Adolph Freyherr Knigge
Politisches Glaubensbekenntniß
Adolph Freyherr Knigge

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Erster Abschnitt

Wer kann richtig über große Weltbegebenheiten urtheilen?

Über große Weltbegebenheiten kann am richtigsten erst von der Nachkommenschaft geurtheilt werden; nur sie vermag, mit kaltem Blute die Zeugnisse der Zeitgenossen, die, ohne Unterschied, Alle, mehr oder weniger partheiisch sind, zu prüfen und Ursachen, Würkungen und Folgen, die einen durch die andern zu erklären.

Nur der, welcher auch nicht auf die entfernteste Weise mit den handelnden Personen in Verhältnissen steht, darf sich schmeicheln, ein unbefangner Richter zu seyn und das ist bey solchen Ereignissen, die auf ganze Staatskörper Einfluß haben, nie der Fall, so lange wir selbst noch Glieder eines Staatskörpers sind.

Man wende hiergegen nicht ein, daß die Zeit die kleinen Vorfälle vergessen mache, die oft, mehr wie die großen, öffentlichen Ereignisse, als Triebfedern würken! Wer weiß nicht, mit welchen falschen Anekdoten sich die Neuigkeit des Tags trägt! Grade diese werden erst nach und nach berichtigt, erläutert und das ächt Charakteristische bleibt. Doch versteht sich's, daß ich hier von einem Zeitalter rede, in welchem Cultur und Philosophie nicht schlafen. Wer wird leugnen, daß wir jezt richtiger über das Zeitalter Ludwig des Vierzehnten urtheilen, wie die, welche, während seiner Regierung, aus Menschenfurcht, aus Schmeicheley, aus falschem Enthusiasmus ihn bis in den Himmel erhoben, oder aus Rache und Neid ihm vielleicht jede Art von Größe und Tugend absprachen? Wer mögte wohl eine allgemeine Geschichte der Reformation für zuverlässig halten, die im sechzehnten oder siebzehnten Jahrhunderte geschrieben wäre?

Das Gemälde muß erst aus einem Standpunkte beobachtet werden können, wo man es im Ganzen übersieht, ohne von dem Schimmer einzelner Farben, ohne von dem Interesse an einzelnen Gruppen geblendet, ohne durch die kleinen Details zerstreuet zu werden. Unsre individuellen Lagen aber, Vorliebe oder Wiederwillen vor oder gegen unsre und fremde Verfassungen, gegen unsre und fremde Systeme, vor oder gegen Nationen und Personen, die entweder Beförderer oder Stöhrer, Tadler oder Lobpreiser jener Gegenstände sind, determiniren uns, so lange wir mitten in dem Gewühle leben. Kleine, unmerkliche Beziehungen stimmen uns zur Partheylichkeit gegen lebende Personen und gegenwärtige Dinge. Selbst auf den geübten Denker, der sich ganz kalt und unbefangen glaubt, würkt heimlich irgend eine von diesen Rüksichten; wäre es auch nur ein vaterländisches oder ein Erziehungs-Vorurtheil, eine vorgefaßte Meinung von denen, welche sich der Sache annehmen, oder dergleichen.

So unwürdig eines Philosophen es ist, den Werth einer Unternehmung nicht nach der innern Güte des Zweks und der Mittel, sondern nach dem Glükke oder Unglükke des Erfolgs zu würdigen; so scheint es doch bey manchen Fällen, wenn von politischen Umwälzungen die Rede ist, nothwendig, sein Urtheil nicht blos nach moralischen und scientifischen Grundsäzzen einzurichten, sondern der Zeit zu überlassen, dem praktischen Nuzzen den die Veränderung stiftet, der Consequenz der angewendeten Mittel und der Möglichkeit der dauernden Ausführung das Wort zu reden. Da fallen denn nun freilich die Resultate oft ganz anders aus, wie unsre Raisonnements. Als Amerika die heilige, unleugbare Befugniß des Menschen, unbestimte oder von seiner Seite gebrochene Contrakte wieder aufzuheben, sich fremden Schuz zu erbitten, wenn man sich selbst schüzzen kann und die Früchte seines eignen Fleißes nach seiner eignen Weise zu genießen, gegen das uneigentlich so genannte Mutterland gelten machen wollte; da eiferten nicht nur Moralisten und Rechtsgelehrte wider die Undankbarkeit der Colonien, sondern die Staats-Propheten sahen auch voraus, daß diese, von eigennüzzigen Bösewichtern und Aufrührern irregeleitete, nicht von einem Geiste beseelte, unter sich selber durch Uneinigkeit getrennte Leute, ohne disciplinirte Armee, ohne Gesezze, ohne Bundesgenossen, ohne Geld, ohne Credit, wenig ausrichten und bald zum Gehorsame würden zurükgeführt werden. Den Journal- und Bücherschreibern der damaligen Zeit, besonders dem empfindsamen Herrn Fähndrich Anburey, dessen Beschreibung von Nord-Amerika der Herr Geheimerath Forster übersezt hat, schauderte die Haut, bey Schilderung der Abscheulichkeiten, durch welche die verblendeten Amerikaner sich alles Mitleids unwerth machten und ihr armes Land für Jahrhunderte in eine Wüsteney verwandelten. Er, und mit ihm nicht nur mancher andrer Fähndrich, sondern auch mancher General und Mann von Gewichte, beschrieb die Heere dieser Vagabonden, als Räuber-Rotten, die kaum verdienten von regulirten Truppen zu Paaren getrieben zu werden. Wer hätte auch glauben sollen, daß Leute ohne Schuhe und Strümpfe, die zuweilen blos davon liefen, wo man schiklicher nach dem Takte hätte retiriren sollen, die nicht wüsten, was deployiren und durchziehn und dergleichen hieß, und deren Anführer gemeine Kerl, ohne Geburt und Stand waren, daß diese unsre bunten Männerchen mit Gold und Silber geziert, die, unter Anführung von Lords, Grafen und Edelleuten, alles nach dem Tempo zu thun verstanden, schlagen, gefangen nehmen und zum Lande hinausjagen würden? Die Zeitungen und Privat-Briefe waren voll von Zwist und Spaltung, die unter den Mitgliedern des Congresses herrschten, von Trennung und Unterwerfung einzelner Provinzen unter Britanniens Scepter, von allgemeiner Anarchie, Mord und Raube. Und wie sieht es jezt mit diesen Rebellen aus, nachdem kaum der sechste Theil eines Menschenalters seit jener Zeit verflossen ist? Keine Spur mehr von Mangel, Unordnung und Gährung! In voller Würde, respektirt und gefürchtet von allen Völkern des Erdbodens, steht der neu errichtete Staat da, nachdem er seine Freiheit muthig errungen und sich einen ehrenvollen Frieden verschaft hat – Ein wundersames politisches Phänomen! Menschen, unter verschiednen Himmelsstrichen gebohren, nun in eine Nation zusammengeschmolzen. Provinzen, deren jede sich besondre Gesezze gemacht hat, zu einem großen Staats-Körper vereinigt, ohne gemeinschaftliches einzelnes Oberhaupt, ohne Adel, ohne herrschende Religion, im höchsten Wohlstande und Flor, den nur Freiheit, Frieden, gute Polizey, Handel, Wissenschaften und Künste gewähren können, von Tage zu Tage zunehmend, in brüderlichem Bündnisse mit ihren ehemaligen Vormündern, ein Muster, dem andre Völker nachstreben! Wie gern würde mancher Fürst, der damals von den amerikanischen Rebellen mit der tiefsten Verachtung redete, jezt mit großer Herablassung und Dankbarkeit von der amerikanischen Nation eine kleine Statthalterschaft für einen seiner Prinzen annehmen, wenn dies Volk es zu erkennen wüste, wozu ein Fürstensohn taugt! Wie gern verfertigte jezt ein Schriftsteller, der damals seine Federn gegen den Congreß wezte, eine Lobrede auf die vereinigten Provinzen, wenn ihm das ein Jahrgeld eintragen könte!

 

Selten also urtheilt die gegenwärtige Generation richtig über die großen Weltbegebenheiten ihrer Zeit; wenigstens wage sich niemand daran, der nicht oft den Versuch gemacht hat, mit philosophischem Blikke, ohne Systemgeist, unpartheiisch (so viel das möglich ist) über allgemeine Gegenstände der Politik, über die Vortheile und Nachtheile einzelner Staatsverfassungen und, an der Hand der Geschichte, über die Ursachen des Glanzes und des Sturzes älterer Reiche und Völker nachzudenken! Es wage sich nicht an diese Arbeit der Mann, dem die kleinern Lokal-Umstände fremd sind, der den Geist, die Stimmung, den Grad der Cultur der Nation, wovon die Rede ist, nur aus Büchern kennt! Es wage sich nicht an diese Arbeit der Stuben-Gelehrte, der bis dahin mehr mit verstorbnen, als mit lebenden Menschen umgegangen ist und der die gewaltigen Stürme des Lebens, welche Leidenschaften aller Art erregen können, nur von dem Fenster seines warmen Studier-Zimmers herab, in ihren fürchterlichen Folgen beäugelt, nie aber ein unmittelbar theilnehmender Zeuge dabey gewesen ist, und nie die ersten, oft sehr kleinen Ursachen der Entstehung beobachtet hat! Endlich wage sich nicht an diese Arbeit der Reisende, der das Land mit Postpferden durchstreicht und aus den Gesprächen der einzelnen Anhänger dieser und jener Parthey, die er bey seinem kurzen Aufenthalte in den Städten kennen lernt, den Stoff zu seinen allgemeinen Urtheilen entlehnt!

Nach solchen Voraussezzungen wird man mich nicht in den Verdacht haben, ich wolle diese Grundsäzze bey meinem Raisonnement über die französische Revolution verleugnen, oder ich hielte mich berufen, über dieselbe, so wie über die Vorzüge und Mängel der neuen Constitution zu entscheiden. Meine Absicht ist im Gegentheile, zu zeigen, wie wenig wir noch jezt im Stande sind, in dieser großen Begebenheit klar zu schauen, zu warnen vor übereilten Urtheilen, vor unzeitiger Furcht und vor blindem Eifer, und endlich aufmerksam zu machen auf die allgemeinern Grundsäzze, von denen wir ausgehn müssen, wenn wir etwas Passendes von der französischen Staats-Umwälzung und deren vermuthlichen Folgen sagen wollen.


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