Adolph Freyherr Knigge
Politisches Glaubensbekenntniß
Adolph Freyherr Knigge

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Sechster Abschnitt

Ob unsre heutigen Staats-Verfassungen auf ächten Grundsäzzen beruhen und der Stimmung des Zeitalters angemessen sind.

Nachdem ich nun im Allgemeinen die Grundsäzze entwikkelt habe, auf welche durchaus eine jede Regierungs-Verfassung gebauet seyn muß, wenn sie zwekmäßig und dauerhaft seyn soll; so lasset uns doch nun auch sehn, ob unsre gegenwärtigen europäischen Staaten nach diesen Grundsäzzen regiert werden, oder nicht, und ob also zu erwarten steht, daß sie noch lange so, wie sie beschaffen sind, bleiben können! Ich glaube, das ist nicht schwer zu beantworten und es bedarf wohl keines weitläuftigen Beweises, um darzuthun, daß die Regierungen der mehrsten cultivirten Länder nach und nach Maximen angenommen haben, die in dem allerauffallendsten Contraste mit den ersten Grundsäzzen des gesellschaftlichen Vertrags stehen – Eine kurze Darstellung wird hinreichen, dies anschaulich zu machen, und dann werden wir zugleich gewahr werden, daß die mehrsten nicht einmal politisch genug sind, solche Mittel zu wählen, die der Stimmung des Zeitalters angemessen sind.

Das römische Recht schon ist ein wahres Alphabet des Despotismus. Kann man sich einen abscheulichem Grundsaz denken, als den, welcher L. I. in pr. D. de constitutionibus principum steht? Quod principi placuit, habet legis vigorem. Der Willen, die Phantasie, die Grillen eines einzigen Menschen also sollen die Handlungen von Millionen bestimmen? Darauf kann der Vorsteher eines Irrhauses, oder der Erzieher unmündiger Kinder seine Gewalt stüzzen; in einem wohl geordneten Staate hingegen muß das Gesez eher existiren, als der Handhaber und Executor der Gesezze. Gestattet aber ein Volk seinem Regenten, willkührlich Verordnungen zu machen, die nicht in der Constitution gegründet sind; so ist natürlich zu erwarten, daß diese Herrschaft nur so lange dauern kann, als die Nation, das heist der stärkere Theil, sich das gefallen lassen will, weil sie entweder zu roh und unwissend ist, um über ihre Verhältnisse nachzudenken, oder sich bey den Verordnungen wohl befindet. Also ist eine solche Regierungs-Verfassung allen Gefahren einer Revolution ausgesezt. Wir haben aber in Europa Länder, wo es gar keine Volks-Repräsentanten, Reichsstände, Parlamente, Landstände und dergleichen giebt, sondern wo der Willen des Herrn das höchste Gesez ist; und in diesen Ländern ruht dann die Oberherrschaft auf schwachen Füßen.

Eine sehr unnatürliche, von einigen unsrer Juristen bestimmt oder verblümt behauptete und auch aus den römischen Gesezbüchern, obgleich erzwungen hergeleitete Lehre, ist die: daß der Mensch, indem er das Band der bürgerlichen Gesellschaft geknüpft, seinen natürlichen Rechten entsagt hätte; daß das Völkerrecht das Naturrecht aufhöbe, oder wenigstens dieses durch jenes beschränkt werden könnte – Ein grober Irrthum! Seinen natürlichen Rechten kann niemand entsagen; sie machen einen Theil seiner Menschheit aus; aber übertragen kann er sie, und zwar:

  1. nicht mehr Rechte übertragen, als er selbst haben würde, wenn er sie in Person ausüben wollte und
  2. kann er zwar einen Contrakt schließen, der ihn, nicht aber einen solchen, der andre Menschen, am wenigsten die folgende Generation, verbindet.

Nun aber üben unsre Beherrscher Rechte aus, die sich gar nicht aus dem Naturrechte erklären lassen, sondern die vielmehr mit diesem im Widerspruche stehen, die niemand ihnen übertragen konnte, die niemand ihnen übertragen hat, die ihnen nicht angebohren und nicht auf sie vererbt seyn können. Solche Regenten haben dann zu befürchten, daß ihre Gewalt aufhört, sobald der gute Willen, sich dies gefallen zu lassen, lau wird.

Überhaupt scheinen die beiden Grundsäzze: daß der Willen des Fürsten das höchste Gesez sey und daß die bürgerliche Verbindung die natürlichen Rechte aufhebe, von den mehrsten europäischen Beherrschern als ein Glaubens-Artikel betrachtet zu werden. Sie sezzen sich und ihre Nachkommen auf ewige Zeiten an die Stelle Derer, durch deren Übereinkunft sie die Oberherrschaft besizzen, ja! Einige von ihnen scheinen ganz zu vergessen, daß alle Oberherrschaft ursprünglich von freywilliger Übertragung herrührt und alle Gewalt vom Volke abstammt, dessen Stellvertreter sie sind. Sie sehen das ganze Land als ihr Erbstük, als ihr Eigenthum an; sie vertauschen und verkaufen Provinzen, ohne sich darum zu bekümmern, ob die Unterthanen Lust haben, sich einem andern Herrn zu unterwerfen, oder nicht; sie fordern Abgaben und treiben sie ein, ohne Rechenschaft abzulegen, ob diese Gelder zu Bestreitung der Staats-Bedürfnisse verwendet werden; sie bestreiten aus dem öffentlichen Schazze ihren unnüzzen Aufwand und die Unkosten zu eiteln Vergnügungen und Flitterstaate; sie bestrafen Beleidigungen ihrer eignen Person, wie öffentliche Verbrechen; sie sezzen die übrigen Staatsbedienten nach Willkühr an und ab; sie machen willkührlich neue Gesezze und widerrufen die alten, dispensiren, begnadigen, mildern und verdoppeln die Strafe; sie rauben Freiheit und Leben, ohne vorhergegangnen öffentlichen Prozeß, ohne Bekanntmachung des Verbrechens. Wem schaudert nicht die Haut, wenn er liest, daß Ludwig der Eilfte zwei Prinzen von Armagnac in einem Kerker, in welchem sie nie grade aufrecht stehn und gar nicht gehn konnten, verschmachten ließ, nachdem sie wöchentlich zweimal bis aufs Blut gepeitscht und ihnen vierteljährlich ein Zahn ausgerissen wurde, und daß sich nachher fand, daß sie – gar nichts verbrochen hatten? Man antworte hierauf nicht, daß dergleichen in unsern Tagen nicht mehr geschehe! Erstlich ist das nicht wahr, und dann, wenn es auch so wäre; so bewiese das nichts. Eine Staats-Verfassung, in welcher es nur möglich ist, daß dergleichen geschehn kann und darf, ist nicht besser, wie eine Mördergrube und Räuberhöhle, und wer leugnet, daß dies noch jezt in manchem europäischen Staate geschehn kann und darf? Sie selbst, die Regenten, glauben sich über die Gesezze erhaben, bestrafen Verbrechen, die sie täglich selbst begehen, und an der Seite einer, vor den Augen des Volks unterhaltenen, geehrten, im Glanze des Reichthums und der Hoheit lebenden Maitresse, unterschreiben sie Verdammungs-Urtheile gegen Hurer und Ehebrecher. Zu Befriedigung ihrer Privat-Rache und wo bloß ihr Familien-Interesse im Spiele ist, führen sie blutige Kriege, die Hunderttausende das Leben kosten. Was ging denn der spanische Successions-Krieg die französische Nation an? Was kümmerte es die Schweden, ob der König in Polen Augustus, oder Stanislaus hieß? Sie privilegiren gewisse Stände auf Unkosten der übrigen Bürger und bestimmen über die öffentliche Ehre, als wenn diese von ihrer Schäzzung abhinge, ein Werk ihrer Schöpfung wäre. Rang, Gewicht und Ansehn sind nicht der Preis des größern Verdienstes, der größern Nüzlichkeit, sondern der Gunst eines Einzelnen. Gefällt dem Fürsten ein Schmeichler, ein müßiggehender Hofschranze vorzüglich wohl; so giebt er ihm den Rang eines Feldherrn und überschüttet ihn mit Reichthümern, die hundert arbeitsame Familien aus dem Elende retten würden. So sind denn die unnüzzesten Bürger die vornehmsten und reichsten, und die, welche mit ihrer Hände Arbeit den Staat aufrecht erhalten, verachtet und dürftig. Wo etwa noch Repräsentanten des Volks, dem Anscheine nach, das Recht haben, zu Abgaben und neuen Einrichtungen ihre Einwilligung zu geben, oder zu verweigern; da werden diese Repräsentanten nicht frey gewählt aus Denen, welche am mehrsten bey solchen Verhandlungen interessirt sind, sondern es sind Personen, die entweder aus Furcht, oder aus Eigennuz, so reden, wie es der Regent gern sieht und die um so williger sind, ihm alles zu geben, was er fordert, da sie das Privilegium haben, keine der Lasten mit zu tragen, sondern sie allein auf die Classen zu wälzen, welche keine Stimme haben. Derjenige Stand, welcher grade am mehrsten leisten und zahlen muß, darf am wenigsten dazu sagen, auf welche Weise er leisten und zahlen will. Friedensschlüsse, die ganzen Nationen neue Verbindlichkeiten auflegen, werden, ohne Rüksprache, von einzelnen Personen beschworen und – gebrochen. Über dies alles seine Meinung freymüthig, wenn auch noch so bescheiden, zu sagen, so wichtig auch diese Gegenstände der ganzen Menschheit sind und so unbezweifelt das Recht jedes Mitbürgers ist, sich darum zu bekümmern, wie mit ihm und dem Seinigen gewirthschaftet wird – das gilt für ein Staats-Verbrechen. Giebt es doch in Italien einen Staat, der noch vor wenig Jahren sechstausend Spione besoldete, die jedes Wort von der Art aufsammeln und hinterbringen musten!

Eben so mit Vernunft und Billigkeit streitend, wie die politischen Grundsäzze in dem grösten Theile von Europa, so sind es auch unsre gottesdienstlichen Einrichtungen und kirchlichen Verfassungen. Der Staat maßt sich das Recht an, zu entscheiden, wie man von Gott und göttlichen Dingen denken und reden, und nach welcher Form man dem höchsten Wesen seine Verehrung bezeugen solle. Diese von der weltlichen Regierung dem Schöpfer aller Dinge vorgeschriebne Weise, wie er sich soll anbeten lassen, nennt man dann die herrschende Religion und gute Bürger, die aber nach einer andern Art, ihrer Überzeugung gemäß, die heiligste ihrer Pflichten, die keinem Zwange unterworfen seyn kann, erfüllen wollen, können froh seyn, wenn sie geduldet werden. Daß man sie von bürgerlichen Ämtern und Vortheilen ausschliest, versteht sich von selber, und es ist die Frage, ob jemand, der laut sich erklären würde, er glaube nicht an die ewige Verdammniß, auf dem ganzen festen Lande von Europa an irgend einem Orte als Nachtwächter Brod fände. Die Geistlichen machen einen besondern Stand aus und mischen sich in Geschäfte, welche allein die weltliche Regierung angehen, dirigiren den Unterricht der Jugend und lassen den Menschen den vierten Theil seines Lebens, den er anwenden sollte, sich zum guten Bürger zu bilden, mit dem sehr unnüzzen Studium der dogmatischen Lehrsäzze verschwenden, und ihn, wenn er vierzehn Jahre alt ist, angeloben, was er sein ganzes Leben hindurch glauben will, gleich als wenn ein Mensch vorauswissen könnte, was er in der nächst folgenden Stunde glauben wird, und als wenn man nicht Jedem überlassen müste, da, wo es nur auf seine individuelle Überzeugung und Glükseligkeit ankömmt, sich ein System zu wählen, das ihm Ruhe und Zufriedenheit gewährt! Noch alberner, wenn das möglich ist, muß es einem Philosophen vorkommen, daß die Fürsten in Friedensschlüssen mit einander darüber einig werden, was ihre sämtlichen Unterthanen künftig glauben sollen. In katholischen Reichen übt denn vollends die Geistlichkeit eine Gewalt aus, die zuweilen sogar der weltlichen Regierung furchtbar ist und die ihr niemand übertragen hat, verschwelgt im Müßiggange das Fett des Landes, verurtheilt ihre Mitglieder, den Trieben der Bestimmung und den Pflichten zu entsagen, wozu die Natur alle Geschöpfe auffordert und entzieht dem Staate thätige Bürger, um sie in Klöster einzusperren. Die vorgeschriebne Art der äußern Gottes-Verehrung besteht in manchen Ländern aus läppischen, kindischen Zeremonien, in andern aus den allerlangweiligsten und geschmaklosesten Gebräuchen.

Alle diese politischen und kirchlichen Systeme nun hindern denn auch den Fortgang der Wissenschaften und hemmen den freyen Untersuchungsgeist. Wem die Natur Talente gegeben hat, Licht zu verbreiten und Wahrheit zu finden, der muß seine schönsten Jahre verschleudern, um sich und die Seinigen fähig zu machen, durch die Menge verwikkelter Verhältnisse hindurch, in die Classe der Wenigen hinaufzurükken, die auf Unkosten der übrigen größern Anzahl leben; die Philosophie darf über alles grübeln, nur nicht über das, was den Menschen am wichtigsten ist; wer Geschichtbücher schreibt, der schildert die Thorheiten und Verirrungen einzelner Personen. Der Gelehrte muß um's Geld arbeiten; er muß sich also nach Zeit, Umständen und den Launen des Publikums richten, statt nur Wahrheit und Schönheit vor Augen zu haben – Doch, warum sollte ich die Züge häufen, um die Inkonsequenzen unsrer Verfassungen zu schildern? Leugne Einer, wenn er kann, daß das Original zu diesem, mehr oder weniger ähnlichen Bilde, in allen europäischen Staaten anzutreffen ist! Oder sollen wir England ausnehmen? Freylich! wenn wir des Herrn de l'Olme Roman über die englische Constitution für treue Darstellung der Verfassung halten wollen; so findet man nirgends eine zwekmäßigere Gesezgebung, mehr Gleichheit in Vertheilung der Gewalt, mehr persönliche Freyheit und Sicherheit, als in Großbritannien. Aber beleuchten wir ein wenig die Scene; so werden wir andrer Meinung. Des Königs Gewalt über Krieg und Frieden und überhaupt seine monarchische Macht ist dadurch eingeschränkt, daß von der Nation die Verwilligung der zu jeder Unternehmung nöthigen Gelder abhängt; auch darf er, ohne Einstimmung der Parlamente, keine Gesezze geben. Diese Parlamente nun bestehen aus gewählten Repräsentanten, die, wie bekannt ist, nach einer höchst widersinnigen Proportion das ganze Volk vorstellen, so daß eine Universität deren mehr abschikt, als eine ganze Grafschaft. Bestechungen haben, nach Monsieur de l'Olme Versicherung, dabey nicht Statt; aber das ist Keinem, der gewählt werden will, verwehrt, daß er einem Wählenden für einen Korb voll Eyer hundert Pfund Sterling bezahle. Die Hofparthey ist also nicht nur Meister von den Wahlen, sondern kann auch, da sie Ehrenstellen und Pfründen vergiebt, sich nach Gefallen Parthey machen und durch die Überstimmen Dinge durchsezzen, wovon jedermann weiß, daß der neun und neunzig Hunderttheil der Nation dagegen ist. Die Justiz wird so verwaltet und die Gesezze sind so klar, daß nirgends in der Welt die streitenden Theile so jämmerlich von den Advokaten geschunden und nirgends in der Welt so himmelschreyende Urtheile gesprochen werden, als in England. Die Friedensrichter sind nicht selten bestechbar; die Geschwornen oft gewissenlose Menschen aus dem niedrigsten Pöbel. Ein Bösewicht, der mich als Dieb angiebt und seine Aussage durch einen Meineid bekräftigt, kann mich ohne Umstände an den Galgen bringen. Durch den geringsten Anstoß gegen übliche Förmlichkeiten wird die gerechteste Sache verlohren und der ärgste Verbrecher bleibt ungestraft, wenn bey seinem Prozesse gegen eine solche Formalität gefehlt ist. Als im Jahre 1790 ein verworfner Mensch die Frauenzimmer auf ofner Straße mörderischer Weise mit Messern anfiel und er endlich entdekt und angeklagt wurde, fehlte nicht viel, daß man ihn hätte ohne Strafe freylassen müssen, weil die Anklage in eine solche Form gebracht war, daß daraus nichts erwiesen werden konnte, als daß er ein paar Löcher in die Kleider einiger Damen gerissen hatte. Ein Mädchen, das Hauben gestohlen hat, wird, wenn auch der Diebstahl selbst erwiesen ist, freygesprochen, wenn der Ankläger aus Versehn Leinewand nennt, was Nesseltuch war. Ein Mann darf seine Frau mit einem Strikke um den Hals, auf dem Markte verkaufen. Vor zwey Jahren geschahe dies in einer englischen Stadt von Gerichts wegen an einer Armen, welche die Gemeine nicht länger zu ernähren Lust hatte. Wenn ein unglüklicher Mensch, einer Kleinigkeit wegen, am Pillori steht; so wird dem Pöbel verstattet, ihn zu Tode zu martern. Von den greulichen Gewaltthätigkeiten, die im Jahre 1790 bey dem Matrosen-Pressen vorgingen, habe ich schon oben geredet; ich will nur noch den Herrn von Archenholz als Zeugen anführen, der uns erzählt, wie damals freye, mit Gewalt angeworbne Menschen, zu Hunderten in enge Schiffsräume zusammengepakt wurden, wo Viele von ihnen, wie im schwarzen Loche in Calcutta, erstikten. Der Unfug der Accise-Bedienten beweist auch nicht, daß Freyheit in England respektirt wird; daß jemand, der die Schwester seiner verstorbnen Frau heyrathet, wie ein Blutschänder bestraft wird, ist eben kein Zeichen einer philosophischen Gesezgebung. Die reichen Geistlichen führen ein ärgerliches und wollüstiges Leben in der Hauptstadt und lassen drey oder vier Landpfarreyen, welche sie an sich gekauft haben, durch Vikarien versehn. Hierzu werden Die gewählt, welche am wenigsten Besoldung fordern; die Gemeinen müssen mit den verworfensten, unwissendsten Menschen zu Seelsorgern vorlieb nehmen, indeß die wirklichen Pfarrer von ihrem theuren Gelde in London Maitressen unterhalten, und nie keinen Fuß in ihre Kirchsprengel sezzen. Die Preß-Freiheit wird von Jahren zu Jahren mehr eingeschränkt. Luxus, Mangel an Treue und Glauben und Unsittlichkeit nehmen auf eine fast unglaubliche Weise überhand. Öffentlich werden Akademien eröfnet, in welchen man Unterricht im Stehlen giebt; öffentlich werden die Hazard-Spiele geduldet, gegen welche man die strengsten Gesezze gegeben hat; die Menge müßiger, gegen die Ordnung der Natur lebender Menschen vermehrt sich in allen Ständen, und die unerhörtesten, niederträchtigsten Verbrechen und Laster, wovon man täglich Beyspiele sieht, laden den Staatsmann und Philosophen eben nicht ein, die englische Verfassung zum Muster anzupreisen.

So sieht es mit unsern europäischen Staats-Verfassungen aus – leugne das, wer da kann, und vertheydige das, wer da darf! Nicht, daß wir keine edle, große, die heiligen Menschenrechte respektirende Könige und Fürsten hätten; aber wir reden hier nicht von einzelnen Menschen, die sich des Misbrauchs enthalten, den sie von ihrer Gewalt machen könnten, und die so viel möglich den Fehlern auszuweichen, die Gebrechen zu heilen suchen, die in der Constitution liegen; sondern von den Verfassungen selbst reden wir, die von der Art sind, daß keine bestimmte Gesezze jenen möglichen Misbrauch einschränken. Sie sind also gegen die Ordnung der Natur; sie streiten mit dem ersten Zwekke jeder gesellschaftlichen Vereinigung, indem sie, statt die allgemeinen Menschenrechte und die persönliche Sicherheit und Glükseligkeit Aller durch gegenseitigen Schuz zu befördern und gegen Beleidigungen zu sichern, vielmehr ganz darauf eingerichtet zu seyn scheinen, daß eine kleinere Anzahl der Bürger, auf Unkosten der größern Anzahl, ihre Leidenschaften befriedigen, sich Vortheile verschaffen und Vorrechte anmaßen könne, die ihnen nach der Ordnung der Natur nicht zukommen. In den Zeiten der Barbarey nun, wo unter hundert Menschen kaum Einer fähig ist, über seine Verhältnisse nachzudenken, wo dikke Nebel die Augen des großen Haufens umhüllen und alle Ressorts, aus welchen das Maschinenwerk des Despotismus besteht, ihre volle Kraft haben; da läßt sich eine solche Gewalt über die Menge erlangen. Auch beruht diese Gewalt auf dem heiligen, in der Natur gegründeten Rechte des Stärkern; denn wenn der Schwächere in den Kräften seines Geistes und in seiner Geschiklichkeit Hülfsquellen findet, die ihm den Mangel an körperlicher Prästanz ersezzen, oder wenn er den Stärkern dahin bringen kann, daß er freywillig oder aus ungegründeter Furcht ihm ein Übergewicht zugesteht; so wird Er ja dadurch der Mächtigere. Allein sobald Jener die Augen öfnet und anfängt sich selber zu erkennen und zu fühlen; dann ist die Zeit der Täuschung aus, und das künstliche Regiment hat ein Ende. Thöricht wäre es, verlangen zu wollen, daß, in einem Zeitalter, wo Cultur und Wissenschaften in allen Ständen zugenommen haben, die alten Gängelbänder, an welchen man unwissende und dumme Menschen leitet, nämlich Vorurtheil, Autorität, Täuschung und blinder Glauben, noch immer den Haufen der Starken im Zaume halten sollten. Und doch verlangen wir nicht nur, diese Albernheit durchzusezzen, sondern wir wollen sogar die Sache per modum contrarium treiben, das heist: indeß das Volk täglich klüger, täglich abgeneigter wird, sich im Blinden führen zu lassen, werden die Ansprüche der Herrscher auf blinden Gehorsam täglich größer – Das Kind behandelte man mit Glimpf und den Mann will man mit der Ruthe züchtigen. Ist es möglich, ist es denkbar, daß dies dauern könne? Nein, gewiß nicht! und ohne Prophet und ohne Aufwiegler zu seyn, kann man es voraus verkündigen, daß allen europäischen Staats-Verfassungen eine nahe Umkehrung bevorsteht.


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