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Nachbars Lenchen

(Mitgeteilt durch Freundeshand.)

Jeder Mensch hat so seine eigenen Manieren, in denen er sich behaglich fühlt und die man ihm lassen darf, wenn sie nur anderen Leuten nicht gar zu große Unbequemlichkeit verursachen. Zu meiner Behaglichkeit gehörte es lange, abends nach vollbrachten Tagewerk mich ans Fenster meines Wohnzimmers zu setzen und entweder aus die Straße hinunter zu lugen, um die vorüberwandelnden Menschen zu beschauen, oder zum Sternenhimmel hinauf zu gucken, wobei ich dann so meine absonderlichen Gedanken hatte. Die vorüberwandelnden Menschen auf der Straße führten eine Galerie lebender Bilder an mir vorüber, nicht weniger lehrreich als interessant. Jeder Mensch trägt nämlich ein Stück Lebensgeschichte im Gesicht geschrieben mit sich herum; auch Haltung, Kleidung, Gang und Manieren geben Zeugnis. Wer aber viel mit Menschen verkehren muß, thut wohl, wenn er ihnen scharf aufs Leder sieht. Ist die Schrift darauf auch nicht immer ganz deutlich, so lernt man doch allmählich auch die verworrenste leidlich lesen. Der Sternenhimmel oben aber redet eine lautere, tiefsinnige und doch sehr deutliche Sprache, die von den Kindern Gottes halb im Traum erlernt wird, welche Sternengucker modischen Schnitts jedoch nie bis zum dürren ABC verstehen. Hatte mir der Tag Gutes gebracht, band ich's hoch oben am Himmel an, damit es nicht im Dunst der Erde verderbe; war Trübes und Unglückliches mir über den Lebensweg gelaufen, ließ ich's mir dort oben ausgleichen, so daß ich nie ohne hinreichenden Trost das oft sehr mühselige Tagewerk schloß. So hatte eine sehr gescheite Mutter mich gelehrt, den Tag zu beschließen, und ich danke es ihr nebst vielen anderen guten Dingen noch über das Grab hinaus.

Meinem Spekulierfenster gegenüber bog eine Seitengasse ein; drinnen standen alte, meist baufällige Häuser mit niedrigen Thüren, kleinen Fenstern und langen Dächern, wie sie in den Hauptstraßen unserer Stadt nicht mehr Mode sind. Aus den Dächern waren, kaum über die Dachrinne, Fenster hinausgebaut, vor denen in der Regel, da die Dachrinne für ein paar Bretter nötig Stützpunkte bot, eine Menge Blumentöpfe sich befanden, die um so zärtlicher gepflegt wurden, als sie den Bewohnern dieser Dachwohnungen den fehlenden Garten ersetzten und dabei immer dicht vor der Nase standen. Die Fenster waren in der Regel mit nicht allzu sauberen weißen Vorhängen verhangen, hinter denen hie und da blasse Kindergesichter, auch wohl ein altes Mütterchen oder ein krausköpfiger Mann mit dem Pfeifenstummel zum Vorscheine kamen. Über Tag gab's oft Kindergeschrei in Menge in dem Seitengäßchen, und allerlei Gepolter ließ sich in den alten Häusern auch wohl vernehmen, obschon unsichtbare Geister den Spuk nicht aufführten. Doch that es bisweilen not, daß der Geistliche über die bösen Geister herkam im Seitengäßchen, wobei es mich immer noch freute, daß seine Beschwörungen nicht ohne Erfolg abliefen. Lange dauerte der Lärm nie. So wie es Abend wurde, ward's von Minute zu Minute stiller im Gäßchen; hie und da brannte zwar noch ein Lämpchen in den Dachwohnungen, bevor aber die Polizeistunde schlug, lagen die armen, müden Leute meist schon auf ihren Ruhelagern, denen ich den Namen Betten nicht gerade geben möchte. Da ich von meinem Fenster aus schräg in das Gäßchen hineinsehen mußte, so hatte ich oft recht melancholische Gedanken über das Gäßchen mitsamt seinen Bewohnern, – Gedanken, die bisweilen wie Katzen durch die Dachrinne spazierten, und die sich auch wohl mit einem Ohr an die verhangenen Fenster beugten, um dem tiefaufatmenden Schlafe dieser armen Leute zu horchen, oder auch da und dort ausgestoßene Seufzer aufzufangen, damit ich sie beizeiten hinaufweise zum Sternenhimmel, der immer mild und freundlich herabblickt auf die Menschenwelt, auf Hütten und Paläste, und Trost hat für alle, für die Armen aber den reichsten. So eine recht tiefe, schmutzige Armut war in dem Gäßchen gerade nicht, Zucker würde indes auch nicht darin geklopft; es wohnten meist Leute daselbst, die sich mühselig durchs Leben zu plagen hatten und es thaten. Daß gerade unter solchen Leuten Kummer und Leid am tiefsten geht, jede Not doppelt gefühlt wird, bevor sie wagen, um Hilfe zu schreien, weiß ich, gottlob! aus Erfahrung. Habe ich doch selbst auch schon in Dachkämmerchen gewohnt, und die ganze Tragweite eines verlorenen Tagelohnes erfahren. Von daher zum Teil oft meine melancholischen Gedanken. Daß ich mich ums Gäßchen so lebhaft bekümmerte, muß man mir nicht verdenken. In meiner Jugend war es daheim Sitte, mit der Nachbarschaft immer auf vertrautem Fuße zu leben, woher es kam, daß Freud' und Leid dort gewissermaßen ein Gemeingut war, ohne Rücksicht, ob der Nachbar ein paar Schollen mehr oder weniger besaß. Allerdings, in der Stadt kennt oft der Nachbar den Nachbarn nicht, sind sich oft die Bewohner desselben Hauses fremd. Neumodisch ist das, aber besser sicher nicht. Daß man dazu die Wohnungen der Armen immer weiter von den Häusern der Reichen entfernt, ist erst recht von Übel. Genug, aus alter Gewohnheit lag mir immer viel an der Nachbarschaft; das Seitengäßchen war mein absonderlicher Schauplatz der Beobachtung und hatte für mich ein ungewöhnliches Interesse. Ich weiß heute noch nicht, wem es den meisten Gewinn gebracht hat, mir oder den armen Leuten.

Im dritten Hause war vor einigen Wochen – hier begann mein Freund seine eigentliche Erzählung – das Dachkämmerchen geräumt worden. Dort hatten ein Paar alte Eheleute für dieses Leben sich getrennt – der eine war in die Ewigkeit hinübergewandert, der andere ins Hospital –, die seit langen Jahren still und genügsam von einer städtischen Pension gelebt hatten – wenn ich erzählen wollte, wie? würdest du: wunderbar! völlig wunderbar! ausrufen. Bürgermeister war nämlich der Mann nicht gewesen, auch nicht Senator, sondern ein simpler Stadtdiener, der aber in entscheidenden Tagen der Not seine Pflicht gethan trotz dem Bürgermeister. Dafür erhielt er endlich, als er ausgedient, monatlich fünf ganze Thaler. Die Armenverwaltung hat endlich monatlich noch drei Thaler zugeschossen, und davon lebten die Leutchen herrlich und in Freuden. Aber die gehörten noch der guten alten Zeit an. Ich merkte die Veränderung im Gäßchen gar bald, nachdem ich eben von einer kleinen Reise zurückgekehrt war. Dort im dritten Hause stand das Dachfenster Tag und Nacht offen, auch waren die Blumentöpfe des alten Sergeanten verschwunden. Die Tüncher wirtschafteten offenbar in der engen Wohnung, war doch das Fenster mit Kalkflecken übersäet. Nach vierzehn Tagen ist eines Abends das Fenster gereinigt, blendend weiße Vorhänge zieren dasselbe und eine Reihe Blumentöpfe mit Monatsrosen, Nelken und Reseda prangen auf dem geputzten und grün angestrichenen Brette. Offenbar hatte eine neue Familie sich dort einlogiert. Eine Art Neugierde plagte mich, zu wissen, was das für Leute wären; mein erstes Nachfragen aber führte zu keinem Resultat. Am Fenster ließ sich abends niemand blicken; dafür brannte die Lampe hinter dem Vorhange bis tief in die Nacht, und war ich auch noch so früh auf den Beinen, das Fenster drüben war schon geöffnet, – ein Zeichen, daß die Bewohner auch schon wieder in Thätigkeit waren. Dabei zeichnete sich die Dachwohnung von außen immer durch ihre Sauberkeit aus und standen die Blumen immer im schönsten Flor. Oft freute ich mich an dem Gedanken, daß dort wohl glückliche Menschen wohnen möchten, und wurde ich darin noch durch den Umstand bestärkt, daß ich von dorther niemals jenes häßliche, im Gäßchen ziemlich übliche Gepolter vernahm; dafür aber drang bisweilen der Gesang einer seinen weiblichen Stimme aus der Dachwohnung zu mir herüber, und war es immer die Melodie eines Kirchenliedes, wie sie so gern von dem frömmeren Teile unserer arbeitenden Klasse ehedem gesungen wurden. Das klang dann wie ein Kirchenglöckchen in das weltliche Geräusch um mich herum, und hab' ich gewiß tausendmal dem guten Kinde im Herzen gedankt für die Mahnung zu eigener Andacht.

Einmal lehnte sich ein alter Mann mit eisgrauen Haaren aus dem beschriebenen Dachfensterchen und klopfte das Pfeifchen in der Dachrinne aus. Bald sah ich auch ein welkes Mütterchen die Blumen begießen; neben ihm hinaus drückte sich ein blondes Kinderköpfchen, streckte das Händchen aus und wollte eine Blume erhaschen. Das gab einen Klaps und ein hochrotes Gesichtchen, und husch, war die Kleine ins Stübchen entwichen. Das waren drei, aber die rechte Seele dieses mir so merkwürdigen Haushaltes war darunter noch nicht. Noch einmal fragte ich den Leuten nach. Der Bescheid fiel sehr einfach aus. Der Mann mit den eisgrauen Haaren war der alte Meister Schäfer, der das Nadelöhr schon seit vielen Jahren nicht mehr hat finden können, mit seiner Ehefrau, eben so untauglich zum Broterwerb, obschon es beiden noch ziemlich gut schmeckte, ihre Tochter Lenchen und ein Enkelchen, dessen Eltern schon auf dem Kirchhofe ruhten.

»Wovon leben die Leute?« war die weitere Frage.

»Das Lenchen hält mit seiner Nadel die ganze Haushaltung aufrecht,« war die kurze Antwort.

Ich fragte nicht weiter. Also wieder eine von jenen seltenen Naturen, dachte ich, wie sie hie und da in der arbeitenden Klasse in stiller Verborgenheit daher gehen und scheinbar Kleines mit großem Sinne thun. Das Lenchen flößte mir größeren Respekt ein, als manches Dutzend zierlicher Fräulein der Stadt, das war eine ausgemachte Sache.

Saß ich abends am Fenster und ließ die Leute an mir vorübergehen, oder suchte ich Ruhe um mich und in mir, oder hatte ich oben im Himmel noch Geschäfte abzumachen, und mein Blick fiel dann auf das Dachfensterchen des dritten Hauses im Seitengäßchen, dann erhielt ich immer noch eine Lehre extra, die ich nie vergaß mir gehörig hinter das Ohr zu schreiben. Dort arbeitete kindliche Liebe und Dankbarkeit noch, wenn wir andere Menschen schon längst das Tagewerk geschlossen, und sang in die Nacht hinein, während die Hände geschäftig die Nadel führten, Gottes Lob und Preis mit fröhlicher Seele. Lenchen sieht immer munter und heiter aus. Wir dickthuenden Leute machen meist kuriose Gesichter in unserer eingebildeten Vornehmheit.

Das Lenchen habe ich danach öfter ausgehen gesehen: in die Kirche, zu ihren Kunden, auf den Markt, niemals in die eigentliche Welt hinein, immer schlicht und recht, ohne Staat und doch sauber und nett. Dreißig Jahre mochte sie alt sein, vielleicht noch älter, vielleicht auch jünger, was man aus ihrem ruhigen, von keiner Leidenschaft verwirrten Angesichte nicht so genau herauslesen konnte. Schön war Lenchen gar nicht, und doch machte sie einen viel wohlthuenderen Eindruck als jede bloße sogenannte Schönheit. Mit ihren Jugendhoffnungen schien sie fertig zu sein, und daß ihr das keinen Kummer machte, lag in ihrem heiteren Wesen deutlich verzeichnet. Freundinnen hatte sie wohl, ein paar fromme Mädchen von »ihrer Gattung«, die Sonntags mit ihr in die Kirche gingen; sonst ging sie still ihren Weg. Ob sie je ans Heiraten gedacht, weiß ich nicht, aber das weiß ich, daß sie sich für ihre alten Eltern buchstäblich aufopferte. Ungewöhnliches lag, wie es schien, gar nicht auf ihrem Lebenswege, aber die Art, wie sie das Gewöhnliche that, verriet ein ungewöhnliches Herz. – Warum ich dich, lieber Leser, so weit und breit von Nachbars Lenchen unterhalte, der armen Näherin im Seitengäßchen? Lies nur weiter und du wirst es erfahren.

Aus der Messe war ich eines Sonntags gerade nach Hause gekommen, hatte bereits im Vorhause einige kleine Geschäfte mit hilfsbedürftigen Leuten abgemacht, war dann auf mein Zimmer gegangen und schickte mich eben an, es mir hinter dem warmen Ofen recht bequem zu machen – es war im November, rauhes, stürmisches Wetter, – mit dem guten Vorsatze, an dem Tage aber gar nicht mehr weit zu laufen, als jemand schüchtern an der Thür klopfte. Ich war sehr ungern gestört und stieß das »Herein!« mit einigem Unwillen heraus. Ins Zimmer trat Nachbars Lenchen, verbeugte sich kurz und schloß dann die Thür bedächtig hinter sich zu. Ich muß gestehen, ich schämte mich schon von ganzem Herzen meiner Ungeduld dem trefflichen Mädchen gegenüber, das ruhig an der Thür stehen blieb. Ich lud Lenchen ein, nur näher zu treten und mir zu sagen, womit ich dienen könne. Ohne einen Schritt näher zu thun, hob das gute Mädchen an:

»Herr N., Sie wollen nicht ungütig aufnehmen, daß ich Sie um eine milde Gabe anspreche ...«

Ich ließ Lenchen nicht ausreden, griff in die Tasche und zog einen Thaler heraus. »Schon gut, Jungfer Schäfer,« sagte ich mit einem fast stolzen Freudengefühl, dem Mädchen helfen zu können, »da haben Sie eine kleine Gabe, die Gott tausendfältig mehren wolle. Ich kann wohl denken, daß es Ihnen schwer wird, in diesem Winter, der bereits so früh sich einzustellen scheint ...«

Lenchen errötete leicht und fuhr dann lächelnd dazwischen: »Nein, Herr N., so schlimm ist es mit uns noch nicht; ich sammle für zwei arme Waisen, nicht für mich. Ich habe, Gott so Dank, noch Arbeit genug; aber die armen Kinderchen! Beide Eltern tot, und noch so jung! Für sie sammle ich kleine Gaben, damit sie eine christliche Erziehung erhalten.«

»Von wem sind denn die Kinder?« fragte ich neugierig.

»Ach, Herr N., Sie wissen vielleicht nicht, hinten im »Weiher« – (so hieß der Zugang einer benachbarten Straße, worin fast nur arme Arbeiter wohnten) – ist vor vier Monaten dem Maurer Edmund die Frau im Kindbett gestorben. Nun hat der Mann sich vor sechs Wochen am Nervenfieber niedergelegt und ist auch schon begraben; zwei kleine, arme Würmchen sind allein übrig geblieben, die nun das christliche Mitleid anrufen. Helfen Sie doch, damit die Kinder eine christliche Pflege erhalten!«

Lenchen sah ganz traurig aus.

»Aber warum kümmert sich die Armenkommission nicht um die Kinder, damit sie ins städtische Waisenhaus gebracht werden?« fragte ich.

»Ach, Herr! die Armenkommission hat zwar nachgefragt, aber ich kann die Kinder ihr nicht übergeben.« –

Sie sagte nichts weiter, und ich wollte sie auch nicht weiter fragen, denn wir wußten beide Red' und Antwort. Es fehlte dazumal gar sehr an einer wahrhaft christlichen Erziehung im städtischen Waisenhause.

»Aber was wollen Sie denn mit den Kindern anfangen?« fragte ich nach einer Pause. Statt einer direkten Antwort begann Lenchen mir einen Vorschlag zu machen.

»Wissen Sie was, Herr N., Sie geben doch regelmäßig Almosen, wollen Sie nicht so gut sein und mir monatlich einen Groschen geben für die armen Waisen, bis sie der nötigen Pflege nicht mehr bedürfen? Ich will den Groschen monatlich selbst unten im Hause abholen.«

»Sehr gern,« erwiderte ich. »Aber was soll monatlich ein Groschen? Damit ist für zwei Waisenkinder wenig ausgerichtet!«

»Es genügt!« versetzte Lenchen schnell und ein eigentümliches Lächeln flog über ihre Züge; sie wollte aber mit ihrem Plane schlechterdings nicht herausrücken. Ich ließ sie gewähren, versprach ihr den monatlichen Groschen, und mit einem freundlichen »Gelobt sei Jesus Christus!« ging sie vergnügt zur Thür hinaus.

»Monatlich einen Groschen!« wiederholte ich halblaut, als Lenchen vor der Thür war, sogar auf unbestimmte Zeit für zwei Waisenkinder! Dahinter steckt gewiß irgend eine Heldenthat des armen Mädchens. Hinter diese Geschichte kommst du aber sicher heute noch, trotz des schlechten Wetters. « Sprach's, stand auf und schickte mich zur Ausfahrt an. Dem Lenchen bin ich an dem Tage gewiß drei oder viermal begegnet, so daß sie endlich schon von weitem lächelte, wenn sie mich erblickte. Wenn es ihr eingefallen wäre, zu welchem Zwecke ich mich in Wind und Wetter auf der Straße herumtrieb, hätte sie gewiß ein anderes Gesicht aufgesetzt. Was ich wissen wollte, wurde ich auch gewahr, aber noch viel mehr, wie der Leser sehen wird.

*

Meister Schäfer hatte drei Kinder. Die älteste Tochter war verheiratet gewesen, aber in den ersten Jahren ihrer nicht sehr glücklichen Ehe gestorben; ihr Mann fiel als Opfer der Cholera. Davon rührte das kleine Lieschen her im Dachstübchen. Ein Sohn war als Schreinergeselle in die Fremde gegangen und hatte seit mehreren Jahren nichts mehr von sich hören lassen. Lenchen, das schon von Jugend auf dem Vater bei der Arbeit geholfen, war eine tüchtige, geschickte Näherin geworden und hatte sich einen kleinen, aber guten Kreis von Kunden verschafft, die alle, ohne Ausnahme, auf das Lenchen große Stücke hielten wegen seiner Rechtschaffenheit, seines Fleißes und seines heiteren Wesens. Seit zehn Jahren war sie die Stütze ihrer alten Eltern. Noch vor kurzem hatte die Familie Schäfer »im Weiher« gewohnt mitten unter armen Leuten, weil dort die Miete billig war; aber bei Lenchen hatte das auch einen absonderlichen Grund. Unter den Armen in ihrer Umgebung gab es immer etwas Gutes zu thun, wozu ihre Kräfte und Mittel eben ausreichten. Geld konnte sie nicht geben, aber persönliche Liebesdienste erwies sie, wo sie nur vermochte. »Im Weiher« war sie die barmherzige Schwester, pflegte die Kranken, wachte oft halbe Nächte dabei, holte bei ihren Kunden stärkende Speisen für die Genesenden, sorgte für das christliehe Recht und betete mit Leidenden und Sterbenden. Das rohe Volk um sie herum schalt sie oft eine Betschwester, holte sie aber doch wieder in jeder Not, und Lenchen dachte dann nicht mehr an die Spöttereien, sondern nur an den Gotteslohn. Das geschah aber alles geräuschlos, daß nur wenige Leute wußten, was das Lenchen alles ausrichtete. »Im Weiher« verstand sich das Thun Lenchens so von selbst, daß die armen Leute ordentlich glaubten, ein Recht auf sie zu haben. Gerade so machen wir anderen Leute es mit der Güte Gottes gegen uns, deren Gaben wir in der Regel auch hinnehmen, als ob sich diese Güte Gottes rein von selbst verstände. Konnte das Lenchen nicht immer helfen, wie es gerade die Leute wünschten, dann wurde sie oft genug noch ausgeschimpft dazu, wie viele Leute es accurat mit unserem Herrgott machen. Die jungen Burschen »im Weiher« scheuten das Lenchen ordentlich, was eben kein sonderliches Zeugnis für die jungen Burschen »im Weiher« sein mag. In dem Hause, worin die Familie Schäfer wohnte, war vor zwei Jahren der Maurer Edmund mit seiner Familie eingezogen. Der Edmund war eine recht rauhe, ziemlich gottvergessene Haut, der seinen Verdienst wenigstens zur Hälfte im Wirtshause verlor, daheim Weib und Kind meist sehr unväterlich traktierte und sich dazu mit niemand in seiner Nähe auch nur auf vierundzwanzig Stunden vertragen konnte. Wenigstens zweimal im Monate kam er mit blauen Flecken im Gesichte heim, in jeder Woche ein oder das andere Mal im Rausche, wobei dann eine Flut von Ausdrücken aus seinem Munde stürzte, daß man meinen sollte, die Festen der Erde erbebten. Sein armes Weih, das in der Jugend auch keine große Heilige gewesen, lebte in einem sehr derben Fegfeuer auf dieser Welt, obschon lange die rechte Sehnsucht nach dem Himmel sich auch bei ihr noch nicht einstellte. Es hält eben schwer, ist man in der Jugend einmal von dem rechten Wege gewichen, auch selbst in und durch Leiden wieder recht gründlich zur Raison zu kommen. Zwei Kinder – ein Mädchen von fünf Jahren und ein Knäbchen von drei – wuchsen in dieser Familienwüste eben auch als wilde Schosse in die Höhe und erhielten von den Eltern schon frühzeitig eben nichts anderes, als was sie hatten.

Eines Abends war Edmund wieder blau angelaufen nach Hause gekommen, und da er seinen Zorn an dem stärkeren Gegner nicht hatte abreiben können, so wollte er seiner Frau neben einem Hagel von Schimpfwörtern auch wenigstens ein paar jener Merkmale ins Gesicht zeichnen, mit denen er selbst dekoriert war. Dann, mochte er meinen, brauchte er sich doch nicht allein zu schämen. Das arme Weib ersah sich ihren Vorteil und entwischte aus der Stube, rannte in angstvoller Hast die Treppe hinaus und wie instinktmäßig dem alten Meister Schäfer in die Wohnung hinein, um sich vor den barbarischen Liebkosungen ihres Mannes zu verbergen. Der aber versuchte ihr nachzulaufen, und wäre er in der Treppe nicht gestrauchelt, – wer weiß, was nicht auf der oberen Hausflur für ein Drama ehelichen Unglücks wäre aufgespielt worden! Die geängstigte Frau verschloß die Zimmerthür bei Schäfers selbst und bat dann erst die erschreckten Bewohner um Schutz und Hilfe. Die beiden alten Leute wußten sich weder zu raten, noch zu helfen, und hätten wohl lieber gesehen, wenn die Frau anderweitig Schutz gesucht, Lenchen aber warf sofort ihre Arbeit beiseite, befahl der Frau, in die Schlafkammer nebenan zu treten, und ging dann selbst dem wütenden Edmund entgegen. Der polterte schon ihrer Wohnung zu und drohte, seiner Frau den Hals umzudrehen, wenn er sie erwische.

»Was wollt Ihr Euerer Frau?« sprach mit entschiedener Stimme Lenchen und stand schon dicht vor dem benebelten Edmund. Der Ton der fremden Stimme erschreckte den Maurer, verblüfft blieb er eine Weile stehen, als ob er sich orientieren wolle in seiner Umgebung. »Wie, Ihr wollt Euere Frau mißhandeln, Ihr, ein Mann? Schämt Ihr Euch nicht? Leben so ordentliche Eheleute zusammen?« Und das Lenchen setzte dem verwirrten Edmund in kurzen Sätzen eine derartige Strafrede vor die Nase, daß der Maurer völlig aus seinem Concept fiel und vor dem erzürnten Mädchen zitterte wie ein abgestrafter Schulbube. Er wollte eine Entschuldigung daherstottern, Lenchen ließ ihn aber nicht zu Worte kommen, sondern bedeutete ihm, daß er mit keinem Fuße ihr Zimmer betrete, vielmehr sich in seine eigene Wohnung scheren möge, dort sich wie ein ordentlicher Ehemann aufführen und nicht Weib und Kind zum Skandal machen solle vor der ganzen Nachbarschaft. Der Edmund wandte sich wirklich zur Treppe, Lenchen leuchtete ihm und half ihm endlich noch, daß er keinen Schaden nehme. Als sie ihn unten in sein eigenes Zimmer gebracht, versprach sie, ihm auch die Frau wieder zuzuführen. Das geschah auch, und blieb das entschlossene Mädchen noch eine Weile bei der zitternden Frau unten gleichsam als Wache gegen ihren eigenen Mann. Über diesen war eine eigentümliche Furcht gekommen, so daß er sich bald bequemte, das Ruhelager zu suchen. Der zündende Blitz war wenigstens für diesmal von der Edmundsfamilie abgeleitet.

Dieser Vorfall hatte die Frau Edmunds Lenchen näher gebracht, diesem selbst aber erwuchs daraus für die nächste Zeit eben nicht viel Freude. Der Maurer wurde von seinen Kameraden weidlich ausgelacht, daß er sich von der Näherin habe ins Bockshorn jagen lassen, nun werde er wohl keinen Tropfen mehr trinken und fromm werden wie Schäfers Lenchen. Das griff den reizbaren Maurer an seiner schwachen Seite an und nun begann eine förmliche Feindschaft seinerseits gegen die Familie Schäfer, die so weit ging, daß diese es für geraten hielt, auszuziehen, um vor dem unglücklichen Menschen Ruhe zu haben. Damals war sie in die Dachwohnung im Nebengäßchen eingezogen, ohne deshalb ihre Beziehungen zum »Weiher« aufzugeben. Wo der Maurer sie sah, schimpfte er über die Betschwester, machte ihren Gang und ihre Gebärden nach und drohte Ärgeres, wenn er sie zwischen Tag und Dunkel erwische. Lenchen sah und hörte nichts, mochte vielleicht um so herzlicher für die unglückliche Familie beten. Das hatte so eine Zeit lang gedauert, während es bei Edmunds eben ging, wie es konnte; nun suchte die arme Maurersfrau in der Stille oft das Lenchen auf und weinte und klagte sich dann aus.

Eines frühen Morgens wird dem Lenchen gemeldet, daß die Frau Edmunds niedergekommen sei und gefährlich krank daliege. Ohne sich lange zu bedenken, machte sich das brave Mädchen auf und eilte zu der Kranken. Der Maurer war eben ausgegangen, den Arzt zu holen. Lenchen setzte sich neben die todkranke Frau, labt und pflegt sie, als ob sie ihre Schwester sei, aber damit redete sie auch von Gott und von dem, was unterdessen recht und billig ist. Die arme Frau freut sich, daß ihr doch jemand von Gott redet – ihr Mann hat noch nie daran gedacht – und ist zu allem bereit. Darüber kommt der Edmund und ist nicht wenig erstaunt, die Näherin am Krankenbette seiner Frau zu finden; er weiß nicht, soll er sich entschuldigen vor dem edlen Mädchen, ober soll er sie – aus Konsequenz – vor die Thür weisen. Not bricht Eisen und zuweilen auch harte Herzen. Er sagt kein Wort, sondern läßt alles geschehen, als ob es so sein müsse, auch als Lenchen seine Arbeit herüberholt und sich damit in der Krankenstube niederläßt. Ja, der Maurer geht am anderen Tage wieder zur Arbeit wie gewöhnlich und überläßt Frau und Hauswesen seiner Feindin, die gar nicht übel schaltet und waltet. Mit Gott wird die Kranke versehen und zu einem guten Tode vorbereitet, – und richtig, binnen wenigen Tagen ist die arme Frau aus ihrem irdischen Fegfeuer erlöst. Dem Lenchen hat sie weitläufig gestanden, wie sie alles Leid an dem Edmund in der Jugend selbst verschuldet hatte, und machte sich aus dem Sterben gar nichts. Nur Eine Sorge hat das Mutterherz. Zwar ist der Säugling noch vor ihr in die Ewigkeit, aber noch sind zwei Kinder, die nun jeder mütterlichen Pflege entbehren. »Ach, Gott! die armen, armen Kinder!« seufzte ein über das andere Mal die sterbende Frau. Das ist dem Lenchen tief durchs Herz gegangen und hat das selbst arme Mädchen der Frau zum Troste ihr auf dem Sterbebette versprochen, für die Kinder zu sorgen, damit sie unter der schlimmen Pflege des selbst unerzogenen Mannes nicht an Leib und Seele zu Grunde gingen.

Das Versprechen war geschehen, die Frau tot, die Kinder klammerten sich instinktmäßig an das weinende Mädchen an, als ob sie es daheim halten wollten. Edmund war durch den Todesfall seiner Frau schier wahnsinnig vor Leid, aber in solchen Naturen haftet das nicht lange. Wohl acht oder gar vierzehn Tage war er ziemlich solid, doch that ihm die Vereinsamung nicht gut; er ging wieder seine alten Wege, saß im Wirtshause herum und weinte über den Tod seiner Frau hinter dem Glase. Nur seine Rauflust hatte wirklich gelitten. Wie es sonst mit seiner Trauer stand, beweist der Umstand, daß er dem Lenchen einen Heiratsantrag machte, als die Frau kaum drei Tage in der Erde lag. Das Lenchen hat ihn nur groß und mit einem Gesichte angeschaut, aus dem er sich selbst eine Strafrede herauslesen konnte; gesagt hat sie kein Wort. Aber wo hinaus mit den Kindern? Das war die eigentliche Not. Damals, als die Frau Edmunds gestorben war, hatte Lenchen die Kinder zu ihren Eltern auf das Dachkämmerchen gebracht, Lieschen zur Gesellschaft, was diese denn auch in solcher Not gern zugaben. Als aber die Frau begraben war, wollte der Maurer seine Kinder wiederhaben, und die alten Schäfers wünschten sie auch wieder aus dem Hause. Lenchen war zwischen zwei Feuer geraten. Die armen Waisen sah sie als ihre eigenen Kinder an, konnte aber weder dem Maurer die Kinder vorenthalten, noch ihre Eltern damit beunruhigen. Wochenlang behielt sie die armen Kleinen über Tag bei sich in dem Dachstübchen, pflegte sie nach Kräften, arbeitete noch länger als sonst, um für die armen Würmchen ein Stück Brot mehr zu verdienen. Hauptsächlich aber handelte es sich um ein paar Dutzend Unarten, die sie mit emsiger Sorge nach und nach abzustreifen sich angelegen sein ließ. Abends ließ sie durch ihren alten Vater die Kinder dann dem Edmund zuführen. Leider war dessen Umgang mit den Kleinen nicht geeignet, den Erziehungsplan Lenchens zu befördern. Der Maurer geriet allmählich wieder in die Verwilderung hinein; hatte er doch jetzt keinen Menschen, der ihm in ruhiger, zugänglicher Stunde ins Herz redete. Zwar traten ihm jedesmal die Thränen in die Augen, wenn er abends spät heimkam und die Kinder schon verpflegt und zu Bette fand; dann schwur er wohl bei allen Sternen des Himmels: er wolle das Lenchen heiraten – wenn sie ihn nur möge, – und wirklich prügelte er sich oft genug für die Ehre Lenchens, wenn nämlich seine Kameraden oder sonst jemand ihn mit der Betschwester neckten. Er meinte endlich, sich das Lenchen doch noch herauszuprügeln, wenn er nur nicht einen so gewaltigen Respekt vor ihr empfände und sie ihn nicht so entsetzlich scharf angesehen hätte. Hin und wieder stieg er selbst auf das Dachkämmerchen zu den Schäfers, erhielt dann aber vom alten Meister Schäfer immer eine solche Zurechtsetzung, daß er es nicht einmal wagte, von dem Lenchen anzufangen. Die redete nur wenige Worte; der Maurer faßte die festesten Vorsätze, – aber unter seinen Kameraden, in den herkömmlichen Gelegenheiten, ging's wieder wie früher.

An einem kühlen Herbstabende war der Unglückliche Mann wieder in eine Saufgesellschaft geraten, hatte dort unter Lärm und Streit sich betrunken und beim Nachhausegehen wahrscheinlich an eine Mauer sich anlehnen wollen, um auszuruhen, war dann hingefallen und hatte schlafend ein paar Stunden in der kalten Nachtluft gelegen, als die Nachtwächter ihn endlich aufrafften und nach Hause brachten. Die Folge war ein Fieber, das sich in wenigen Tagen völlig entwickelte und den Edmund sofort aufs Krankenlager warf. Als eben sein Verstand hinter trübem Fiebergewölbe untergehen wollte, rief der unglückliche Edmund nach Lenchen, bat und beschwor das treffliche Mädchen, ihn doch nicht zu verlassen, für Leib und Seele zu sorgen, er werde sich auch gewiß bessern, wenn ihn Gott wieder gesund werden lasse. Für die Seele hat Lenchen zuerst gesorgt – noch in letzter, aber guter Stunde –, dann auch auf des Leibes Pflege Bedacht genommen. Binnen zwei Tagen irrte der Verstand Edmunds schon durch alle Räume seines Denkvermögens in wirrem Kreislaufe, um die gesunde Fährte nie wieder zu finden. Wenn Fieberphantasien nie aller und jeder Wahrheit entbehren, vielmehr in bunten, oft schillernden Blasen das innerste Geistesleben an die Oberfläche werfen, oder in Rauch, Dampf, Asche und Lava hinausstoßen, zum Schrecken umwohnender Menschen: dann kehrte der Maurer in seiner Krankheit eine Natur hervor, wie man sie gerade nicht in ihm gesucht haben sollte. Der Glaube ist dem Menschen natürlich, – der Unglaube, die Gottesvergessenheit ist Unnatur, – diese allgemeine Wahrheit zeigte sich an Edmund. Mitten in seinem Fieberwahnsinne redete sein Herz mit Gott, dem er laut hinaus alle Verirrungen seiner Jugend, besonders sein unerlaubtes Verhältnis zu seiner Frau abbat. In die Gottesvergessenheit hatten ihn andere Menschen hineingebracht, Lenchen war ihm Gottes Engel in Menschengestalt. Wenn er den Ton ihrer Stimme hörte, dann horchte er auf, und nun begann ein wirrer Reigen von Vorstellungen, die sich meist um Versöhnung, um Gutmachen drehten. Das Lenchen hatte er im tiefsten Grunde seines Herzens liebgewonnen, wie er nie jemand lieb gehabt, obwohl er fast scheute, ihren Namen auszusprechen; aber von der Hochzeit mit einem Engel träumte der arme Mann, während die stürmischen Wogen des Fiebers ihn Stunde um Stunde der Ewigkeit näher spülten. Von den Kindern redete er selten; ach! seit die Kinder auf der Welt waren, hatte das Herz des Vaters zu viel außer dem Kreise seiner Familie gelebt.

In den ersten Tagen der Krankheit war das Lenchen drei-, viermal des Tages hinübergelaufen zum Maurer, um nachzusehen, was dort vonnöten sei, hatte die übrigen Bewohner des Hauses ausgerufen und that selbst das meiste und das Widerwärtigste. Die Kinder hielt sie nun wieder völlig zu Hause. Als jedoch die nächsten Nachbarn des armen Kranken in der Pflege erlahmten, Edmund selbst aber anfing, trotz seinem Fieber ruhiger zu werden, überredete das gute Mädchen ihren alten Vater, daß er zu dem Kranken hinüberging, um ihm zur Zeit Medizin zu reichen und Hilfe herbeizurufen, wenn deren nur nötig sein sollte. Von der Ansteckung hatte der alte Vater ja nichts zu fürchten. Lenchen selber arbeitete fast Tag und Nacht, um die zahlreicher gewordene Familie zu ernähren, – nahm sie doch selbst Anstand, von ihrem Pfarrer in diesen bedrängten Zeiten Unterstützung anzunehmen.

Der Maurer starb in der dritten Woche seiner Krankheit. Kurz vor seinem Tode erwachte er wie auf Augenblicke zu klarem Bewußtsein. – Momente, in denen er dem rettenden Engel an seinem Sterbelager nicht genug danken konnte für alle Wohlthaten, die er ihm und seiner Familie erwiesen. »Die Kinder! die Kinder!« war dann der bitterste Seufzer des Sterbenden. »Für sie wird gesorgt!« tröstete Lenchen und betete aus ihrem dicken Gebetbuche die Kranken- und Sterbegebete mit einer solchen Inbrunst, daß alle Umstehenden in Thränen zerflossen.

»Für die Kinder wird gesorgt!« hatte Lenchen gesagt, aber wie denn eigentlich für sie gesorgt werden sollte, wußte dazumal Lenchen selber noch nicht. Bisher hatte die Not der Umstände zu außergewöhnlichen Anstrengungen sie getrieben und Opfer leicht gemacht, die auf die Dauer unausführbar werden mußten. Die beiden Waisenkinder hatten während der Krankheit des Vaters auf ihrem Dachkämmerchen gewohnt, gespielt und geschlafen. Die Näherin war dadurch auf einen kleinen Winkel mit ihrer Arbeit beschränkt, und sich zu behelfen verstand sie trotz den ärmsten Leuten. Als aber der Edmund begraben war, würde die Last erst recht fühlbar. Das Dachkämmerchen war eben zu eng für sechs lebendige Menschen, von denen die Hälfte nur allzu lebendig war, so daß den Alten die Geduld ausging und es Lenchen über der Sorge für die Kinder an Ruhe und Zeit für die Arbeit gebrach. Zwar rieten ihr alle Leute, die Kinder doch dem städtischen Waisenhause zu übergeben, aber das wollte der Pflegemutter nicht in den Kopf. Dort, meinte sie, mangle gerade diesen völlig unerzogenen Kindern die nötige Pflege. An ihnen müsse ein besonderes Werk christlicher Liebe geschehen, und zwar jetzt gleich, da, was jetzt versäumt würde, nie mehr könnte gutgemacht werden.

»Aber die Kinder können wir nicht im Hause behalten!« sagte der alte Meister Schäfer alle Tage hundertmal. »Es ist nicht auszuhalten!« rief das alte Mütterchen dazwischen. Dann schaute das Edmundsdorchen so groß nach seiner Beschützerin auf, – das Kind fing an, sein Unglück zu fühlen – Lenchen war in großer Not und Bedrängnis. Für die Kinder hatte sie gut gesprochen und hätte gern Hunger für sie gelitten, – aber ihre alten Eltern sollten und mußten auch Ruhe haben. Pläne über Pläne durchkreuzten den armen Kopf Lenchens, das keinen Ausweg fand in solcher Trübsal.

Eines Sonntags klagte sie ihre Not einer gleichgesinnten Freundin. Alle Versuche, die Kinder bei Bürgersleuten unterzubringen, hatten sich als nutzlos erwiesen. »Versuche es einmal bei den guten Schwestern vom armen Kinde Jesus!« riet die Gefährtin. »Bisweilen nehmen diese auch arme Waisenkinder unentgeltlich auf, so habe ich wenigstens gehört.« Dem Lenchen ging ein Licht auf, ihr ganzes Gesicht verklärte sich über den köstlichen Fund. Sie glaubte nämlich schon am Ziele ihrer Wünsche zu stehen. Die Schwestern vom armen Kinde Jesus haben sich der Erziehung verwahrloster Kinder gewidmet, – ein Orden, der zu den schönsten Blüten des katholischen Lebens gehört, wenn Leute in ihrer todkalten Weltklugheit auch diese Blüte nicht zu schätzen wissen.

Spornstreichs war Lenchen noch an demselben Tage zum Kloster gelaufen. Daß sie auch auf den Gedanken nicht von selber gekommen! In dem Kloster war indessen auch große Not. Verwahrloste Kinder in Hülle und Fülle, aber kaum so viele Mittel, um Schwestern und Kinder notdürftig am Leben zu erhalten, und das in einer Stadt, worin Tausende in jeder Woche nutzlos in splendiden Festlichkeiten vergeudet werden. Dazu mangelte es an Raum. Lenchen bot alle ihre Beredsamkeit auf, für ihre Schützlinge noch ein Plätzchen in den geheiligten Räumen des Klosters zu erobern; aber es gelang ihr trotz ihren stürmischen Bitten nicht, Freistellen zu erhalten.

»Wir können keine Kinder mehr unentgeltlich aufnehmen, es mangelt am nötigsten,« sagte wiederholt die würdige Vorsteherin.

Lenchen war in der größten Beklemmung. Ja, hier in dieser Anstalt waren die Kinder am besten aufgehoben, das sah sie nun sonnenklar ein. Aber wie sie hineinbringen?

»Was muß denn für ein Kind bezahlt werden?« fragte die arme Näherin und sann und dachte auf viele Dinge, während sie mit ängstlicher Spannung der Antwort lauschte.

»Für jeden Monat vier Thaler mit Kost, Kleidung und Lehrmitteln,« lautete die Antwort. »Die Ordnung der Anstalt verlangt es so, und daran darf nichts geändert werden. Der guten Vorsteherin that es selber weh, dem armen Mädchen nicht nach Wunsch helfen zu können.

»Vier Thaler für jedes Kind monatlich!« sagte Lenchen halblaut vor sich hin und blickte dabei starr auf den Boden zu ihren Füßen. »Vier Thaler für jedes Kind monatlich!« wiederholte sie nach einer Pause. – Dann begann sie bei sich zu rechnen und zu zählen.

»Muß ich den ersten Monat vorausbezahlen?« fragte endlich die Näherin, indem sie das erglühende Gesicht aufhob, und die Vorsteherin mit einem ungewissen Blicke anschaute. »Werden Sie wohl mit der Zahlung Geduld haben, bis der erste Monat zu Ende ist?« An der Antwort schien ihre ganze Hoffnung zu hangen.

»Darauf wird es wohl nicht ankommen,« versetzte die würdige Frau, die mit Teilnahme dem inneren Kampfe der Bittstellerin zugesehen hatte. »Doch reden Sie mit dem Hausgeistlichen; ich zweifle nicht, daß man jede Rücksicht nehmen wird.«

Lenchen brachte noch an demselben Abend ihre Pflegekinder ins Kloster, wo sie wohl aufgehoben wurden und worin sie sich noch befinden. Bereits nach vierzehn Tagen bezahlte die Näherin das Pflegegeld für dieselben mit acht Thalern und ist bis heute nichts schuldig geblieben.

Wie ist das Lenchen aber an das Geld gekommen? Mit der Nadel hat sie es doch nicht herausgestochen? Keineswegs, da ihre Arbeit ja kaum hinreichte, die eigene Haushaltung aufrecht zu erhalten. Die praktische Antwort lautet folgendermaßen: Acht Thaler sind zweihundertvierzig Groschen. Diese verteilte Lenchen auf nicht weniger als zweihundertvierzig Personen, worunter sie selbst die erste war. Dann folgte eine ganze Reihe von Näherinnen und Dienstmädchen, die durch dazu bestellte Mädchen jeden Monat die gesammelten Groschen an Lenchen ablieferten. Deren waren bei hundert. Als dieser Kreis von Bekannten nicht ausreichte, mußte die Kundschaft und dann die Nachbarschaft, selbst bis in den »Weiher« hinein, die Zahl voll machen. Ich selbst war auf solche Weise in die Mitleidenschaft hineingezogen worden, fand aber bald, daß unsere ganze Familie den Waisengroschen ebenfalls an Lenchen bezahlte. Es verriet nicht geringe Klugheit, daß das brave Mädchen die Beiträge nicht höher angesetzt hatte. Einen Groschen monatlich zu geben, wird auch der Minderbemittelte nicht so leicht überdrüssig. Sonntags ging Lenchen in der Früh zur Kirche, dann begann sie ihren Sammelgang. Wie gesagt, nie haben ihr am Ende des Monats die acht Thaler gefehlt. Im Kloster brauchte man ihr nicht zu borgen. Wir haben schon daran gedacht, dem guten Mädchen die Waisensorge abzunehmen! aber ich weiß nicht, ich sehe das Lenchen gar zu gern betteln gehen. Ich meine immer, sie trüge den Leuten mehr Almosen ins Haus, als sie daraus fortnimmt, und um diesen Segen sollen die guten Leute nun einmal nicht gebracht werden.

Ich wollte die Geschichte schließen, als mir noch ein kleines Seitenstück zu dem vorigen von Nachbars Lenchen in die Hände gerät, das ich ebenfalls hier noch ausstellen muß. Es gehört ordentlich mit zu dem Gesagten.

In einer Geschäftsangelegenheit sprach ich vor einigen Tagen bei einer bekannten Familie ein, die ich seit langem nicht mehr gesehen hatte. Den Mann traf ich nicht zu Hause, und so plauderte ich eine Weile mit der Hausfrau über gleichgültige Dinge, den Hausherrn erwartend. Ich wußte, daß die Leute keine Kinder besaßen, und konnte mich deshalb einer Verwunderung nicht erwehren, als die Hausfrau mir im Laufe des Gespräches immer von ihrem Josephchen erzählte. Auf meine Frage, was es mit dem Kleinen für eine Bewandtnis habe, da, soviel ich wisse, doch kein Familienereignis sich seit meinem letzten Besuche zugetragen, begann die gute Frau zu lachen. »Ach so, der kleine Joseph ist ihnen ein Rätsel. Nun, da will ich ihnen gleich aus dem Traume helfen. Etwa drei Monate sind's her, da kommt einmal unsere Näherin, während sie fertige Arbeit abliefert, mit einer ganz eigenen Zumutung heraus. Weiß Gott, was das Mädchen immer mit den armen Leuten zu thun hat! Diesmal hat sie es mit einem kleinen Buben, dessen Vater gestorben und die Mutter ins Hospital gebracht worden, aus dem sie schwerlich mit dem Leben wieder herauskommen wird. Mit thränenden Augen hat sie mir die Verlassenheit des armen Kindes so eindringlich ans Herz gelegt, hat mir so viel aus dem Evangelium zu erzählen gewußt, und wie groß der Lohn sei, wenn man sich eines verlassenen Kindes annehme, daß ich von den Worten des Mädchens selbst zu Thränen gerührt wurde und schon den Entschluß faßte, das Bübchen ins Haus zu nehmen. Es war nicht das erste Mal, daß das Mädchen mir solche Zumutungen machte, dieses Mal aber hat es mich ganz überwunden. Mein Mann widerstand indes noch lange, aber das Lenchen hat ihm endlich doch das Herz so weich gemocht, daß er nachgab. Weiß Gott, wo das Mädchen an alle die Worte gekommen ist! So redselig wie damals hab' ich sie nie gehört noch gesehen. Auf ihren Armen hat sie das Waisenkind hierhergebracht, nachdem sie ihm noch bessere Kleider beschafft hatte; auch besuchte sie anfangs, das Kind mehrmal in der Woche, bis wir uns ans Kind und das Kind sich an uns gewöhnt hatte. Es ist ein wunderliches Mädchen, des Schäfers Lenchen! May kann ihm nicht bös werden, wenn es auch einen plagt. Jetzt danken wir Gott und dem guten Mädchen für die fromme Bescherung,« setzte die gerührte Hausfrau hinzu; »denn seit das Waisenkind im Hause ist, ist ein wunderbares Glück eingezogen in die Familie. Nicht als wenn wir an Geld und Gut reicher geworden, obschon auch das sich nicht gemindert, es ist vielmehr anderer Art. Man fühlt es mehr, als man es sagen kann. Lenchen hatte recht: Wer ein Kind aufnimmt, hat einen Engel ins Haus getragen.« Die Thränen waren der gutmütigen Bürgersfrau dabei gekommen und rannen ihr die Wangen herab.

»Selbst mein Mann meint nun selber,« fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, »der liebe Gott habe uns Kinder vorenthalten, damit wir an anderen Kindern desto mehr Gutes thun sollten. Endlich seien alle Gottes Kinder, und man könne den Himmel daran verdienen. So fromm habe ich meinen Mann lange nicht reden hören, als seit wir das Waisenfind im Hause haben. Sie sollten sehen, lieber Herr, wie er sich Mühe giebt, dem kleinen Joseph die Gebete und die Anfangsgründe des Katechismus beizubringen, und wie das Kind ihn und er das Kind immer lieber gewinnt. Es ist ganz beweglich anzusehen.«

Während die Frau unter lächelnden Thränen mir von ihrem Glück erzählte, trat die alte Magd mit dem glücklichen Waisenknaben an der Hand in die Stube. Das Josephchen sah ganz vergnügt drein und verzehrte eben ein Butterbrot mit jener frischen, gesunden Jugendlust, die sich die harmlose Freude durch keinen langen Kummer noch verderben kann. Man sah es dem dreijährigen Bübchen an, die Pflege seiner neuen Eltern that ihm wohl; voll und klar schaute es in die Welt. Mit mütterlicher Zärtlichkeit nahm ihn die Hausfrau auf den Arm. Der Kleine that, als wenn sich das alles von selbst verstände. Die christliche Liebe ist ja das gemeinsame Erbteil und Erbgut der Kinder Gottes – und bei ihr ist der Kleine ja daheim.

»Nun ist im Hause alles noch einmal so vergnügt,« sagte die alte Magd, als sie hörte, wovon die Rede war; »wir alle haben immer irgend etwas vermißt. Nun haben wir es gefunden. Das Lenchen ist doch ein vortreffliches Mädchen!«

Die Geschichte mit des Maurers Kindern kam auch noch zur Sprache und noch manches Ähnliche aus dem Leben einer Näherin, die wie ein Engel Gottes durch das Leben geht und in der Stille Großthaten der Liebe verrichtet.

Nach beendigtem Geschäfte ging ich fort und dachte über viele Dinge, die einem oft gepredigt werden, die man ober nie begreift, bis man sie in der lebendigen That vor Augen sieht.

*

Abends brennt noch immer die Lampe drüben im Dachstübchen bis tief in die Nacht. Noch immer sind die Vorhänge am Fenster blendend weiß und werden die Blumen mit ausgezeichneter Liebe gepflegt. Gar oft höre ich von dorther eine weibliche Singstimme so fromm und fröhlich, als ob eine Lerche in dem Herzen der Sängerin aufjuble, und ein Glück klingt aus diesen wunderbaren Tönen, daß es mir immer das Herz in seiner Tiefe aufrührt. Ich meine dann immer, Nachbars Lenchen habe mich viel frömmer gemacht, weil es mir Anleitung zu christlicher Thätigkeit und zur Demut gegeben.

Gott segne dich, gutes Kind, tausendfältig dafür!

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