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Das Lindenkreuz

I. Der neue Nachbar

Hm! es beißt ordentlich, Veronika, daß einem die Ohren blau werden und die Nase zufrieren, möcht'; selbst die Sterne am Himmel zittern vor lauter Frost, daß man kaum mehr Lust hat, hinaufzuschauen; ich sage dir, der Atem bleibt gefroren vor dem Munde stehen. – Mit diesen scherzhaften Worten trappelte, die kalten Hände ineinander klopfend, der Kleinbauer Ferdinand Schall durch die Küche seines sauberen, aber bescheidenen Wohnhauses und hielt dann plötzlich seiner teuren Ehehälfte, der geschäftigen Veronika, die eiskalten Hände an die Wangen, daß diese laut aufschrie und den allzu zärtlichen Ehegatten nicht schnell genug von sich abwehren konnte. »Warum bleibst du nicht hinter dem warmen Ofen, wenn's dir draußen zu kalt ist?« warf die Hausfrau hin, während sie in gewohnter Geschäftigkeit in der Küche herumwirtschaftete. – »Hinter dem Ofen, sagst du? Wenn das arme Vieh nicht wäre, das mir einmal keine unnötige Kälte leiden soll! Siehe, Veronika,« und der Bauer rieb vergnügt die Hände dabei, »ich meine es dem lieben Vieh anzusehen, wie es ihm wohl thut, wenn man es gut verpflegt. Ich sage dir, das Vieh ist dankbar für alle Sorge. Auch kein Ritzchen in den Ställen ist unverstopft geblieben, und tüchtig hab' ich die Thür mit Stroh zugesetzt, damit es das Vieh warm hat in so hartem Winter.« Der Ferdinand trappelte noch immer in der Küche herum, klopfte die Hände ineinander und schaute dabei bald in diesen Topf und bald in jene Ecke.

»Thut die Magd denn ihre Pflicht nicht bei dem Vieh, daß du dich so sehr drum kümmern mußt?« warf die Hausfrau hin; »und der Bastian, denke ich, sorgt doch auch ordentlich für seine Pferde? Der litt' ja lieber selber Hunger, als daß er seinem Braunen etwas abgehen ließe.«

»Aber selbst zusehen und mitarbeiten ist besser,« fiel der Mann ein, »und die Freude, wenn man für alles so wohl gesorgt hat! Was unter meinem Kommando steht, soll einmal keine Not leiden durch meine Schuld, auch das Vieh nicht, das mich näher angeht, als es das Gesinde angehen kann.« Der Bauer ergötzte sich sichtbar an seinem Viehstande, und eine wirkliche Barmherzigkeit mit den Tieren leuchtete ihm über dem Reden aus den Augen.

»Nun, geh' in die Stube, Ferdinand, du stehst mir ja überall im Wege,« drängte die Hausfrau, die mit ihrem Küchengeräte bald von der einen Seite, bald von der anderen an dem Manne herumstieß, nicht bloß, um ihn zu vexieren. »Männer dürfen nicht in jeden Topf gucken, und müssen die Nase nicht in alle Frauenarbeit stecken, sonst werden sie ausgekehrt;« dabei ergriff sie, wie unversehens den Besen. »Na, ich gehe, Veronika,« und der Bauer sprang auf die Seite; »aber, nicht wahr, du vergissest doch den alten Hannes nicht, daß er beizeiten seine Sache kriegt?« und er trat schon wieder näher, »und die Witwe Brand mit ihren kleinen Kinderchen hinten im Feldgäßchen haben's auch kalt, noch kälter als wir, und bedürfen was Warmes. Sieh', Veronika, das heilige Christfest kommt heran, und da denke ich immer an die heilige Mutter Gottes, wie sie mit dem heiligen Joseph nach Bethlehem gegangen, in Armut und Elend. Wer denen hätte helfen können! Dafür haben wir denn die Armen um uns, damit wir an ihnen christlich handeln. Die Menschen sind doch noch viel mehr wert, als das Vieh, und gehen uns auch noch mehr an.«

»Mehr Sorge als nötig,« versetzte die Hausfrau kurz, setzte aber den Besen still wieder in die Ecke. »Das Abendbrot für den alten Hannes ist gleich fertig, und kann's der Bastian hinüberbringen. Auch an die Brands habe ich schon gedacht. Wenn die Magd mit ihrer Arbeit fertig ist, soll sie hingehen.«

»Trinchen!« rief ohne weiteres der Bauer zur Stube hinein, »lege deine Arbeit beiseite, du mußt nach Brands gehen! Und du, Wilhelm!« – der stämmige zwölfjährige Junge kam eben mit dem Knechte aus dem Hofe – »trägst da das Körbchen zu dem alten Hannes.« Der Junge rieb sich die hochroten Hände, zog dann die Mütze tiefer über die Ohren und schickte sich ohne Widerrede zum Gehorchen an. Man sah es ihm an, es machte ihm nicht 'mal Mühe, denn er war ans Gehorchen, wie ans Essen und Trinken gewöhnt. Auch Trinchen, ein pauspackiges, kerngesundes Mädchen, um ein Jahr jünger als der Wilhelm, kam sofort herbei und hatte ihr Kopftuch bereits in der Hand. »Aber es ist doch für die Kinder zu kalt,« bat die Frau, »dazu ist's ja schon dunkler Abend!« – »Ei was, kalt!« rief der Hausvater, »die haben sich beide heute noch aus lauter Mutwillen im Schnee gewälzt und werden auch auf diesem Gange nicht erfrieren. Von innen und außen sind sie wohl versorgt, und der Wolf wird sie nicht fressen, denn er ist schon längst tot.« Damit untersuchte der Bauer das für den alten Hannes bestimmte Körbchen, das bereits fertig auf dem Anrichttische stand, schob noch ein Päckchen Tabak zu der Abendsuppe, gab's seinem Wilhelm in die Hand und hieß ihn warten, bis Trinchen auch sein Körbchen für die Witwe Brand hätte. Da die Wege eine Strecke zusammengingen, solle eines das andere begleiten und der kräftige Junge überdies sein Schwesterchen beschützen. Bevor die Kinder mit den Körbchen abgingen, hüllte die Mutter ihr Töchterchen noch in ein dickes wollenes Tuch, damit der schneidende Frost ihm nicht schade. Ihr Mann lachte sie aus. »Je dichter verhüllt, um so weniger können die Kinder sich bewegen,« sagte er, und knüpfte das Tuch loser; »da, nun lauft in Gottes Namen miteinander und richtet unseren christlichen Gruß aus!« Hand in Hand gingen die Kinder aus dem Hause, jedes mit seiner besonderen Last beladen. Draußen war es wirklich schneidend kalt, daß der gefrorene Schnee unter den Fußtritten knirschte, und dabei so still, daß man den Schritt des Wanderers wohl in doppelter Entfernung wie sonst vernahm.

»Baas, Baas ist durchweg die niederdeutsche Benennung des Hausherrn den Dienstboten gegenüber. ich gehe doch den Kindern nach,« bemerkte der Bastian, Ferdinands treuer Knecht, »wer weiß, es könnte ihnen etwas zustoßen zwischen den einsamen Hecken!« Er hatte schon die Thür in der Hand und ging, ohne eine Antwort abzuwarten. Der Bauer ließ es schweigend geschehen, obschon es mit möglichem Unglücke, wie er dachte, gute Wege hatte. Aber die Anhänglichkeit des Bastian an die Kinder freute ihn: freut es doch immer die Eltern, wenn man ihre Kinder lieb hat, und thun's Dienstboten in rechter Weise, ist's doppelt viel wert.

»Aber es ist doch gar so kalt für die Kinder,« fing die Frau wieder an, als eben der Knecht hinausgegangen war; »der Bastian geht nun doch, und die Liese hätt's auch wohl ausrichten können. Das Vieh versorgst du zärtlicher als die Kinder.« – »Haha!« lachte Ferdinand, »was du wieder sagst; das Vieh hat keinen Nutzen von der Kälte, sondern Schaden, nur Schaden; den Kindern aber schadet die Kälte nicht nur nicht, sondern denen ist der kalte Gang sogar heilsam. Die Kinder, Veronika, müssen nämlich früh lernen, auch mit einiger Beschwer und Anstrengung barmherzig sein, müssen recht oft die Bitterste Armut und das Elend mit eigenen Augen sehen, und mit eigenen Ohren den Dank für empfangene Wohlthaten hören, sonst lernen sie's lebenslang nicht recht. Die Jugend muß nicht allein dazu angewöhnt werden, Freuden zu empfangen und zu genießen, sondern auch und gerade so gut anderen Freude zu machen, eine wahre, christliche Freude; sonst denken sie endlich nur an sich selbst, und 's Christentum wächst nicht hinein. Und daß ich dir's sag', Veronika, den armen Leuten da thut's noch 'mal so gut, wenn die Kinder selbst durch diese Kälte kommen und die Gaben bringen.«

Die Frau war eben am Kochherde beschäftigt und hörte nur zu. Recht hatte der Mann, durchaus recht; daß sie so völlig schwieg, war der klarste Beweis dafür; ja eigentlich hätte sie ihm um den Hals fallen mögen, so recht hatte der Mann, aber sagen mochte sie's nicht, und noch weniger ihre Gefühle verraten. Veronika hatte eben auch erst spät gelernt, wohlthätig zu sein mit Verstand, und zwar von ihrem braven Ehemanne, und mußte deshalb bisweilen noch daran erinnert werden. Quollen die mitleidigen Gefühle aber einmal in ihr auf, war das Herz auf seine richtige Fährte gekommen – bisweilen ging's nicht gerade schnell, aber es ging doch – dann war Frau Veronika eine herzensgute Frau, die das Gute sogar mit einer eigenen Energie that. Sie konnte sogar, war sie einmal in der Freude drin, die das Gutesthun ins Herz gießt, des Guten zu viel thun. Nur dauerte diese Glückseligkeit anfangs nicht länger, als die mitleidigen Gefühle aufgeregt waren. Schwiegen diese wieder, dann bedurfte es stets eines neuen Anstoßes oder der Ermunterung von seiten des Mannes, oder gar seines durchgreifenden Beispiels, um sie williger zur Barmherzigkeit zu machen. So armselig ist die menschliche Natur, wenn sie nicht frühzeitig in den Dienst des Guten gezwungen worden ist.

Eben wollte Ferdinand in die Stube gehen, als er den Hofhund laut anschlagen hörte. In die Thür trat er also, um nach der Ursache zu forschen. Nicht weit von seinem Gehöfte, das am äußersten Ende zerstreuter Häuser lag, die sich dahin und dorthin mit ihren Stallungen und Gärten ins Feld hinein verlaufen, hörte er einen Reiter daher traben, der zwischen den sich überall durchschneidenden Feldwegen den richtigen Weg mochte verloren haben. Der sich nähernde Ton des Hufschlags deutete an, daß der Reiter auf Schalls Haus zu halte, das allerdings ziemlich über die anderen Häuser der Nachbarschaft hinwegragte. Schall spitzte die Ohren und ging schon nach dem Hofthürchen, um zu sehen, wer das sein könne und ob er nicht mit gutem Rat dabei sein dürfte. Neben dem Reiter sprang ein gewaltiger Hund daher, vor dem sich Schalls Kinder, die eben auch des Weges gingen, nicht wenig erschreckten. Trinchen schrie sogar laut auf. Der Bastian aber war nicht weit und lief nun den Kindern zu Hilfe, die sich aus Furcht vor dem knurrenden, schnobernden Hunde in die nächste Hecke geflüchtet hatten. Ein scharfer Pfiff des Reiters rief den Hund zurück. Der Reiter selbst aber hielt bei dem Knechte an und fragte nach dem Hause Schalls, das bereits gerade vor ihm lag. An dem Hofthürchen stand Schall und stellte sich dem fremden Manne sofort als den Hausherrn vor, zu freundlichen Diensten bereit. Der Fremde entschuldigte seine Zudringlichkeit, mit der er ihn um eine Nachtherberge ansprechen müsse, da im ganzen Pfarrdorfe sich nicht 'mal ein Wirtshaus befinde, wo er anständiges Unterkommen mit seinem Pferde zu finden wisse. Und weiterreiten in dieser Kälte könne er doch auch nicht. »O, macht nur nicht so viele Umstände, lieber Herr,« antwortete Schall, und schon hielt er die Zügel des Pferdes. »Steigt nur ab! Bei mir ist immer noch Platz genug für einen Reisenden.«

Der Fremde stieg ab, Schall bat ihn, nur sofort in sein Haus einzutreten. Bis der Knecht zurückkomme, wolle er schon für das arme Tier sorgen. Frau Veronika war nicht wenig erstaunt, als plötzlich der Fremde ins Haus trat und mit wohlgesetzter Rede sich über sein unerwartetes Erscheinen entschuldigte. Ohne Verzug geleitete sie den Fremden in die warme Wohnstube, und bat ihn, bis der Mann hereinkomme, sich beim Ofen niederzulassen. Viele Worte machte Frau Veronika nicht, dafür war ihr die ganze Erscheinung des Fremden eben zu fremd, seine Manieren zu abweichend von den ihrigen; auch mochte sie wenig erbaut sein von dem seltsamen Besuch, dessen Zweck sie nicht kannte und der jedenfalls eine Störung in ihr häusliches Leben brachte. In der Küche angekommen, fing die Sorge sie schon zu quälen an, womit sie denn diesen Abend dem Fremden noch aufwarten könne, und ob sie auch mit ihrer Kocherei Ehre einlege.

»Sie sehen hier Ihren neuen Nachbar,« hob der Fremde an, als Ferdinand zu ihm in die Stube trat, selbst neugierig, was den Fremden wohl zu ihm möge geführt haben, »und habe ich gedacht, da wir doch nun einmal so nahe bei einander wohnen sollen, so wäre es am besten, daß ich mich beizeiten mit Ihnen bekannt mache. Ich bin herübergekommen, um das Gut einzusehen und das Nötige für den Einzug im nächsten Frühjahre an Ort und Stelle zu überlegen. Sie werden wohl, Herr Schall, die Güte haben, mir in einigen Dingen zur Hand zu gehen, da Sie gewiß mit dem Stande des Gutes und den Üblichkeiten hier zu Lande bekannt sind.«

»Ah, Ihr seid der neue Pächter vom Clamshofe!« rief Schall aus. »Grüß' Euch Gott, lieber Herr!« und schon reichte er ihm die Hand, während er den neuen Nachbar wie im Nu von Kopf bis zu Fuß betrachtete und ihn auch dann noch nicht einen Augenblick aus den Augen verlor, als sich der Fremde seiner Pelzkappe, des Mantels und sonstiger Umhüllung entledigte und auf Schalls Geheiß sich hinter dem Ofen niederließ. Die Magd brachte unterdessen die abgelegten Kleider ins Fremdenstübchen, und die beiden zukünftigen Nachbarn stopften sich ihre Pfeifen. Ohne im mindesten dem Fremden zu verraten, was er eigentlich thue, knüpfte Schall ein gleichgültiges Gespräch an, während er mit einer seltenen Ruhe und Geschicklichkeit sich seinen Gast studierte. Der kluge Blick des Bauers haftete bald auf der etwas vornehmen, modernen Kleidung des neuen Pächters, der nicht wie ein Bauer aussah, bald studierte er in dessen Gesichtszügen herum, deren Schrift ihm völlig neu war. Man glaubt kaum, was so ein herzgesunder Bauer für scharfe Fühlhörner des Geistes hat, und wie der sich mit praktischem Geschick seine Leute besieht, wenn sie irgendwie ihm etwas nahe auf den Leib rücken. Diese hohe, ungleiche Stirn, deren Haut sich über die Knochen straff und dünn anspannte, auf dem Haupte dünnes, nach hinten geworfenes Haar, eingesunkene Schläfe; diese gerade, etwas spitz zulaufende Nase, die grauen, von einem eigentümlich hellen, aber kalten Glanze belebten, oft starr vor sich hin blickenden, meist unruhig irrenden Augen; der schmale, gekniffene Mund, um den bisweilen ein heimliches Wetterleuchten zuckte, besonders wenn der Mann sich anstrengte, freundlich zu sein, und der bei jeder Wendung des Gesprächs andere Formen anzunehmen schien; das hagere Gesicht mit hervorspringenden Backenknochen, die Ohren etwas vom Kopfe abstehend, als lauschten sie stets auf das geringste Geräusch; hinter den Ohren starke Erhöhungen, dann der gereckte steife Hals, der den unruhigen Kopf immer nach hinten zu schnellen schien, kräftige, zurückgeworfene Schultern, der Mann mager und knochig, als ob er aus Haut, Sehnen und Knochen bestehe, – alles dieses paßte zusammen und war doch seltsam, so daß der Ferdinand innerlich darüber fast erschrak. Unheimlich lief ihm etwas durch die Seele, und doch konnte er gleich nicht sagen, warum. Die Bauersleute in seiner Umgebung und Bekanntschaft waren meist in derber Fraktur geschrieben, sowohl in ihren guten als bösen Eigenschaften; hier aber stand eine krumm und quer gezogene Geheimschrift vor seinen Augen, die ihn manches ahnen und fürchten ließ, was er in landläufiges Deutsch noch nicht zu übersetzen vermochte. Als darüber Frau Veronika in die Stube trat, stellte der Hausvater seinen Gast zwar als den neuen Nachbar vom Clamshofe vor, that das aber mit so kurzen, fast zurückhaltenden Worten, daß die Hausfrau sich heimlich nicht genug verwundern konnte. Ihr Mann ging sonst mit allen Leuten, auch wenn sie fremd waren, viel herzlicher um. Da waren denn auch wieder der Worte Veronikas nicht viele, nur daß sie dem neuen Nachbar die Hand reichte und sich entschuldigte, daß sie auf keinen solchen Besuch vorbereitet sei und deshalb mit ihrer einfachen Bewirtung um Rücksicht bitte. »Wir Bauersleute leben hier so einfach und genügsam,« setzte sie hinzu, »und sehen so selten vornehme Leute bei uns, daß Ihr nichts Kostbares bei uns suchen dürft.«

»Bitte sehr, bitte sehr, Frau Schall!« fiel ihr der Fremde lebhaft in die Rede, »ich bleibe nur unter der Bedingung im Hause, daß alles in seinem gewöhnlichen Gange bleibt, in der Küche wie in der Wohnstube. Ich darf und will nirgendwie im Wege stehen.«

»Ja, das denke ich auch, ist das beste,« setzte der Hausherr hinzu; »wir bleiben ganz in unserer Gewohnheit, und wird's unserem Nachbar so wohl am liebsten sein; dann sieht er auch zugleich, wie man hier zu leben gewohnt ist.«

»Gewiß, gewiß! So ist's recht!« fiel der Fremde ein, »und nur ja keine Umstände gemacht, Frau Schall!« Damit rückte er mit seinem Stuhl etwas beiseite, so daß sein Blick in die dunkle Ecke hinter den Ofen fallen mußte.

Bei den letzten Worten waren die Kinder in die Stube getreten und blieben, als sie des Fremden ansichtig wurden, zu dessen Füßen sich der gewaltige Hund niedergelassen, der sie so erschreckt hatte, scheu und ängstlich an der Thür stehen. »So, das sind Ihre Kinder, Herr Schall,« fragte der Fremde, »die mir eben zwischen den Hecken begegnet sind? Mein Türk hat sie erschreckt, hat aber nichts zu sagen. Die Bestie ist nicht so gefährlich, als sie aussieht!« Und er trat dem Hunde mit dem bespornten Stiefelabsatze auf das Fell, daß das arme Tier sich krümmte und winselte vor Schmerz. Über Ferdinands Gesicht zog ein kaum verhaltener Unmut.

»Nun, alles wohl ausgerichtet, Wilhelm?« fragte der Hausvater und winkte mit der Hand den Kindern, näher zu treten. »Ja, Vater,« berichtete der Junge, »der alte Hannes läßt Euch tausendmal grüßen und die Mutter auch, und ins Gebet wolle er uns einschließen lebenslang.« – »Und die Frau Brand,« fuhr Trinchen fort, »läßt auch grüßen und hat geweint, wie sie in den Korb sah. Ihr hättet sehen sollen, Vater, wie die armen Brandskinder um uns herumgesprungen sind vor Freuden! Das Josephinchen wollte mir sogar seine Puppe schenken; ich hab' sie aber nicht angenommen. Nicht wahr, Vater! die Brands sind auch sehr arm?« – »Viel ärmer als du, Trinchen,« antwortete der gerührte Hausvater. »Du hast auch noch einen Vater, die armen Brandskinder haben auf dieser Welt keinen mehr.« Trinchen schmiegte sich schüchtern, den Fremden anblickend, an den ihrigen und hätte fast Lust gehabt, ihn zu umhalsen. »Seht, Kinder! dafür, daß ihr noch eueren Vater habt, müßt ihr Gott danken,« fuhr Ferdinand fort, »und den armen Brandskindern viel Gutes thun.« Trinchen steckte ihre kalten Hände in die Hände ihres Vaters und sah still vor sich nieder. Der Wilhelm aber lief zur Thür hinaus, um dem Bastian zu helfen, des Fremden Pferd zu versorgen.

Der neue Nachbar schaute schweigend dem Auftritte zu, und über sein bleiches Gesicht flog etwas wie Wetterleuchten. Unruhig rückte er auf seinem Stuhle herum und schaute dann wieder starr in die dunkle Ecke.

»Nun, geh' Trinchen!« gebot der Hausvater, »und bitte die Mutter, mit der Magd zum Abendgebet zu kommen, wenn das Abendessen fertig ist. Der Bastian wird gleich da sein, und schon wird's Zeit.« Trinchen ging. Der Fremde bewegte sich wieder unruhig auf seinem Stuhle und schob den Hund unsanft unter seinen Füßen weg, der sich knurrend hinter den Ofen legte. »Wir sind in der Winterszeit gewohnt, das Abendgebet gemeinschaftlich zu halten,« berichtete Schall, der that, als ob er die Unruhe des Fremden nicht bemerkt hätte, »und wird das hier noch allgemein so gehalten, wie es sich für ordentliche Christenleute schickt.« Der Fremde antwortete nichts darauf, doch zog eine Wolke über sein Gesicht, die Schall nicht verborgen blieb. Endlich gähnte der neue Nachbar auf und meinte, er habe ja gebeten, alles beim alten zu lassen und müsse er ja auch wissen, was in der Gegend Brauch sei.

Wenige Minuten darauf traten sämtliche Familienglieder, Frau, Kinder, Knecht und Magd in die Stube. Der Hausvater nahm den großen Rosenkranz von dem hölzernen Kruzifix an der Wand, kniete vor dem letzteren nieder, die Familie im Kreise um ihn herum, und nun betete Ferdinand vor, ruhig und andächtig, und es antwortete die Familie mit eben so ruhiger, einfältiger Andacht, wie sie es immer gewohnt gewesen. Nachdem der freudenreiche Rosenkranz gebetet war, ergriff der Hausvater den alten »Palmgarten« und betete die Litanei zur allerseligsten Jungfrau, dann noch für verschiedene Anliegen zu verschiedenen Patronen einzelne Vaterunser, endlich für geistliche und weltliche Obrigkeiten, für Verstockte und Unbußfertige, für Lebende und Abgestorbene, alles nach der Ordnung, wie es in Schalls Hause seit der Väter Zeiten Sitte und Brauch gewesen. Nachdem das Abendgebet gesprochen war, stand die ganze Familie auf, und der Wilhelm erhielt nun vom Vater das alte »Leben Christi von Pater Martin von Cochem«, damit er aus demselben das Kapitel, welches sich gerade für die Festzeit schickte, vorlese. Das that der Junge auch, und zwar mit einem Gefühle, das man dem stämmigen Buben nicht hätte zutrauen sollen. Darin aber hatte der wackere Vater ihn von Kindesbeinen an unterrichtet.

Während der ganzen Zeit hatte sich um den Fremden niemand bekümmert, nur hatte während der Vorlesung sich der Hausvater so gesetzt, daß er den sonderbaren Nachbar im Auge behalten konnte. Dieser hatte sich beim Beginne des Abendgebetes mit dem Stuhl an die Wand gerückt, an die er seinen Kopf anlehnte, als ob er schlummere, die Hände aber auf den übergeschlagenen Knieen zusammengelegt. Was während des Betens in ihm vorging, konnte keiner bemerken, weil keiner auf ihn achtete; nur als das Gebet für gewisse Bresthafte hergesagt wurde, glaubte Schall einen unterdrückten Seufzer zu hören, und als der Junge aus Martin von Cochem las, wie die seligste Jungfrau mit Joseph in ihrer Armut und Herzenseinfalt gen Bethlehem gereist, da sah Schall um den Mund des Fremden ein Zucken, er wußte nicht, sollt's Rührung oder Spott bedeuten. Geredet wurde auch nachher kein Wort über die ganze Andacht.

Unterdessen wurde das einfache Abendessen aufgetragen, und wie die ganze Familie eben zusammen vor unserem Herrgott gesessen, so saß sie auch wieder beisammen am Familientische, und kaum ward ein Unterschied sichtbar zwischen Kindern und Gesinde. Es blieb auch hier richtig alles beim alten, außer daß die Hausfrau zuletzt noch einen Kuchen brachte, damit ihr Mann den mit dem Fremden teile, und einen frischen Krug Bier hinsetzte, damit die beiden auch nachher noch einen Trunk bei der Hand hätten. Gebetet wurde vor und nach Tisch laut im Chor, und der Fremde that auch ungefähr wie ein Christ, obschon alles so hölzern abging, daß selbst der Wilhelm es bemerkte. Nach Tisch gingen die Kinder zu Bette, die Dienstboten setzten sich mit der Hausfrau um das Herdfeuer in der Küche und die beiden neuen Nachbarn blieben in der Stube allein. Die in der Küche waren froh, daß sie aus der Nähe des unheimlichen Gastes waren; Schall hätte auch lieber bei ihnen gesessen und geplaudert, aber der Fremde hielt ihn fest. Frische Pfeifen wurden gestopft, aber den Bierkrug rührte der Fremde nicht an.

Bis tief in die Nacht saßen die beiden in der Stube und redeten vom Clamshofe, dessen ganze Geschichte der Ferdinand wohl wußte, von den verschiedenen Äckern, Waldpartien und Wiesen, die dazu gehörten, und tausenderlei hatte der Fremde zu fragen, über dieses und jenes. Nur von sich selbst und woher er komme, wie er heiße, welcher Familie er angehöre, darüber sprach er kein einziges Wort. Auch schien es, als ob er den Schlaf nicht finden könne; denn als es endlich gegen Mitternacht ging, alles im Hause schon im tiefsten Schlafe lag, und der Ferdinand nun doch aufstand, um der Sitzung ein Ende zu machen, war der Fremde völlig so wach, wie bei seinem Eintritt ins Haus. Als Ferdinand ihn nun endlich auf seine Stube gebracht und »gute Nacht« gesagt, hörte er ihn noch eine gute Weile durch das kalte Zimmer schreiten; endlich ward's still. Mit einiger Unruhe legte sich der Hausherr auch zu Bette. Der neue Nachbar machte ihm Angst und Sorgen, und genug hatte er zu thun, tausenderlei argwöhnische Gedanken abzuwehren. Es war ihm in der That, als ob etwas Böses im Hause sei, was er nicht abwehren könne. Mit einem kräftigen Vaterunser für den fremden Mann legte sich Schall aufs Ohr und schlief ein. Gott werde ihn kennen und sein Haus beschützen. Aber auch in der Nacht gingen gute Geister in Schalls Hause aus und ein.

Am anderen Morgen – das gemeinschaftliche Morgengebet war schon gehalten – frühstückten die beiden Nachbarn zusammen und ritten dann, nach Absprache des vorigen Abends, nach dem Clamshofe, nach seinen Ländereien und Wiesen, um die Gebäulichkeiten und Grundstücke zu besehen. Der neue Pächter zeigte Verstand und Geschäftskenntnisse, auch merkte er sich alles, was Schall ihm angab. Um die Mittagszeit waren sie mit der Besichtigung schon fertig: aber bei Schall essen wollte der Fremde nicht, wie sehr auch jener in ihn drang. Mit herzlichem Dank für Bewirtung und Freundschaftsdienst verabschiedete sich der Pächter von Schall, schwang sich auf seinen Apfelschimmel, pfiff seinen Hund herbei und ritt dann in scharfem Trabe von dannen. Schall kehrte still und trüb heim, und selbst seiner Frau sagte er nicht, was er alles dachte. Auch duldete er nicht einmal, daß die Seinigen von dem neuen Nachbar viel sprachen. »Zum Richten sind wir nicht da,« sagte er kurz, »sondern zum Beten und Arbeiten.«

 

II. Der Clamshof und sein Pächter

Das Pfarrdorf Birkheim liegt ziemlich weit ab von der großen Heerstraße, hinten an der Eifel irgend herum, wohin sich müßige Leute nicht leicht verlaufen, und begreift, außer einer kleinen Häusergruppe um die Kirche, eine Menge kleiner Gehöfte und zerstreuter Häuser, die zwischen Streifen von Wald und Feld, Heidestrecken und Wiesengründen umherliegen. Schlichte, gerade, meist fromme Bauersleute wohnen da noch in ihrer glücklichen Abgeschiedenheit von der Welt, nicht reich, aber doch wohlhabend genug, um untereinander keine bittere Armut aufkommen zu lassen. Die Leute kennen sich auch dort alle von der Väter Zeiten her, und den Stammbaum von jeder Familie wissen alle bis ins dritte, vierte Glied rückwärts, was die Leute eigentümlich aneinander kettet. Man ist dort noch vielfach gewohnt, miteinander umzugehen, als gehöre man einer gemeinsamen Familie an, und wie es den Leuten ums Herz ist, so reden sie frisch und frank heraus, ohne daß sich einer darüber zu ärgern braucht, – würde ihm auch wenig nützen. Natürlich, die Birkheimer taugen in der eigentlichen Welt nicht viel und haben, auch wenn sie die Nase einmal herausstecken – etwa in den nächsten Marktflecken, der drei Meilen entfernt liegt –, sich immer wieder gern nach Birkheim begeben, wo die Birkheimer daheim sind, alle miteinander. Am östlichen Ende des Dorfes, eine ziemliche Strecke ins Feld hinein, da, wo Wald und Heide in nächster Nähe beginnen, wohnt unser Bauer Ferdinand Schall auf seinem kleinen, aber einträglichen und wohlgepflegten Erbe, angesehen und geachtet, wie keiner in der ganzen Gemeinde, wegen seiner Rechtschaffenheit, seines heiteren Sinnes und besonders wegen seiner Wohlthätigkeit, mit der er zwar nicht prahlt, die er aber auch nicht versteckt. Ein paar Büchsenschüsse südwärts von Schall beginnen schon die Wiesengründe des alten Clamshofes, dessen Zugehörigkeiten sich weitschichtig in die nächsten Wald- und Feldstücke verlaufen.

Mit dem Clamshofe aber war es seit einer Reihe von Jahren eine ganz besondere Geschichte.

Vor der französischen Revolution gehörte der Clamshof, und zwar seit undenklichen Zeiten, an die Abtei St. und war in Erbpacht vergeben gewesen an die Familie Wandelstein, die immer ganz gemächlich drin gesessen in dem Clamshofe, denn die Abteiherren waren gütige Pachtherren und ließen gern leben, was sie einmal unter ihre Flügel genommen. Leider mit dem Schicksale der Abtei St. in jenen stürmischen Zeiten der Revolution, die, wie bekannt, auch über unser Vaterland sich ergoß und mit ihrem höllischen Schlamme alles besudelte, was sie nur berührte, und herniederzog, was sie nur erreichen konnte, Heiliges wie Gemeines, geriet auch die Wandelsteinsche Familie in die Lage, den als Staatsgut erklärten Clamshof von den republikanischen Blutsaugern zu kaufen, oder zu dulden, daß ein anderer Käufer sie gleichsam aus ihrem langbesessenen Eigentums vertrieb. Nun war der letzte Wandelstein auf dem Hofe ein alter, gottesfürchtiger Mann, dem die Aufhebung der Klöster und die Plünderung ihres Eigentums ein wahrer Greuel war, weshalb er lieber von Haus und Hof fortzog, als sich mit »Unrecht« in seinem Besitze zu behaupten. Also ersteigerte sich ein weniger gewissenhafter Bürger der Republik den Clamshof für ein wahres Spottgeld, und dauerte es also nicht lange, als ein anderes Regiment dort zu wirtschaften anfing und richtig die alte Welt förmlich umkehrte. Der neue Eigentümer war fremd, ein erklärter Anhänger der Revolution, natürlich ein grundschlechter Christ, was nicht zu verwundern braucht, und verstand endlich von der Ackerwirtschaft noch weniger, als von der Politik, obschon er den ganzen Tag davon zu reden wußte. Das erste, was er that, nach seinem Einzuge in dem Clamshof, war, daß er das schöne, steinerne Ordenswappen der Abteiherren, das über dem Hofthor angebracht war, herunterschlagen ließ, weil es ihn und andere Leute unnötig an die gute alte Zeit erinnerte, daß er das alte, herrliche Kruzifix, das in der Nähe des Hofes unter drei prächtigen Lindenbäumen stand, und bei dem am Fronleichnamstage der Segen gegeben wurde, das auch sonst zu vieler Andacht Gelegenheit bot, in der Nacht umwarf, die Trümmer mehrere Wochen liegen ließ, dann fortschleppte und die Lindenbäume auch beseitigte, damit die Gelegenheit abgeschnitten bliebe, dort an unseren Herrgott zu denken. Daß der revolutionstolle Patron sich dadurch unter den braven Landleuten von vornherein keine Freunde erwarb, ist leicht zu denken, und daß der Himmel sehr gnädig auf ihn herabgesehen, blieb auch mehr als zweifelhaft. Kurz und gut, auf dem Clamshofe begann schon von vornherein ein gottloses Leben, das bald in Verschwendung, Lug und Trug ausartete, woran die Dienstboten fleißig teilnahmen, und es dauerte kaum sechs Jahre, als der saubere Musjö vom Clamshofe bei Nacht und Nebel schuld- und schuldenbeladen durchbrannte, Haus und Hof, Weib und Kinder anderen Leuten überließ, eine Weile sich elendig herumtrieb und sich endlich im Villerwalde an einem Baume aufhängte. Dort fanden arme Weiber, die Reisig sammelten, seinen Leichnam, und die Kunde von seinem entsetzlichen Ende gab damals in Birkheim zu wenig erbaulichen Reden Anlaß.

Darauf blieb der Clamshof über zwei Jahre öde und verlassen liegen, da in den damaligen unruhigen Kriegszeiten niemand das völlig verwahrloste Gut übernehmen mochte. Dazu sollte es in dem großen Wohnhause, an dem Thüren und Fenster wackelten, gar nicht geheuer sein; man wollte sogar auf dem Lindenhügel, wo das Kreuz gestanden, einen Feuermann gesehen haben, und wirklich wurde eine Bande fremden Gesindels am hellen Tage in dem vereinsamten Gehöfte von der Gendarmerie aufgehoben und abgeführt. Die sämtlichen Bewohner Birkheims sahen den Clamshof wie eine verfluchte Stätte an, mieden seine Nähe, wo sie konnten, und nur die Buben wagten es zuweilen, mit wohlgezielten Steinwürfen die allbereits zerbrochenen Fensterscheiben zu bombardieren. Auch das Obst, das zufällig in dem Garten reifte, schien von dem Bannfluche ausgenommen zu sein, wenigstens für die jungen Burschen, die sich zu Haufen darüber hermachten. Danach brachte mit großer Mühe der Eigentümer, ein reicher Mann, der aber in einer fernen Stadt wohnte, wieder einen Pächter auf den Clamshof, einen jungen Waghals, der schon allerlei Versuche gemacht hatte, mit ziemlichem Gelde erkleckliche dumme Streiche zu machen. Der war immer am »Verbessern«, machte aber nie etwas recht. Auch ihm wollte auf dem Clamshofe kein Weizen blühen, und binnen drei Jahren war auch er abgehaust. Dann kam ein anderer Pächter, der viel Arbeit aufwandte, den alten Schaden an Haus und Hof zu reparieren; aber, weiß der Himmel, wie es zuging, die Saaten mißrieten, das Vieh verdarb, bald brach hier ein Unglück ein, bald dort ein anderes, und auf einen grünen Zweig war nicht zu kommen. Endlich zog auch dieser Pächter wieder ab, und noch einmal blieb der Clamshof mehrere Jahre brach liegen; nun waren ein paar arme Familien in das große Wohnhaus eingezogen, die den Garten und das Haus bewachen und pflegen sollten. Aber das trug auch nichts ein, und als auch ein projektierter Verkauf kein befriedigendes Resultat ergab, war der Eigentümer schon zu dem Entschlusse gekommen, den ganzen Clamshof auf den Abbruch zu versteigern und die Zugehörigkeiten in kleineren Parzellen zu verpachten oder zu verkaufen. Da meldete sich plötzlich ein fremder, sonst unbekannter Pächter aus dem Cleverlande, und nach kurzem Handel war der neue Pachtkontrakt fertig. Unter sehr günstigen Bedingungen ward dem Fremden das Gut auf eine lange Reihe von Jahren übertragen; nur mußte er es auf seine Kosten instandsetzen lassen. Eben jener Reiter, der sich an jenem kalten Winterabende beim Schall einquartiert hatte, wollte dem Mißgeschick, das alle seine Vorgänger verfolgt, Trotz bieten und den Clamshof zu neuer Blüte erheben. Man mag sich denken, was die guten Birkheimer nicht alles mögen gefürchtet und prophezeit haben, als sie von dem neuen Pächter hörten und durch Schall erfuhren, daß der ein stattlicher Herr sei, sonderbaren, fremden Wesens, aber klug und reich, wobei nur unbegreiflich bleibe, wie der sich habe nach dem Clamshofe verlaufen können. Selbst Schall schüttelte über das Unternehmen den Kopf und konnte der sonderbaren Sache keinen Grund abgewinnen. Der alte Hannes aber, der zuweilen bei Schalls hinter dem warmen Ofen saß, ein ausgedienter Hofpensionär vom Vater Ferdinands her, schüttelte auch den Kopf. »Solange nicht wieder das Kreuz bei den alten Linden steht, giebt's keinen Frieden auf dem Clamshofe, und wenn auch der Reichtum zum Schornstein hereinkommt!« prophezeite der Alte, und die Jungen dachten's auch.

*

In den ersten Tagen im folgenden Februar langte indes auf dem Clamshofe ein Trupp Handwerker an, die sich zunächst an das verwahrloste Haus machten. Das wurde von innen und von außen einer gründlichen Reparatur unterworfen in allen seinen Teilen. Dieselbe Sorgfalt wurde den Wirtschaftsgebäuden zugewandt, die dazu einer Generalfegung bedurften. Sobald der Boden es zuließ, erschien ein Gärtner mit zwei Gehilfen, dazu wurden Taglöhner aus dem Dorfe genommen, und nun ging die Gartenarbeit an, wobei alles nach Ordnung und Plan neu gezeichnet, abgeteilt, eingefriedigt und bepflanzt wurde. Das war eine rastlose Wirtschaft schon auf dem Clamshofe, noch bevor der Pächter einzog. Dieser kam bisweilen, wie unversehens dahergeritten, besah sich die Arbeiten, ordnete an, war rasch an allen Enden und verschwand wieder. Die Handwerker kannten ihn auch nicht näher. Die ganze Arbeit war einem Unternehmer übertragen worden, der sie bis zur bestimmten Frist fertig haben mußte. Die Birkheimer gingen neugierig um das Gewühl herum und guckten und judicierten, wurden aber um nichts klüger. Sie hätten gar so gern gewußt, was der Pächter für ein Menschenkind sei, aber geraten wollt's nicht, das zu erfahren. Neugierig sind nämlich alle Menschen, und je enger der Kreis des Lebens, um so neugieriger, wenigstens das genau kennen zu lernen, was sich in diesen engen Kreis eindrängt. Der Schall hat oft seine liebe Not mit den Leuten gehabt; aber Schall wußte selbst nicht viel, und was er dachte, mochte er nicht einmal sagen.

Zu festgesetzter Zeit langte das Geräte des neuen Pächters auf dem Clamshofe an, alles solid und vieles neu und eigentümlich; dann traf das Vieh ein mit dem Gesinde, endlich die Familie, des Pächters stille, blasse Frau und ein Kind von zwölf bis dreizehn Jahren, ein liebliches Mädchen von nicht gewöhnlicher Schönheit. Ob zur Familie noch mehr Kinder gehörten, wer konnte es wissen! Das Gesinde war neu angeworben und gehörte verschiedenen Gegenden an. Der Pächter fuhr nun selbst wie ein Wetter in die Wirtschaft hinein und setzte alles an seinen Platz und jedes in Bewegung. Allerdings begann ein neues Leben auf dem Clamshofe, wie bisher in Birkheim nicht war gesehen worden. Die Äcker wurden mit großen Kosten umgeworfen, gedüngt, mit Gräben umzogen, von Gestrüpp gereinigt und bestellt, die Wiesen geebnet, gereinigt, mit Wassergräben durchschnitten, zum Teil neu angesäet; die Waldpartien wurden auch einer durchgreifenden Reinigung und Kur unterworfen, altes Holz beseitigt und eine Menge neuer Bäume gepflanzt. Eine besondere Sorgfalt wurde dem Hofgarten gewidmet, und viele neue Sorten von Gemüse und ganze Reihen neuer Obstbäume zierten bald die frühere Wildnis. Der Pächter selbst mit seiner Lederkappe, dem engen, grauen Wams, das ihm beinahe bis an das Knie reichte, und den hohen Stiefeln – für die Birkheimer alles neu und ungewohnt – war immer schon vor Tagesanbruch auf den Beinen und draußen in Feld und Wald, oder arbeitete im Garten herum, so daß die Birkheimer, sie mochten so früh aufstehen, als sie wollten, den »ledernen Heinrich«, wie sie den Pächter nannten, immer schon in Thätigkeit fanden. Auch abends strich er noch immer herum, wenn andere Leute schon Feierabend gemacht, und wenn einer sich zufällig verspätet hatte in der Gegend des Clamshofes oder von einem anderen Orte kam und über sein Gebiet mußte, der konnte fast sicher sein, daß der »lederne Heinrich« ihm noch zwischen Wald und Feld begegnete, die Lederkappe ins Gesicht gezogen, die Pfeife im Munde, den Feldspaten auf der Schulter, begleitet von seinem Türk, knapp wieder grüßte, aber nie stehen blieb und noch weniger auf irgend ein Gespräch sich einließ. Mit den Birkheimern hielt er gar keine Gemeinschaft; hatte ihn im Kirchdorfe doch noch keine Seele gesehen. Man sagte schon, der »lederne Heinrich« schlief gar nicht, ihm sei die Nacht wie der Tag, und – das war bald ausgemacht – so recht geheuer könne es mit ihm nicht sein. Wir wollen nicht einmal sagen, was die Leute alles von dem geheimnisvollen Treiben des »ledernen Heinrich« und von seiner abenteuerlichen Herkunft erzählen und mit welchen Mächten er im Bunde stehen sollte. Es klänge fast gar zu abergläubisch für die gebildete Welt. Aber das war richtig, auf seinen Äckern war die Arbeit nicht umsonst geschehen; seine Wiesen lieferten fast die doppelte Heuernte, im Walde schoß alles prächtig auf und der Garten war auch nie so ergiebig gewesen, als seit der Pächter drin herumwirtschaftete. Mit der Familie desselben war es eine eigene Sache. Die blieb die ganze Woche still auf dem Clamshofe und hatte gar keinen Verkehr nach außen. Wenn die blasse Hoffrau mit ihrem Töchterchen auch Sonntags nach Birkheim zur Kirche ging, dann setzten sich die beiden ganz still in ihren Stuhl, sprachen mit niemand, sondern gingen nach dem Gottesdienste eben so still und einsam wieder heim, als sie gekommen waren. Die Frau war wohl fromm, man sah es ihr an, auch daß sie schwerlich aus dem Bauernstande herrührte, aber aus ihr klug werden, konnte auch niemand. Der »lederne Heinrich« aber ging niemals nach Birkheim in die Kirche, sondern Sonntags in der Frühe sattelte er gewöhnlich sein Pferd und ritt von dannen, wohin? das wußte niemand, selbst das Hausgesinde nicht; kam bald um die Mittagszeit, bald gegen Abend wieder, sah dann kaum die Seinigen, sondern ging ins Feld, oder wenn das Wetter gar zu wüst that, vertiefte er sich in die Wirtschaftsbücher oder strich durch die Ställe, kroch über die Böden, untersuchte die Dächer und machte sich zu schaffen. In seinem Hause duldete er kein christliches Zeichen. Vom Gebet war in seiner Anwesenheit keine Rede; selbst die Hoffrau hielt ihr Gebetbuch und das ihres Kindes geheim, obschon ihr Mann auch nie gegen die Religion sprach. Er sprach überhaupt nicht viel, mit Frau und Kind, wie mit anderen Leuten kurze knappe Worte, die, wenn ihm etwas Besonderes quer im Kopfe lag, nur schärfer, schneidender wurden, daß sie durch Mark und Bein fuhren, wenn's hoch kam, mit einem grimmen Zorn gemischt, der bebte und beben machte. Auch mit dem Gesinde ging er in ähnlicher Weise um, und würde der Wechsel noch stärker gewesen sein, wenn er dasselbe nicht über Gebrauch gut bezahlt und gepflegt hätte. Kein Armer wagte sich an ihn heran, so kalt und hinterhaltig schaute er jeden an, der ihm nahte, so kurz und schneidend that er alles ab. Nur wenn der gefürchtete Baas fern war, schlich sich hie und da ein armer Bettler nach dem Clamshofe. Dann öffnete die Hoffrau schweigend ihre milde Hand, oder befahl sich und die Ihrigen ins Gebet. Von sonstigem Verkehr mit Verwandten und Freunden auf dem Clamshofe war nichts zu sehen noch zu hören, und kein Fest im Jahre regte das gebannte Leben auf dem Hofe heilsam auf. Wie eine völlig ausgewanderte Familie waren die Leute gekommen und hielten sich, als wenn die ganze übrige Welt sie nichts angehe. Fürchteten die Dienstboten den Hausherrn, dann waren sie auf die gute Hoffrau und ihr Töchterchen desto besser zu sprechen, obschon sie nicht eigentlich sagen konnten warum. Die durften nur bitten, und jeder that gern, was sie wünschten.

Mit Schall hatte der Pächter wohl anfänglich noch hie und da ein Wort gesprochen, aber in sein Haus kam er lange nicht. Auch machte er nie eine Andeutung, daß er gern sehe, daß Schall ihn besuche. Frau Veronika hätte gar gern mit der Hoffrau angebunden, aber die hielt sich sichtbar zurück; und das Trinchen fand ein großes Gefallen an der Toni auf dem Clamshofe, aber besuchen durften sich die Kinder nicht. Der Pächter hatte es rundweg verboten, und von Widerspruch durfte bei ihm keine Rede sein. So ging es bereits ins dritte Jahr, und eine wesentliche Änderung in dem Verhalten der Leute zu einander war nicht zu bemerken, als daß man sich allseitig in die Sonderbarkeiten des Clamshofes schickte und gewähren ließ, was man nicht zu ändern wußte. Nur blieb der Clamshof den Birkheimern fremd, und seine Bewohner wurden als Fremdlinge angesehen und behandelt. Schall ließ den Pächter auch gewähren, obschon er gar aufmerksam all sein Thun und Lassen beobachtete. Und daß der Schall nicht zudringlich ward, daß er immer gegen den Nachbar freundlich blieb, – stets bereit mit Rat und That zur Hand zu gehen, zog endlich den Pächter allmählich ihm näher. Wenn sie sich begegneten, blieb der Nachbar wohl stehen und redete ein paar Worte, oder ging eine kleine Strecke mit ihm; sogar trat der »lederne Heinrich« endlich wieder in Schalls Haus, saß eine Weile da, redete über gleichgültige Dinge und ging wieder, um oft in längerer Zeit sich nicht mehr blicken zu lassen. Nur kam er immer, wenn er kam, am Nachmittage oder früh abends, wenn noch nicht gebetet wurde, und saß dann meist an dem Ofen so, daß er wieder in die Ecke schauen konnte. Dem Schall drückte er oft ganz eigentümlich die Hand, wenn er ging, aber sonst ließ er nichts blicken, was in ihm vorgehe. Schall selbst blieb sich immer gleich, war heiter und aufgeräumt unter den Seinigen und draußen, und ward das allmählich auch gegen seinen Nachbar, der ihn dann oft so still und nachdenklich ansah, als ob er den glücklichen Schall von Grund des Herzens beneide. Ursache hatte er dazu.

In dieser Zeit begab es sich, daß etliche Bauern von Birkheim wieder einmal zusammensaßen und von der alten Zeit Birkheims und seiner Herrlichkeit erzählten. Da kam die Rede auch auf die Fronleichnamsprozession und wie die feierlich gehalten worden zur Zeit, als die Abteiherren von St. noch florierten, wie am Lindenkreuz sei der Segen gegeben worden unter Böllerschüssen und stets ein paar Abteiherren die Prozession begleitet hätten. Das wußten die Birkheimer noch alles haarklein, obschon die Leute schon anfingen, rar zu werden, welche die alte Herrlichkeit mit eigenen Augen gesehen. Nun kam wieder die Rede auf den »ledernen Heinrich« und sein sonderbares, menschenscheues Wesen. »Mit dem Schall muß er doch was haben,« bemerkte der Klas, »denn ich habe die beiden noch gestern beisammen gesehen im Gespräch; auch geht der Hofherr wieder zu Schalls, der alte Hannes hat's erzählt.« – »Nun, dann wär' noch was zu hoffen,« meinte der lahme Jakob; »denn wenn er mit Ferdinand umgeht, giebt's endlich auf dem Clamshofe doch noch ander Wetter.« – »Meinst du?« versetzte Klas, »der Ferdinand verstände den Teufel zu bannen? Aber, potz tausend, da hab' ich einen Einfall! Kameraden, was meint ihr wohl? Einen guten Einfall habe ich, der muß von Gott kommen!« Der Klas sprang von dem Holz auf, worauf sich die Nachbarn niedergelassen und rieb sich vergnügt die Hände. »Nun, was fällt dir denn ein, Klas?« fragten die Bauern durcheinander. »Wie wäre es, wenn wir uns vereinigten und auf dem Lindenhügel ein neues Kreuz errichteten?« – Wenn's der Clamsbaas nur nicht hindert, wir bringen die Kosten auf.« – »Ja, wenn's der Clamsbaas nur nicht hindert!« dehnte der lahme Jakob,« aber er fürchtet das Kreuz, wie der Teufel das Weihwasser, und wird's sicher nicht so leicht zugeben.« Und die meisten Bauern meinten, bezahlen würde jeder gern, aber mit dem »ledernen Heinrich« sei schlecht handeln. Ob der Ferdinand die Sache auswirken wolle oder könne, wär' zu versuchen. Aber jedenfalls müßten sie doch erst mit ihrem Pfarrherrn Rücksprache nehmen. Das aber thaten die Bauern noch selbigen Tags, und der alte Pfarrherr hatte seine Freude an den Bauern, versprach auch, auf dem Clamshofe selbst einen Besuch zu machen, konnte aber auch nicht viel versprechen. Gut wär's, meinte der kluge Pfarrer, der schon oft erfahren, was Menschen können und auch nicht können, wenn sie untereinander sich zum Gebet für den Clamshof zusammenthäten, noch bevor sie ans Geld dächten. Das thaten die Bauern treulich, denn die Birkheimer glaubten eben noch herzhaft an die Gewalt des Gebetes. Der Pfarrer war darauf mehreremal nach dem Clamshofe gegangen, hatte den Hausherrn jedoch nicht getroffen; die Hausfrau aber schüttelte zweifelnd mit dem Kopfe, als sie hörte, um was es sich handle, und bat den Pfarrer, lieber ihren Mann draußen aufzusuchen. Der Pfarrer aber ging bekümmert fort und gedachte, dem Hofherrn aufzupassen. Nun ging der Pfarrer in der Sommerzeit gern nach dem Saum eines nahen Wäldchens. Es war da ein so kühles, schattiges Plätzchen, wo der alte Herr sich niederließ, sein Brevier betete und über sein Pfarrdorf hinwegblickte, wie ein guter Hirt, der die werdende Herde beobachtet. Da saß er einst wieder, als er den Pächter in geringer Entfernung vorüberschreiten sah. »Herr Francis!« rief der Pfarrer den finster vor sich hinblickenden Pächter an, »ich bitte auf ein Wort!« Der Pächter schaute auf, blieb stehen und setzte seinen Spaten zur Erde? »Was wünschen Sie, Herr Pfarrer?« fragte er kurz und schneidend. Offenbar war der Pfarrer seinen Gedanken ungelegen in die Quere gekommen. »Daheim findet man Sie nicht,« hob der greise Hirt treulich an, indem er dem Pächter näher trat, »zu mir kommen Sie nicht, da müssen Sie verzeihen, daß ich Sie hier anspreche. Ich habe ein Anliegen.« – »So, Sie waren in meinem Hause? Sie haben bei mir ein Anliegen?« Dem Pächter fuhr eine Unruhe über das Gesicht, und verdüstert schaute er seitwärts hinaus. »Was haben Sie bei mir für ein Anliegen, Herr Pfarrer?« Er versuchte mit seiner gewöhnlichen Kälte dem greisen Priester ins Antlitz zu schauen. Das ging mit Mühe nicht an. »Sehen Sie, mein lieber Herr!« fuhr der Pfarrer in seiner traulichen Ruhe fort, als ob er gar nichts bemerkt hätte, »vor dreißig Jahren, bevor das französische Gesindel mit seiner Gottlosigkeit in unser Land gekommen, stand auf dem Lindenhügel beim Clamshofe ein steinernes Kruzifix unter alten, schönen Lindenbäumen. Das hat ein Republikaner, der sich später im Villerwalde an einem Baum erhängt, umgerissen und zerschlagen, und die alten, schönen Lindenbäume hat er auch umgehauen. Es war ein Jammer für die ganze Pfarre. Früher wurde bei dem Lindenkreuz am heiligen Fronleichnamsfeste der Segen gegeben. Das ist seit jener unglücklichen Zeit unterblieben, weil sich niemand um den Altar dort bekümmert hat. Da meine ich nun, Herr Francis, Sie könnten der Pfarre die Freude machen und gestatten, daß auf dem Lindenhügel wieder ein Kruzifix aufgerichtet und Linden darum gepflanzt würden, wie es vordem gewesen, damit dort wieder über den Clamshof und Feld und Wald könne der Segen gegeben werden.« Der Pfarrer beobachtete während der Rede den vor sich hinstarrenden Pächter, der mit keiner Wimper zuckte, nur zogen sich die dünnen Lippen fester zusammen. Er schwieg eine Weile. »Wer will das Bild aufrichten?« fragte er dann mürrisch, ohne aufzublicken. »Dazu will die ganze Gemeinde gern beitragen,« versetzte der Pfarrer überrascht. Er hatte einen anderen Bescheid erwartet. »Die Leute haben mich viel gebeten, die Erlaubnis von Ihnen zu erbitten.« Der Pächter blieb noch eine Weite regungslos stehen, dann aber war es ihm nicht möglich, seine wachsende Unruhe zu verbergen; hastig nahm er den Spaten auf die Schulter. »Will's mir überlegen, Herr Pfarrer!« stieß er heraus, und weiter ging er, ohne auch nur zum Abschiede zu grüßen. Bald war er seitwärts im Walde verschwunden. Der Pfarrer schaute ihm eine Weile nach, seufzte auf und ging betend heim. Auch Schall versagte noch seine Mitwirkung, den Clamsbaas günstiger zu stimmen, er vertröstete auf die Zukunft. Für dieses Jahr war von der Errichtung des Lindenkreuzes noch keine Rede. Doch beteten die Bauern weiter, und das war wohl gethan.

 

III. Das Kreuz im Clamshofe und zwei Frauen

Im Spätherbst des folgenden Jahres erkrankte die Antonie auf dem Clamshofe, und zwar an einem hitzigen Fieber, welches das sonst so blühende Kind binnen wenigen Tagen an den Rand des Grabes brachte. Am Bette des in wilden Fieberschauern sich verzehrenden Kindes saß die Mutter, halbversteint vor Schmerz, und hielt die trockene, aber brennend heiße Hand des Kindes in der ihren, als ob sie mit den rollenden Pulsschlägen desselben ihr eigenes, bis in seine Tiefen erschrecktes Leben aufhalten oder abzählen wolle. Die arme Mutter meinte wirklich mit dem Kinde sterben zu müssen. Doch kam keine Klage aus ihrem Munde, denn das laute Klagen hatte sie verlernt, das Schweigen, das stille Dulden und Tragen war ja schon seit Jahren ihr Los. Aber wenn sie auch äußerlich schwieg, von ihrem Herzen aus rannen bittere, heiße Thränen des Jammers ihr in die Seele, die sich wand in namenlosem Leid. Unter der Schürze hielt sie ihr Gebetbuch fest, bereit, bei dem ersten Geräusch dasselbe in ihre Seitentasche gleiten zu lassen. Seit die Krankheit Antoniens sich gezeigt und auf einen gefährlichen Verlauf gedeutet, hatte der Hofherr, tief aufgeregt durch die Angst, sein einziges Kind, dieses Kind, an dem heimlich sein Herz stärker hing, als er je äußerlich hatte zeigen mögen, zu verlieren, fast alltäglich einen anderen Arzt aus der Nachbarschaft herbeigeholt, mit dem schneidenden, ungestümen Verlangen, sofort alle Kunst aufzubieten, um jede Gefahr von dem Kinde abzuwenden. Ja, wenn das in der Macht menschlicher Kunst oder gar menschlicher Wünsche läge! Aber Gott, der Herr, hat selbst in den natürlichen Verlauf gewisser Dinge eine Kraft und Gewalt gelegt, gegen die alle menschliche Kraft nichts ausrichtet. Wenn der Wettersturm aus der Höhe über das Meer hinfährt, daß die Wage der Wogen schwankt zum Überschlagen und Wasserberge über Wasserberge stürzen, hingejagt von dem stürmenden Odem des Herrn: dann fühlt der Mensch in seinem Bretterhause, das er Schiff nennt, eine natürliche Verzagtheit seines Herzens; denn seine Kraft rettet das Schiff und sein Leben nicht, und seine Wissenschaft reicht nicht aus, allen Gefahren Trotz zu bieten, – er muß den Sturm toben lassen, bis es dem Weltenherrn gefällt, seinen Odem einzuhalten und die sänftigende Hand auf die wilden Fluten zu legen, den Menschen aber heil herauszuziehen aus Gefahr und Not. So standen auch die Ärzte im Grunde hilflos am Bette des Kindes, dessen Krankheit den in der Natur derselben liegenden Weg innehalten mußte, und wobei der Mensch nur möglichst das Schädliche fernhalten und zuschauen kann. Aber der Schmerz über die Hilflosigkeit, die Angst, das geliebte Kind zu verlieren, wühlten um die Wette in dem Herzen des unglücklichen Vaters. Hilfe sollte nun einmal geschafft werden. Also hatte er sich in der vorigen Nacht aufs Pferd geworfen und war nach der nächsten Stadt geritten – nein, gejagt, um einen geschickteren Arzt herbeizuholen. Stündlich konnte er wieder da sein.

Es war schon Abend. Die Lampe brannte hinter dem grünen Schirm in der Krankenstube, und noch saß die Mutter regungslos am Bette des Kindes. Sie wußte von der Zeit nichts, denn der rechte Schmerz wie die hohe Freude haben keine Uhr. Da sprengen zwei Reiter zum Hofe herein, hastige Schritte werden im Hause hörbar, die Thür am Krankenzimmer wird aufgerissen, und der Pächter, hinter ihm der berühmte Doktor Gottzuklug treten eilfertig ein. Still erhebt sich die Hoffrau von ihrem Sitze und setzt sich eben so still in einen Winkel der Stube nieder. Der Arzt setzt sich zu dem kranken Kinde und beobachtet das kochende Leben nach Doktorweise. Einen Augenblick hat der Pächter ihm zugesehen, dann ist er unruhig ans Fenster getreten und hat in die Herbstnacht hinausgeschaut, wo der Wind das dürre Laub von den Bäumen streifte und hinab zur Erde streute. Es zitterte und bebte dem Pächter in allen Gliedern. Sagen konnte und mochte er nichts. Nur das Mutterherz seufzte bisweilen halblaut, aber es war, als ob die Furcht die Seufzer selbst zusammenpresse. Das dauerte wohl eine halbe Stunde, dann erhob sich der Arzt, winkte traurig bedeutungsvoll der Mutter und nahte sich leise dem Pächter. Der wendet sich um und stiert den Arzt an. Der kalte Blick des Pächters ist in Feuerglut übergegangen, sein Gesicht deckt unheimliche Blässe. »Schwerlich!« bemerkt der Arzt flüsternd, »das Übel hat einen höchst gefährlichen Verlauf genommen. Arznei hilft nichts mehr. Binnen zwei Tagen.« – »Also hilft nichts mehr!« stöhnte der Pächter. »Herr Doktor, reden Sie nicht weiter!« stieß er dann heraus, ging mit schwankendem Schritt an das Lager seines Kindes, starrte es eine Weile an und stürzte dann aus dem Zimmer. Wenige Augenblicke später sprengte er schon wieder am Hofe hinaus, wohin? wer konnte es wissen! Die Mutter aber warf sich nun laut weinend und schluchzend vor dem Bette des Kindes nieder, fast ertränkt im Jammer. Für das, was der Arzt sagte, hatte sie kein Gehör mehr. Der aber ließ sich von einem Knecht des Hofes zum Pfarrer geleiten, um wenigstens ein ordentliches Nachtquartier zu erhalten. Der alte Pfarrer, der jetzt erst erfuhr, wie es auf dem Clamshofe stehe, machte sich noch an demselben Abend auf, dem kranken Kinde den Trost der Religion zu bringen. Er traf Ferdinand im Hofe. Der Pächter hatte ihn nur mit dem Namen gerufen in seinem Hause und war weiter geritten. Spornstreichs war der treue Nachbar nach dem Hofe gelaufen, wohl ahnend, was dort zu thun sei. »Hier muß Gott helfen, Menschen können nichts mehr mit aller Kunst!« meinte der Pfarrer; Ferdinand versuchte, die arme Hoffrau zu trösten, aber all sein Trost glitt an dem Schmerz einer Mutter ab, den der Mann so schwer versteht. Da holte er seine Veronika herbei, damit diese bei der Hoffrau wache und das kranke Kind pflege, was Frauen besser verstehen, als die Männer. Die Hoffrau hat sich anfänglich gegen die Hilfe gewehrt, dann aber Veronika machen lassen; war sie doch innerlich getröstet, daß ein Frauen- und Mutterherz teil an ihren Leiden nehme. Veronika aber hat sich neben die Hoffrau gesetzt, mit ihr gebetet und geweint und das lechzende Kind gelabt, als ob sie die eigene Mutter wäre.

Am anderen Morgen sprach der fremde Arzt wieder ein, machte verschiedene Anordnungen, konnte aber der Veronika, die ihn bis zur Hausthüre begleitete, nicht verhehlen, daß das kranke Kind schwerlich eine neue Nacht überleben werde. Das sagte die Nachbarin der Hoffrau natürlich nicht, aber ihr gottvertrauendes Herz sann auf andere Mittel. »Bei Gott ist alles möglich,« tröstete Veronika, »und wenn die Menschen uns verlassen, müssen wir um so mehr Hilfe bei Gott suchen.« Also redete sie mit ihrem Manne, und der Mann rief durch sein Töchterchen ein Dutzend Mädchen aus der Nachbarschaft zusammen, diese hielten noch an dem Morgen einen Bittgang zu den sieben Stationen oder sogenannten Fußfällen für die kranke Antonie aus dem Clamshofe. So ist es in ähnlichen Fällen seit jeher Sitte in Birkheim gewesen. Und am Nachmittage, als sie den Bittgang wiederholten, schlossen sich freiwillig die übrigen Kinder des Dorfes an, denn die Antonie hatten alle lieb, und es war eine Kinderprozession, die umherging und betete, daß Gott doch der guten Clamsfrau ihr Kind erhalten möge. Auch an den Lindenhügel gingen die Kinder, wo ehemals das Kreuz gestanden, und knieten im Kreise auf dem kahlen Hügel und beteten so laut und innig, daß es in dem ganzen Hofe wiederhallte. Die Hoffrau zerfloß in Thränen, und es war ihr, als ob die Kinder wunderbaren Trost ihr in die Seele beteten.

An demselben Nachmittage, und zwar in derselben Stunde, wo die Kinder betend von dem Lindenhügel nach der Pfarrkirche gegangen, glaubte Veronika in dem kranken Kinde eine auffallende Veränderung zu bemerken. Das brennende Rot der Wangen erblich, der glühende Schein der starren Augen wich einem matten Glanze, leichte Schweißtropfen zeigten sich auf der blassen Stirn, und eine matte Ruhe verbreitete sich über das kranke Kind. Es war, als ob es Schlaf suche, und dabei lispelte es etwas von Gott und Engeln, daß es der guten Veronika wunderbar ums Herz wurde. Die Hoffrau hatte zu sehr die Hoffnung aufgegeben, um so schnell dem Glauben an Rettung zugänglich zu sein. Als sie sich von der Wendung der Krankheit überzeugte, rann das Glück tropfenweise ihr ins Herz, kämpfend mit Furcht und Hoffnung. Daß Gott den Clamshof und seine Bewohner in Gnaden ansehen und das Kind aus dem Todesrachen ihr wiederschenken könne, schien ihr kaum möglich. Aber Veronika blieb dabei, das Kind sei besser, das Ärgste sei überstanden, und Gott werde das andere wohl fügen; man müsse nur nicht nachlassen, zu beten. Und nun ordnete sie für den folgenden Tag einen neuen Bittgang der Kinder an, denen sie sagen ließ, Antonie sei besser, sie müsse nur noch gesund gebetet werden. Aber das war ein Jubel und ein neuer Eifer unter den Kindern!

Am folgenden Abend saßen die beiden Frauen zusammen im Krankenzimmer. Antonie schien eingeschlummert zu sein, ihre Atemzüge waren noch rasch, aber gleichmäßig geworden. Eben hatten die beiden Mütter gemeinsam gebetet. Jetzt war's still. »Wo ist denn der Baas hin?« fragte auf einmal Veronika flüsternd und rückte der Hoffrau näher. »Gott allein weiß es!« versetzte mit einem tiefen Seufzer die Hoffrau. »Wohin er geht, sagt er nicht, und wenn er wiederkommt, sagt er nicht, wo er gewesen.« Sie hielt inne. Es war das erste Mal, daß die Hoffrau derlei Reden führte auf dem Clamshofe. Sie erschrak dabei vor ihren eigenen Worten, und doch that's ihr wohl, daß sie einmal vom Herzen reden konnte, – das Urbedürfnis aller Frauen. Die Nähe Veronikas hatte ihr den ganzen Tag über so wohl gethan, im Herzen war die Freundschaft ja schon fertig, die bei Leidenden schnell wächst. Veronika, eine sonst recht ruhige, verständige Frau, aber auch eine Frau, rückte der Freundin näher und forschte in traulichem Tone nach dem sonderbaren Wesen des Mannes. »Ist der Baas denn immer so apart gewesen?« fragte sie leise. Die Hoffrau faltete die Hände im Schoße, und während ihr sorglicher Blick auf dem Lager des schlummernden Kindes ruhte, schien sie in der Ferne zu lauschen, ob nicht vielleicht Unberufene in der Nähe seien. Es war völlige Ruhe ringsum. Selbst das Hausgesinde unten im Stübchen, bei welchem Ferdinand saß, um Aufsicht zu führen, hielt sich still, und nur die Stutzuhr auf dem Seitentischchen in der Krankenstube tickte leise weiter.

»Ach, Gott, nein!« antwortete endlich die arme Frau, »er war einst nicht so. Wie hätte ich sonst mit ihm an den Altar treten können?« Ein Strom von Thränen unterbrach ihre Rede schon im Beginnen. Veronika war verständig genug, dem Schmerz freien Lauf zu lassen; mittlerweile ging sie zu dem Kinde und labte seine trockenen Lippen. Gierig saugte dasselbe die Labung ein. »Gott lasse es dir zur Genesung gedeihen!« sagte Veronika und setzte sich wieder zur Hoffrau nieder. Nach einer Weile hob die Hoffrau wieder an: »Aber, Frau Schall, Sie werden Mitleid mit mir haben, und keinem Menschen sagen, daß ich mit Ihnen über unsere Verhältnisse gesprochen; ich würde sonst noch unglücklicher, als ich gewesen. Wenn mein Mann ahnte, daß hier jemand wäre, der von seiner Geschichte wüßte, hätten wir schon wieder die längste Zeit auf dem Clamshofe gewohnt, und doch ist das Hinausziehen in ferne, unbekannte Gegenden, unter fremde Menschen, so entsetzlich hart! Seit zehn Jahren ist das schon der vierte Hof, den wir bewohnen, und hier ist's doch so still, und die Leute sind so einfach und so gut in dieser Gegend! Ich bliebe so gern auf dem Clamshofe wohnen, Frau Schall; meine ich doch immer, hier müßte uns Friede werden.« Veronika ergriff die Hand der Hoffrau und versicherte sie aufs neue ihrer Verschwiegenheit und wärmsten Teilnahme. Aber im Herzen war sie auch neugierig geworden, wie nie. »Wir gehören eigentlich beide dem Bauernstande nicht an,« erzählte, wie scheu und verlegen, die Hoffrau nun weiter, »und haben unsere Heimat fern von hier. Mein Vater war Kaufmann und betrieb große Geschäfte. Heinrich, mein Mann, hat in seiner Jugend in seinen Diensten gestanden. Fleiß und Geschicklichkeit haben ihn immer ausgezeichnet. Er hat lange Jahre um mich geworben. Ich war die einzige Tochter und war ihm lange gut. Sonst heftig, stürmischen Wesens, war Heinrich gegen mich die Güte und Liebe selber, und daß seine Liebe aufrichtig gewesen, glaube ich noch. Mein Vater hielt wegen seiner Geschicklichkeit viel auf ihn, weniger mochten die Brüder ihn leiden. Ich habe meinen Willen durchgesetzt, und wir wurden ein Paar. Ach, Gott, damals habe ich nur von Glück geträumt! Wie ist es anders gekommen! Mein Mann hatte ein großes Geschäft angelegt, er wollte reich werden, ach, Gott – und wir sind so arm geworden, daß wir mit jedem Bettler tauschen dürften! Der Vorsatz, reich zu werden, hat meinen Mann und uns alle ins Unglück gebracht.« Die Hoffrau schwieg, ihre Thränen rannen ihr in den Schoß, während eine lange, bittere Lebensgeschichte vor den Augen ihres Geistes vorüberzog.

»Nach dem Tode meines Vaters ist das Unglück über uns gekommen. Mein Mann hat sich auf eine schreckliche Weise mit den Brüdern entzweit. Als er von der Teilung nach Hause kam – wir wohnten in einer entfernten Stadt, nahe bei der holländischen Grenze, – war er wie umgewandelt. Seit der Errichtung des Geschäftes war er in der Ausübung seines Glaubens erkaltet, jetzt aber war's ganz aus mit ihm. Mich, die er früher fast auf den Händen getragen, sah er kaum noch an, dafür war er herb, hart und auffahrend bis zur Wut mit allen Untergebenen. Keiner konnte es ihm recht machen, in jedem glaubte er einen Feind und Verräter zu sehen. Nur das Kind da, damals noch so jung und zart, schien Eindruck auf ihn zu machen. Ach Gott, es ist schrecklich, das alles zu erzählen, was da vorgegangen! Ich kann es nicht; denn wenn ich alles wieder so denken muß, meine ich, das Herz müßte mir brechen. Gottes Name ist eine hochheilige Sache, und wer ihn mißbraucht, der ruft böse Geister zur Rache auf, die den Unglückseligen auf Wegen und Stegen verfolgen!« Die Hoffrau hielt wieder inne und verbarg ihr Gesicht in beiden Händen. Veronika starrte sie so entsetzt an; daß von bösen Geistern die Rede sei in Bezug auf den Hofpächter, begriff sie, weiter nichts, und es strich ihr unheimlich übers Herz. »Ja,« seufzte sie endlich, »also die Leute haben doch nicht so unrecht, wenn sie sagen, mit dem Baas müßte es nicht so richtig sein, der habe keine Gemeinschaft mit guten Geistern.« Die Hoffrau schüttelte mit dem Kopfe. »Aber wie war das denn eigentlich?« fragte Veronika mit einem Gemisch von Furcht und Vorwitz.

»Ach, wie er verändert heim kam!« erzählte die Hoffrau weiter, ohne auf die Frage der Freundin zu achten; »düster und kalt trat er ins Haus, als habe er sein Herz auf dem Wege verloren. Eine rastlose Unruhe hatte ihn ergriffen, er konnte es auf seinem Comptoir nicht mehr aushalten, und seine Geschäftsreisen waren ihm auch verleidet. Bald nach seiner Rückkehr aus meiner Heimat erhielt ich ein Schreiben von meinen Brüdern, worin sie mir anzeigten, daß sie jede Gemeinschaft mit meinem Manne abgebrochen hätten und nichts mehr von ihm wissen wollten. Mich luden sie zugleich ein, mich mit meinem Kinde von dem Manne zu trennen und in die Heimat zurückzukehren. Wenn ich das nicht thun wolle, müßten sie mich als eine Mitschuldige ansehen und vergessen, daß sie noch eine Schwester hätten. Ach, Gott, was hat das arme Herz nicht dabei gelitten! Die letzten Strahlen des ehelichen Glückes sind dazumal erloschen und bis heute nicht wieder erschienen. Anfangs schwankte ich wirklich in meinem Entschlusse, denn mir ahnte, was ich leiden würde; aber der Gedanke hielt mich bei meiner Pflicht fest, daß ich vor Gott dem Manne angetraut sei und mich in diesem Jammer erst gar nicht von ihm trennen dürfe. Doch weinte ich Tag und Nacht. Mein Mann fragte mich nicht nach der Ursache, nur wirkte mein Schmerz noch nachteiliger auf ihn. Bisweilen erfaßte ihn ein wilder Zorn, daß ich fürchtete, er möge sich selbst ein Leid anthun, und wenn unsere Leute nicht gleich alle davongingen, so geschah es bloß aus Erbarmen mit mir. Ach, so ist es ja im Grunde bis auf heute geblieben! Ich hatte den schrecklichen Brief nicht wohl verwahrt. Mein Mann fand ihn, während ich eben das Kind da zur Ruhe legte. Er las ihn still für sich, während sein Angesicht erblaßte und einfiel, – ich meinte, jetzt gleich werde er tot hinstürzen. An dem Bettchen meines Kindes hielt ich mich mühsam fest, so schlotterten mir die Kniee. Auf das Papier starrte er eine Weile, dann zerriß er den Brief mit einem schrecklichen Fluche, trat vor mich hin und sah mich mit einem entsetzlichen Blicke an. Kein Wort kam über seine Lippen, aber sein Blick that eine Frage, die ich nicht mißverstehen konnte. Mir jammerte das Herz über sein Elend; das Kind raffte ich aus dem Bettchen auf und redete das Kind an; denn den Mann anzureden, dazu fehlte mir Kraft und Mut. Nein, Antonie, wir bleiben in Gottes Namen hier und leben und sterben zusammen. So will es Gott! Mein Mann ging wankenden Schrittes aus dem Zimmer, und an zwei Tagen sah ihn mein Auge nicht. Dann kam er wieder, aber kein Wort sprach er über das Geschehene; überhaupt sprach er selten, mit mir lange nicht, obwohl er seit jener Zeit mehr Rücksicht auf mich nahm. Nur wenn ich den Namen Gottes aussprach, verdüsterte sich sein Gesicht, und es quälte ihn jeder fromme Brauch, der bisher in der Familie geübt wurde. Einer nach dem anderen fiel weg. Auf einen Tag waren alle religiösen Bilder aus dem Hause verschwunden; wohin sie gekommen, ich weiß es nicht. Ich litt mit an Höllenqualen, das eigene Haus ward mir fremd, die Umgebung, alle Bekannten wurden mir unerträglich. Ähnlich erging es meinem Manne, der die üble Nachrede, die sich bald daheim einfand, nicht von sich abwehren konnte. Also verkaufte er Haus und Geschäft, und kündigte mir eines Tages an, daß wir aus N. fortziehen würden. Wohin? fragte ich bange. Aufs Land, sagte er kurz. Der Handel ist mir zuwider. Mir war's recht, daß wir aufs Land zogen; denn draußen in der Stille des Landlebens ist jeder Schmerz milder. Binnen wenigen Monden zogen wir auf ein schönes Landgut in der Nähe von C., und mein Mann widmete sich mit allem Eifer der Landwirtschaft. Ein paar Jahre ging es leidlich, Antonie wuchs heran, und ich hatte all meinen Trost an dem Kinde. Denn mit anderen Leuten umzugehen, das sah mein Mann nicht gern, auch hielt er selbst keine Bekanntschaften. Nur was das Geschäft notwendig mit sich brachte, ging aus und ein. Gäste sahen wir nie. Die sonderbare Lebensart meines Mannes indes, seine herbe Art, mit den Leuten umzugehen, ließen die Nachbarn nicht in Ruhe, bis sie herausgebracht, was der Grund der Geschäftsveränderung meines Mannes gewesen. Die nachteiligsten Reden kamen in Umlauf, und, wie es zu geschehen pflegt, es wurde noch mehr und Ärgeres erzählt, als wahr war. Scheu gingen uns von Stund' an die Leute aus dem Wege, mein Mann wurde nicht mehr gegrüßt, selbst die Leute in der Kirche rückten beiseite, wenn ich mich in einen Stuhl niederlassen wollte. Das ist noch das einzige gewesen, was der Mann stillschweigend an mir geduldet. Neuer Jammer zog in unser Haus. Unseres Bleibens war nicht mehr. Das Landgut wurde verkauft, und nun wollte mein Mann kein festes Eigentum mehr besitzen. Er pachtete damals jenseits des Rheins einen großen Hof; aber nicht zwei Jahre dauerte es, als das geflohene Leid auch dort seine Einkehr fand. Diesmal war es durch Dienstboten eingeschleppt worden. Also zogen wir wieder weiter, weit hin unten ins Cleverland, auf ein einsames Gehöfte, fast eben so verwahrlost, wie der Clamshof war. Ach, mir war es, als werde ich mit meinem Kinde aus einer Verbannung in die andere verschleppt, aus einem Kerker in den anderen, besonders da mein Mann durch all den Verdruß immer ruheloser, mißtrauischer und verschlossener war. Selten ließ er sich mit mir auf ein Gespräch ein, nie durfte der Name meiner Familie genannt werden. Das Äußerste, was er that, war, daß er mit der Antonie sich zuweilen unterhielt und das Kind durch Geschenke an sich zu fesseln suchte. Ja, an dem Kinde hängt sein Herz, weshalb er es auch nicht will sterben sehen. Gott mag wissen, was aus uns wird, wenn Antonie nicht aufkommt!« Die arme Mutter rang die Hände.

»Aber wie seid ihr denn auf den Clamshof gekommen?« fragte Veronika, der es unbehaglich wurde, da sie die ganze Geschichte doch nicht verstand.

»Ein paar Jahre hatten wir dort gewohnt, und durch die rastlose Thätigkeit meines Mannes blühte das Gut schon sichtbar auf,« fuhr die Hoffrau zu erzählen fort, »als mein Mann in Streit mit einem Nachbar geriet über die Grenze eines Waldfleckens. Die Sache sollte vor die Gerichte; mein Mann wollte nicht vors Gericht. Er wäre lieber in den Tod gegangen. Seine Weigerung, die Sache zu verfolgen, fiel allen anderen Nachbarn auf, die wußten, daß er im vollsten und klarsten Rechte sich befand. Man fing an, ihn mit dem Gerichte zu necken, dann kamen allerlei böswillige Reden auf, und an dem Faden seines Namens zog ein hausierender Lumpensammler unsere ganze elendige Geschichte in die Gegend hinein. Damals ging Antonie noch in dem nächsten Städtchen in die Schule. Nur Sonntags kam sie nach Hause, während der Woche blieb sie bei der Lehrerin. Eines Tages kommt sie – es war erst Dienstag – mit rotgeweinten Augen aus dem Städtchen nach Hause. Dem Vater war sie draußen begegnet, der nach der Ursache ihrer Thränen geforscht. Ach, dem armen Kinde hatten die Schulkinder von der Schande des Vaters erzählt und wie das ganze Städtchen davon wisse. Es war das erste Mal, daß das arme Kind darüber Kunde erhielt. Mein Mann war außer sich vor Zorn und Grimm. War es doch auch, als ob es für uns keinen ruhigen Fleck auf Erden gäbe. Wir waren fest entschlossen, auszuwandern. Schon machte mein Mann Anstalten dazu, und das Gut war schon übertragen. Mich aber befiel eine namenlose Angst bei dem Gedanken, nie die Heimat, die Meinigen, das Grab meiner unvergeßlichen Eltern zu sehen, wozu ich doch noch immer die Hoffnung im Herzen gehegt habe, und mit Bitten und Thränen habe ich es denn endlich ausgerichtet, daß er sich noch einmal – das letzte Mal, wie er sagte, nach einem Gute umsehen wollte. Lange ist er herumgereist, bevor er vom Clamshofe hörte. Die einsame, von allem Verkehr mit der Welt wie abgeschnittene Lage gefiel ihm, die Leute sagten ihm auch zu – so sind wir auf den Clamshof gekommen. Ach, Gott! wenn der Tod unseres Kindes oder sonst ein Unglück uns nur nicht wieder in die weite Welt treibt. Euch, Frau Schall, bitte und beschwöre ich, doch reinen Mund zu halten, damit die Leute nicht gewahr werden, wie arm und unglücklich wir sind.«

Die Hoffrau stand auf, sichtlich erleichtert durch die Mitteilung, und nahte sich dem Bette des kranken Kindes, das im Schlummer lag, gewiegt von milderen Träumen. Frau Veronika war ihr gefolgt. »Das Kind ist besser, wie ich gesagt, das Kind ist besser! Gott sei gepriesen!« flüsterte sie der Hoffrau zu. »Da seht Ihr, daß Gott geholfen hat!« Auf die Kniee ließ sich die Hoffrau nieder und dankte in so rührendem, erschütterndem Gebete Gott für die gnädige Erhaltung des Kindes, daß Veronika die Thränen nicht mehr zurückhalten konnte. »Ach, Gott!« schloß die dankbare Mutter, »laß doch dieses unschuldige Kind den Engel des Friedens werden in diesem Hause und Erlösung bringen helfen für seinen armen Vater, den du, o Herr, nicht in deiner Barmherzigkeit vergessen wollest!« – Antonie erwachte, blickte ruhig um sich, als müßte sie sich in ihrer Umgebung orientieren, und heftete dann den Blick auf die weinende Mutter. »Mutter!« flüsterte sie, »sei getrost, Gott wird helfen!« Dann sah das Kind ruhig Veronika an. »Wie kommt Ihr hierher, Frau Schall?« fragte es. »Ich habe der Mutter beten helfen, daß du wieder gesund würdest,« antwortete Veronika erfreut. »Aber es haben auch andere gebetet, ich habe es deutlich gehört!« erzählte Antonie. »Hier in der Nähe ist eine Prozession vorübergegangen, es war wie von Engeln. Da ist mir besser geworden.« Veronika tippte der Hoffrau auf die Schulter.

Während die beiden Frauen noch so um das Kind beschäftigt waren – es war schon später Abend – nahte sich ein Reiter dem Hofe. »Das ist der Baas!« rief Veronika aus, während die Hoffrau erfreut und verlegen sich umsah. »Nein, ich gehe nicht weg,« bemerkte die Nachbarin, »ich will sehen, wie er sich über die Genesung des Kindes freut.« Es dauerte auch nicht manche Minute, als der Pächter in die Krankenstube trat, nicht grüßte, sondern sich sofort zum Krankenbette seines Kindes begab, das beide Hände nach ihm ausstreckte. Zitternd ergriff er dieselben, hielt sie fest und ließ sich auf einen Stuhl neben dem Bette nieder. »Vater, ich werde wieder gesund,« flüsterte das Kind, und sah ihn mit den matten Augen so innig an. Der Pächter sah sich um, sprach aber kein Wort. »Wo der Doktor nicht helfen konnte,« fiel mutig Frau Veronika ein, »da hat Gott geholfen. Unsere Kinder haben Antonie wieder gesund gebetet, Baas, Ihr dürft's kühn glauben.« Der Pächter schaute sie groß an, kaum bezwang er seine innere Bewegung. »Frau Schall!« preßte er dann heraus, »laßt uns nun diese Nacht allein. Euer Mann ist noch unten, wie ich gesehen.« Mehr sagte er nicht. Veronika segnete Antonie und ging. Das Benehmen des Pächters fiel ihr nicht auf, sie hatte sogar Schlimmeres erwartet. Ihrem Manne erzählte sie noch in derselben Nacht, was die Hoffrau ihr mitgeteilt. Ferdinand schloß ihr aber den Mund, und zwar besser, als die Hoffrau es gekonnt.

Von nun an war der Pächter Krankenwärter bei seinem Kinde, das ihm oft und immer aufs neue bestätigte, daß die Kinder es wieder gesund gebetet, und wie die Frau Schall der Mutter so treulich geholfen. Bisweilen schien der Unglückliche weich zu werden, dann aber zogen wieder dunkle Wolken über sein Gemüt. Nur behandelte er Frau und Kind von jener Zeit an mit mehr Rücksicht, und auch ließ er sie in ihren Gebeten ungestört. Teil nahm er jedoch nicht daran. Antonie gesundete und blühte schöner auf, denn früher.

 

IV. Tief vergraben, aber nicht versunken

Seit der Krankengeschichte Antoniens besuchte der Pächter den Nachbar Schall mehr als früher; ja es schien, als ob er ihn oft geradezu aufsuche, obschon er sich um nichts offenherziger erwies. Daß Schall sich seiner Sache so angenommen damals, als er meist draußen war, daß Schall trotz der völligen Verschiedenheit ihrer beiderseitigen Lebensgewohnheiten ihm doch immer freundlich und herzlich begegnete und ihn schonte, wie er nie geschont worden, zog den unsteten Menschen immer mehr an ihn heran. Als in dem folgenden Frühjahre sich Not in der Gemeinde zeigte, und Schall wie zufällig einmal darauf anspielte, ließ der Pächter durch Schall den Armen Brod und Gemüse austeilen; nur wollte er nicht bekannt werden lassen, woher die Gaben eigentlich kämen. Schall sagte auch nichts; aber die Vögel in Birkheim pfiffen schon das Wunderlied vom »ledernen Heinrich«. Die Wohlthätigkeit wirkte doppelt wohlthätig zurück: aus die Birkheimer, die anfingen, ein besseres Interesse noch für den Baas vom Clamshofe zu empfinden, und auf diesen selber, der damit anfing, seinem Herzen Luft zu machen. Eines Tages sogar suchte der Pächter den Schall auf, ging mit ihm durch den Garten und ersuchte ihn dann, aber nur ja auf seinen (Schalls) Namen, das neue Kreuz auf dem Lindenhügel aufzurichten. Er habe es schon bestellt, und die Lindenbäume könne er auch pflanzen auf der alten Stelle. Nur müsse Schall niemand sagen, wer es eigentlich aufrichten lasse, und sorgen, daß es um Pfingsten an Ort und Stelle stehe. Antonie wolle das einmal so haben. – – Schall wußte nicht, wie ihm geschah; er hätte den Pächter umhalsen mögen. Aber der wurde plötzlich wieder sehr einsilbig, forderte strenge Verschwiegenheit und ging dann ganz aufgeregt fort. Am folgenden Morgen standen die Lindenbäume schon an ihrem Platze. Es gab viel Gerede in Birkheim. Wo sich der Clams-Baas nur sehen ließ, gab's freundliche Gesichter, herzliche Grüße, und wenn die Hoffrau mit dem Töchterchen zur Kirche ging, war des Geflüsters kein Ende. Schalls Trinchen aber hängte sich an das Hoftöchterchen, wo es nur konnte, und glaubte ordentlich ein Recht darauf zu haben. Sonst aber blieb der Pächter sich in seiner Lebensweise gleich. In der Pfingstwoche langte das neue Kreuz richtig bei Schall an, und er ließ es sich denn auch angelegen sein, daß dasselbe aufgestellt werde. Das ganze Dorf strömte zusammen, das neue Kruzifix auf dem Lindenhügel zu sehen, und daß es eigentlich noch schöner sei, als das alte, glaubten selbst die alten Leute. Antonie lief auch um das Kreuz und war erfreut wie nie, und ein ganzer Haufen Mädchen drängte sich um sie, denen das Hofkind nicht genug danken konnte, daß sie es hier gesund gebetet. Der Pächter hielt sich zurück, aber seit das Kreuz wieder auf seinem Platze stand, war es mit all seiner mühsam erzwungenen Ruhe aus. Wo er ging und stand, sah er das Kreuz vor seinen Augen, und die Gebete der Kinder mit seinem Kinde, unter dem frisch errichteten Heilszeichen, zur Danksagung, tönten Tag und Nacht in seinen Ohren. Es war, als wenn nach langen, starren Wintertagen, wo Schnee und Eis die Felder decken, im Frühlinge die ersten Windstöße aus dem Süden kommen und mit ihnen lauere Luft, dann aber die Windstöße stärker werden, in den Wipfeln heulen, über Land fegen, den starren Winter von dannen jagen, um die Erde zu neuem Leben zu erwecken. Das gährt und wühlt mit eigener Gewalt, aber das erstarrte Leben erwacht doch, und unter wechselnder Sonne und trüben Tagen kommt der Lenz ins Land. Dem Pächter begann's auch zu gähren und zu treiben im Herzen. Das verrottete Leid fing an, weh zu thun, ihn zu plagen wie nie, daß er bald nicht mehr aus noch ein wußte. »O, wer die Last vom Herzen hätte!« seufzte er oft vor sich hin, und erschrak dabei vor jedem Geräusch, aus Furcht, sein Herz zu verraten. Ja, er fing sogar an, seine täglichen Verrichtungen zu vernachlässigen, und stundenlang konnte er planlos durch Feld und Wald schlendern, ohne daß er selbst wußte, welche Wege er gegangen. Dann stand er auch wohl düster still, schaute sich den Clamshof an, seine blühenden Felder – und das Herz quoll ihm bitter auf. »Alles vergeblich!« murmelte er dann vor sich hin und hätte in Anfällen von Grimm die Werke seiner eigenen Hand zerstören mögen. Nur der Anblick des Lindenkreuzes sänftigte die Bitterkeit, vermehrte indes sein Elend und seine Unruhe. Es wäre viel zu erzählen, wie der arme Mann sich zerplagte, sich selbst zu entfliehen, und wie er oft nach einem Strohhalme griff, um sich tröstend zu zerstreuen; wie sein geliebtes Kind ihn fesselte und quälte, und das Leid täglich ärger war, weil es in den Tiefen seines Herzens sollte – Frühling werden.

Ein paar Tage nach dem Pfingstfeste waren verflossen, und schon fingen die Birkheimer an, sich auf das heilige Fronleichnamsfest zu rüsten. Das Fest selbst hat für das katholische Volk einen solchen Schatz von Poesie, tiefer, inniger, unerschöpflicher Bedeutung, daß nur der, welcher mitten drin steht, im Glauben und im Volke, begreift, wie das Fest das Volk an- und aufregen kann. Daß das Fest gerade in die blühende Jahreszeit fällt, gehört notwendig zum Ganzen. Allerdings, der nüchterne Unglaube, wie der fahle Zweifel wissen und fühlen in solchen Dingen im Winter und Sommer gleich viel, oder gleich wenig. Unser Pächter wurde von der nahenden Festfreude auch angeweht, es riß ihm durch Mark und Bein. Er wollte fliehen, aber das vermochte er nicht mehr. Wie nutzlos das Fliehen war, hatte er ja schon oft erfahren. Er suchte seinem Herzen Luft zu machen; bei seiner Frau ging das nicht, denn die war ja auch in sein Leid verflochten; sein Kind verstand ihn nicht, und wer wird so entsetzlich grausam sein, so bittere Galle in das schuldlose Herz eines Kindes auszugießen?

Am Abend ging der Pächter zu Ferdinand. Der saß scherzend mit seinen Kindern vor der Hausthür, während Knecht und Magd heitere Lieder in den Ställen sangen. Das Aussehen des Pächters erschreckte den Nachbar; denn Angst, Unruhe, Jammer, Zorn, alles stand dem Pächter auf dem Gesichte geschrieben. »Ferdinand, ich habe mit Ihnen zu reden!« hob der Pächter tonlos an, indem er dicht vor dem aufgestandenen Nachbar stehen blieb. »Kommt ins Haus, Nachbar!« bat derselbe. – »Nein, nicht ins Haus,« fuhr der Pächter fort, »gehen Sie mit mir einen Gang ins Feld.« – »Auch gut,« sagte Ferdinand und holte sich Wams und Mütze aus dem Hause. Die beiden gingen schweigend durch das hintere Gartenthörchen ins Feld. Die Sonne war bereits untergegangen, und in die Dämmerung hinein goß der volle Mond sein Silberlicht, – ein Abend, so hell, so traulich und still, daß man hätte beten mögen. Nur die Nachtigall im nahen Gebüsch ließ ihre wundervollen Lieder durch die blühenden Hecken ertönen. Die feierliche Ruhe in der Natur und der treue Nachbar zur Seite thaten dem Pächter wohl und wieder weh. Endlich hob er stotternd an: »Nachbar, ich muß einmal mit Ihnen reden!« Er schwieg wieder und ging eine Strecke weiter. Ferdinand ahnte, was kommen würde, doch schwieg er auch. Dann blieb der Pächter stehen und lauschte, ob kein Mensch in der Nähe sei. Es war still wie in der Kirche; nur von den fernen Gehöften hörte man die fröhlichen Gesänge der Jugend, die vor den Hausthüren zusammenzusitzen pflegt um diese Zeit. »Nachbar, ich muß Ihnen ein Geheimnis anvertrauen, werden Sie es bewahren?« fragte der Pächter dann und erzitterte. »Baas,« und der Ferdinand ergriff die Hand des Pächters, »Ihr leidet; ich sehe es Euch mit Schmerz an. Warum tragt Ihr Euer Leid allein? Meint Ihr denn, kein Mensch meine es von Herzen gut mit Euch? Sagt mir offenherzig, was Ihr auf dem Herzen habt, dann wird's gewiß besser. Als Christ und Nachbar muß ich ja schweigen.« Der Pächter schaute ihn mit verdunkelten Augen an und hielt seine Hand fest. »Ja, Ferdinand! ich will von Herzen reden, denn einmal muß es sein! Ferdinand, sei mein Freund!« – »Der bin ich ja lange gewesen,« antwortete Ferdinand. »Redet nur, und wenn ich helfen kann, wird's gewiß gern geschehen.« Der Pächter drückte ihm heftig die Hand, und wieder gingen die beiden eine Weile schweigend weiter.

»Ja, es ist nicht mehr so zu ertragen,« fing der Pächter dann wieder an. »Einmal muß die Last vom Herzen. Hab' ich mich doch jahrelang zerquält, sie im Herzen zu zerstören, aber das hat's Übel doch nur ärger gemacht. Nein, Unrecht bleibt Unrecht, Sünde bleibt Sünde, was der Mensch sich auch vormachen mag. Ich habe ein greuliches Unrecht auf der Seele, Ferdinand! mir ist, als werde ich von höllischen Geistern gejagt.« Er schwieg wieder. »Mein armes Weib habe ich gequält, mein Kind gequält, und uns alle unglücklich gemacht – alles um des Unrechtes willen, und je länger es wird, um so größer das Unrecht wächst. Ja, es ist wahr, dem Einen kann man nicht entrinnen. Bin ich doch wie ein flüchtiges Wild geworden, hinter dem unsichtbare Jäger jagen. – – Ferdinand, wie glücklich du bist; du weißt nichts von Leid, nichts von jener brennenden Angst, von jenem verzehrenden Grimm, der den Menschen plagt, auf dem der Fluch liegt. Ferdinand, wie du glücklich bist!« – Ein tiefer Seufzer rang sich aus der Brust des Armen. Wieder gingen die beiden eine Strecke schweigend weiter. Jetzt hatten sie den Saum des Wäldchens erreicht, das an die Felder des Clamshofes anstieß. Der Hof lag nicht weit entfernt, man sah das weiße Kreuz zwischen den jungen Linden im Mondlicht blinken. Sie setzten sich auf den Waldgraben.

»In meiner Jugend,« hob hier der Pächter ruhiger zu erzählen an, »habe ich von einer frommen Mutter eine gute Erziehung genossen. Ich habe ihrer nie vergessen können, auch selbst im ärgsten Elende nicht, sonst möchten wohl noch schlimmere Dinge geschehen sein. Leider starb sie zu früh für mich, ich war kaum zwölf Jahre alt. Vermögen hatten wir keines, doch brachte der Vater mich in die Handlung. Auch er ist längst tot und hat das Unglück seines Sohnes nicht gesehen. Ich bin eigentlich kein Bauer, Ferdinand; ich habe anderes gelernt. Ich wollte in der Jugend mich auszeichnen, reich werden, deshalb habe ich der Handelschaft alle meine Kräfte gewidmet. Bei einem reichen Kaufmanne habe ich lange in Diensten gestanden, seine einzige Tochter ist meine Frau geworden, nachdem ich alles aufgeboten, ihre Liebe und das Vertrauen ihres Vaters zu erwerben. Dazumal war es, daß die Lust an Reichtum, an Geld und Gut mich Tag und Nacht zu plagen anfing. Die Brüder meiner Frau waren mit der Heirat nicht einverstanden, sie mißtrauten meinen ehrlichen Absichten und sahen auch wohl geringschätzig auf mich herab. Ich meinte es wenigstens. Das nagte an meiner Seele. Nun wollte ich auch reich werden, um jeden Preis reich werden, damit ich den Schwägern gegenüber mich geltend machen könne. Also legte ich ein großes Geschäft an und machte Projekte auf Projekte. Mir fehlten die Mittel, also wandte ich mich an meinen Schwiegervater und wußte nach und nach ihm bedeutende Summen abzulocken. Der gute Mann, der mit unbegrenzter Liebe an seiner Tochter hing, ließ sich bereden, auch daß er einen Teil der Vorschüsse mir auf bloße Handscheine verabfolgte. Trotzdem wollten meine Pläne keine rechte Frucht bringen. Manches schlug gänzlich fehl, viel Geld war verloren. O, Ferdinand! du weißt nicht, was das in dem Herzen eines Menschen erzeugt, den Habsucht und Eitelkeit regieren. Es steht irgendwo geschrieben, daß, wer reich werden wolle, in viele Fallstricke gerate. Ich mußte es erfahren. Vor meiner Frau wollte ich meine Not nicht merken lassen, vor der Familie nicht geringer dastehen und doch standen meine Verhältnisse im Grunde sehr gefährlich. Wenn einmal ein Tag kommen sollte, wo ich mit der Familie abrechnen mußte, konnte ich unerträglicher Schmach nicht entgehen. Die Versuchung trat an mich heran, einen Teil meiner ausgestellten Schuldscheine mir anzueignen. Ich unterlag der Versuchung und vernichtete die Zeugnisse meiner Schuld. So habe ich zuerst das Vertrauen meines Schwiegervaters mißbraucht, dem Unrecht bei mir die Thür geöffnet, und den ersten Jammer im Herzen empfangen. Aber ich fand bei mir Ausreden und erfinderischer ist der Mensch nie, als wenn er für seine Übelthaten Ausreden ersinnt. Dazumal ist es immer öder und kälter mir im Herzen geworden, und die Ausübung der Religion ward mir schon leid. Die verlangt nämlich ein freies Herz und ein offenes Auge zu ihrem Dienste. Ich aber vergrub das Unrecht tief in meiner Seele. Von Stunde an, daß ich auf verbrecherischen Wegen ging, ward's indes mit dem Geschäfte nur schlimmer. Was ich auch anfangen mochte, eine Hoffnung nach der anderen sank zusammen. Nun war ich nicht derjenige, der das mit lammfrommem Herzen ertragen hätte, vielmehr wühlte sich das Unrecht immer tiefer in mein Herz ein, und mit harter Stirne wollte ich mich dem Geschick entgegenstemmen. In dieser, an sich schon unglücklichen Zeit, langte die Kunde von dem fast plötzlichen Todesfalle meines Schwiegervaters bei uns an. Wir wohnten damals am Niederrhein. Ich wußte meine Frau zu bestimmen, daß sie mich allein zum Begräbnisse reisen ließ, und mir Vollmacht ausstellte, in ihrem Namen mit die Familienangelegenheiten zu ordnen. Auf der Reise regten sich in meinem Geiste allerlei Stimmen, gute und böse; ich schwankte eine Weile, ob ich nicht die wahre Lage der Dinge vor den Schwägern offen darlegen, oder ob ich nicht schweigen oder gar das empfangene Geld im Notfalle ableugnen solle. Beweis konnte ja nicht gegen mich geführt werden. Wer aber zum Bösen einmal den ersten Schritt gethan und das Unrecht nicht sofort von sich schleudert, dem hängt es immer zäher an und drückt erstickend das Gewissen zusammen. Noch bevor ich in der Heimat meiner guten Frau anlangte, war ich mit mir einig, die Familie um die geheime Schuld zu betrügen. Es kam mit den Schwägern zu den Auseinandersetzungen. Aber hatten sie von dem Verstorbenen Winke über die erhaltenen Gelder erhalten, oder hatten sich Privataufzeichnungen vorgefunden, die nicht getilgt waren, man drang in mich, die erhaltenen Gelder auf Ehre und Gewissen anzugeben. Ich beharrte einfach darauf, nicht mehr schuldig zu sein, als die Bücher auswiesen. Wenn sonst was sein sollte, möge man Beweise bringen. Das führte zu scharfen und bitteren, endlich zu beleidigenden Ein- und Widerreden. Mein bitteres Herz wallte in Zorn und Wut auf. Das regte noch mehr den Zweifel gegen mich an. Kurz, es entspann sich aus der Teilung ein Streit, der uns vor die Gerichte führte. Ich war in einer gereizten, verbissenen Stimmung und fühlte die Versuchung zu neuen Verbrechen an mich herantreten. Ich wehrte mich schon nicht mehr. Und doch wußte ich alles genau, und war es mir vor der schrecklichen That, als ob ich über einem bodenlosen Abgrunde schwebe, aus dem das Hohngelächter der Hölle zu mir heraufwirble. Mir schauderte. Ich hätte aus mir selbst hinaus entfliehen mögen. – Alles vergebens. Als die Schwäger mich aufgefordert, vor Gericht zu bezeugen, daß ich nicht mehr erhalten, hatte ich prahlend ausgerufen: »Das kann ich, ja, das kann ich!« Man war im Zweifel gewesen, ob ich dazu fähig sei, man stritt noch, ob der schreckliche Versuch gemacht werden sollte; die im Grunde am meisten an meine Ehrlichkeit glaubten, drängten am meisten dazu. Also wurde der Gerichtstag festgesetzt, an dem ich – –.« Der Erzähler stockte, sah erst scheu um sich und ließ dann den Kopf in beide Hände sinken. Dann blickte er stier in das von dem hellen Mondenlicht beleuchtete Feld hinein. Sein Antlitz überlief eine fahle Blässe, als ob Gespenster vor seinen Augen hinhuschten. Unruhig rückte er Ferdinand näher.

»Ja, das war eine Nacht, die ist noch jetzt geeignet, einen sonst vernünftigen Menschen wahnsinnig zu machen, jene Nacht vor dem Gerichtstage in H. Ob ich geträumt, oder ob ich wach gewesen, ich kann es heute noch nicht sagen; aber alles, was in der frühesten Jugend mein Gewissen wach gerufen, es war wieder da. Die verstorbene Mutter beugte sich über das weinende Kind und segnete es, und der Pfarrer trat wieder vom Altare an die Kommunionbank, wie damals an dem schönsten Tage der Kindheit; neben mir hörte ich mein armes Weib weinen, drohend hob der verstorbene Schwiegervater seine Hand gegen mich auf. Nein, niemals ist mir jener furchtbare Name, den die Geister scheuen auszusprechen, so oft in den Sinn gekommen, als in jener Nacht, und seitdem immer, in jener Nacht, die ich einmal nicht vergessen kann, die ihre Schrecken in jeder Nacht wieder wach ruft, mich aufscheucht und ruhelos umhertreibt. Ich wälzte mich auf meinem Lager, stand auf, legte mich wieder nieder – nein, es ist alles thörichte, kindische Furcht, sagte ich mir. Was andere mit kecker Stirn und ruhiger Zunge können, das solltest du nicht auch können? Es handelt sich ja nur um lumpiges Geld! und widerrufen, dich blamieren? Nein, das geht nicht mehr! – In solchem Streit wurde es Tag; der Böse hatte gesiegt, eine äußerliche Ruhe war über mich gekommen. Kalt trat ich vors Gericht. Ich hatte eine Feier erwartet bei der schrecklichen Handlung, und fürchtete ihren Eindruck. Aber die ganze Handlung ging steif und oberflächlich her, kein christliches Zeichen störte mich, der Richter schien aus seinem hehren Amt ein Handwerk gemacht zu haben. – Also, Herr Francis, Sie können beschwören, daß Sie von Ihrem verstorbenen Schwiegervater keine größere Summe, als Sie angeben, erhalten haben? – Das war das einzige, was mir vorgehalten wurde. Ich bejahte das kalt und einsilbig. Dann wurde mir die Schwurformel eintönig vorgesagt, ich sprach sie in demselben Tone nach. In ein paar Minuten war alles vorüber.«

»Jesus, Maria, Joseph!« seufzte Ferdinand kaum hörbar. Dem gottesfürchtigen Manne rieselte es kalt durch alle Glieder, und unwillkürlich rückte er ein wenig vom Erzähler ab. Der schien darauf nicht zu achten, sondern ließ nur wieder den Kopf in die Hände sinken.

»Ja, da vor dem Gericht war alles vorüber,« fuhr der Pächter endlich lebhaft erregt fort; »vor einem anderen Richter fing aber nun erst der rechte Prozeß an, vor einem Richter, der keinen Zeugenbeweis, keine geschriebenen Akten nötig hat, bei dem der Mensch sich nicht verteidigen kann und doch sich nicht über Ungerechtigkeit oder Härte zu beklagen hat, auch wenn er zur ewigen Verdammnis verurteilt wird. Diesem Richter entkommt keiner! – – Wer noch an meiner Schuld gezweifelt, der zweifelte nun nicht mehr, so mag ich nach der entsetzlichen That ausgesehen haben. Zwischen mir und den Schwägern ist kein Wort mehr gefallen. Der mir zukommende Vermögensanteil wurde mir schriftlich überwiesen, zugleich mir aber auch bedeutet, jedes verwandtschaftliche Band als gelöst zu betrachten. Ich reiste ab. Aber nun fängt das eigentliche Elend an, guter Freund, ein Elend, das niemand bitterer, tiefer und furchtbarer empfunden hat, als ich, obschon viele daran haben teilnehmen müssen. Alles, was sonst Menschen erfreut, tröstet und erhebt, das war mir zur Qual, oft zum Greuel; nicht, daß ich es haßte, sondern, daß ich es nicht ertragen konnte. Jedes christliche Zeichen trägt den furchtbaren Namen dessen, den ich nicht mehr über die Lippen bringen konnte, dessen Namenszug unvertilgbar eingeschrieben ist ins Menschenherz, und der in dem meinigen brennt wie verzehrendes Höllenfeuer. O, ich hätte alle diese Zeichen verhängen oder aus dem Wege tragen mögen, damit ich nichts mehr davon sähe. Wer nun einmal sich mit solchen Dingen verfeindet, der fängt immer an, andere zu quälen. Alles, was mit mir in Berührung kam, mußte unter meiner Härte, unter meinem inneren Zorn und Unmut leiden, den ich auch äußerlich nicht mehr bezwingen konnte. Und doch zog es mich auch zu Menschen, und doch hing mein Herz an den Meinigen. Daß sie unter mir leiden mußten, machte mich nur noch elender. Denke dir, Ferdinand! die arme Frau, die alles weiß aus jener Zeit, die mich verachten mußte, der der Weg zur Familie offen stand, blieb doch bei mir und hat freiwillig an dem Fluch mitgetragen, der unser Leben vergiftet hat. Wenn diese herrliche Frau nicht gewesen wäre und unser unschuldiges Kind – wer weiß, was damals nicht geschehen wäre in Zorn, Leid, Schande und Grimm!

Ich gab die Handelschaft auf und wurde Landwirt, damit ich draußen sein könne und weniger mit den Menschen zu verkehren brauche. Ich bin von einem Gut aufs andere gezogen, um meiner eigenen Lebensgeschichte und nachfolgenden bösen Reden auszuweichen, habe mit Eifer mich meinem neuen Berufe gewidmet. Alles hilft nicht. Überall verfolgt mich der Fluch dessen, an dem ich gefrevelt, und wen der verfolgt, für den giebt's keinen Frieden. Früher haben mich die Menschen verfolgt, hier verfolgt mich anderes. Wenn die Morgenglocke zum Gebet für Christenmenschen läutet und ich schon draußen wie ein Flüchtling umherstreife, reißen die alten Wunden wieder aufs neue auf, und in die Erde hätte ich mich vor dem Schall der Kirchenglocken oft verkriechen mögen. Wenn der Sonntag kommt, und die Menschen in der Kirche Trost und Mut für die Mühen des Lebens und Hoffnung schöpfen für ein besseres Jenseits, dann ist es, als jagten mich böse Geister auf, aus meinem Hanse weg, und ich muß fort, dahin, wo mich niemand kennt, damit ich unter fremden Menschen den Sonntag verschmerze; denn die Kirchenluft können nicht alle Geister vertragen. Aber du weißt ja nun alles, Ferdinand, und all mein sonderbares Treiben wird ja nun klar. Hier auf dem Clamshofe, weit von dem regen Verkehr der Welt, dachte ich, nicht allein allem Gerede aus dem Wege zu kommen, sondern auch unter euch unkultivierten Menschen (ihr geltet sonst dafür) in meiner Art ungestört fortleben zu können. Denn der Mensch gewöhnt sich endlich so in sein Leid hinein, daß er wie instinktmäßig der Heilung aus dem Wege geht, oder, vielleicht besser gesagt, böse Geister halten ihn gefesselt und reden ihm ein, es nütze doch alles nichts, man solle sich nur trotzig in das Unabwendbare ergeben. Jetzt aber ist's für mich gar nicht mehr auszuhalten. Seit jenem Abend, wo ich zuerst in dein Haus kam, Ferdinand, und ich Zeuge eueres frommen Hauswesens sein mußte, bis auf diesen Tag ist so vieles und so mancherlei über mich gekommen, daß ich es nicht mehr meistern kann. Ich habe mich lange genug gewehrt, bin allem aus dem Wege gegangen, es geht nicht mehr. Wenn ich meinem Kinde ins Antlitz sehe, meine ich, meine fromme Mutter riefe mich mit Namen, und ist's denn nicht wahr? Ist dieses Kind mir nicht neu geschenkt worden? Bin ich das wohl wert gewesen? Und daß mir alles glückt auf dem Clamshofe, nagt mir ordentlich am Herzen. Was nun beginnen, Ferdinand?«

»Habt Ihr denn das Gebet ganz vergessen, Baas?« fragte Ferdinand nach einer Pause.

»Nenne mich mit dem Freundesnamen, Ferdinand!« bat der Pächter. »Ich habe dir ja geoffenbart, was ich bisher keinem Menschen gesagt.«

»Es sei darum,« gab Ferdinand zurück. »Hast du gar nicht mehr gebetet, Nachbar?«

»Nein, so recht beten hab' ich nicht mehr gekonnt. Bisweilen stieß mein Herz Worte heraus, die ich selbst nicht mehr verstand. Aber in deinem Hause habe ich oft gesessen und an euer Gebet gedacht, dann war's mir, als müßte ich mich wie ein fast Erfrorener, dem daheim das Feuer erloschen, an deinem Herde wärmen, damit ich nicht ganz erstarre. Ich möchte wohl wieder beten können, Ferdinand; und doch, wenn die Meinigen es thun, zerreißt's mir das Herz.«

»Aber es ist doch viel für dich gebetet worden, Nachbar,« bemerkte Ferdinand leise, wie schüchtern. »Wir Bauern können uns nun einmal nicht anders helfen, wenn wir ein Leid haben, und mit dir haben wir im Grunde doch alle unser Leid gehabt. Du weißt doch, wie die Kinder für die kranke Antonie gebetet haben. Das ging dich mit an.«

»So, das ging auch mich an?« dehnte der Pächter, wie aus einem Traume erwachend. »Um meinetwillen sollt' das Kind gesund werden? Und die Gnade ist endlich meinem Hause geworden um meinetwillen? Ist's darum, daß ich dem Kinde nichts mehr abschlagen kann, daß dort das Kreuz wieder errichtet ist und – –?« er hielt inne. Seine Stimme versagte. Unruhig stand er auf. »Was soll ich thun, Ferdinand?« rief er dann aus, »sage mir, was ich thun soll! Du weißt mein Leid.«

Ferdinand war auch aufgestanden und tief erregt; alles, was er geahnt hatte, aber mehr, als er in seiner schlichten Weise hatte ausdenken können, das war ihm klar geworden. Die beiden gingen den Feldweg dem Clamshofe zu.

»Nachbar,« sagte endlich Ferdinand, »du mußt beichten. – Gott ist gerecht, aber auch barmherzig. Dann wird's besser.«

»Ich habe dir ja alles gesagt, und jetzt ist mein Herz leichter,« versetzte der Pächter bedrängt.

»Nein, du mußt auch dem Pfarrer beichten,« drängte Ferdinand, »wie es christlich Recht erheischt.«

»Meinst du, das ginge so leicht?« preßte der Pächter heraus. »Weißt du auch, was notwendig darauf folgt?«

»Das geht leichter, als du meinst, Nachbar,« fuhr Ferdinand fort. »Mit Gott mußt du dich versöhnen, denn den hast du am schwersten beleidigt. Denke dir, was das heißt: falsch schwören, die Majestät Gottes mißbrauchen!«

»Schweig', Ferdinand, schweig'!« fiel hastig der Pächter ein. »Deine Rede kann ich nicht hören!«

»Aber das ärgste Unrecht mußt du zuerst gutmachen,« fuhr der Nachbar fort, »dann giebt sich das andere von selber; der Rückweg ist schwer, aber nicht unmöglich.«

»Den Schwägern den Schaden ersetzen,« fügte der Pächter langsam hinzu.

»Ja, da muß alles wieder an seinen rechten Herrn, koste es, was es wolle!« versetzte Ferdinand bestimmt.

»Weißt du auch, Ferdinand, daß ich dann von Haus und Hof muß?« stieß der Pächter heraus und blieb stehen. »Dann bin ich ein armer Mann und mag mit den Meinigen betteln gehen. Die ahnen nicht, wie hoch sich die Summe beläuft.« Das Gesicht des Pächters verfinsterte sich und nahm wieder jenen harten Ausdruck an, den sonst die Menschen so scheuten.

»Ärmer, als du jetzt bist, mein Freund, wirst du sicher nicht,« fuhr Ferdinand ruhig fort. »Was du an Geld und Gut verlierst, das und noch mehr gewinnst du an Segen und Frieden mit Gott und den Menschen.«

Der Pächter sagte kein Wort; sein Freund ließ nicht nach, ihn zur Versöhnung mit Gott zu bestimmen. »Und wenn die Schwäger mich dann vor Gericht ziehen – mein Gott! – was soll aus Frau und Kind werden?« Der Pächter zitterte, als ihm zuerst wieder der Name Gottes entfuhr. Darauf sprach er kein Wort mehr. Ferdinand machte Hoffnung, daß bei einem reuigen Bekenntnisse auch die Schwäger wohl ein Einsehen haben würden. Der Pächter schüttelte zweifelnd den Kopf.

Sie waren in der Nähe des Hofes und wollten sich trennen. Es ging schon gegen Mitternacht. Aus dem Pächter war kein Wort mehr hervorzubringen. Es ist nicht so leicht, das Unrecht von sich zu thun, wenn's einem in die Haut gewachsen ist.

»Wie wäre es, Nachbar, wenn ich zuerst für dich beichten ginge?« fragte Ferdinand endlich. – Der Pächter sah ihn durchdringend an; dann schüttelte er mit dem Kopfe.

»Aber beim Feste wird doch am Lindenkreuz der Segen gegeben?« warf Ferdinand hin. »Den Altar will ich herrichten. Früher wurde auch mit Böllern dabei geschossen, Nachbar. Du solltest der Gemeinde die Freude machen.« Der Pächter drückte ihm die Hand, sagte aber nichts und ging dem Hofe zu. Ferdinand sah ihm nach, ging dann zum Lindenkreuz, betete noch einige Vaterunser und ging heim. Innerlich war er doch sehr froh. Das Eis war ja gebrochen, und das Herz hatte den Trost der Mitteilung empfangen. »Das übrige möge Gott fügen!« dachte er. Frau Veronika forschte vergeblich am Manne, was der Clamsbaas mit ihm gehabt – er schwieg, wie das Grab.

 

V. Der Name des Herrn sei gebenedeit!

Einer der herrlichsten Sommermorgen war auch über das Pfarrdorf Birkheim angebrochen. Aus den betauten Gefilden waren schon bei der ersten Dämmerung die Lerchen eine um die andere jubilierend in die Lüfte gestiegen und hatten den lauten Gottespreis der Natur zum Himmel getragen. Mit ihnen waren aber auch schon die Birkheimer in Bewegung, nicht zur harten Arbeit, wie sonst, sondern zur Festzurichtung; denn es war an dem Tage Gottestracht, das heilige Fronleichnamsfest, jenes Jubelfest der Kirche für den ganzen katholischen Erdkreis, das so sinnreich den Festkreis des Glaubens mitten in der herrlichsten Jahreszeit krönt und schließt. Wenn alle Wunderthaten Gottes aufs neue von der Adventszeit an in Weihnachten, bis zur Fastenzeit auf Ostern und vom Himmelfahrtsfest bis Pfingsten den Christen vor Augen gehalten sind, der dreieinige Gott seine Liebe ausgegossen hat auf Erden, dann ist das Fronleichnamsfest, an dem das tiefste Geheimnis des Glaubens, der Erlöser selbst, wie im Triumphe hinausgetragen wird, damit die ganze Welt Zeuge sei von seinem Sieg über die Menschenherzen. Deswegen berührt dieses Fest auch so eigentümlich das gläubige Volk, und die guten Birkheimer thaten denn auch ihr Bestes. Zwar äußerte sich die Freude in Birkheimer Manier, hat doch jeder seine Art, sich auszulassen; aber von Herzen kam sie, was jedenfalls das Beste ist, und regte schon seit ein paar Tagen jung und alt auf. Kaum war nun am Festmorgen die Sonne über den fernen Hügel aufgegangen, Feld, Wiese und Wald mit goldigem Lichte tränkend, als die Glocken auch schon das erste Zeichen zum Gottesdienste läuteten und aus allen Gehöften des weiten Kirchspiels ein Teil der Bewohner sich auf den Weg zur Kirche machte, ein anderer Teil aber nach den Stationsplätzen eilte, um die Altäre vollends aufzustellen und auszuschmücken, die Wege dazu mit frischen Maien zu bestecken, Blumen und grünes Laub zusammenzutragen, die man in großen Körben an die Straße stellte. Und da seit undenklichen Zeiten jede Station von einer bestimmten Abteilung des Pfarrdorfes war besorgt worden, so setzte es in der Regel keine kleine Eifersucht unter den Birkheimern ab, welcher Teil den schönsten Altar zur Ehre Gottes herrichtete und die zugehörigen Wege am festlichsten ausschmückte. Da war denn ein geschäftiges Laufen und Rennen, ein Zutragen von Kerzen und Heiligenbildern, von Sträußen und Blumenkronen, daß der Altarbauer, ein herkömmliches Ehrenamt bestimmter Familien, in der Regel all die dargebrachte Herrlichkeit nicht zu fassen wußte. Aber verwendet mußte nun einmal alles werden. Von künstlerischer Schönheit konnte deshalb keine Rede sein, es war es Guten eben zu viel. Aber je bunter und überladener mit Zieraten Altar und Umgebung war, um so mehr es den Birkheimern gefiel, die in ihrem einfältigen Sinne ja auch nur die Opferfreudigkeit der Schenkgeber im Auge behielten, ungefähr, wie es bei unserem Herrgott wohl auch der Fall sein wird. – Auch lief man noch von einer Station zur anderen, um Vergleiche anzustellen, und referierte mit Hast, was da oder dort »Apartes« angebracht sei.

»Hast du den Altar am Lindenkreuz gesehen, Franz?« rief ein daherkommender Bauer dem anderen zu, der eben im Begriffe stand, mit roten Bändern die Blumengewinde am Tabernakel der letzten Station zusammenzubinden. »Was! ein Altar am Lindenkreuz beim Clamshofe?« versetzte der Gefragte verwundert, blieb auf seinem Stuhle stehen, und schaute mit halb offenem Munde den Sprecher an. »Also soll doch heute wieder dort der Segen gegeben werden! Ist's aber auch gewiß?«

»So gewiß, als die Sonne am Himmel steht,« versetzte der Angeredete. »Gestern ist schon alles bereit gelegt worden, und seit drei Uhr arbeitet der Ferdinand mit seiner ganzen Familie am Altare beim Lindenkreuz. Ich hab's eben mit meinen eigenen Augen gesehen. Der ganze Hag läuft zusammen und hilft unter Singen und Jubilieren. Auch das Gesinde vom Clamshofe ist dabei und hat gewiß den ganzen Garten geplündert, um Blumenkränze zu machen. Man spricht sogar davon, der Baas habe Katzenköpfe (kleine Mörser) kommen lassen und es solle geschossen werden.«

»He, am Clamshofe wird geschossen!« riefen die umstehenden Buben im Chor, die eben grüne Zweige herbeigeschleppt hatten und, als sie vom Schießen hörten, Nase und Maul aufsperrten, dann aber auch sofort Reißaus nahmen nach dem Clamshofe hin, um am Lindenkreuzaltare zu helfen, wo geschossen werden solle, – das Kapitalvergnügen aller Bauernbuben. »Die vertrackten Jungen lassen alles stehen und liegen und laufen fort!« polterte der Altarbauer, indem er von seinem Stuhle stieg. Aber schon liefen kleine Mädchen herbei und rissen an den Zweigen, sie in Reih' und Glied zu stellen. Für's heilige Fronleichnamsfest ist alles thätig.

»Ist wirklich wunderbar, die Sache mit dem Lindenkreuz, meinst du nicht, Johannes?« fuhr der Altarbauer fort, indem er zu seinem Nachbar trat und zugleich das Werk seiner Hände von unten mit einer Kennermiene prüfte. »Hast du den »ledernen Heinrich« nicht dabei gesehen?«

Der Angeredete stieß den Sprecher sanft in die Seite und deutete mit dem Blicke seitwärts. Durch die umstehenden Leute schritt, ihr festlich geziertes Kind an der Hand, die blasse Hoffrau gesenkten Blickes wie immer daher zur Kirche, um der Frühmesse beizuwohnen. Auf ihrem Gesichte lag der Schimmer einer innern freudigen Erregung. Alles wich ihr ehrfurchtsvoll aus dem Wege, die Bauern zogen die Hüte ab und grüßten leise, einige Frauen, die dabei standen, traten näher an den Weg und konnten kaum ihre Lust bezwingen, die gute Hoffrau laut zu beglückwünschen. Die aber grüßte still wieder, blickte nicht auf, sondern zog das heiter um sich schauende, hoch errötende Kind fester an sich und ging zur Kirche. Antonie fühlte eine besondere Art Entzücken im Herzen aufsteigen, als sie die freundlichen Winke und Grüße der Leute Schritt für Schritt einsammelte, die ihr ja alle so gut waren, sie wußte selbst nicht, wie gut. Der Hoffrau folgte ein freudiges Gemurmel der Bauern, die heute ordentlich stolz auf die Hoffrau waren; ein Haufe kleiner Mädchen aber drängte sich beschauend um die festlich geputzte Antonie und lachte ihr mit ungeheuchelter Freude ins Gesicht.

»Gebe Gott, daß der heutige Tag ein Segenstag für den Clamshof wird!« rief der Franz aus, als die Hoffrau aus der Nähe war. »Der Baas muß doch noch einer der Unsrigen werden, und dann wird die brave Hoffrau auch seiner wieder froh. Da wollen wir an der Lindenstation aber singen und beten, daß es bis in den dritten Himmel schallt!«

Die Frühmesse hatte noch nicht begonnen, als das ganze Kirchspiel wußte, daß am Lindenkreuze wieder werde der Segen gegeben werden. Die ganze Gemeinde war freudig erregt.

»Aber, Johannes, hast du den Baas wirklich nicht gesehen?« fragte leise der Franz. – »Nein, gesehen habe ich ihn nicht, er ist aber auch nicht fortgeritten. Was der Schall herrichtet, das hat der Baas befohlen, sonst geschäh' es sicher nicht. Aber der Schall hält reinen Mund. Heute ist er, als ob er halbselig schon sei, ja, als habe er den Clamshof erobert.«

»Ein braver, wackerer Mann, der Schall!« versetzte der Franz, »und der hat gewiß den Baas herumgekriegt.«

»Das möge Gott ihm lohnen!« war die Antwort.

*

Richtig, am neuen Lindenkreuz, um das bereits die im Frühjahr gepflanzten jungen Linden fröhlich grünten, war der Ferdinand schon seit dem frühesten Morgen mit der ganzen Familie thätig, um den Altar aufzurichten und auszuschmücken. Erst tags vorher war ihm Antonie jubelnd ins Haus gesprungen und hatte den Auftrag vom Vater überbracht, der an dem Morgen mit seinem Knecht nach dem nächsten Städtchen gefahren war und auch erst spät heimkehrte. Natürlich geriet der ganze Hag, in dem Ferdinand wohnte, in fröhlichen Aufruhr, und des Laufens war kein Ende, die nötigen Dinge noch herbeizuschleppen. Dem Pfarrer aber machte Schall noch abends selbst die Anzeige, – eine von jenen Hirtenfreuden, die oft rar, aber dafür auch kostbar sind. Der gute Pfarrer hätte gern mehr gewußt über den Pächter, aber Ferdinand zuckte die Schultern und empfahl ihn besonders für morgen ins Gebet. Im Clamshofe selbst war's, als ob ein alter, verjährter Bann von den Leuten genommen sei; denn alle hatten die Erlaubnis, dem Schall beim Altare zu helfen, und Antonie hatte volle Gewalt über den Garten erhalten. Das lief und sprang und sang durchs Haus, durch den Hof, im Garten herum, daß der guten Frau war, als ob sie träume. Sie konnte noch nicht glauben, daß ein anderes Leben auf ihrem Hofe beginnen solle. Oft schloß sie ihr seliges Kind in die Arme und barg ihr Gesicht an seinem Herzen, das ja im Grunde doch ihr zum Thor des Friedens zu werden schien. »Mutter,« hat das treffliche Kind ihr erzählt, »der Vater wird gewiß wieder gut. Als ich ihn gestern bat, am Lindenkreuz, wo ich ja gesund sei gebetet worden, den Altar errichten zu lassen, da hat er mich so lang und so traurig angeschaut, mich dann heftig an sein Herz gepreßt und gesagt: Ja, Antonie, sage Ferdinand, er solle den Altar errichten, aber hörst du, morgen, wenn ich fort bin, heute noch nicht, und laß unsere Leute helfen. Du aber gehe mit der Prozession und bete für deinen armen Vater. Mutter, und alle Blumen des Gartens hat er mir geschenkt, und ich könne machen, was ich wolle, hat er gesagt, und dann ist er fortgegangen und hat sich in sein Zimmer eingeschlossen. Dir sollt' ich's auch sagen.« Das war die Vorfreude vom Fest. Abends spät war der Baas heimgekehrt, war noch nach dem Lindenkreuz gegangen, wo die ersten Vorbereitungen schon getroffen waren, hatte den Garten durchschritten, worin sein Kind schon freie Herrschaft geübt; aber er sagte nichts, sondern hielt Antoniens Hand in der seinen, blickte dem Kinde in die erfreuten Augen, bis er es nicht mehr ertragen konnte, und hatte dann seiner Frau »gute Nacht« gewünscht, in einem Tone, wie sie ihn nicht gewohnt gewesen, und hatte sich in der Nacht in sein Zimmer eingeschlossen. Am frühen Morgen war er mit seinem älteren Knechte beschäftigt, die gestern mitgebrachten Mörser auf den Buchenkopf, einen hinter dem Hofgebäude hervorspringenden Waldhügel, zu schaffen. Das sollte zwar ein Geheimnis bleiben, aber die eigenen Leute waren so erfreut, daß sie nicht schweigen konnten. Doch durfte, außer seinem Knechte Joseph, der früher bei der Artillerie gestanden, keiner auf den Buchenkopf. In die Frühmesse war die Hoffrau mit ihrem Kinde gegangen, war dann aber wieder heimgekehrt, da sie wohl fühlte, daß sie Ruhe halten müsse. Antonie aber, in ihrem besten Staat, sollte und wollte die Prozession begleiten und mitbeten und sich freuen an der gemeinsamen Gottesfreude. Sie hatte ja auch so viel zu danken und zu erbitten! Noch vor der Frühmesse hatte Schall den Altar hergerichtet und mit Hilfe der Knechte vom Hofe, die während der ganzen Nacht Maien und Laub herbeigeschleppt, alles in Reih' und Glied stellen lassen. Die herzugelaufenen Buben hatten auch noch geholfen, konnten aber noch immer nicht gewahr werden, wo denn geschossen werden sollte. Viele versäumten die Frühmesse über der Neugier, so daß Schall sie endlich zur Kirche treiben mußte, damit sie bei der Prozession nicht fehlten.

Bald nach dem Frühgottesdienste läuteten alle Glocken der Pfarrkirche, und gleich darauf hörte man beim Clamshofe von der Kirche her ein eigentümliches Gemisch von Gesang und Gebet, das aus Hunderten von frischen, kräftigen Kehlen hinausdrang in die Lüfte und sich breitete über das Dorf, über Feld und Wald, wie unsichtbare Weihrauchwolken, die den irdischen Menschen wie willenlos hinaufziehen zum Himmel. Alles, was der Sandmann treibt, das muß frisch und kräftig heraus, und seinen Gott will er eben so kräftig loben und preisen, als die Hand zur Arbeit rühren. Bald war es der gewaltige kirchliche Männerchor, dessen mauernerschütternde Stimmen hinauswogten in die helle, klare Luft, daß er das Echo im nahen Gebüsch weckte, bald griffen die hellen, klaren Knabenstimmen durch, die ein geistliches Siegeslied anstimmten zum Preise des guten Gottes, der mit hinauswandelt in die Flur; dazwischen rollten die schweren Wogen des gemeinsamen Rosenkranzgebetes der Prozession, wieder übertönt durch den Jungfrauenchor, der in gemessenen Zwischenräumen mit dem Männerchor abwechselte und durch Frische ausglich, was ihm an Macht gebrach. Da flatterten die Bruderschaftsfahnen schon zwischen den Häusern, und ihre vergoldeten Spitzen brannten im hellen Sonnenschein; das Kreuz aber schritt voran, denn es ist auch sein Sieg, den das Fest feiert. So wogte die Prozession aus der Kirche heraus ins Freie über mit Blumen bestreutem Wege, zwischen grünen Maien und Laubgewinden, hinter denen die Bauernhütten fast verschwanden. Wer das alles von einiger Entfernung aus hörte und sah, dem griff es wunderbar ans Herz und hob ihn auf, er mochte wollen oder nicht, und Schauer um Schauer lief über seine Seele. Schall war mit seinem Bastian beim Lindenkreuz geblieben, den Altar zu hüten. Alle anderen waren zur Kirche, zur Prozession geeilt, denn in Birkheim dienen noch alle dem Herrn. Als die ersten Wogen des Kirchengesanges an Schalls Ohr schlugen, faltete er unwillkürlich die Hände; als die Kinderstimmen nachjubelten, lag er schon auf den Knieen und die Augen wurden ihm feucht, denn der Schall ist just so ein rechter Bauer mit grober Haut aber weicher Seele, dessen Herz unaussprechliche Freude an guten Dingen hat. Aber während die Prozession sich eben aus der Kirche bewegt, jetzt der alte Pfarrer unter die Kirchthür tritt, das Allerheiligste in seinen Händen, und die ersten Weihrauchwolken hinaufsteigen in den lichten, blauen Himmel – horch', hinten beim Clamshofe auf dem Buchenkopfe donnern die Mörser, eins, zwei, drei! den Gruß vom Clamshofe unserem Herrgott entgegen. Der weiße Rauch wirbelte zwischen den grünen Bäumen in die Höhe, während die blitzenden Schläge weit hinaus ins Land rollten. Das war in Birkheim neu, für dieses Geschlecht fast unerhört. Im Nu stand die Prozession still – einen Augenblick hörte alles Beten und Singen auf – bis die Donnerschläge vorüber waren; dann aber brach die frohe Begeisterung der schlichten Dorfbewohner in einer Fröhlichkeit des neuen Betens und Singens aus, daß dem alten Pfarrer, der seine Birkheimer kannte, die hellen Thränen über die Wangen liefen, während er Gottes wunderbares Geheimnis in seinen erzitternden Händen trug. Als die Schüsse fielen, hatte Antonie, die zuletzt bei den Jungfrauen sich befand, froh aufgeschaut; als das Beten und Singen so plötzlich stockte, hielt sie unwillkürlich den Atem an und blieb mit den anderen stehen; als aber das Gebet mit einer Begeisterung begann, der jubelnde Gesang mit höherer Kraft daherbrauste, erblaßte sie vor Bewegung und schwankte in ihrem Gange. Schnell war Veronika, die kein Auge von ihr gewandt, an ihrer Seite, griff nach ihrer Hand und ging ermutigend mit ihr weiter. Die umgebenden Mädchen hätten Antonie auf den Händen tragen mögen.

Bei der ersten Station am Marterkreuz – von den dort aufgehängten Leidenswerkzeugen so genannt – fielen beim Segen wieder die Salutschüsse, dann folgte noch einer, als der Hilfsgeistliche das Hochwürdigste ergriff und fortging mit der Prozession. Nun war's still; denn die Prozession machte einen weiten Umweg durch Wiesen und Felder, kaum hörte man am Lindenkreuz noch das Beten und Singen; aber man sah noch die flatternden Fahnen, die blinkenden Kreuze, die gezierten Laternen aus den reichen, wogenden Kornfeldern herausragen, auch den rotdamastenen Himmel mit der Weltkugel drauf, den die vornehmsten Bauern trugen und unter dem sich das Allerheiligste befand. Die Kirche selbst lag verlassen hinter den Häusern; nur winkten grüne Birkenmaien, die an den Schalllöchern des Turmes hinausgestreckt waren, in der lauen Morgenluft, während das Geläute nicht aufhörte.

Bei der zweiten Station, am langen Kamp, wo die alte Kapelle zum heiligen Martinus steht, krachten die Böller aufs neue, immer zum besonderen Jubel der Buben, die dann richtig aus dem Kontext ihres Gebetes gerieten, so daß der Schullehrer große Not hatte, sie wieder in Reih' und Glied zu bringen. Viele von ihnen konnten sich kaum bezwingen, daß sie nicht davon liefen nach dem Buchenkopf beim Clamshofe, woher die Schüsse kamen. Von der Kapelle zum heiligen Martinus bewegte sich die Prozession rechts durch ein kleines Gebüsch, dann über den Wiesenfleck abwärts nach dem Hag, zwischen einigen Häusern hindurch, durch Schalls Baumgarten nach dem Clamshofe zu. Kaum daß das Prozessionskreuz, das an der Spitze derselben getragen wird, am Saume des Wäldchens von dort aus sichtbar wurde und die ersten Knaben, einen frischen Gesang anstimmend, hervortraten, krachten neue Böllerschüsse am Buchenkopf. Deutlich sahen es die Buben, daß es der Baas vom Clamshofe selber war, der, an einen der vordersten Bäume gelehnt, die Zündstange in der Hand, nach ihnen hinüberschaute, während sein Knecht, der Kanonier Joseph, eifrig mit frischem Laden beschäftigt war. Das gefiel den Buben ungemein, und sie hoben nun erst mit einem Feuereifer zu beten und zu singen an, als ob sie jetzt frischweg in den Himmel einziehen wollten. Ihre hellen Stimmen wirbelten ordentlich in die Lüfte hinein, daß sie im ganzen Hag den Widerhall weckten. Aber die Buben waren es nicht allein, die in Eifer gerieten, wie es dem Clamshofe näher ging, sondern alle Beter der ganzen Prozession waren tief ergriffen und hoben den Betton höher, und die Stimmen der Sänger und Sängerinnen erzitterten vor innerer Bewegung; denn es war doch auch ein Siegeszug nach dem Clamshofe, nach dem wieder aufgerichteten Lindenkreuz, wo seit Jahrhunderten, besonders an diesem Tage ihre Vorfahren gebetet hatten, und auch ein Siegeszug nach einem Menschenherzen, dessen innere Umwandlung nun ja kein Geheimnis mehr war. Er, der gefürchtete, der gescheute Baas vom Clamshofe, den sie nie als den Ihrigen hatten betrachten können, stand ja oben zwischen den Buchen und donnerte fortwährende Grüße den Kommenden entgegen. Seit nämlich die Prozession sich dem Lindenkreuze näherte, hatte das Schießen nur aufgehört, um aufs neue zu laden, was der Joseph mit flinker Eile verstand. Der Pächter stand mit hochgerötetem Angesichte dabei, jeder Nerv an dem Manne zitterte, kaum vermochte er endlich noch die Zündstange zu halten. Wie Ströme Feuer ergoß sich die schwellende Festfreude des Glaubens wieder in seine Brust, über sein Herz, daß er erschrak und erbebte vor den neuen, ungekannten und doch so hinreißenden Eindrücken. Endlich warf er die Stange Joseph zu und lehnte sich, das Gesicht mit beiden Händen bedeckend, an den nächsten Baum. Er fühlte Thränen kommen, Thränen, die er seit langen Jahren nicht mehr geweint hatte, – er schämte sich vor sich selber. Wer mit den Thränen quoll auch sein tieferes, besseres Wesen wieder auf und drückte die hemmenden Schranken ein, auch wenn dieses Losringen Bitter schmerzte durch Mark und Bein. So blieb er stehen.

Unterdessen hatte die Prozession das Lindenkreuz erreicht. Wie im Triumphe umging sie in weiten Bogen den geheiligten Fleck Erde, auf dem das neue, schöne Kruzifix, heute mit Blumen umwunden, zwischen grünen Bäumen emporragte. In grüner, mit den schönsten Blumen des Hofgartens ausgezierter Laube war der Altar errichtet, neben dem Schall kniete mit seinem treuen Bastian. Neben dem Kreuz aber, halb in der Laube versteckt, kniete die Hoffrau, voll von einer Seligkeit, für die sie keine Dankesworte finden konnte. Als die Frauen nahten, führte Veronika die überglückliche Antonie zu ihrer Mutter; sie selbst kniete hinter den beiden, von sorglicher Ahnung befallen. Das Gebet der Umstehenden verlor sich in Schluchzen und Weinen. Alle fühlten eine Freude mit, für die der offene Mensch nur die Thränen des Dankes gegen Gott hat, da sie ja auch nur von ihm kommen kann.

Das Evangelium wurde gesungen, der Antiphon zum Segen angestimmt, der Pfarrer sang das Gebet. Dann eine lautlose Stille. Zitternden Schrittes trat der Pfarrer zum Altare hinan, ergriff das Allerheiligste und wandte sich mit demselben gegen den Clamshof. Alles sank auf die Kniee, selbst das fernste Beten verstummte.

» Sit nomen Domini benedictum!« (Der Name des Herrn sei gebenedeit!) sang der Pfarrer mit seiner mächtigen Stimme, daß sie über den Clamshof weg bis nach dem Buchenkopfe drang.

» Ex hoc nunc et usque in saeculum!« (Von nun an bis in Ewigkeit!) antwortete erschütternd der Chor. Da sank neben der vordersten Buche dort oben ein Mann, auf den aller Augen gerichtet waren, auf die Kniee, das Haupt zur Erde gebeugt. Der Segensruf hatte ihn getroffen und niedergeworfen.

»Der Baas! der Baas! sehet, der Baas!« flüsterten sich die Leute zu. Antonie erhob die Augen, und als sie den Vater auf den Knieen liegen sah, zuckte das Kind vor freudigem Schreck zusammen. »Mutter, der Vater betet!« rief es so laut, daß man's ringsum hörte. Die Hoffrau versuchte auch aufzuschauen ihr wallte das Herz auf, aber ihr war, als ob ein Blitz ihr vor den Augen vorübergefahren, sie sah nur noch den Pfarrer, das Allerheiligste, dann verdunkelten sich ihre Augen, und sie sank langsam zusammen – Veronika in die Arme, die selbst an allen Gliedern zitterte. Da segnete der Pfarrer Hof, Feld und Wald, und was drinnen wohnt und den Namen des Herrn anruft, und daß der Herr fernhalten wolle von allen jede böse Gewalt und sie schützen möge als seine Kinder – dem Pfarrer versagte die Stimme, sein Herz sprach das Ende des Segens allein. Schlag auf Schlag fielen die Schüsse von der Höhe, lauter jubelte der Chor das Lauda Sion, und mit mächtigem Rufe hoben die Brudermeister ihre Stäbe und Stimmen zum Gebet, ein heiliges Getümmel, das den Menschen aufregt und über sich hinaushebt – in die Gemeinschaft der Heiligen. Nur die zunächst beim Altare waren, sanken mit dem Pfarrer noch vor dem göttlichen Erlöser nieder und beteten, als ob sie sich darüber geeinigt hätten, für den Clamshof und daß Gott das begonnene Gute zu fröhlichem Ende führe. Dann zog die Prozession ihres Weges weiter. Veronika hielt die Hoffrau noch in den Armen, bis die Leute fortgegangen waren; dann rief Ferdinand noch einer Magd, daß sie Wasser bringe. Der Pächter aber war aufgestanden und kam geradeswegs vom Hügel herunter auf das Lindenkreuz zu. Antonie lief ihm entgegen und fiel ihm um den Hals. »Die Mutter, die Mutter!« rief das geängstigte Kind. Ferdinand aber beruhigte den ankommenden Nachbar, daß es nur eine leichte Ohnmacht sei. Man hatte die Hoffrau auf die Stufen des Altars gesetzt. Bald schlug sie auch die Augen auf und blickte, wie aus einem Traume erwachend, ihrem Manne, der sich zu ihr niedergebeugt hatte, ins Angesicht. »Marie! meine gute, liebe Marie!« rief der Pächter aus und küßte seinem Weibe beide Hände. »Ach Gott!« flüsterte die Hoffrau, »ich meinte vor Freude zu sterben um deinetwillen! Gott sei gelobt, Heinrich, nun wird ja alles wieder gut!« Der Pächter sah zum Kreuze auf: »Ja, es soll mit Gott wieder gut werden, alles wieder gut.«

Man brachte die Hoffrau ins Haus. Antonie und Veronika blieben bei ihr. Der Pächter ging eine Weile auf sein Zimmer, dann kehrte er ruhig zurück, ergriff Schalls Hand, sah ihm nachdenkend ins Gesicht und drückte dann den Freund an sein Herz. »Du hast wie ein Bruder an mir gehandelt, Ferdinand, ich werd's dir in Ewigkeit nicht vergessen!« rief er aus. »Nun mag kommen, was da will!« – »Gottes Name sei gebenedeit!« antwortete Schall und wischte die Thränen von den Wangen. Der Pächter setzte seinen Hut auf. »Kommt, Ferdinand, jetzt wollen wir gehen!« – »Aber für mich ist's Zeit,« hielt dieser an. Er wollte zum Hochamt gehen, das gleich nach dem Einzug der Prozession gefeiert wurde. »Nun, für mich auch,« versetzte der Pächter und lächelte. »Ich denke, wir gehen zusammen. Du schämst dich doch meiner nicht?« – »Wir gehen ins Hochamt!« rief Ferdinand den Frauen zu; er hätte es gleich der ganzen Welt sagen mögen. »Da gehe ich aber mit!« jubelte Antonie, und schon hing sie dem Vater am Arm.

Die drei gingen der Prozession nach, die sie noch bei der letzten Station erreichten, dann mit in die Kirche ins Hochamt. Zusammen saßen sie im Kirchenstuhle, der seit jeher zum Clamshofe gehört hatte. Anfänglich gab's ein Aufsehen und ein Augenwinken der Leute; dann aber folgte eine um so größere Andacht. Dem Pächter war's, als ob er in eine andere Welt versetzt wäre, und eine wunderbare Ruhe war über ihn gekommen. Sein ganzes Aussehen hatte sich auffallend zu seinen Gunsten verändert. Ja, ohne Gott und mit Gott, das ist ein himmelweiter Unterschied!

Mittags blieb Ferdinand mit seiner Frau auf dem Clamshofe zu Gast, die ersten Gäste nach so vielen Jahren. Es war viel traulicher im Hause.

Nachmittag wandelte das ganze Kirchdorf nach dem Lindenkreuze, und noch am späten Abend saßen Gruppen dabei im Gebet. Doch ließ sich der Pächter nicht sehen. Der hatte mit Ferdinand noch viel zu reden, denn anderen Tags sollte der zum Pfarrer gehen und ihm das Beichten erleichtern. Die Buben aber tummelten sich auf dem Hügel des Buchenkopfes umher und staunten die kleinen Mörser an, die so fürchterlich krachen konnten. Sie hätten das Laden und Schießen gern einmal in der Nähe gesehen. Aber der Joseph that ihren Willen nicht.

Ein schöneres Fronleichnamsfest war in Birkheim seit Menschengedenken nicht gefeiert worden, so meinten alle.

 

VI. Gott vergiebt, und die Menschen vertragen sich

Die Fronleichnamsoktave war noch nicht zu Ende, und schon hatte Ferdinand vor und der Pächter gleich darauf beim Pfarrer gebeichtet. Es hatte keine besonderen Schwierigkeiten mehr, denn der Pächter war mit allem zufrieden, was doch nun einmal sein mußte. Am heiligen Tische knieten neben dem Vater Mutter und Tochter in einer Freude, die sich auf dem Papier nicht schildern läßt. Antonie sah aus wie eine Verklärte, die Mutter, als ob sie das Letzte und Beste vom Leben gewonnen habe und an keinen weiteren Wunsch mehr zu denken wage. Die ganze Gemeinde war voll Jubel und Freude, und wo Baas Heinrich sich nur sehen ließ, da rissen die Bauern die Mützen und Hüte herunter und grüßten freundlich und gaben ihm die Hand, als sei's ein alter Bekannter, der hinten weit vom Ende der Welt nach langer Abwesenheit und großen Gefahren wieder in die Heimat zurückgekehrt sei. Der Ferdinand war und blieb der Busenfreund des Pächters, aber der schweigsame; denn aus Ferdinand riß keine Gewalt der Erde heraus, was er einmal still im Herzen behütete. Die Bauern rieten auf alles mögliche und unmögliche, was dem Baas Heinrich möge gefehlt haben: aber trafen das Rechte doch nicht. Der Pfarrer schrieb zuerst an die gefürchteten Schwäger; dann schrieb der Pächter auch einen offenherzigen, reumütigen Brief, worin er sein ganzes Vermögen den Beleidigten zur Sühne anbot, wenn sie nur verzeihen wollten. Nebenher lief noch ein Brief von der Hoffrau, und die Antonie that auch noch ihren Senf dazu. Und das war nicht der schlechteste. Leiden und Freuden machen wunderbar beredt. Es dauerte nicht vierzehn Tage, als der Pfarrer eines Nachmittags mit einem Briefe nach dem Clamshofe mehr lief, als ging, trotz seiner alten Beine. Ferdinand plauderte gerade an der Hecke mit dem alten Hannes und sah den Pfarrer dahereilen. Spornstreichs lief er in den Hemdärmeln auf ihn zu. »Heda! Herr Pastor! Herr Pastor!« Der winkte mit dem Sacktuche und eilte weiter. Zusammen stürmten die beiden in den Clamshof. Antonie stand gerade unter der Thüre. Die brauchte nichts zu hören, die sah an den Gesichtern der beiden, was zu thun war. »Mutter! Vater! der Herr Pastor! Baas Ferdinand!« schrie sie zum Hause hinein. Denen wankten die Kniee, als der Pfarrer das Schreiben vorlas, worin der älteste Bruder als Chef der Familie der Hoffrau antwortete, daß sie bereit seien, von Herzen zu verzeihen, zu vergeben und zu vergessen, da Gott ja schon verziehen habe. Ja, in einer der nächsten Wochen wolle der Briefschreiber selbst herüberkommen, damit er die lange entbehrte, geliebte Schwester wieder sehe und mit dem Schwager alles persönlich in Ordnung mache.

An demselben Tage erhielten die Armen der Gemeinde auf vier Wochen hinreichend Brot – bis zur Ernte – vom Clamshofe. Hatte die Hoffrau früher viele Thränen vergossen aus Schmerz, dann weinte sie nun alle Tage aus seliger Freude; denn das Verzeihen und Versöhnen ist so süß, daß man's trocken nicht so gut kann. Nur der Pächter erwartete mit einigem Schrecken die Ankunft des Schwagers, und stundenlang saß er insgeheim beim Ferdinand, um die quälenden Gedanken loszuwerden. Der tröstete ihn, so gut er vermochte.

Das Leid dauerte aber nicht lange. Ungefähr zehn Tage später fuhr gegen Abend ein stattlicher Wagen über das Birkheimer Feld, wohin, konnten die Bauern noch nicht begreifen, die auf den Zehen standen und dem kostbaren Gefährte nachschauten, wie sie in Birkheim noch keines gesehen. Der Wagen aber schlug den Weg nach dem Clamshofe ein, der eben zwischen dem hohen Korn nicht gar zu leicht zu finden war. In dem Wagen drin saß ein reichgekleideter Herr mit seinem fünfzehnjährigen Töchterlein, auf dem Bock Kutscher und Bedienter. Des Wegs kam ein stämmiger Bauernjunge daher, den fragte der Kutscher nach dem nächsten Weg zum Clamshofe. Der Bursch aber war Schalls Wilhelm, der nicht sobald hörte, daß der vornehme Besuch dem Clamshofe gelte, als er gleich Kehrt machte, den richtigen Weg anwies und schon dem Wagen vorauflief, in den Clamshof hinein und mit eiliger Hast dort verkündete, was Neues auf dem Wege sei. Die Hoffrau trat ans Fenster; als sie aber den Wagen um den Hügel des Lindenkreuzes zum Hofthor lenken sah, den alten Kutscher Theodor auf dem Bock erkannte, versagten ihr die Kniee. Antonie aber sprang freudig in den Hof hinab, den Ankommenden entgegen, dem Oheim Albert, von dem die Mutter so oft erzählt, wenn sie allein gewesen, und der Nichte, die sie in ihrem Briefe so herzlich gegrüßt hatte. Die Kinder flogen sich zuerst in die Arme und besahen und küßten einander, als ob ferne geliebte Freundinnen sich plötzlich wiedergefunden. Das gefiel dem Kaufherrn recht wohl, und nach Vater und Mutter fragte er der Schwester blühendes Kind. Antonie zog ihn in die Wohnstube, wo die Mutter saß, die dann aber aufflog dem Bruder an den Hals und die Freude des Wiedersehens feierte, wie wenn der Gefangene, seiner Haft entlassen, wieder eintritt in die Familie und sich daheim findet, wo der Quell der besten Liebe auf dieser Welt ungetrübt sprudelt. Der Kaufherr aber hatte seine Schwester lieb behalten auch in der langen Trennung; denn er wußte, daß sie am Unrecht keinen Teil hatte und nur der Pflicht zuliebe ausharrte. Der Pächter war draußen gewesen im Felde. Als er heimkehrte und den Reisewagen in seinem Hofe erblickte, blieb er wie angewurzelt am Thor stehen. Dann ging er wieder weg ans Lindenkreuz und blieb da sitzen. Scham, Reue und Rettungsfreude überwältigten sein Herz; aber er wagte es nicht, vor den Schwager zu treten. Wie lebhaft stand ihm alles vor der Seele, was er gesündigt! Daß er dort sitze, meldete ein Knecht der Hausfrau beiseite. Die bat den Bruder, zu ihm hinauszugehen, sie selbst wolle ihn begleiten. Sie gingen. »Schwager! lieber Schwager!« rief der Kaufmann, während er vor dem das Gesicht verhüllenden Manne stand, dem die Thränen durch die Hände perlten. Der schwieg und blieb sitzen; dann reichte er dem einst so schwer Gekränkten die Hand, blickte aber nicht auf. »Vergebung! Vergebung!« schluchzte er endlich. »Gott hat verziehen. Schwager, ich bitte auch Sie um Verzeihung.« Mehr konnte er nicht hervorbringen. Oheim Albert zog ihn sanft in die Höhe, dann an seine Brust. »Wenn Gott verziehen hat, lieber Schwager, dann dürfen Menschen ja nicht mehr hadern! Ich bin ja wieder dein lieber Schwager!« Und auch die Hoffrau redete ihrem Manne tröstlich zu, und daß nun alles ausgeglichen und vergessen sein solle.

Dann gingen sie zusammen in den Hof und einer hatte dem anderen gar vieles zu erzählen. Spät wurde noch der Ferdinand gerufen, damit der Schwager den Mann sehe, der mit weiser Geduld hier so viel Gutes hatte bewirken helfen. Der Ferdinand aber lehnte bescheiden alle Lobsprüche ab und freute sich nur, daß nun wieder Friede und Einigkeit in die Familie gekommen. Anderen Tags wollte er den Schwager bitten, den Nachbar doch wegen der Erstattung des Geldes schonend zu behandeln. Der lachte. »Wir haben's, gottlob! nicht nötig,« tröstete er den besorgten Freund seines Schwagers. »Ich habe ihm schon alles geschenkt. Den Hof soll er zum Eigentum kaufen und der Gemeinde noch oft das Fronleichnamsfest verschönern helfen. Ihnen aber mag's Gott bezahlen, was Sie an uns Gutes gethan«.

Ferdinand hätte einen Purzelbaum vor Freude schlagen mögen.

Seit jener Zeit wohnen auf dem Clamshofe glückliche, zufriedene Menschen, die gar oft beim Lindenkreuz knieen und Gott danken für den Segen, der von ihm aus über eine unglückliche Familie gekommen. Über dem Hofthor aber, wo früher das Wappen der Stiftsherren von St. gewesen, ist eine große steinerne Tafel befestigt, auf der steht mit goldenen Buchstaben:

»Der Name des Herrn sei gebenedeit!
Von nun an bis in Ewigkeit!«

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