anrief, um sie vor dieser Seife zu warnen, weil sie zuviel Soda enthalte, oder vor jenem Badesalz, weil es zu scharf sei. Sie ließ sich von ihnen beraten und hielt mit ihnen Besprechungen ab, ebenso wie mit ihrem Arzt, der sich allerdings hier dem Spezialfach der allgemeinen Hygiene zu widmen hatte, ja, zum Küchenmeister und Verfasser von Rezepten degradiert wurde. Gewiß, sie alle machten Larifari, sie spielten übereifrig die um die gnädige Frau Besorgten, doch immerhin war auf diese Weise ihre Haut, unter den Heiligtümern des Körpers natürlich eines der höchsten, vor jedem schädlichen Einfluß bewahrt worden. Sie hatte den Teint einer Achtzehnjährigen, ihre Linien und Formen waren unangetastet, ihre Maße seit vielen Jahren unverändert, ihr Gewicht war gleich geblieben und hatte niemals auch nur geschwankt.

Herr Leonhardt überließ sie gern diesem Gottesdienst, weil er sie auf diese Weise in der öden Kleinstadt beschäftigt sah und weil so die Schönheit seiner Frau, die er auf etwas täppische, nervenlose und gewohnheitsmäßige Art liebte, unverändert und unangetastet blieb. Er war ein sehr gutmütiger, doch ziemlich plumper Mensch und hatte alle Eigenschaften, die ein durchschnittlicher Mann während der Ehe anzunehmen pflegt.

Zwischen den festen Punkten der Tageseinteilung, zwischen diesen unverrückbaren Säulen der selbstauferlegten Verpflichtungen, gab es die freieren Stunden des Vergnügens, nach dem Bad etwa, wenn sie sich ankleidete, um ihren Vormittagsspaziergang in die Stadt zu unternehmen, wo sie die kleinen Besorgungen und Bestellungen machte. Dann hatte sie Zeit, vor dem Spiegel den Morgenrock auseinanderzuschlagen und die Unversehrtheit ihrer Linien und Formen mit Blicken und mit den über den Leib streichenden Händen zu prüfen und zu genießen. Sie ging von Schrank zu Schrank, von einer Lade zur anderen, um die Kleidung zusammenzustellen, suchte, überlegte, spekulierte, und war es soweit, wurde Stück um Stück der Wäsche hervorgezogen und liebevoll über den Tisch oder die Stühle gebreitet, das Kleid daneben gehängt. Der Morgenrock fiel, sie saß, nur die Pantöffelchen an den Füßen, nackt auf der Chaiselongue und fühlte den Samt unter sich. Langsam wurde der erste Strumpf über das Bein gezogen, zärtlich glattgestrichen, und es war, als liebten einander Bein und Hand; und dann der andere Strumpf. Blieb sie Augenblicke untätig sitzen, sprang sie doch gleich wieder auf, denn ihre Disziplin gestattete ihr keine zu große Lässigkeit, kein Schweifen der Gedanken, keinen Traum, und sie griff nach dem Hemd.

In einem der Zimmer saß immer eine oder saßen immer zwei Schneiderinnen, die ihre Morgenröcke, Schlafröcke, Hauskleider, Wäsche zu nähen, kleine Änderungen an den Kleidern vorzunehmen hatten und mit denen sie wohl auch die Modenzeitschriften durchblätterte und Entwürfe zu zeichnen versuchte. Bot sich keine Arbeit mehr für sie, so hechelte sie mit ihnen ihre Garderobe durch, holte Mantel um Mantel, Pelz um Pelz, Kleid um Kleid hervor, zog jenes Stück an, schlüpfte in dieses, um ihnen den Schnitt zu zeigen, um es vor dem Spiegel auszukosten, um zu überlegen, ob da oder dort etwas zu ändern sei; und schließlich fand sich meistens doch noch etwas zu tun. Auf diese Weise verging so manche Reihe von Stunden, ja, so mancher Nachmittag.

Ihre liebste Beschäftigung aber war es, aus ihren Parfüms, Blumenölen und Essenzen neue Mischungen herzustellen. Sie zog sich zurück wie ein Chemiker in sein Laboratorium, ließ sich vor dem mit unzähligen Flaschen und Tiegeln bedeckten Tisch nieder, lehnte sich zurück und schloß die Augen, als ob sie schon die Halluzination des zukünftigen Duftes hätte. Sie mischte dies und jenes, goß aus dieser Flasche zu und aus jener, ließ aus der dritten zwei Tropfen fallen, aus einem Tropfglas nur einen halben und prüfte das Gemenge an ihrer Haut oder an Stoff- und Seidenstückchen, die bis zum nächsten Tag liegenzubleiben hatten, damit die Haltbarkeit oder Flüchtigkeit des Geruchs festgestellt werde. War's ihr aber nicht so geraten, wie sie gewollt hatte, ging sie wie ein besessener Erfinder von neuem an die Arbeit, hantierte mit neuem Eifer und genoß, indem sie immer wieder schwelgerisch das Aroma einsog, wie schließlich das Werk doch entstand und gelang, wie sich jener Charakter bildete, den sie anstrebte, der der vollkommenen Süße oder der benebelnden Dämonie, der des Schillernd-Prickelnden oder der Verschmelzung aus Herb und Sanft, wie sich die Flüssigkeit noch mit dem Hauch eines Tröpfchens verwandelte, sich milderte oder belebte, harmloser, kindlicher, lieblicher oder härter, schärfer, aufreizender wurde und endlich jenen Duft annahm, der wirklich nicht mehr schöner werden konnte und den Körper durchzog, als badeten in ihm die Nerven und als dränge er bis in die Eingeweide.

Über zehn Monate von den zwölf umspielte sie mit diesen kleinen Freuden und Genüssen ihren Körper. Nur zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst, fuhr sie allein in die Großstadt, um die großen neuen Einkäufe zu machen. Hier kam sie, aus alter Erfahrung wohl wissend, was ihrer wartete, schon vibrierend und zerfließend an. Der gierigen Eifersucht ihres Mannes, auch der Aufsicht ledig, die eine kleine Stadt über jeden ausübt, ließ sie sich, eine Quartalssäuferin der Erotik, von jedem Mann einfangen.

Erst knapp vor ihrer Abreise, sie lagen beieinander, erfuhr Joachim durch eine zufällige Wendung des Gesprächs, daß sie zwei Kinder habe. Als er es hörte, verlor er zum erstenmal die weltmännisch geglättete Form, die er sich in allen Lebenssituationen gab, und gewann ein natürliches Temperament. Er schnellte empor und starrte sie fassungslos, ja, mit einem gewissen Entsetzen an, wie dem angstvollen Entsetzen vor dem rätselhaften Nichts. »Wie?« rief er. »Du hast zwei Kinder? Und warum hast du nie von ihnen gesprochen?«

Sie hatte sie erst nach mehrjähriger Ehe geboren, nachdem ihr Leben längst seine jetzige Form und seinen jetzigen Gang angenommen hatte. Obwohl sie die beiden Knaben sehr gern hatte, sie mit großer Sorgfalt allerdings mehr erziehen ließ als selbst erzog, sprach sie doch außerhalb des eigenen Hauses fast niemals von ihnen, vielleicht, weil durch Erwähnung ihrer Existenz, durch Erwähnung ihres Alters das eigene den anderen Menschen und vor allem ihr selbst zu Bewußtsein gekommen wäre, vielleicht aber auch deshalb, weil unauslöschlich die Erinnerung an die seelische Panik in sie eingegraben war, in die sie während der Schwangerschaft und nach der Geburt durch die grausige Angst versetzt worden war, ihr Körper könnte seine Formen und Linien, seine ungestörte Ebenmäßigkeit verlieren.

IV

Als Blanche nach Hause kam, fand sie Feding vor, der gekommen war, ihren Vater zu besuchen. Riedinger lag, zermürbt vom nächtlichen Herzanfall, mit halbem Leben zu Bett; allerdings, dieses halbe Leben gebärdete sich jugendlich, als ob es ein ganzes wäre.

Feding hatte im Laufe des Vormittags mehrmals mit Frau Riedinger und mit den Ärzten telephonisch gesprochen; diese hatten versucht, seine Sorge abzuschwächen, nur waren ihre Tröstungen etwas fragwürdig geblieben: Riedingers Zustand, hatten sie gesagt, halte sich seit Jahren schon schwebend und labil, und er lebe noch immer; so könne er auch noch lange leben, wenn er nicht eines Tages, wie sie sich ausdrückten, bei solch einer Attacke auf der Strecke bleiben sollte. Zwar könnten die Anfälle, was ihre Häufigkeit und ihre Heftigkeit betreffe, durch eine gemäße Lebensführung auf ein Mindestmaß herabgedrückt und so um ihre tödliche Gefährlichkeit gebracht werden – aber eben dies sei es: diese auf Gleichmaß, Regelmäßigkeit und Ungestörtheit abgestimmte Lebensführung sei bei des Patienten Temperament, bei seiner Vitalität und Jugendlichkeit nur schwer zu erzielen, lauter Eigenschaften übrigens, hatte jeder sich beeilt hinzuzufügen, die an und für sich gar nicht genug zu bewundern seien; aber je öfter Feding diese Worte gehört hatte, desto ärgerlicher war er geworden. »So! Ich danke, ich danke!« hatte er geknurrt. »Ich bewundere sie gar nicht!« In seiner Ungeduld hatte er schließlich die Bürozeit abgekürzt und ganz gegen seine Gewohnheit, um noch schneller hier zu sein, einen Wagen genommen.

Er war, ohne seine vorwurfsvolle Unzufriedenheit zu verbergen, zankend eingetreten, wie wenn Leiden und Zusammenbruch nichts anderes gewesen wären als eine Ungezogenheit von Riedinger und wie wenn er es als eine Rücksichtslosigkeit betrachtet hätte, daß man ihn, den alten Mann, zwinge, seinen jüngeren Freund so hilflos und niedergekämpft zu sehen. Er nahm denn auch gegen den Kranken nur etwa die Haltung eines verärgerten Vaters gegen seinen, das Haus immer wieder beunruhigenden Sohn ein, den man zwar im Augenblick mit einer gewissen Schonung behandeln muß, weil er erkältet ist und, wie das Thermometer zeigt, tatsächlich fiebert, der sich aber seine Erkältung, wie man ihn nun einmal kennt, wahrscheinlich doch nur durch irgendeine lausbübische Unvorsichtigkeit zugezogen hat. Sein Schnurrbart hing flach und schlapp über die trotzig vorgeschobenen Lippen, seine Stirn war faltig abwärts gezogen, und seine Augen waren zornig. Aber in geheimen Momenten drang durch den ersten, den schimpfenden Blick ein zweiter der Besorgnis, der aufmerksam Atem und Pulsschlag des vor ihm Liegenden beobachtete, die Färbung der Fingernägel, die fahle Farbe seines Gesichts, die eingefallenen Wangen betrachtete, all diese Spuren des nächtlichen Kampfes, und den ganzen Kopf ins Auge faßte, der kleiner geworden zu sein schien, als ob auch noch sein Skelett eingeschrumpft wäre.

Man sprach vom Nächstliegenden, von Riedingers Zustand und dem Ratschlag der Ärzte, daß er wegfahren möge, doch er wünschte nichts anderes, als so schnell wie möglich zu seinem gewohnten Leben zurückzukehren, und wollte von einer Reise nichts hören. Er finde, rief er, in diesen Kurorten, diesen Krankenhäusern, in diesen Sanatorien die alten Leute und die vielen Kranken unausstehlich, sie enervierten ihn und seien ihm widerliche Leute; dabei vergaß er allerdings, daß er, alt und krank, zu ihnen gehörte. Feding aber kündigte ihm an, daß er ihn, als wäre er gar nicht auf der Welt, ignorieren würde, wenn er in den nächsten Wochen in der Stadt bleiben sollte, daß er ihn aber, falls es ihm in absehbarer Zeit einfallen sollte, sich in der Kanzlei zu zeigen, über die Treppen hinunterwerfen würde.

»Oho! Oho!« machte Riedinger mit knarrender Stimme. »Da gäbe es vorher einen Kampf! Da gibt's ein Knockout!« Und er hob, auf dem Rücken liegend, seine Hände, ballte die Fäuste und brachte sie, eine vor der anderen, in die Anfangsstellung der Boxer. Bei seinem Zustand fiel's kläglich genug und armselig aus, denn kaum hatte er diese Gebärde vollführt, begannen seine Arme zu zittern, sein Gesicht spannte sich unter der Anstrengung, rötete sich, erblaßte wieder, und war bisher nur von Krankheit, aber auch von ihrer Heilung die Rede gewesen, so wurde jetzt durch diese kriegerische Bewegung, die lustig sein sollte, die Erinnerung an den Tod zwingend heraufbeschworen, und da nun seine Hände wie zu schwere Gewichte, die er gehoben, schnell und leblos auf die Decke fielen, ging ein Schauer über seine Frau und seinen Freund.

Nach einer Sekunde der Stille sagte Frau Riedinger: »Aber für diesen Kampf, Feding, müssen Sie sich stärken!« Sie ging, um Sherry zu holen, und kehrte gleich wieder. Feding legte die Flasche in die gewölbte Hand und sah auf die Etikette nieder.

»Ein Napoleon!« rief er bewundernd aus. Sie lächelte. Nachdem er mit liebevoller Bedächtigkeit eingegossen hatte, hielt er das Glas gegen's Licht, daß das Bernsteinbraun goldig aufleuchtete, und betrachtete schweigend den zugleich hell und dunkel schimmernden Wein; dann trank er langsam und bedächtig Schluck für Schluck.

Als Blanche das Schlafzimmer ihrer Eltern betrat, wurde sie von ihrem Vater mit Hallo! empfangen. »Große Nachfrage!« rief er in seiner Lustigkeit. »Große Nachfrage nach dir!« Und tatsächlich berichtete ihr Frau Riedinger, daß nicht weniger als viermal telephonisch nach ihr gefragt worden sei. Sicherlich von vier Männern, rief er, und wer die Kerle denn gewesen seien. Seine Frau mußte sie aufzählen: Müller-Erfurt, Heinzfurth, Stadel und Passow, aber sie wendete gleich das Gespräch, indem sie ihrerseits ihre Tochter fragte: »Aber du warst bei Carola?«

»Ah! Ja!« fiel Riedinger sofort ein, sie solle erzählen, er sei außerordentlich neugierig, er habe etwas munkeln hören, sie solle erzählen, erzählen! »Was gibt's dort? Wie war's?«

»Ach«, antwortete Blanche schwärmerisch, »es war wunderschön!«

Man konnte diesen Ausruf nicht recht begreifen, und Riedinger lachte so laut, wie es seine Kräfte eben zuließen, aber auch Feding lachte auf seine Art, stumm und nur mit einem leisen Beben des Körpers. »Du kommst von einer Todkranken«, sagte er mit einem leisen Gesang der Verwunderung in der Stimme. »Du kommst von einer Todkranken, und es war wunderschön?«

»Ach! Todkrank!« rief Blanche. »Eine Grippe! Nichts weiter!«

»Man sagt's anders!« warf Frau Riedinger kühl und fast unfreundlich ein.

»Nun«, sagte Feding, »jeder bewahre sein Geheimnis und das des andern, aber sage mir doch, was wunderschön war!«

»Wie soll man es sagen?« antwortete Blanche. »Ruge ist doch ein guter, ein rührender Mensch, ach nein, es ist mehr als das –«, sie schwieg, dann fügte sie hinzu: »Ich hätte nicht gedacht, daß es das noch gibt!«, und sie schwieg von neuem.

»Was, mein Kind«, fragte Feding weiter, »wovon hättest du nicht gedacht, daß es das noch gibt?«

Bevor sie aber antworten konnte, wurde sie ans Telephon gebeten und ging in ein anderes Zimmer.

Es war Müller-Erfurt, der anrief. Er schien verärgert oder böse oder gekränkt zu sein, doch blieb es undurchsichtig, aus welchem Grund. Kein Zweifel, er hätte Blanche gern wiedergesehen, doch schlich und tänzelte er um eine Frage oder eine Bitte nur herum. Von Zeit zu Zeit warf er ein Aperçu oder Aphorismen ins Gespräch, allerdings kamen die Pointen, in den Apparat gesprochen, noch weniger zur Geltung als sonst. Schließlich fragte er halb scherzhaft, ob ihr denn der gestrige Nachmittag so sehr mißfallen habe, daß sie ihn nicht mehr einlade. Doch, doch, antwortete sie, er solle nur wiederkommen, den heutigen Tag allerdings könne sie noch nicht übersehen, aber er solle doch bald wieder anrufen. »Voilà!« antwortete er. »Wir wollen sehen! Oft sieht man«, fügte er hinzu und akzentuierte mit spitzer Stimme jedes der Worte, »oft sieht man, was man am hellen Tag nicht sieht, erst in der Nacht!« Sie fragte, was er damit meine, er erklärte es ihr, aber auch die Erklärung verstand sie nicht, sie wurde verwirrt, es ergab sich ein Durcheinander von Fragen, Gegen- und Widerfragen, Wiederholungen und Kommentaren zu neuen Erklärungen, und schließlich, nur weil sie die Geduld verlor, lachte sie auf, als ob sie endlich alles begriffen hätte; aber in Wirklichkeit war tatsächlich nicht zu erfassen, was er gemeint hatte.

Kaum hatte sie den Hörer aufgelegt, ertönte von neuem die Klingel des Apparats. Diesmal war's Passow. Er hatte schon einmal, am Vormittag, angerufen, um für die gestrige Gastfreundschaft zu danken, und bei dieser Gelegenheit erfahren, daß Riedinger noch in der Nacht erkrankt war. Da man ihm über das Befinden des Schlafenden nur mit einer gewissen Unsicherheit hatte Auskunft geben können, erkundigte er sich abermals nach seinem Zustand, wahrscheinlich aber verband er mit seinem Anruf auch die Hoffnung, diesmal Blanche selbst zu erreichen. Als sie ihm bessere Nachrichten geben konnte, kam er wiederum auf den vergangenen Abend zu sprechen, bei dieser Erinnerung aber setzte ihm vor Entzücken und Begeisterung geradezu der Atem aus: die Baronin, die er begleitet habe, und er selbst seien sich einig gewesen, daß dies der interessanteste, amüsanteste, geistreichste und belehrendste Abend, man könne sagen, ein aufwühlender Abend gewesen sei; er habe noch viel, viel nachdenken müssen über so manchen Satz, der gesagt worden, über so manches Wort, das gefallen sei. Sehr, sehr lange habe er grübelnd wach gelegen, und auch dann noch habe er nur unruhig geschlafen, ja, er habe sogar einen wilden, zugleich schrecklichen und schönen Traum gehabt: er habe ein Schlachtfeld gesehen, weit und ausgedehnt und ganz ohne Grenzen, mit Männern und Frauen, Soldaten und Soldatinnen, wenn man so sagen dürfe, oder Kämpfern und Kämpferinnen, aber das Sonderbare sei gewesen, daß all die Krieger und Kriegerinnen keine Waffen gehabt hätten und daß statt dessen aus ihren Köpfen, deren jeder einzelne wie ein explodierendes Haus gewesen, Kiesel, Ziegelsteine, Schüsse, Pfeile, Schutt, Sand, Staub und Flammen emporgeschleudert worden seien; der Lärm, das Getöse sei fürchterlich gewesen, noch fürchterlicher aber seine quälende Scham, daß er als früherer Offizier untätig blieb, denn er habe abseits gestanden, zwar kampfbereit und immer auf dem Sprung einzugreifen, aber eben, zu seiner Pein, immer und ewig nur auf dem Sprung.

Endlich aber sei die Erlösung gekommen, ja, so müsse er es sagen, die Erlösung mit Glück und Seligkeit, denn auf einer Wolke sei, in ein schleierartiges Gewand gehüllt, sie selbst, das gnädige Fräulein, herangeschwebt, in der einen Hand einen Pinsel, der zugleich ein Zepter gewesen sei, in der anderen eine Gießkanne, aus der sie Wasser habe niedersprühen lassen, um das Feuer zu löschen. Er erkannte, daß der zepterartige Pinsel auf ihre Malerei hindeutete, und benützte die Gelegenheit, sie an ihr Versprechen zu erinnern, daß er einmal in ihr Atelier kommen dürfe, um ihre Bilder anzuschauen. Daß ihre Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt waren und sie im Augenblick geneigt gewesen wäre, seinen Besuch zu verschieben, entging ihm, und so beharrte er in seiner Art, in seiner schüchternen Zähigkeit, bei diesem Thema, und als sie sagte: »Gut! Kommen Sie einmal!« und er fragte, wann es ihr denn passen würde, sie wiederum antwortete: »Wann Sie wollen! Melden Sie sich an«, da nahm er sie beim Wort und meinte, wenn sie wirklich so liebenswürdig sei, ihm zu gestatten, daß er kommen dürfe, wann er wolle, dann ziehe er, er sage es, aufrichtig wie er sei, gerade heraus, den heutigen Tag vor, weil es eben der heutige, der nächste oder vielmehr noch näher als der nächste sei, da man mit dem nächsten doch erst den folgenden zu bezeichnen pflege, und weil sein Interesse für ihre Kunst so groß, so überaus groß sei, daß er es gar nicht erwarten könne, ihre Werke kennenzulernen.

»Gut!« sagte sie und ließ es dabei bewenden, teils aus Ungeduld, das schon lange dauernde Gespräch zu beenden, teils bei dem Gedanken, daß sie für den Nachmittag den Gärtner bestellt hatte und heute also ohnedies würde ins Atelier fahren müssen. Als sie ihn für vier Uhr einlud, verriet seine Stimme, wie glücklich er war.

Über diesen zerzogenen Gesprächen war viel Zeit vergangen, und inzwischen hatte Riedinger, als Blanche das Zimmer verlassen, hinter ihr hergelacht: »Eine Grippe! Carola hat eine Grippe, nichts weiter! Als ob man's nicht besser wüßte, als ob's nicht die ganze Stadt wüßte! Eine Grippe!«

»Wer weiß, mein Lieber!« sagte Feding. »Am Ende glaubt Blanche, was sie sagt, oder sie zerbricht sich gar nicht erst den Kopf darüber. Jedenfalls hat etwas anderes als die Krankheit worin immer diese bestehen mag, auf sie Eindruck gemacht: jenes, wovon sie nicht geglaubt hätte, daß es das noch gibt!«

Frau Riedinger legte, sich ein wenig vorbeugend, die gekreuzten Arme auf die Fußwand des Bettes und hörte schweigend dem Gespräch der beiden Männer zu. »Ah!« rief Riedinger. »Was habe ich für eine Tochter! Wie ist sie nur so geworden! Sie versteht nichts von der Liebe, das ist alles! Mein Gott«, lachte er, »sie hat nichts von ihrem Vater gelernt! Eine Närrin, eine Närrin!«

»Ja, mein Lieber«, antwortete Feding, »es mag sein, daß sie eine Närrin ist, aber sieh, das ist ein schwankendes Wort, es schillert dunkel und hell und in allen Farben, ein Wort, das selbst nicht weiß, wohin es weisen soll. Ah, die Narren! In ihnen zucken die kleinen, grotesken Flämmchen und brennen die großen Feuer! Sie sind wie die Wüstenpflanzen, die in der ausgetrockneten Welt Blatt und flammende Blüte treiben, sie leben vom Tau der Nacht. Sie sehen nicht, was sie sehen, sie sind ungeschickt und packen immer alles falsch an, denn sie unterschieben der Wirklichkeit ihre inneren Bilder. Und so, mein Lieber, hat eben deine Tochter in Ruges Haus nichts anderes zu sehen geglaubt als das, wovon sie nicht gedacht hätte, daß es das noch gibt, und alles andere übersehen, nichts verstanden, alles mißverstanden und sogar die Krankheit Carolas vergessen, von der wir im übrigen hoffen wollen, daß sie unter der Obhut des braven Krau und unter der Sorgfalt ihres prächtigen Mannes bald gesundet! Prosit!«

Während der letzten Worte hatte Frau Riedinger, ohne sich aus ihrer Stellung zu rühren, Feding ihren Kopf zugewandt. »Wie geht es«, fragte sie, »denn eigentlich dem Dienstmädchen von Krau?«

Feding war im Fluß und sprach gleich weiter. »Ah!« rief er. »Danach habe ich auch gefragt! Ich habe gestern Müller-Erfurt, ich habe meine liebe Freundin Gisela, ich habe Krau selbst, dem ich begegnet bin, danach gefragt, aber denken Sie, niemand konnte mir Auskunft geben! Das Krankenhaus hat Krau nicht die Nachricht zukommen lassen, daß es gestorben ist, also nehmen sie an, daß es noch lebt und gerettet ist, mehr aber wußten sie auch nicht! So ungerecht ist das Interesse an den Nebenmenschen verteilt – um den einen, den geliebten und verwöhnten, scharen sie sich teilnehmend, mitleidsvoll und hilfsbereit, und der andere fährt in solch einer Kaserne der Krankheit und des Todes, in einem der tausend Arme-Leute-Betten, letzter Klasse und unbeachtet, aus dieser Welt in eine andere!«

»Nun, nun«, machte Riedinger, brummte, lachte und fragte schließlich, warum sich Feding denn gar so sehr für dieses doch immerhin und Gott sei Dank! noch lebende Mädchen im Krankenhausbett interessiere.

»Ja, mein Lieber«, antwortete Feding, lachte auch seinerseits, und sein Gesicht leuchtete auf, als ob er nur darauf gewartet hätte, so gefragt zu werden. »Warum sollte ich mich nicht nach ihm erkundigen? Sieh, solch ein Ding ist ungeschickt und unerfahren. Wenn es sich umbringen will, dann hat es einen gewichtigen Grund oder glaubt ihn wenigstens zu haben. Es ist vielleicht vom Land, allein in der Stadt, ohne Freunde, nun ist es von seinem Geliebten verlassen worden, nun ist ihm das Leben zu Ende, und es will sterben! Vielleicht hat es sich süßen Vorstellungen hingegeben, wie alle, alle, die Verwandten und das ganze Dorf und alle Herrschaften aus dem Haus, in dem es dient, mitsamt den Dienstboten, und alle Krämer, Bäcker und Metzger aus dem ganzen Viertel, eine unübersehbare Menschenmenge, an ihrer weißgekleideten, blumengeschmückten Leiche stehen und klagen werden, der verräterische Mann aber, zu spät, zu spät! sich sein Herz aus dem Leibe reißen und sich in seiner Reue die Seele aus den Augen weinen wird, zu spät, zu spät! Vielleicht hat sie in ihrer Not den Mann nur schrecken wollen, in ihrer aufrichtigen Verzweiflung nur zeigen wollen, wie verzweifelt sie ist, in ihrer aufrichtigen Liebe ihm nur zeigen wollen, wie sie ihn liebt – und so ein dummes Ding ist ungeschickt und stirbt am Ende wirklich! Niemand ist besorgt gewesen, niemand war gewarnt, niemand hat seine seelischen Zustände beobachtet, seine Hände überwacht, und die Rettung kommt zu spät! Wie viele in ihrer Tiefe noch hoffnungsvolle Menschen sind gestorben, obwohl sie nur zum Schein hatten sterben wollen! Ja, mein Lieber, so ein Ding ist dumm und plump, es ist nicht wie unsereins, es ist nicht wie die Leute aus den besseren Kreisen, die über Erfahrung und Wissen verfügen, die mit den Dingen des Lebens und den Werkzeugen des Todes richtig umzugehen wissen und, intelligent, feinfühlig und kultiviert, alles, was sie tun und sagen, abzuwägen, abzumessen und zu dosieren verstehen! Ganz genau zu dosieren! – Was doch die Menschen treiben!«, rief er und lachte geradezu heraus. »Nichts ist ihnen leichter gemacht als zu sterben, auf Schritt und Tritt und mit jedem Handgriff finden sie Gelegenheit, sich radikal und endgültig umzubringen, und doch mißlingt es ihnen so oft! Und doch überstehen sie so oft, mit größeren oder kleineren Läsionen, aber in guter Gesundheit ihre grausige Tat! Prosit, Prosit! Es scheint eben doch«, fügte er hinzu und hob das Glas, »es scheint eben doch mehr, als man glaubt, von ihren geheimen Entschlüssen abzuhängen!«

»Sehr richtig, sehr richtig!« fiel Riedinger ein. Die letzten Worte schienen ihm zu gefallen. Man wisse niemals, sagte er, was ein Mensch wolle, oft wolle er das Gegenteil von dem, was er zu wollen scheine, man wisse niemals, wovon er gelenkt würde, sehr richtig, sehr richtig, es hänge eben sehr viel von seinen unbewußten Entschlüssen ab.

Doch Feding widersprach: »Nein, mein Lieber! Bleiben wir bei meinem Wort! Ich habe gesagt: von den geheimen Entschlüssen! Geheim – das bedeutet, daß, wenn sie gefaßt worden sein sollten, kein Zweiter und kein Dritter sie erfährt. Das ist eine Tatsache! Ob aber jener selbst, der in Betracht kam, sie zu fassen, sie erfährt, sie kennt oder zur Kenntnis nimmt, wenn er sie gefaßt haben sollte, ob also bewußt oder unbewußt, wie du sagst, oder ob in der Mitte zwischen beidem, auf jener raffinierten Fläche, auf der sich so vieles abspielt – das weiß ich nicht! Das ist schon eine Frage der Psychologie! Ich weiß es nicht, ich will es auch nicht wissen, denn ich bin ein oberflächlicher Mensch und halte mich nur an die Tatsachen!«

»Ich verstehe dich!« rief Riedinger und drohte ihm lachend. »Du bist mißtrauisch gegen Carola, ich verstehe dich, du warst immer schon gegen sie eingenommen! Aber sie ist doch eine so schöne Frau!«

»Ja, eine schöne Frau!« antwortete Feding.

»Und eine interessante Frau!«

»Ja, auch eine interessante Frau!« gab Feding zu.

»Eine sonderbare, merkwürdige, geheimnisvolle Frau!« fuhr Riedinger fort, und er begann, der Niedergekämpfte mit den eingefallenen Wangen, den bläulichen Fingernägeln und den glanzlosen Augen, bei all seiner Müdigkeit und all seiner Kraftlosigkeit, vibrierend zu schwärmen. »Alles ist verlockend an ihr, die Augen, die langen schmalen Hände, dieser Gang –! Aber man ist immer weit entfernt von ihr, es ist immer ein Schleier über sie geworfen, ah, sie ist eine jener Frauen, von denen man nicht weiß, von denen man nicht einmal ahnen kann, wie sie in der Liebe sind, und das hat immer etwas Erregendes! Prachtvolle Beine übrigens, prachtvolle Beine und eine edle Gestalt! Eine komplizierte, eine interessante Frau!« Er versuchte, mit der Zunge zu schnalzen, aber es mißlang ihm, und er schmatzte nur mit den Lippen.

»Eine interessante Frau, eine komplizierte Frau!« ahmte Feding ihm nach. »Aber weißt du, das Komplizierte interessiert mich schon lange nicht mehr, und das Interessante langweilt mich, dieser Wellenschlag, dieser Schaum! Ich liebe die großen Linien, die klaren und weiten Ebenen, nur sie gehen am Horizont ins Unendliche über. Aber das Interessante wohnt in kleinen, abgelegenen Höhlen, und die Auserwählten kommen, es zu verehren – die Auserwählten aus den mittleren Provinzen des Geistes. Das mußt du lernen, bist alt genug dazu! Das Komplizierte! Laß dich doch nicht verblüffen! Lieber ein einfaches Unglück, als eine komplizierte Seele! Das Interessante! Es liegt genau in der Mitte zwischen der Trivialität und der großen Wahrheit; von dieser hat es gar nichts und von jener nicht einmal die natürliche Lebenssicherheit! Laß dich doch nicht verblüffen! Begnadet der Mensch, der ins Einfache mündet, in die großen Hauptstraßen, die die Natur angelegt hat! Prosit, mein Lieber, Prosit!«

Er leerte abermals das Glas; er hatte nur langsam, nur allmählich, nur in kleinen, kurzen Schlucken getrunken, und doch hatte die schnellvergehende Zeit mehr des vollen, schweren, sechsjährigen Südweins durch seinen Mund und Hals rinnen lassen, als man ihr zugetraut hätte. Seine Augen waren nur noch schmale Schlitze, aus denen es glänzte und leuchtete, die Brauen gingen wirr und stachlig nach allen Seiten, der Schnurrbart wölbte sich nun in seinen weitesten Bogen vor, und auch das Haupthaar, erst in der Mitte des Schädels ansetzend, stand in grauen Strähnen in die Höhe. Nun beugte er sich vor, setzte zum Scherz ein tragisches Gesicht auf, sprach in seinem tiefsten Baß und begleitete seine Reden mit kleinen karikierenden Gesten und übertreibender, spaßig-komödiantenhafter Mimik, indem er einmal das Gesicht in schmerzliche Falten zog oder die Lippen aufeinanderpreßte und dann wieder wie vor Entsetzen die Augen schloß: »Da sitzen sie beieinander, die interessanten Frauen: Ich liebe diesen Mann, aber ich liebe ihn nur an – Freitagen! An den übrigen Tagen der Woche hasse ich ihn! Und warum? Ein guter Freund von mir, ein tiefblickender Mensch, hat es enträtselt und entwirrt, warum ich ihn nur an Freitagen lieben kann, an den übrigen Tagen der Woche aber hasse und hassen muß! An einem Sonntag nämlich, so hat er es mit seiner Wissenschaft und seinem tiefen Blick herausgefunden, an einem Sonntag nämlich habe ich die erste große Enttäuschung meines Lebens erfahren, so sind mir die Sonntage verleidet, sie haben eine Wunde, die Sonntage, und mein Inneres scheidet sie aus; so hat er es herausgefunden; an einem Montag wurde ich von einem Auto überfahren, an einem Dienstag habe ich zum erstenmal eine Leiche gesehen, an einem Mittwoch wurde ich vergewaltigt, an einem Donnerstag wurde ich mitten in einer Umarmung von einem Knall in der Wohnung über der meinen erschreckt, und an einem Samstag endlich ist mir etwas auf den Mund gefallen, ein Holz oder Brett, als ich an einem Neubau vorüberging, so ist mir auch an Samstagen der Mund verschlossen, und ich kann nicht sagen: Ich liebe dich! So kenne ich mich jetzt mit Hilfe meines Freundes, des tiefblickenden Menschen. Am Apollotempel zu Delphi, hat er mir gesagt, der tiefblickende Mensch, stand der Spruch geschrieben: Erkenne dich selbst! Wie schön waren die Nächte, da wir bis zum Morgengrauen beieinander gesessen haben, der tiefblickende Mensch und ich, und er mit liebevoller Geduld, mit riesenhafter Mühe, daß ihm die Schweißtropfen auf der Stirn standen, mein Inneres auseinandergewühlt, aufgegraben, auseinandergeknäult und aufgerissen hat! Wie schön ist es, sich selbst zu kennen, und jetzt weiß ich, warum ich den Mann nur an Freitagen lieben kann, an den übrigen Tagen der Woche aber hasse und hassen muß, muß, muß! – Wie interessant, murmelt der Chor, wie interessant!«

Riedinger hatte längst zu lachen begonnen, prustete und schüttelte sich über das kleine Theater, das Feding ihm vorführte. Auch Frau Riedinger gab für Augenblicke ihren stillen Ernst auf, aber sie amüsierte sich offenbar nur widerstrebend und gegen ihren eigenen Gemütszustand. Mit einem Blick, den er jetzt auf sie warf, erkannte es Feding und beendete seine Späße. Die Schnelligkeit, die jäh sich äußernde Besonnenheit, mit der er es tat, hätte jedem, der etwa den Gedanken gehabt hätte, daß er betrunken oder durch den Wein überhaupt nur verändert worden sei, seinen Irrtum bewiesen. »Lassen wir die Scherze, lassen wir sie, aber es ist nun einmal so«, sagte er, ernst werdend. »Was man das Besondere, das Interessante nennt, ist gar nichts Besonderes, das wahrhaft Besondere ist nichts als eine reiche Entfaltung des Einfachen und Natürlichen. Wie soll man da nicht lachen beim Anblick all der Krümmungen, Verzerrungen und Windungen? Es ist erheiternd, wenn sie das Vergrößerungsglas an Herz und Eingeweide legen, siehe, siehe, unter den Augenstrahlen, die durchs Vergrößerungsglas auf sie fallen, entstehen an Herz und Eingeweiden neue Windungen, die Windungen verzweigen sich, es bilden sich neue Wege, Furchen, dunkle Falten, in denen die Fragen an die eigene Seele nisten, schwarze Abgründe und Wülste und scheußliche Entartungen –, welch fürchterliche Landschaft, solch ein Herz!

Haben wir nicht März? Es beginnt, es beginnt!« Er setzte zu einer Bewegung an, als wollte er den Taktstock heben, und sah gespannt, fast neugierig in die Luft, als sähe er vor sich, wovon er sprach. »Sie erheben sich von ihren Stühlen und treten vor den Spiegel, um sich überaus herrlich zu machen. Er fährt mit seinem Finger über die Wange, um zu prüfen, ob sie auch glatt genug ist, sie setzt ein neues Hütchen auf, ein jeder geht zu seiner Tür, sie drücken die Klinke nieder, verlassen die Wohnung, das Haus, sie gehen über die Gassen und Plätze, er wartet an der Straßenecke und ist entschlossen, unwiderstehlich zu sein, und sie kommt angetänzelt, mit ihrem neuen Hütchen auf dem Kopf, und er bemerkt es nicht, der Tölpel! Die Münder öffnen sich zum zärtlichen Wort oder zum Vorwurf: Du liebst mich nicht, die Hände heben sich, um zu streicheln oder um zu ohrfeigen –«

Er unterbrach sich, als wäre ihm eine Erinnerung gekommen, und schmunzelte vor sich hin. »Die Mädchen stehen wieder vor den Toren, die Haut der Knaben schlägt aus, die Paare sind übers Land verstreut, aufrecht oder hingestreckt, in den Wäldern, in den Alleen und in allen Winkeln der Städte. Die Herzen sind geschwollen, und die Gehirne werfen Blasen! Wenn ein kleines Mädchen auf ihre hübsche Art lächelt, schmilzt ein ganzer starker Mann dahin. Und wenn dasselbe Mädchen, ein wenig launisch, auch einmal einem anderen freundlich zulächelt, wird es gleich zum blutsaugerischen Dämon! Die eine schlägt zu und wird geprügelt und blutige Tragödienflammen lodern zum Himmel, die andere geht traumwandlerisch, geht wartend durch die Welt, die dritte legt sich zu Bett und ist melancholisch. Bei Gott, bei Gott! Sie legt sich ins Bett und ist melancholisch! War da nicht eine tödliche Mahlzeit? Zwei Portionen sind verspeist und verschluckt –, ist noch ein Rest geblieben oder ein Restchen? Wer ist die nächste? Wer nimmt Carola den Pokal aus der Hand, um ihn zum Mund zu führen? Zum Wohl, zum Wohl! Ein wildes, ein zärtliches, ein groteskes Ballett. Alles tanzt und springt, der Geige reißen alle Saiten, die Posaune flötet, die Pauke wird lyrisch, und die Gehirne werfen Blasen! Fabeltiere, nie gesehen, begegnen den Menschen, nie gesehene Landschaften umgeben sie, das Wasser fließt aufwärts, und die Berge stehen auf ihren Spitzen, und ich rede, und ich phantasiere, als ob ich auch noch mittanzen sollte, ich alter, grauer Mann! Reizend sind sie, wenn sie mit ein wenig geblähten Nasenflügeln lachen und spielen, und wenn sie es so schwer nehmen, dann sind sie vielleicht noch reizender!«

Seine Worte verhallten und verloren sich wie ein Windhauch in der Luft. Nun schwieg er, den Körper weit zurückgebeugt, die eine Hand lässig auf der Seitenlehne des Sessels, die andere auf dem Tisch, den Stiel des Glases umfassend. Riedingers Lider waren müde auf und ab geflattert, waren gefallen, hatten sich mühsam wieder geöffnet und waren wieder gefallen, bis sie schließlich geschlossen geblieben waren. In der Stille aber, die entstand und die nur von den leise rauschenden Atemzügen des Schlafenden durchzogen war, richtete sich Frau Riedinger auf, als ob sie nur gewartet hätte, daß Feding seine Rede schließe. Sie wandte sich ihm ganz zu, jetzt nur die eine Hand aufs Holz der Bettstatt gelegt, und begann, ein wenig hart, ein wenig rauh: »Nein, Feding, so geht es nicht. Was Sie gesagt haben, mag richtig oder falsch, gut oder schlecht sein, wahrscheinlich ist es gut und richtig, und wenn Sie mit Ihrer Phantasie ein wenig abseitsgehen und abirren, daß es weder richtig noch falsch sein kann, dann ist es immer noch hübsch gesprochen, aber so geht es nicht, so nicht! Sie stehen irgendwo in der Höhe, auf irgendeiner Wolke, auf die Sie unversehens hinaufgehoben worden sind, vielleicht im Laufe der Jahre und Jahrzehnte. Ich aber kann nicht dort oben neben Ihnen stehen und herniederlächeln. Ich werde es auch niemals lernen. Und wenn ich tausend Jahre alt werden sollte – ich werde immer mittendrin stehen, denn ich habe ein Kind!«

Feding hatte, als sie zu sprechen begonnen, mit freundlichem Staunen die Brauen gehoben. »Aber Elisabeth –!« begann er jetzt begütigend.

Doch sie unterbrach ihn: »Sie wissen, wie gern ich Sie lachen sehe und wie oft ich mit Ihnen gelacht habe, aber mir stockt der Atem, und die Heiterkeit des ganzen Himmels könnte mich nicht mitreißen. Wenn nämlich diese verkommenen Kinder mit dem Tod zu spielen beginnen, dann darf man nicht mehr lächeln, und wenn es noch so freundlich geschieht. Man darf nicht mehr lächeln, wenn man nicht ein Gott ist, dem der Tod eines Menschen nur so viel bedeutet, wie uns das Abwelken oder Abfallen einer Blüte von einem blütenübersäten Baum!«

»Aber Elisabeth –!« versuchte er es noch einmal, aber sie ließ ihm nun nicht mehr das Wort: »Sie mögen spielen, womit sie mögen, sie sollen ihre Zeit und ihre Jugend verspielen, sie sollen mit sich, mit ihrem Körper, mit der Liebe ihre Spiele treiben, wenn es ihnen Freude bereitet, woran ich allerdings gar zu oft zweifle – ich alte Frau. Sie alle sind mir ähnlicher, als man glaubt, aber sie wollen es nicht wahrhaben, und das ist das Unglück. Gut, ich habe zugesehen und so getan, als ob ich mich an alles gewöhnt hätte, wie es sich für einen alten Menschen gehört – sie sollen spielen, womit und wie lange sie wollen, nur sollen sie nicht, wenn sie dann im Leeren sind, wenn sie in die Sackgasse geraten sind, mit dem Leben und dem Tod spielen! Ich habe Angst, das ist alles! Ich will, daß kein Unglück geschieht, das ist alles! Ich halte mich nämlich auch nur an die Tatsachen, so wie Sie! Wenn Blanche noch ein Schulmädchen wäre, dann würde ich ihr verbieten, dieser Mörderin auch nur die Hand zu reichen!«

Mochte Riedinger ohnedies aufgewacht oder durch dieses gewalttätige Wort aus seinem leisen Schlummer geweckt worden sein, er öffnete blinzelnd die Augen und fragte mit knurrenden Lauten: »Aber, aber! Wer ist eine Mörderin?«

»Wer?« rief sie, »Carola!«

»Aber, aber!« brummte er zwischen Wachen und Schlafen. »Eine so schöne Frau, eine so interessante Frau und so melancholisch!«

»Dann ist sie eben eine melancholische Mörderin!« rief Frau Riedinger augenblicklich zurück.

Schon hob Feding den ausgestreckten Zeigefinger und sprach leise und bewundernd: »Ah, Elisabeth, das war gut, das war gut! Ich sage es doch immer, daß der Geist aus der Leidenschaft kommt! Aber Sie sehen doch, daß die klugen Mädchen ihre Sicherungen treffen, und diese dürften im allgemeinen zu ihrem Lebenswillen in gerader Proportion stehen!«

»Im allgemeinen, im allgemeinen! Was soll ich mit dem Allgemeinen! Ist Blanche das Allgemeine? Ich habe Angst, das ist alles. Ich habe ein Kind – wie kann man da vom Allgemeinen sprechen? Ich will, daß kein Unglück geschieht! Mehr will ich nicht!«

Unter ihren schimmernd weißen Haaren war ihr Gesicht gerötet und gespannt, die wenigen Falten schienen sich zu vertiefen, sie stand aufrecht und bewegungslos und sprach mit wachsender Strenge. Feding sah sie staunend, ja, fassungslos an, und es war nicht zu verkennen, daß er sie so noch niemals gesehen hatte. »Aber Elisabeth, aber Elisabeth –!« wiederholte er, doch seine Stimme war schüchterner geworden, wie die Bewegungen eines Zurückweichenden kraftlos werden. Riedinger war wieder eingeschlafen.

»Und wenn die Sicherungen, von denen Sie gesprochen haben, versagen?« fuhr Frau Riedinger fort. »Wenn die Berechnungen falsch gewesen sind? Dann war es eben nur ein unglücklicher Zufall, nicht wahr? Und Ihre Proportionen gelten noch immer im allgemeinen, nicht wahr? Mir aber kommt es eben auf den Zufall an, auf das Unglück, ich halte mich nur an die Tatsachen! Ich war Blanche ähnlicher, als sie glaubt, aber ich habe immer nur das Lebendige ins Leben einbezogen, niemals den Tod, obwohl er oft besser gewesen wäre als das Leben! Es kann immer noch alles in Ordnung kommen, vielleicht spät, wenn nicht in der Jugend, dann in der Reife, und wenn auch dann nicht, dann im Alter, wenn man aufatmet, daß alles vorüber, alles überwunden ist! Aber mit dem Tod zu spielen, das ist die große Unordnung! Ich will Ordnung, und mag sie noch so schwer zu ertragen sein! Ich will nicht, daß meine Tochter eine Närrin ist, keine lächerliche, keine liebenswerte, keine tragische, es soll niemand, auch Sie nicht, Feding, sie preisen als die träumende Närrin! Sie soll nicht die große Liebe erfinden; besser ist's, sie lebt mit der kleinen, mitsamt der Enttäuschung! Es gibt für uns Frauen ohnedies nur die eine Frage: wie wir die Desillusionierung überstehen! Damit, was einer aus sich herausholt und herausträumt, damit kann er nicht leben! Und aus dem Traum geht es sich leicht in den Tod! Sie soll nicht mit ihm spielen, nicht mit offenen und nicht mit geheimen Entschlüssen, nicht wirklich und nicht zum Schein! Aber sie tun es, sie spielen mit ihm, bei lebendigem Leib ihrer Männer und Mütter! Ich habe Angst, ich will, daß kein Unglück geschieht! Ich habe eine Tochter, ich habe Leben in die Welt gesetzt und will, daß es lebt, ungefährdet lebt, so glücklich, wie es in dieser Welt und bei ihrer Wesensart möglich ist! Das ist alles! Nun? Was ist da noch zu sagen? Zu lächeln? Nun?«

Sie schloß, unvermittelt, wie sie begonnen hatte, aber mit einem dreimal wiederholten gesteigerten Nun? Nun? Nun? forderte sie ihn auf, zu antworten, und wartete. Er zögerte, es dauerte geraume Zeit, ehe sich die Worte aus ihm herausarbeiteten, schließlich aber begann er leise, zaghaft und mit etwas verrosteter Stimme: »Sie haben es soweit gebracht, Elisabeth«, sagte er und schwieg, und dann erst begann er von neuem: »Sieh an, sieh an, ich spüre, daß ich nicht mehr lache. Sieh an, wer hätte das gedacht, daß mir dies geschehen wird, mir hocherhabenem, thronendem Mann, dem die Erfahrung, das Alter, der Verstand und dieser Napoleon den Geist eröffnet hat, daß die Weisheit in Strömen fließt –! Was soll ich sagen, Elisabeth? Da Sie mir meinen Verstand zunichte gemacht haben, will ich wenigstens gerecht sein: Sie berufen sich darauf, daß Sie eine Tochter haben, daß Sie Leben in die Welt gesetzt haben, wie einfach, wie einfach! – Und ich, ich bin es ja selbst gewesen, der gesagt hat: begnadet der Mensch, der ins Einfache mündet, in die großen Hauptstraßen der Natur! Was sollte ich da noch sagen?«

Frau Riedinger hatte mit bewegungslosem Ausdruck seine Antwort entgegengenommen, aber nun sprang, da sie so auf ihn niedersah, unversehens ein leichter, aufschimmernder Strahl eines freundlichen Lächelns aus ihren Augen. Sein Gesicht war jetzt von unzähligen Falten und Fältchen durchfurcht, sein Schnurrbart hing in schlafferem Bogen nieder, und sein Rücken schien etwas gebeugter; aber er hatte ihren Blick und ihr Lächeln aufgefangen; er raffte sich auf, griff nach der Flasche und goß ein. Langsam und zögernd hob er das Glas, von unten her zu ihr aufsehend, mit fragendem, schüchternem Blick, als wüßte er nicht, ob er sich trauen dürfe, ihr zuzutrinken. Wie wenn sie ihm mit einer nur geahnten Bewegung der Lider die Erlaubnis dazu gegeben hätte, zuckte, auch nur mit winziger Bewegung, sein Arm mit der Hand und dem Glas ihr entgegen. Dann führte er es schnell zum Mund. Sie schaute ihm zu, wie er trank, und wartete geduldig, bis er ausgetrunken hatte, dann erst wandte sie sich und legte wieder die gekreuzten Arme auf die Fußwand des Bettes.

Sie schwiegen, aber das Gespräch hätte ohnehin nicht weitergeführt werden können, da Blanche wieder eintrat.


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