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Siebentes Kapitel.
Paris

Frankreich hat das meiste Gold und die meisten Kanonen in Europa. Das französische Gold und die französischen Kanonen beherrschen diesen Kontinent. Aber Frankreich ist ein Land wahrer Demokratie. Der Herr über das Gold und die Kanonen ist der gewöhnliche Franzose. Was er über die Zukunft Europas zu sagen hat, ist wichtiger als die Äußerungen des gewöhnlichen Mannes in allen anderen Ländern.

»Was meinen Sie?« fragte ich. »Glauben Sie, daß Europa wieder hochkommt? Wird es sich wirtschaftlich erholen?«

Um uns brandete das sich abrackernde, schwitzende, laute Leben jenes Paris, das sich seinen Lebensunterhalt am schwersten verdient. Es war vier Uhr morgens. Dieses Paris steht um zwölf Uhr nachts auf, und um vier Uhr morgens ist seine Arbeit in vollem Gange. Es waren die Halles, der Zentralmarkt, das, was Zola den »Bauch von Paris« genannt hat.

Théophile, der alte Franzose mir gegenüber am Tisch im »Café mit dem Schild des Hundes, der raucht«, nahm die Pfeife aus dem Mund und rief:

»Wieder hochkommen? Was wollen Sie denn? Hat die Bank von Frankreich nicht achtzig Milliarden Francs in Gold? Und zur Deckung unserer Währung brauchen wir nur sechsunddreißig. Was wollen Sie denn?«

Théophile sprach ein schmissiges, in New York gelerntes und mit Pariser Argot gewürztes Franco-Amerikanisch, das völlig ausreichte und überaus bunt war.

Ein Arbeiter in blauem Kittel klopfte auf den Schanktisch und verlangte Kaffee. Der Schankbursch füllte ein dampfendes Glas aus einem hohen vernickelten Krug. Draußen wurde mit »attention«-Rufen der Weg freigemacht für Karren, die hoch mit purpurroten Eierpflanzen, rotgelben Mohrrüben, blauen Trauben und schneeweißem Blumenkohl beladen waren.

»Aber was ist mit Europa? Ihr habt das ganze Gold. Nützt es euch etwas? Einige von euren Nachbaren haben es bitter nötig. Wie wäre es, wenn ihr ihnen etwas davon leihen würdet?«

Théophile knurrte. »Sind wir vielleicht eine Wohltätigkeitsanstalt? Meinen Sie, die Bank von Frankreich ist eine Gesellschaft Barmherziger Schwestern?

Und was ist mit Amerika?« parierte er lächelnd und schob sich seine Mütze noch weiter aus dem Gesicht. »Sehen Sie sich Ihren Borah an. Ach, Ihr Borah! Der ist unsere bête noire. Was sagen Sie für bête noire? Das heißt, daß Ihr Borah uns giftet.

Borah giftet uns, und Amerika giftet uns. Es giftet uns, daß Amerika in der ersten Kriegsbegeisterung gesagt hat: ›Wir können nicht sofort Menschen schicken, aber wir schicken Geld.‹ Und jetzt will Amerika das Geld wieder haben.

Es vergißt, daß es 1917 nicht daran dachte, daß es das Geld wieder haben will. Es wollte Menschen schicken, konnte keine Menschen schicken, aber es konnte Geld schicken. Es hat uns aber das Geld zu dem Wert geliehen, den der Franc damals hatte, und jetzt will es es in Gold wiederhaben. Das ist ein großer Unterschied. Amerika kennt keine Gefühle! Geld ist Geld!«

»Und ist in Frankreich Geld nicht auch Geld?«

»O nein! Nicht so sehr. So verlangen wir niemals solches Geld. Wir haben Amerika zu Lafayettes Zeiten geholfen. Auch mit Geld! Das Geld verlangen wir nie zurück. Wenn wir es heute verlangten, wieviel würde das ausmachen?

Nein, nein! Das Geld haben wir Amerika geschenkt. Wir nennen das ein Souvenir. Jawohl, Souvenir. Behaltet es nur – unser Souvenir!« Er machte eine großzügige Bewegung mit der Hand.

»Das war heiliges Geld, gesegnetes Geld, Geld für die Unabhängigkeit!«

Theophile sprach das Wort »Unabhängigkeit« mit einer langgedehnten, ausschmeckenden Betonung aus, welche die Marktarbeiter dazu brachte, sich umzudrehen und zu uns herüberzusehen.

»Oui, Monsieur«, sagte er kopfnickend, »Amerika ist hart, sehr hart. Aber Amerika begreift vielleicht gerade jetzt, daß alle Länder leiden, wenn eines leidet; wenn ein Land leidet, leidet Amerika auch. Gerade jetzt kommt es dahinter, wie weh es ihm tut, wenn Europa seine Schmerzen hat.«

»Sie meinen also nicht, daß ihr eure Schulden an Amerika bezahlen solltet?«

»Ah, non, darum dreht es sich gar nicht. Es dreht sich darum, ob es Amerika nicht wehtun wird, wenn wir bezahlen?« Er lächelte breit, lachte beinahe. »Das französische Volk weiß, daß es für Amerika das beste ist, die Schulden zu streichen und wieder seinen Handel zu kriegen. Das französische Volk will Amerika sogar jetzt helfen. Deshalb wird das französische Volk die Schulden nicht zahlen.« Jetzt lachte er laut heraus.

»Sie sind ein Humorist.«

»Nein, nein.« Er wurde ernst und dachte darüber nach, was noch alles ärgerlich sei. »Uns giftet das Hoover-Moratorium. Das ist genau so wie damals, wie Kaiser Wilhelm in Marokko auftauchte, Sie wissen noch, Agadir, mit dem Kanonenboot. In der Diplomatie soll ein Land, bevor es etwas unternimmt, sich beraten. Es soll etwas sagen. Es darf nicht plötzlich handeln. Aber Hoover, der unternimmt ganz allein – einfach so«, und er schnippte mit den Fingern.

»Ich glaube«, er senkte seine Stimme, als hätte er mir ein Geheimnis anzuvertrauen, und sagte mit einem langsamen Augenblinzeln, »ich glaube, das war, damit Amerika in der Krise das Gesicht wahren kann.

Ihr Hoover«, redete er, sich aufrichtend, weiter, »Ihr Hoover ist wie Ihr Wilson. Die Franzosen wissen, daß Hoover deutsches Blut hat. Wir vergessen nie die Stimme des Blutes. Er hat immer den deutschen Interessen geholfen. Genau so, wie Ihr Wilson den englischen Interessen geholfen hat. Ihr Wilson hat englisches Blut gehabt. Er ist in den Krieg eingetreten. Oui. Er hat uns geholfen, den Krieg zu gewinnen. Oui. Aber er hat uns den Sieg weggenommen.

Wir hatten nichts vom Frieden. Wir hatten neunzig Milliarden Francs Schäden, zweihundert Städte und ich weiß nicht wieviele Dörfer waren in Trümmern. Reparationen haben wir vielleicht zwanzig Milliarden Francs bekommen. Siebzig Milliarden verlieren wir. Ihr Amerika und Ihr England bringt uns immer dazu, zu reduzieren, zu reduzieren, zu reduzieren!«

Das hörte sich an wie die wahre Stimme Frankreichs. Es war ganz gleichgültig, ob die Zahlen und Daten stimmten. Der Wert von Théophiles Ausführungen lag erstens in ihrer Aufrichtigkeit und zweitens darin, daß sie die Haltung seines Vaterlandes in klarer und offener Sprache ausdrückten. Was denkt Frankreich? Was hat Frankreich vor zu tun? Das ist die Antwort, gegeben von einem 59 Jahre alten Chauffeur, der, wie nur wenige Franzosen, in der ganzen Welt umhergereist ist und deshalb, so weit so etwas überhaupt möglich ist, weniger provinziell beschränkt sein muß als seine Kollegen. Théophile war einmal Besitzer eines ganzen Wagenparkes gewesen. Heute verdient er sich sein Brot, indem er Marktleute aus den Vorstädten zu diesem Nahrungsmittelbazar bringt, dem größten, dem malerischsten und in vielerlei Hinsicht schönsten der Welt.

Die Schönheit liegt in den Waren. Wir verließen das Café zum Rauchenden Hund und gingen mit Théophile zwischen Mauern aus frischblättrigem Kohl einher, zwischen Bergen goldener Kürbisse, Stapeln winziger weißer und leuchtend roter Radieschen, die wie Blumen aussahen. Wir kamen an Millionen zusammengebündelter und mannshoch aufgestapelter junger grüner Zwiebeln vorbei, an Walderdbeeren in rohen Kisten, die mit Weinblättern zugedeckt waren, an dunklen Artischocken in Haufen, von denen jeder nach Tausenden zählte, an langen weißen Rüben und Türmen aus Sellerie, an ganzen Reihen von Säcken voll zarter junger Kartoffeln. Trüffel, Muscheln, Pflaumen und Feigen lagen in kleineren Haufen zwischen Hügeln aus grünen Bohnen, Zuckerrüben und Kantelupen. Die Halles sind ein Engros-Markt, aber alles, was da zu erblicken ist, sieht aus, als wäre es sorgfältig gewaschen worden, und die ganze Anordnung ist ein Meisterstück der Dekorationskunst.

Die Dämmerung kam. Ihr graues Licht ließ die gelben Lampen verblassen. Sie zeigte die ungeheuere Ausdehnung dieser gewaltigen Speisekammer des europäischen Eßzentrums. Der Markt schien überhaupt keine Grenzen zu haben. In Wirklichkeit nimmt er mehr als zwölf Stadtblocks ein. Die Zwischenstraßen verschwinden von Mauer zu Mauer unter Gemüse, Obst und Blumen. Nur ein schmaler Weg zum Mittelpunkt ist für den Verkehr frei. Die Durchgänge sind bevölkert von einem Geschlecht von Männern und Frauen, die unverfälschte Rabelais-Gestalten sind.

Hier gibt es keine Mannequins. Die Pariserinnen der Halles haben Taillen, die zu umfangreich für Korsetts sind. Théophile machte einen Luftsprung, als eine muskulöse Frau einen Handwagen direkt auf ihn zuschob.

»Das sind die Herren!« erklärte er und brachte uns zwischen duftenden Melonenhaufen in Sicherheit. »Sehen Sie ihnen zu, wie sie handeln. Ich habe immer lieber mit den Männern zu tun. Aber die Männer haben nicht die Brieftasche. In Frankreich hat die Frau die Brieftasche.«

Er lachte glucksend. »Glauben Sie, daß diese Damen Amerika bezahlen werden? Ihr Washington hat mit unseren Staatsmännern zu tun. Aber unsere Staatsmänner haben mit unseren Frauen zu tun. Das Wahlrecht haben sie nicht Sie brauchen es auch nicht. Die Brieftasche ist besser als der Stimmzettel. Nein, nein, die Damen werden nicht bezahlen.«

Die Halles verkaufen im Großen. Fast alle ihre Kunden sind Restaurateure oder Besitzer von Detailgeschäften. Aber einige ältere Frauen mit Körben gingen hin und her und kauften kleine Mengen ein.

»Das sind Wirtschafterinnen«, sagte Théophile. »Sie stehen um fünf Uhr früh auf, kommen her, um billig einzukaufen und frische Lebensmittel zu bekommen. Sie kaufen sie billig ein und berechnen ihren Herren Detailpreise. Die Differenz stecken sie ein. Aber ist es den Herren nicht so viel wert, eine so große Auswahl unter dem Allerbesten zu haben? Die Wirtschafterinnen sind klug.

Es wäre recht gut, es wäre recht gut«, wiederholte er, »wenn wir eine Wirtschafterin am Quai d'Orsay hätten.«

Wir kamen an der Kirche Saint Eustache vorbei. Sie ist an einer Seite von Schweinefleisch begrenzt, an der zweiten von Obst, an der dritten von Blumen und an der vierten von Knoblauch, einem ganzen Block, der die Umgebung parfümiert. Es war genug Knoblauch da, um die Suppen eines ganzen Kontinents zu würzen.

»Sie finden, das sind viel Lebensmittel?« rief Théophile. »Das ist nicht viel. Das ist nur für Paris. Früher einmal war mehr da. Das war für die Reisenden. Jetzt kommen nur wenige Besucher. Was Sie sehen, ist also für die Franzosen zum Essen.«

Das düstere Portal einer Halle, die größer war als eine Flugzeughalle, brachte uns zum Fleisch und zu den Fischen. Zwölf solcher Hallen gibt es, und jede von ihnen beherbergt ihre eigene Spezialität. Sie sind der Louvre des Fleisches.

Hier kaufen die 10 000 Pariser Restaurants täglich 500 000 Pfund Fleisch und 145 000 Pfund Geflügel; 400 000 Pfund Fisch; 60 000 Pfund Butter und Eier und mehr als 100 000 Pfund Käse. Ebenso wie ein eiliger Tourist den Louvre in raschem Tempo durchschreiten kann, ohne jemals ein Stückchen Wegs zu wiederholen und ohne jemals dasselbe Bild ein zweites Mal zu sehen, und doch in der Zeit zwischen öffnen und Schließen nicht imstande ist, mehr zu sehen als einen Teil der Schätze der Galerie, ebenso könnte ein eiliger Besucher der Halles alle diese Hallen durchwandern, ohne in einem ganzen Tag Zeit dafür zu finden, ihren ganzen Reichtum auch nur mit einem hastigen Blick zu umfassen.

Diese Beobachtungsmethode ist in den Halles weniger unersprießlich als im Louvre. In den Halles gewinnt man den Eindruck unbegrenzter Lebensmittelvorräte, den Eindruck einer Nation, die es sich, was den Tisch betrifft, ganz außerordentlich gut gehen läßt, den Eindruck eines Volkes, von dem man sich kaum denken kann, daß ihm die Unterernährung auch nur einigermaßen in die Nähe gerückt sei.

Wir durchwanderten Korridore von Schweinefleisch, kamen an Blocks von Leber vorbei, durchschritten Canyons von Hühnern und gingen an Bergketten von Rindfleisch entlang. Ganze Abteilungen waren Lungen gewidmet, andere Mägen, dritte wieder Nieren. Das Kalbfleisch hatte sein Königreich und das Hammelfleisch sein Fürstentum. Fisch und Hummer, die köstliche Languste, Miesmuscheln und Teichmuscheln – sie alle hatten ihre eigenen Hallen. Jede Ware war ebenso künstlerisch und ebenso kunstvoll zur Schau gestellt wie die unvergleichlichen Gemüse draußen. Ihr Anblick sättigte nicht, sondern regte den Appetit an.

Wir traten in das volle Tageslicht hinaus. Es war sieben Uhr. Ein würziger Duft wurde uns von einer Morgenbrise entgegengetragen. Er kam aus einem Eisentopf, in dem etwas Fettes kochte. Hinter dem Topf verteilte eine Frau Sandwiches. Sie bereitete sie frisch. Ein Griff in den Topf förderte eine Schnitte Speck hervor. Ein zweiter Griff eine Wurst. Ein dritter brachte ein Sieb voll französischer Bratkartoffeln. Die Frau nahm einen ein Meter langen Laib reschen weißen Brotes, schnitt 30 Zentimeter davon ab, teilte das Brot in der Mitte und steckte mit einem aufmunternden »Comme ça!« den Speck, die Wurst und die Kartoffeln dazwischen, wickelte das Ganze in Zeitungspapier und verlangte 40 Pfennig. Einen Schritt daneben ragte ein Haufen weißer und rosa Radieschen empor. Für 8 Pfennig bekam man ein Bündel von 30 Stück.

»Ach ja«, sagte Théophile, als wir unser Frühstück auf einem Caféhaustisch ausbreiteten. »Wir Franzosen essen gut. Aber nicht so viel wie die Deutschen.«

Dieses Wort entfesselte seinen Redestrom.

»Meinen Sie«, rief er, »daß die Deutschen so viel essen würden wie jetzt, wenn sie ihre Reparationen bezählt hätten? Ich weiß, wie die Deutschen essen. Und uns fehlen siebzig Milliarden Francs.«

»Wenn ihr nicht so viel Geld für eure Armee ausgeben würdet, würde euch vielleicht nicht so viel Geld fehlen«, warf ich ein.

»Unsere Armee?« Théophile schrie nahezu. »Aber wir haben doch nur sechshunderttausend Mann. Und Deutschland, sagen Sie, hat nur hunderttausend. Das stimmt ja nicht. Sie haben, glaube ich, nicht nur die hunderttausend Mann, sondern drei Millionen. In ihren Sportgesellschaften, ›Vereine‹ nennen sie sie. Alles frühere Offiziere und Soldaten. Alle sind bereit zu kämpfen. Die ganze Jugend Deutschlands ist bereit zu kämpfen. Die Pfadfinder, die zwischen sechzehn und achtzehn. Und Sie meinen, die sind nicht vorbereitet? Sie meinen, die lernen nicht schießen? Unsere sechshunderttausend Mann sind ein Tropfen auf den heißen Stein.«

Théophile biß in sein Sandwich, schlürfte seinen Kaffee und wurde beredt.

»Sehen Sie« – er wies mit einer gleichgültigen Geste auf den Markt. »Sehen Sie sich unsere Friedenssehnsucht an. Wir wollen nichts als Frieden. Wir haben das rechte Rheinufer fünf Jahre früher geräumt, als wir mußten. Von Rechts wegen hätten wir es erst neunzehnhundertfünfunddreißig räumen sollen.

Und wie hat uns Deutschland das gelohnt? Zum Dank haben die deutschen Militaristen auf den Straßen demonstriert. Kaum war der letzte französische Soldat aus dem Rheinland abgezogen, da brachen die Deutschen auch schon los. Sie belästigten Deutsche, die frankophil waren, obwohl sie uns versprochen hatten, sie würden es nicht tun. Ihr Stahlhelm marschierte auf. Das war die Antwort Deutschlands auf unsere Geste. Das war der Dank für uns.

Ich habe in amerikanischen Zeitungen oft den Vorwurf gelesen, daß wir Franzosen Imperialisten sein sollen. Das sind wir nicht. Wir sind geborene Soldaten. Ja. Aber keine Imperialisten und keine Militaristen. Mein Vater hat fünf Jahre gedient. Das war die reguläre Dienstzeit in seiner Jugend. Ich habe drei Jahre gedient. Das war die Dienstzeit in meiner Jugend. Heute dienen die jungen Burschen in Frankreich ein Jahr. Ist das Militarismus?

Und das«, sprach er weiter, »nachdem wir alle zweiundfünfzig Monate in diesem Krieg dienen mußten. In diesem schrecklichen Krieg. Ohne Sieg!«

Er seufzte.

Für einen Chauffeur schien Théophile ungewöhnlich viel von den öffentlichen Angelegenheiten zu wissen. Ich fragte ihn, wie viele von seinen Kollegen mir wohl hätten sagen können, wie hoch die Goldreserve der Bank von Frankreich sei.

»Sie würden staunen«, antwortete er. »Siebzig Prozent von ihnen könnten es ganz bestimmt. Sie könnten noch viel mehr. Sie könnten über die spanische Revolution und über ihre Folgen für Frankreich und den deutschen Staatsstreich sprechen, und darüber, was von Papen bedeutet, und über Adolf Hitler und was der bedeutet.«

»Was bedeutet Adolf Hitler?«

»Einen Strohmann für die Hohenzollern«, gab Théophile kurz und bündig zur Antwort.

»Aber« – er dachte an etwas Provozierendes, und sein Gesicht hellte sich auf. »Der französische Arbeiter kann Ihnen auch erzählen, was für ein schlechtes Geschäft wir mit Amerika gemacht haben. Wissen Sie noch, das ganze Kriegsmaterial, das ihr uns verkauft habt? Ach, war das ein schlechtes Geschäft. Ihr wolltet das Zeug nicht wieder nach Amerika zurücknehmen. Viel von dem Material war verdorben. Wir haben es gekauft. Ein schlechtes Geschäft war das. Nach dem Krieg waren die Geschäfte flau. Wir konnten das Zeug nicht verwenden, und verkaufen konnten wir es auch nicht. Ein sehr schlechtes Geschäft.

Die Amerikaner«, rief er aus, »sind Geschäftsleute. Bessere Geschäftsleute als die Franzosen.

Es ist ein großer Unterschied zwischen dem angelsächsischen Temperament und dem lateinischen. Der Angelsachse ist aus einem anderen Lehm gemacht. Das ist eine Frage der Physiologie. Das ist ganz richtig. Deshalb haben die Angelsachsen um so viel mehr Gehirn, und die Lateiner um so viel mehr Gefühl.

Was«, fragte er, »können wir gegen das Gehirn ausrichten? Sollen wir für ein schlechtes Geschäft bezahlen, bloß weil wir viel Gefühl haben?«

Die Nacht in den Halles hatte ihr Ende gefunden. Der Markt packte zusammen, um nach Hause zu fahren. Er war sehr lehrreich gewesen. Aber Théophile war noch lehrreicher gewesen. Es kann möglich sein, einen besseren Sprecher für Frankreich als Théophile in Paris zu finden. Wahrscheinlich ist es nicht.

Während wir uns durch das Labyrinth des Blumenmarkts an der Peripherie der Halles wanden, beendeten wir unser Gespräch, indem wir zu seinem Anfang zurückkehrten.

»Und wie denken Sie über Europa?«

»Ach«, knurrte Théophile, »mit Europa wird alles in Ordnung sein, solange mit Frankreich alles in Ordnung ist.«

Wenn aus Théophile wirklich die Stimme des gewöhnlichen Mannes in Frankreich spricht, so sagt der gewöhnliche Mann: Frankreich wird seine Schulden an Amerika nicht bezahlen; Frankreich wird nicht abrüsten; Frankreich wird sein Gold nicht verleihen, um an der Erholung Europas mitzuarbeiten; Frankreich fühlt sich in einer Verteidigungsstellung, es fühlt sich bedroht, fühlt sich um den Sieg betrogen und hegt Groll gegen Amerika, Argwohn gegen die Engländer und Angst vor den Deutschen.

Nichts von Propaganda schien hinter Théophiles Ausführungen zu stecken. Soweit man so etwas beurteilen kann, schien er genau das zu sagen, was er dachte. Ein gut Teil seiner Gedanken waren reiner Affekt. Seine Affekte sind die Affekte Frankreichs. Und das ist der Stoff, aus dem die Politik der Völker gemacht wird.

*

»Sicherheit!« rief der Führer in der Bank von Frankreich, während er auf den 14 Tonnen schweren Stahlturm klopfte, der in die Mauer des Gewölbes hineingleitet und sie zu einem massiven, viereinhalb Meter starken Wall macht. »Sicherheit?« fragte er. »So etwas gibt es nicht. Wenn eine Armee Paris einnimmt, wird jemand die Schlüssel zu diesem Gewölbe haben. Und wenn der Mann, der die Schlüssel hat, die Mündung einer Pistole an seiner Brust spürt, was wird er dann mit den Schlüsseln machen?

Er wird sie zurückgeben«, antwortete der Führer selbst auf seine Frage.

Wir waren 23 Meter unter dem Erdboden. Der Weg hinunter führte durch die gewaltigste Befestigung, die je von Menschen zur Behütung eines Schatzes ersonnen worden ist. Der Schatz ist das Gold, welches die Bank von Frankreich besitzt und im Depot hat. Er ist heute gegen 12 Milliarden Reichsmark wert. Nur die Vereinigten Staaten haben gegen 4 Milliarden Reichsmark mehr. Auf der ganzen Welt gibt es 45 Milliarden Reichsmark. Frankreich besitzt mehr als alle anderen europäischen Länder zusammen.

Das französische Gold ist heute, wie das französische Heer, die stärkste Macht in Europa. Wie die Armee Frankreichs militärische Sicherheit, so stellt sein Gold seine wirtschaftliche Sicherheit dar – oder die Hoffnung darauf.

»Sicherung der Sicherheit« – das ist das A und O aller französischen Politik seit dem Krieg. Jeder Schritt, den es in der Politik, in der Wirtschaft, in der internationalen Finanz tut, ist heute davon beherrscht. Wenn man mit diesem Motto Frankreichs beginnt, kann man die Spuren seines Einflusses auf jedes öffentliche Ereignis in Europa seit 1918 zurückverfolgen. Jedes künftige Ereignis – soweit man in die Zukunft blicken kann – wird von dieser französischen Politik beherrscht sein.

Wenn Europa »wieder hochkommt«, wird das entweder in Übereinstimmung mit der französischen Sicherheitsthese geschehen, oder wenn die französische Auffassung davon, was für die französische Sicherheit unerläßlich ist, mit Europas Erholung nicht vereinbar ist, dann wird die Erholung nur im Gegensatz zur französischen Sicherheitsidee zur Tatsache werden.

Europa kann entweder für Frankreich oder wider Frankreich sein. Gleichgültig gegen Frankreich kann es nicht sein.

Der beunruhigendste Faktor in den europäischen Geschehnissen von heute liegt in dem Umstand, daß die Franzosen niemals ihrer Sicherheit sicher sind. Die 14 Jahre der Nachkriegsgeschichte haben eine nicht endende Aufeinanderfolge von Verträgen mit Frankreich als Signatarmacht erlebt. Jeder von ihnen war in der einen oder anderen Weise zur Förderung der französischen Sicherheit erdacht. Jeder von ihnen gipfelt im wesentlichen in der von Frankreich seinen Vertragspartnern gestellten Frage: »Aber dir war es doch auch ernst mit dem, was du unterzeichnest hast, nicht wahr?«

So baut Frankreich auf Verträge. Kanonen und Gold sind etwas viel Handgreiflicheres. Aber wie sicher ist sein Gold? Heute besitzt es nahezu ein Drittel des gesamten Goldes der Welt. Wie lange kann es das behalten?

Wenn das ganze Gold der Welt zu einem Block zusammengeschmolzen würde, könnte es mit Leichtigkeit in einem gewöhnlichen Hotelzimmer untergebracht werden. Jede Bank schützt ihren kleinen Vorrat an dem Metall durch Maßnahmen, die dem Schatz angemessen sind. Keine Bank in Europa hat einen solchen Schatz wie die Bank von Frankreich, und keine Bank der ganzen Welt hat einen solchen Geldschrank zu seiner Aufbewahrung.

Kein Pharao erdachte jemals ein Grabmal in den Tiefen der größten Pyramide, das so unzugänglich wäre wie die Gewölbe der Bank von Frankreich. Es ist fraglich, ob irgendwo in der Welt oder jemals im Verlauf der Geschichte schon eine so undurchdringliche Verteidigungsmauer gebaut wurde wie die, die Frankreichs 12 Milliarden Reichsmark Gold umschließt. Hier liegt der Schlüssel zu Europas finanzieller Zukunft. Hier ruhen die Symbole des französischen Verlangens nach Sicherheit. Wie sehen sie aus?

Wir gingen vom Erdgeschoß der Bank von Frankreich aus. Nach außen ist das Gebäude ein ganz gewöhnlicher Repräsentant der Architektur des 17. Jahrhunderts, ausgezeichnet durch den Teil der Bank, der 1620 von François Mansard erbaut wurde. Der Bastard Louis' XIV. mit Madame des Montespan, der zum Duc de Toulouse gemacht wurde, erwarb diesen Teil des Gebäudes im Jahre 1713 und gab es an einen anderen weiter, an den Duc de Penthièvre; dieser verlor seinen Besitz zusammen mit seinem Kopf an die neue französische Republik. Im Jahre 1811 zog die Bank von Frankreich ein.

Seit damals sind viele Änderungen vorgenommen und Anbauten zugefügt worden. Die Bank nimmt heute mehr als einen Stadtblock ein, ihr Haupteingang ist Nr. 1 in der Rue de la Vrillière. Keine von allen Änderungen, die im Verlauf des vorigen Jahrhunderts vorgenommen wurden, war so umfassend und so kostspielig wie die Erbauung der neuen Gewölbe, die 1922 begonnen und erst 1927 beendet wurde.

Der gewöhnliche Fahrstuhl fährt vom Parterre der Bank ein Stockwerk tiefer und hält. Das ist das Souterrain der eigentlichen Bank, aber das Dach der Gewölbe.

Ein zweiter Fahrstuhl bringt uns eine Treppe tiefer, und wir stehen am äußeren Eingang der Gewölbe. Die erste Tür, gegen nahezu 2 Meter breit und 2½ Meter hoch, wiegt ganze Tonnen und bildet eine Stahlmauer, die ungefähr 60 Zentimeter dick ist. Das ist ein Schutz von solcher Art, wie ihn die meisten großen Zentralbanken für ausreichend halten. Es ist jedoch nur der alleräußerste Anfang der Befestigung für die Gewölbe der Bank von Frankreich.

Wenn diese Außentür sich öffnet, zeigt sich ein schmaler Tunnel von etwa 1 Meter Breite und 2½ Meter Höhe, der durch eine massive Wand aus Stahl und Mauerwerk führt. Das ist die eigentliche Wand des Gewölbes, aber nur die erste Wand. Ich schritt sie ab. Ich mußte fünf lange Schritte machen, um durchzukommen. Sie ist ungefähr 4½ Meter dick.

Auf dem Boden des Tunnels, der durch die Wand führt, liegen Stahlgleise. Auf den Gleisen steht, gleich jenseits des nach innen gelegenen Tunnelendes, ein Stahlturm, der genau die Länge und die Breite des Tunnels hat. Der Turm wiegt 14 Tonnen.

Wenn die Gewölbe ernsthaft verschlossen werden sollen, fährt eine kleine elektrische Lokomotive von außen herein, durch den Tunnel, koppelt den 14-Tonnen-Stahlturm an und zieht ihn in den Tunnel. An einer genau berechneten Stelle schwingt der Turm, der mittels elektrischer Kraft von außen bewegt wird, ein, fügt sich in den Tunnel und versperrt völlig den Durchgang, so daß hier, ebenso wie sonst überall rings um das ganze Gewölbe, eine ungefähr 4½ Meter starke massive Mauer aus Stahl und Beton entsteht. Die äußere Tür ist dann verschlossen, sie bietet ein weiteres Hindernis von 60 Zentimeter Stahl.

Das könnte einem ganzen Heer von Geldschrankknackern Beschäftigung für ihr ganzes Leben geben, aber es ist erst der Anfang, oder um genau zu sein, noch nicht die Hälfte der Gewölbesicherung.

Durch den Tunnel gelangt man zu einem dritten Fahrstuhl, der weitere zwei Stockwerke in die Tiefe führt. In diesen beiden Stockwerken liegen die Räume für Papiergeld, Wertpapiere und Scheidemünzen, Die eben durchschrittene Befestigung genügt als Schutz der Symbole, die das Gold darstellen. Zum Schutz des Goldes selbst reicht sie nicht aus.

Während wir die beiden letzten Stockwerke herunterfahren, wird die Luft kühler. Der Führer erklärt uns, daß wir einen der vielen unterhalb von Paris liegenden unterirdischen Seen passieren. Es ist fälschlich berichtet worden, zum Plan der Befestigung gehöre eine Maschinerie, mittels deren das Wasser aus dem See in die Zwischengeschosse oberhalb des Goldes geleitet werden könnte. Das trifft nicht zu. Der Schutz besteht lediglich aus Stahl und Beton.

Auf dem Grunde der 5 unterirdischen Stockwerke, 23 Meter unter der Erde, kommen wir zu einer zweiten Wand, einer genauen Wiederholung der oberen. Hinter einem zweiten 8-Tonnen-Stahltor steht ein zweiter 14-Tonnen-Stahlturm, der in eine zweite 4½ Meter dicke Stahl- und Betonmauer paßt. Ein zweites Gleispaar und eine zweite elektrische Lokomotive sind die Mittel, mit denen das letzte Verteidigungsbollwerk der genialsten und stärksten Festung, die je erbaut worden ist, an Ort und Stelle gebracht wird.

Diese Festung wurde natürlich nicht errichtet, sondern ausgegraben, im Laufe von fünf Jahren in die Graniteingeweide von Paris eingebohrt. Hier in der Tiefe sind wir von gewachsenen Felsen umgeben. Feindliche Pioniere, die den Versuch machen wollten, die Gewölbe zu unterminieren, müßten einen Schacht durch 19-28 Meter gewachsenen Gesteins bohren. Dann würden sie auf die stählerne Umfassung des Gewölbes stoßen.

Aber die Bezeichnung Gewölbe ist irreführend. Bei dem Wort »Gewölbe« stellt man sich einen kleinen Raum vor. Diese Gewölbe hier unten nehmen einen Flächenraum von zweieinhalb Morgen ein! Draußen, oberhalb der Erde, ist das Gelände von einem hohen Holzzaun begrenzt, der das Grundstück der Bank umgibt; an der einen Seite stößt es auf das Bankgebäude und an den anderen auf die Rue Groix des Petits Champs, die Rue du Colonel Driant und die Rue de Valois. Bei gemächlichem Tempo braucht man nahezu zehn Minuten, um die Peripherie der Gewölbe oben auf der Erde zu umschreiten.

Hier unten rufen das schwache Licht und die eng beieinander stehenden Mauern des letzten Tunnels jenes bekannte Gefühl der Bedrückung, des Zermalmtwerdens hervor, unter dem der Neuling in Kohlenbergwerken leidet. Das Gefühl schwindet, während der Führer nach rechts abbiegt und ein Diener das Licht einzuschalten beginnt.

Allmählich, während in einem Korridor nach dem anderen die Lampen aufglimmen, erblickt man in der weichen Beleuchtung eine Säulenhalle nach der anderen, die von einer zentral gelegenen Halle ausgehen. Jede Halle ist 55 Meter lang. Zum Zentrum der Halle zu zieht sich eine Reihe gewaltiger Säulen, die im Verhältnis zu ihrer Höhe zu dick, aber wuchtig und kraftvoll sind. Der Boden ist mit schwarzen und weißen viereckigen Kacheln ausgelegt.

Die Luft ist frisch und kühl. Sie kommt aus versteckt eingebauten Ventilationsanlagen, welche die Luft in dem obersten Stockwerk der Bank, sechs Etagen über der Erde, einfangen.

Die eine Halle ist für Stahltresors bestimmt. 800 Stück sind da. Sie werden für 900 Francs im Jahr vermietet. Eine andere Halle enthält Stahlkammern, deren jede die Größe eines Badezimmers hat und groß genug ist, um Tisch und Stühle und Regale für Bankdokumente aufzunehmen. Diese werden für 30 000 Francs jährlich vermietet. Nur französische Staatsbürger werden zur Benutzung der Gewölbe zugelassen.

All dies sind nur Anhängsel zu dem eigentlichen Tresorraum. Das Goldgewölbe liegt links vom Tunnel. Es ist eine einzige riesige Halle, 55 Meter lang und 27½ Meter breit, mit Säulen versehen wie die anderen Hallen, aber mit offenen Regalen, die eine beständige Kontrolle der hinter Stahlgittern funkelnden gelben Barren gestatten.

Über den eigentlichen Gewölben, aber noch innerhalb ihrer Mauern liegen andere Räume. Einer von ihnen enthält ein elektrisches Kraftwerk, das völlig unabhängig von der Stromversorgung der Stadt ist und genügend Lagerraum für Öl hat, um einen Betrieb der Anlage für die Dauer von sechs Wochen zu sichern.

Ein anderer enthält einen Speisesaal, der groß genug ist, um 1000 Menschen zu fassen. Es ist Raum für Vorräte auf sechs Wochen. Klosett- und Toilettenanlagen sind da, und Platz genug für Betten, die im Notfall einem erheblichen Teil des insgesamt 4000 Mann starken Pariser Angestellten Stabes unbeschränkt langen Aufenthalt unter der Erde ermöglichen können.

Aber viel erstaunlicher als diese Zahlen und Dimensionen ist die Tatsache, daß wir auf dem Weg von dem Fahrstuhl, der uns vom ersten Stockwerk der Bank heruntergebracht hatte, bis zu dem wirklichen Aufbewahrungsort des Goldes nicht mehr als zwei Wächtern begegnet waren.

Alle diese Vorsichtsmaßregeln sind nicht für gewöhnliche Zeiten getroffen. Die Befestigung ist nicht gegen gewöhnliche Diebe angelegt. Sie ist heute nicht einmal im Gebrauch. Die äußeren Türen, die 8-Tonnen-Stahlblöcke werden in jeder Nacht geschlossen. Aber die Türme, die gewaltigsten Teile der Befestigung, werden nicht allnächtlich an Ort und Stelle gebracht. Sie bleiben außerhalb der Tunnels und werden nur einmal in der Woche, zur Übung, an ihren Platz gebracht.

Es liegt auf der Hand, daß diese gewaltige Befestigung zum Schutz gegen Einbrecher überflüssig ist. Die erste Außentür der Gewölbe würde genügen, um eine Staffel der tüchtigsten Knacker aufzuhalten, auch wenn sie mit den allerbesten Sauerstoff-Azetylengebläsen ausgerüstet wären und Tage für ihre Arbeit zur Verfügung hätten. Welchen Zweck hat die Festung? Was repräsentiert sie? In welchem Zusammenhang steht sie überhaupt mit dem Problem dieser Untersuchung, mit der Frage: »Kommt Europa wieder hoch?«

Ein Grund könnte sehr wohl psychologischer Natur sein. Das bloße Dasein eines so gewaltig gesicherten Gewölbes muß das öffentliche Vertrauen auf die finanzielle Stärke der Bank von Frankreich vermehren. Damit begründete ein Beamter der Federal Reserve Bank unsere eigenen Maßnahmen für die Sicherheit des amerikanischen Goldes, die unvergleichlich weniger imposant sind. Ein französischer Bankier, der durch diese Gewölbe geführt wird, muß unbedingt den Eindruck davontragen, daß dies der sicherste Aufbewahrungsort der Welt für sein Geld sei.

Ein anderer Grund, der in Paris nicht oft betont wird, ist die Angst vor dem Mob. Frankreich hat mehr Revolutionen, und zwar heftigere, durchgemacht als die meisten anderen Länder. Freilich ist in diesem heute offenbar stabilsten Lande auf dem Kontinent, einem Land, das weniger Kommunisten – 12 von 605 Deputierten – hat als alle anderen Länder Europas, in denen die Kommunistische Partei nicht verboten ist, nichts, aber auch nicht das geringste zu sehen, was nur von ferne auf eine Revolution hinwiese. Aber die Bank von Frankreich ist für Jahrhunderte gebaut. Sie rechnet, wie die römische Kirche, in langen Zeiträumen.

Der wahre Grund für die Existenz der Festung liegt jenseits des Rheins.

»Sie in Amerika müssen sehr glücklich sein, daß Sie nicht an solche Dinge zu denken haben«, bemerkte der Führer, als er erklärte, wieso tausend Mitglieder des Bankpersonals in den Gewölben bei einer Beschießung Zuflucht finden könnten.

Als die Deutschen in Kanonenschußweite von Paris waren, als die französische Regierung nach Bordeaux übersiedelte, hatte man keine Zeit, das Gold abzutransportieren. Nicht alles Gold, das in den Büchern der Bank von Frankreich geführt wird, ist in Paris aufbewahrt. Ein guter Teil davon ist auf ihre 159 Filialen in ganz Frankreich verteilt. Wenn alles hier wäre, würden diese 12 Milliarden Reichsmark annähernd 4 665 525 Kilogramm Gold oder 1 250 000 Barren zu 3782 Gramm ausmachen. Die rein physische Aufgabe, mehr als 1 Million Goldbarren aus den Gewölben auf Lastautos, von da auf Güterwagen zu verladen und sie dann nach Städten, die im Innern des Landes gelegen sind, zu transportieren, würde mindestens eine Woche, vielleicht noch mehr in Anspruch nehmen.

Was Frankreich von Deutschland befürchtet – nicht für den Augenblick freilich, aber ganz entschieden à la longue – ist vor allem ein furchtbares Luftbombardement, das Signal für einen Massenanmarsch, der die feldgrauen Truppen wieder vor die Tore von Paris und diesmal vielleicht in die Stadt selbst bringen könnte, bevor der Widerstand zu organisieren wäre. Es läßt sich schwer vorstellen, wie irgendeine Armee es zuwege bringen sollte, plötzlich über die Stahlkette hinwegzukommen, die Frankreich in seiner Barriere aus unterirdischen Forts längs der deutschen Grenzen gezogen hat. Aber Frankreich verläßt sich niemals auf eine einzige Verteidigungsmaßnahme. Das Heer ist ihre erste Defensivlinie, das Gold die zweite, und zum Schutz der zweiten Linie dienen die Gewölbe der Bank von Frankreich.

27 Meter Stahl und Beton müßten genügen, um ein ganzes Heer zu beschäftigen. Wenn der Feind Paris einnähme und nach Frankreichs Schatz graben müßte, könnte er schließlich zu ihm gelangen. Mit Hilfe moderner Bergwerksmethoden, mit der gleichen Ausrüstung, die gebraucht wird, um einen Schacht durch die Felsen zu treiben, welche das Johannesburger Gold enthalten, könnte ein Heer sogar zu diesem Gold vordringen, das viel besser behütet ist, als die Natur ihren Schatz im Quarz behütet. Aber es würde Monate dauern.

Als wir aus den Gewölben heraufkamen, gingen wir durch die Bank, an den altmodischen Bankboten mit ihren Dreispitzen vorbei, an ihren geringeren Kollegen mit ihren blauen Uniformen und den komischen kleinen, flachen Strohhüten, hinaus in die freie Luft.

Der gewaltige Geldschrank, den wir eben gesehen hatten, rief die Erinnerung wach an einen anderen, der nur etliche hundert Kilometer von Paris entfernt ist. In Frankfurt am Main steht im Keller des Familienhauses von Mayer Amschel Rothschild sein ursprüngliches Safe. Eine kleine, braune, mit Eisen beschlagene Holzkiste, so steht es heute da, ein verrostetes Erinnerungszeichen an die bescheidenen Anfänge des europäischen Bankwesens.

Mayer Amschel verschloß sein Geld gegen die antisemitischen, »antikapitalistischen« Deutschen seiner Tage. Heute sitzt ein Urenkel Mayer Amschels, der Baron Edouard de Rothschild, im Direktorium der Bank von Frankreich. Hunderttausend von solchen Geldkisten, wie sein Urgroßvater sie hatte, könnten in den Gewölben untergebracht werden, die der Baron mitverwaltet. Auch ihre Mauern wurden aus Angst vor einer deutschen Gefahr gebaut.

Über dem Eingang der Bank wehte die Trikolore Frankreichs. Über ihr summte ein Flugzeug. Das gab dem Bild von der Gefahr aus der Luft einen Anstrich der Realität. Aber gegen diese Gefahr ist die Bank von Frankreich gesichert. Ihre Mauern reichen aus.

Reichen sie auch gegen Wirtschaftsgesetze aus? Wie lange wird Frankreich, heute der Goldkoloß Europas, imstande sein, seinen Reichtum zu wahren?

*

»Frankreich hat alles getan, was es zur Erholung Europas beitragen kann. Nun ist es an den anderen, zu handeln.«

Mit einer weit ausholenden Handbewegung ließ sich M. Edouard Herriot, Frankreichs Ministerpräsident, wieder in seinem Stuhl nieder und nickte lebhaft mit dem Kopf, um dem, was er gesagt hatte, noch mehr Nachdruck zu verleihen. In seinen Worten drückte sich, in aller Knappheit, die Haltung aus, die Frankreich gegenüber der Erholung Europas einnimmt, und die Folgerungen, die daraus zu ziehen sind, geben ein Bild von der ganzen Politik dieses Landes, sowohl in wirtschaftlicher wie in politischer Hinsicht.

Auf Konzessionen, Kompromisse oder Opfer von französischer Seite ist nicht mehr zu rechnen. Frankreich erwartet heute von den Vereinigten Staaten, von Deutschland und von England die Taten, die etwa nötig oder erwünscht sind, wenn die Erholung dieses Kontinents beschleunigt werden soll.

Wir waren in den Räumen des Ministerpräsidenten am Quai d'Orsay. Das große Zimmer war mit Wandbehängen geschmückt, ein dicker weicher Teppich lag auf dem Boden – unter einem anderen Ministerpräsidenten hätte es vielleicht steif und elegant gewirkt. Unter der leichten Hand des Ministerpräsidenten Herriot hatte der Salon etwas von dem behaglichen Wohnzimmer einer Familie. In seinem unzerimoniellen braunen Anzug, mit dem niedrigen weißen Kragen und der unauffälligen Krawatte empfing M. Herriot seine Gäste mit einer nahezu väterlichen Freundlichkeit.

Wenn M. Herriot erklärt, Frankreich habe »alles getan, was es zur Erholung Europas beitragen kann«, und die Sache damit auf sich beruhen läßt, so ist das von der größten Wichtigkeit für die Bildung eines Urteils darüber, wie Europa sich erholen kann. Vor allem trifft das zu, wenn M. Herriot tatsächlich den Willen Frankreichs repräsentiert. Das steht außer Frage. M. Herriot hat heute als Chef der französischen Regierung eine Vergangenheit hinter sich, die ihm durchaus das Recht gibt, von Frankreichs Taten zur Versöhnung des kriegszerrissenen Europa zu sprechen. Er war es, der im Jahre 1924 an der Spitze der französischen Regierung stand, als Deutschland bei der Londoner Konferenz zum erstenmal wieder in die internationale Gesellschaft der Staaten aufgenommen wurde. M. Herriots vorbereitende Arbeit war es, die zu den Locarno-Pakten führte, der ersten, und damals überaus erfreulichen, Verheißung einer französisch-deutschen Verständigung. Und schließlich war es M. Herriot, der in Lausanne in das Ende der Reparationen einwilligte. M. Herriot ist dazu qualifiziert, mit Nachdruck von Frankreichs »Hilfe« zu sprechen.

Aber M. Herriot ist nicht nur Ministerpräsident von Frankreich. Er ist auch Bürgermeister von Lyon. Seit siebenundzwanzig Jahren leitet er die Ratsversammlungen dieser Stadt des guten Essens, der Bürgertugenden und der Schwerindustrie. Er ist ein wahrhaft französischer Franzose, nicht bloß Pariser Franzose. Er ist wohl außerordentlich gelehrt, er trug – was nicht gerade demokratisch ist – in seinem Rucksack griechische Tragödien bei sich, als er im Heer diente, und er hat ungewöhnliche literarische Talente – aber trotz alledem ist M. Herriot einer der wenigen wahren Demokraten, die in Europa an der Spitze eines Staates stehen. Er setzt sich in seinem Stuhl zurück, faltet die Hände über dem breiten Brustkasten zusammen, lacht, macht ein Bonmot, beugt sich vor, schlägt seinem Gast auf das Knie, und das Lachen, das aus dem Zwerchfell des Ministerpräsidenten aufsteigt, verjagt jeden Gedanken an Formalitäten in alle Winde. Er ist fünfzig Jahre alt, aber der steife Haarschopf, das joviale rötliche Gesicht, seine raschen Bewegungen und kräftigen Gesten lassen ihn zehn Jahre jünger erscheinen. Er ist ein Musterbeispiel der französischen Bourgeoisie, die das Rückgrat des Landes ist.

Es sprach tatsächlich die Stimme Frankreichs aus M. Herriot, als er mit lebhaften, flammenden Blicken, die unter seinen buschigen Augenbrauen hervorschossen, erklärte: »Frankreich kann nichts mehr zu tun.« Théophile, der Chauffeur auf dem Zentralmarkt, hatte das gleiche gesagt.

»Gewiß«, sagte M. Herriot, »wir wünschen, daß Deutschland Ruhe und inneren Frieden genieße.« Ich hatte gefragt, ob es nicht zutreffe, daß Europa als Gesamtheit sich kaum erholen könne, bevor Deutschland sich erhole, und hatte wissen wollen, was der Ministerpräsident für die notwendigen Vorbedingungen einer deutschen Prosperität halte. Die Antwort blieb bei »Ruhe und innerem Frieden«.

»Aber«, sprach er weiter, »wir haben alles, was in unseren Kräften stand, getan, um Deutschland zu helfen. Wir haben die Reparationen gestrichen. Bedenken Sie, was das heißt. Unter dem Young-Plan waren noch siebenunddreißig Annuitäten an uns fällig. Fünfunddreißig davon haben wir annulliert. Frankreich hat am meisten zu Deutschlands Erholung beigetragen. Wir haben alles getan, was ein guter Nachbar tun muß. Aber schließlich kann Frankreich nicht alles allein tun. Die Gerechtigkeit verlangt, daß die anderen auch etwas unternehmen.«

Die »anderen«, die der Ministerpräsident meinte, waren offenbar die Vereinigten Staaten, welche die Schulden streichen oder reduzieren, England, das den französischen Wunsch nach einem engeren Bündnis zur Sicherung der Sicherheit unterstützen, und Deutschland, das aufhören sollte, gegen den Versailler Vertrag Sturm zu laufen.

»Der Friede«, rief M. Herriot aus, »ist die erste, die grundlegende Vorbedingung für Europas Erholung. Ich will damit nicht bloß sagen, daß wir uns vor Kriegen hüten müssen. Das ist selbstverständlich. Ich meine, daß wir Frieden in der Politik und den wirtschaftlichen Beziehungen der Nationen brauchen. Wir müssen bereit sein«, sagte er mit Nachdruck, sich auf das Knie klopfend, »jedes Fünkchen von Gewalt auszutreten, das auffliegen und den Frieden stören könnte.«

Das letzte »Fünkchen«, das aufgeflogen war und die friedliche Stille Frankreichs gestört hatte, war von dem Redner-Amboß des Generals Kurt von Schleicher gekommen, des deutschen Kriegsministers, der allgemein als die wahre Macht hinter dem Kanzler von Papen gilt. Die Beleuchtung, die General von Schleicher der deutschen Haltung gegenüber der Abrüstung angedeihen ließ, war mehr als ein Funke, sie war ein Feuer, das die französischen Befürchtungen in Brand setzte. Er erklärte in einer Rundfunkrede, daß Deutschland ebenso viel Sicherheit brauche wie Frankreich, und daß das Reich sich berechtigt fühle, zu ihrer Erlangung die Reichswehr zu reorganisieren.

Jetzt, da General von Schleicher die ansehnlichste Macht in Deutschland darstellt, werden seine Beziehungen zu Frankreich im Ausland lebhaft diskutiert. Amerikanische Berichte wollten wissen, daß er vor der Übernahme seines Amtes Frankreich einen heimlichen Besuch abgestattet und die Unterstützung M. Herriots dadurch gewonnen hätte, daß er versprach, Hitler in Schach zu halten, die deutschen Beziehungen mit Rußland aufzulockern und die deutsche Feindschaft gegen Polen zu zügeln. Diese Berichte, die schon auf den ersten Anblick hin unwahrscheinlich aussahen, wurden von vielen Beobachtern angezweifelt. Da die französisch-deutschen Beziehungen jedoch von solcher Wichtigkeit für die wirtschaftliche wie die politische Zukunft Europas sind, und da so viel von dem Persönlichen abhängt, ist es von Wert, die Beziehungen Herriot – von Schleicher ein wenig zu beleuchten.

Ich fragte den Ministerpräsidenten, was er über die Rede von Schleichers denke.

»Wissen Sie«, sagte er, »es gibt Zeiten, in denen es für einen Politiker am besten ist, nichts zu sagen. Das ist natürlich außerordentlich schwierig, ganz besonders wenn man, wie ich, ein Redner ist.« Er lächelte breit, lehnte sich zurück, legte sich die Hände auf die Brust und lachte. Dann wurde er ganz ernst.

»Ich halte es nicht für ersprießlich, zu polemisieren, aber –«

Er zog seine schweren Augenbrauen zusammen und setzte eine so ernste Miene auf, wie ich sie bis jetzt auf seinem Gesicht noch nicht gesehen hatte. »Sie erinnern sich vielleicht daran, daß General von Schleicher vor kurzem auch einen Artikel geschrieben hat, in dem er von den Franzosen als einem Volk von Heuchlern spricht.

Nun«, sagte M. Herriot, wobei er mit dem Kopf nickte, um jedem Wort Nachdruck zu verleihen, »ich glaube nicht, daß wir Heuchler sind, und wir Franzosen lassen uns entschieden nicht gern Heuchler nennen.«

Ein besseres Mittel zur Zerstreuung der Legende von einem Rapprochement Schleicher-Herriot kann man sich wohl nicht wünschen. Wenn man bedenkt, daß General von Schleicher bei der Übernahme seines Ministeramtes erklärte, die Regierung, der er angehöre, gedenke vier Jahre zu bleiben, wird die Bedeutung der Reaktion des französischen Ministerpräsidenten auf die öffentlichen Erklärungen des Generals klar.

Aber weitere Fragen machten die Schwierigkeiten noch klarer, die zu überwinden sind, bevor das ferne Ziel der französisch-deutschen Verständigung näher rücken kann. Der Ministerpräsident wurde gefragt, ob Frankreich nicht in Betracht ziehe, daß schließlich die deutsche Politik von dem Wunsch nach Gleichberechtigung und nicht so sehr von dem Wunsch nach Aufrüstung bestimmt sei.

Er hörte aufmerksam zu und nickte ununterbrochen mit dem Kopf, während ein anderer Besucher auseinandersetzte, daß das, was Deutschland verlange, doch nicht gar so sehr viel sei: lediglich das Recht, seine Soldaten für die Reichswehr für sechs anstatt für zwölf Jahre anzuwerben, und das Recht, sein Heer von Fabriken beliefern zu lassen, die das Reich selbst wähle, und nicht bloß von den im Versailler Vertrag bezeichneten. Das sind in der Tat die Minimalforderungen Deutschlands, und es war interessant, zu beobachten, wie der französische Ministerpräsident sich zu ihnen stellen würde.

Er breitete wieder die Hände aus, nickte lebhaft mit dem Kopf und rief aus: »Aber damit wird ja der ganze Fragenkomplex aller Dinge aufgerollt, die im Zusammenhang mit dem Versailler Vertrag stehen. Das ist eine Angelegenheit für eine drei Monate dauernde Kammerdebatte. Eine Debatte von drei Monaten!«

Was das Resultat dieser Debatte unter Umständen wäre, war nicht schwer zu erraten. Wir hatten den empfindlichsten Punkt in den internationalen Beziehungen Europas berührt, den Punkt, von dem die ganze Zukunft der französisch-deutschen Beziehungen abhängt. Jetzt, da Deutschland die Reparationen losgeworden ist, konzentriert sich seine Politik auf die Rüstungsfrage. In seiner militärischen Unterlegenheit sieht es ein Symbol für die ganze Last des Versailler Vertrages. Frankreich betrachtet seine jetzige Waffenüberlegenheit als wesentlich für die Sicherheit der Nation. Deutschland betrachtet sie als unerträglich. Das ist eine Sackgasse, und im Verlauf der Unterhaltung mit M. Herriot kam entschieden nichts zutage, aus dem sich mit einiger Wahrscheinlichkeit schließen ließe, daß der Ministerpräsident von Frankreich und der jetzige Kriegsminister des deutschen Reiches gemeinsam einen Ausweg aus der Sackgasse finden dürften.

»Was für weitere Schritte«, fragte ich, »erscheinen Ihnen nach Lausanne als wesentlich für die Förderung einer Verständigung mit Deutschland?«

»Wir haben alles getan, was wir können«, erwiderte M. Herriot fest.

Aber M. Herriot hält den Pakt von Lausanne für ausreichend. Nicht nur für ausreichend, sondern auch für bedeutend wichtiger, als man zuerst von ihm dachte. Die Hausse, die im Juli an der New Yorker Aktienbörse einsetzte, der Anfang eines Anziehens der Warenpreise, die Steigerung des Vertrauens in der ganzen Welt, zu der es im Spätsommer kam – der Anstoß zu alledem liegt nach M. Herriots Ansicht vor allem im Lausanner Abkommen.

»Es war das Signal für die Erholung«, erklärte er. »Sehen Sie doch, wie das Vertrauen wiederkommt, nachdem es schon ganz so ausgesehen hat, als wäre es endgültig damit vorbei. Das kam erst nach Lausanne. Was für ein Riesenschritt war das! Messen Sie ihn einmal. Er bedeutete die Herabsetzung der deutschen Schulden auf ein Hundertstel. Kein Wunder, daß die Aktien stiegen.

Aber für Frankreich sieht die Zukunft nicht so rosig aus. Wir haben keine Saisonbesserung gehabt. In der Regel nimmt die Arbeitslosigkeit im Sommer ab. In diesem Sommer ist es nicht so. Ich werde in diesem Winter schwere Anforderungen an das französische Volk stellen müssen, um das Budgetdefizit auszugleichen. Frankreichs wirtschaftliche Lage wird klar werden an dem Ausmaß und an der Strenge der Maßnahmen, zu deren Einbringung im Parlament ich gezwungen sein werde.«

»Was wird bei der Weltwirtschaftskonferenz geschehen? Versprechen Sie sich große Resultate?«

»Es wird zu vielen Plänen kommen. Die Politik spielt jedoch eine ebenso große Rolle wie die Wirtschaft. Die beiden Mächte greifen ineinander ein.« Er verschränkte seine Finger.

»Was halten Sie vom Francqui-Plan? Würde Frankreich bereit sein, an einer Aufbringung von Geld zur Stabilisierung der Donauwährungen mitzuarbeiten?«

»Das ist einer von mehreren Plänen. Er ist sehr interessant.«

M. Herriot legte die Fingerspitzen aufeinander.

Andere Franzosen sagen ganz offen, daß Frankreich gar kein Geld aufbringen wird. Frankreich hat den Donauländern seit dem Krieg rund 800 Millionen Reichsmark, vor allem in Gestalt politischer Kredite, geliehen. Heute sind die meisten dieser Darlehen – diejenigen, die noch nicht zurückgezahlt sind – zum Teil eingefroren, zum Teil sind sie verfallen, und zum Teil drohen sie zu verfallen. Nichtsdestoweniger hat Frankreich an einer Verjüngung des Donaubeckens weniger direktes wirtschaftliches Interesse als alle anderen Großmächte. Es schickt kaum mehr als ein Prozent seines Exports nach den Donauländern. Die Politik spielt in der Tat eine ebenso große Rolle wie die Wirtschaft, und es ist klar, daß es zu französischer Hilfe für eine Stabilisierung in den Donauländern nur auf einer politischen Grundlage kommen kann, die dem Wunsch Frankreichs, seine überlegene Stellung in Europa zu erhalten und weiter auszubauen, Vorteile bringt.

»Ich glaube nicht, wie viele andere, daß die Krise ärger werden muß, bevor sie besser werden kann«, sagte der Ministerpräsident. »Sehen Sie sich die New Yorker Aktienhausse an.«

Immer und immer wieder kam M. Herriot auf das im Spätsommer erfolgte Anziehen von Aktien und Warenpreisen zu sprechen. Hoffnungsvoll sprach er auch von einem möglichen Übergreifen der wirtschaftlichen Besserung von Amerika auf Frankreich.

»Die erfreulichste Aussicht für Frankreich liegt in unseren neuen Handelsvertragsverhandlungen mit den Vereinigten Staaten. Ich halte diese Verhandlungen für äußerst wichtig, und die Erlangung einer guten Basis zur Verbesserung unserer Handelsbeziehungen mit Ihrem Lande wird ein wahrer Antrieb zur Erholung sein.«

Wir hatten das Schuldenproblem immer wieder gestreift, aber der Ministerpräsident wich ihm aus. Schließlich fragte ich: »Würde Frankreich eine Pauschalzahlung an Amerika in Betracht ziehen?«

M. Herriot seufzte und gab zur Antwort: »Ich habe das Gefühl, daß man in diesem Augenblick die Ruhe des amerikanischen Volkes nicht stören soll. Ich hege ein Gefühl tiefer Freundschaft für Amerika und möchte nichts sagen, was dem Land in diesem Augenblick Schwierigkeiten bereiten könnte. Ich bemühe mich, die Amerikaner zu studieren und zu verstehen, weil ich sie zutiefst zu verstehen wünsche. Aber bei dem augenblicklichen Stand der Dinge habe ich das Gefühl, daß die Amerikaner nicht beunruhigt werden dürfen.«

Anmutig, aber mit aller Klarheit hatte der Ministerpräsident zu verstehen gegeben, daß er auf die Kampagne zur amerikanischen Präsidentenwahl Rücksicht nehme, und gleichzeitig, vielleicht nicht ganz ohne eine gewisse Selbstironie, klargemacht, daß alles, was er über das Schuldenproblem sagen könnte, beunruhigend wäre. Das war eine diplomatische Geste, die zugleich bewies, wie groß der Wunsch der französischen Regierung nach einer Verständigung über die Schulden ist. Als einer der wenigen Franzosen, die in Amerika gewesen sind und etwas von der Haltung Amerikas wissen, konnte der Ministerpräsident die Gefühle abschätzen, die durch eine offene Darlegung der französischen Haltung hervorgerufen würden.

Andere französische Quellen, die an Autorität nicht so hoch stehen, aber durchaus das amtliche Frankreich repräsentieren, waren nicht so zurückhaltend. Sie verlangten einzig und allein, anonym zu bleiben, und umrissen die französische Haltung mit typisch lateinischer Klarheit: »Frankreich wird nicht einen Cent mehr zahlen, als es von Deutschland bezahlt bekommt. Wir könnten zahlen, wenn amerikanische Reisende in so großer Zahl wie im Jahre 1929 nach Frankreich kommen und so viel Geld wie damals ausgeben sollten, aber das ist nicht wahrscheinlich. Aber es hätte ja gar keinen Sinn, die Frage der wirtschaftlichen Zahlungsfähigkeit zu diskutieren, da es eine politische Unmöglichkeit ist, zu zahlen. Jede französische Regierung, die darauf einginge zu zahlen, würde hinweggefegt werden. Wir sind in eben derselben Lage, in der Deutschland hinsichtlich der Reparationen war. Alle Welt wußte, daß Deutschland zahlen konnte, aber nicht zahlen würde. Es ist gleichgültig, ob wir zahlen können oder nicht, wir werden nicht zahlen. Das Volk würde es nicht zulassen. Wir haben vor kurzem gelesen, daß ein Beamter des amerikanischen Schatzamtes erklärt hat, die amerikanische Regierung erwarte, daß Europa seine Schulden am Fälligkeitstage, am 15. Dezember, bezahle. Kann man sich etwas Absurderes vorstellen? Ist es glaubhaft, daß die Vereinigten Staaten, nachdem Frankreich die Reparationen gestrichen hat, nicht mindestens ein weiteres Moratorium gewähren sollten? Das Schuldenproblem ist unlösbar, weil weder das französische Volk nachgeben wird noch das amerikanische, ganz gleichgültig, was die betreffenden Regierungen zu tun wünschen.«

Dies ist, in einem Abschnitt zusammengefaßt, der Sinn der französischen Haltung. Er mag nicht schmackhaft sein, aber es war auch nicht schmackhaft für die Franzosen, sich der deutschen Zahlungsunfähigkeit fügen zu müssen. Nach zahlreichen Gesprächen mit Franzosen in hohen und niedrigen Stellungen gewinnt man den klaren Eindruck, daß die französische Schuld praktisch nicht eintreibbar ist, und daß jedes Kompromiß, das den Vereinigten Staaten, in welcher Hinsicht immer, überhaupt einen Vorteil brächte, glatter Gewinn wäre.

»Aber«, rief der Ministerpräsident, nachdem er erklärt hatte, daß er nicht das amerikanische Volk durch Äußerungen über die Schuldenfrage beunruhigen wolle, »ich kann eines sagen – ich glaube, daß eine Lösung des Schuldenproblems, die für alle Seiten zufriedenstellend wäre, den entscheidenden Wendepunkt zur Welterholung bedeuten würde. In Lausanne regelten wir die Reparationen. Wenn wir die Schulden regeln, wird nichts übrig bleiben, was den wirtschaftlichen Aufschwung behindern könnte. Das ist meiner festesten Überzeugung nach unbedingt richtig. Das ist der Weg, auf dem Europa wieder hochkommen kann.«

*

Drei Jahre lang war Frankreich die Oase in der Wüste der europäischen Depression. Heute ist Frankreich eine unglückselige Insel der Unsicherheit. Morgen kann es das Opfer der Wirtschaftsgesetze sein, deren Liebling es noch gestern war.

Bei der Betrachtung des Problems »Kann Europa sich erholen« haben viele Beobachter auf diesem Kontinent die Behauptung ausgesprochen, mit Europa könne es nur besser werden, wenn es mit Frankreich schlechter werde. Wenn dies wirklich eine Bedingung ist, von der die europäische Erholung abhängt, dann weisen heute die Aussichten auf ihre Erfüllung hin.

Paris ist noch immer die lebendigste, reizvollste Hauptstadt Europas. Auf seinen Boulevards drängt sich der Verkehr, in seinen Restaurants drängen sich die Gäste, in seiner Nacht funkeln die Lichter zahlloser elektrischer Reklamen.

Der Weg von Ungarn über Österreich, die Tschechoslowakei und Italien nach Frankreich ist ein Crescendo des äußeren Bildes der Prosperität – von den Bewohnern der elenden Unterstände an der Peripherie Budapests bis zu den eleganten Leuten, die die luxuriösen Tanzlokale des Bois de Boulogne füllen.

Frankreich hat noch immer weniger Arbeitslose als alle anderen großen Länder der Welt. Aber wie lange wird das so sein? Es hat noch immer mehr Gold als jedes andere Land Europas, mehr als alle zusammen. Wie lange kann es dieses Gold behalten?

Die kleine Erwerbslosenanzahl und der große Goldschatz: das sind heute die Wirtschaftsbilder an der Oberfläche. Weil die Franzosen den Schlüssel zur wirtschaftlichen Zukunft Europas in Händen haben, verlohnt es sich, mit einiger Aufmerksamkeit die Lage Frankreichs an der Oberfläche und dann auch unter der Oberfläche zu betrachten.

Einer der ersten Umstände, die zunächst der Beobachtung zugänglich sind, ist Frankreichs Fähigkeit, seine Schulden an Amerika zu bezahlen. Die wichtigen französischen Schuldziffern sehen folgendermaßen aus:

Die Gesamtschulden Frankreichs an die Vereinigten Staaten betragen auf Grund der Kapitalisierung im Jahre 1926 16 Milliarden 100 Millionen RM einschließlich 1 Milliarde 640 Millionen RM für das von den Vereinigten Staaten an Frankreich auf Kredit verkaufte Kriegsmaterial, welches das französische Finanzministerium nach eigener Aussage gegen einen Barbetrag von 1 Milliarde 80 Millionen RM verkaufte. Bis zum 30. Juni 1931, dem Stichtag des Hoovermoratoriums, hatten die Franzosen auf Schuldkonto insgesamt 800 Millionen RM bezahlt, woraus klar hervorgeht, daß Frankreich bis dahin von den ursprünglichen Kriegskrediten nichts bezahlt hatte, und daß ihm bis heute aus dem Verkauf des amerikanischen Kriegsmaterials ein Nettoverdienst von 280 Millionen RM geblieben ist.

Der Betrag der 1982 an Amerika fälligen Schuldsumme beläuft sich auf 200 Millionen RM. Das französische Gesamtbudget für 1932 hat einschließlich sämtlicher Regierungsausgaben eine Höhe von 10 Milliarden RM, wovon die 1932 an Amerika fällige französische Schuld 2 Prozent ausmachen würde. Der gesamte Heeres- und Flottenetat Frankreichs für 1932 beträgt 2 Milliarden 800 Millionen RM, und darauf bezogen würde die 1932 an Amerika fällige Schuld Frankreichs noch nicht ganz 8 Prozent ausmachen.

Diese Zahlen zeigen zunächst die erstaunliche und selten klar erkannte Tatsache, daß Frankreich bis jetzt von seiner ursprünglichen Schuld an Amerika noch nichts bezahlt, dafür aber aus dem Verkauf des amerikanischen Kriegsmaterials einen Barüberschuß in Höhe von 280 Millionen RM übrig behalten hat. Es mag sehr wohl sein, daß das Material mit 1 Milliarde 640 Millionen RM Frankreich gegenüber zu hoch bewertet war, aber wie das Geschäft heute aussieht, kann sich der Käufer kaum darüber beklagen. Die Zahlen zeigen auch, welch außerordentlich kleinen Prozentsatz die Schuldzahlungen an Amerika im französischen Gesamtbudget und in den französischen Gesamtausgaben für Heer und Flotte bilden würden.

Keine einzige dieser Zahlen berührt jedoch die Frage, die in der Vergangenheit von Washington zum wichtigsten Kriterium in der Behandlung von Schuldproblemen gemacht worden ist: die Zahlungsfähigkeit des Schuldners. Wenn Frankreichs Zahlungsfähigkeit ausschließlich im Licht seiner finanziellen und kommerziellen Beziehungen mit Amerika betrachtet wird, sind zwei Faktoren von ausschlaggebender Wichtigkeit. Der eine davon ist die franco-amerikanische Handelsbilanz, der andere die Ausgaben amerikanischer Reisender in Frankreich.

Zwischen 1926 und 1931 einschließlich, das heißt in dem Zeitabschnitt, in dem Frankreich tatsächlich Schulden zahlte, kaufte es im Werte von 4 Milliarden 440 Millionen RM mehr Waren von Amerika als dieses von ihm, so daß Frankreich in diesen Jahren einschließlich der Zahlung von 800 Millionen RM auf Schuldkonto insgesamt 5 Milliarden 240 Millionen RM an Amerika überwies. Und wenn hierzu 800 Millionen RM auf Konto des französischen Zinsen- und Amortisationsdienstes auf Privatanleihen aus Amerika im Abschnitt 1926 bis 1931 gerechnet werden, ergäbe sich als Totalsumme der französischen Zahlungen an die Vereinigten Staaten im Laufe der sechs in Frage stehenden Jahre der Betrag von 6 Milliarden 40 Millionen RM. In diesen sechs Jahren besuchten jedoch annähernd 1 200 000 amerikanische Reisende Frankreich und gaben laut den besten Schätzungen, die erhältlich sind, nicht weniger als 6 Milliarden 520 Millionen RM aus, so daß Frankreich einen Nettosaldo von 480 Millionen RM zu seinen Gunsten hatte.

Angesichts dieser Zahlen müßte es völlig klar sein, daß die amerikanischen Reisenden Frankreich reichlich genug mit Dollars versehen haben, um ihm die Zahlung seiner Schulden an Amerika zu ermöglichen.

Diese Zahlen dürften, für sich allein betrachtet, wohl kein französisches Argument für die Zahlungsunfähigkeit stützen können. Aber die oben zitierten Zahlen repräsentieren lediglich die franco-amerikanische Bilanz und sind aus der gesamten französischen Zahlungsbilanz isoliert herausgenommen worden. Diese gesamte Zahlungsbilanz, wie sie heute aussieht und wie sie in der Zukunft auszusehen verspricht, ist das wirkliche Kriterium, nicht nur für die Haltung Frankreichs gegenüber der Amerikaschuld, sondern für die wirtschaftliche Zukunft dieses Landes im ganzen.

Gestern war die französische Zahlungsbilanz überaus günstig; Gold strömte zur Bank von Frankreich, und der Franc war die stärkste Hochwährung in Europa. Heute ist die französische Zahlungsbilanz ungünstig geworden. Das beste erhältliche Material spricht dafür, daß Frankreich morgen vielleicht Gold ebenso schnell auszahlen wird, wie es in den goldenen Tagen von 1927 bis 1931 Gold einnahm. Wenn Gold abströmt, wird die Währung dünn, und weitblickende Franzosen fragen sich heute, was die Zukunft für den Franc wohl bergen mag.

Das erste Element im Rahmen dieser Betrachtung ist die Tatsache, daß der Goldzustrom nach Frankreich sein Maximum überschritten hat. Der Vorrat Frankreichs an Gold und in Gold umwandelbaren fremden Valuten verdreifachte sich im Jahre der Stabilisierung 1927, er stieg von 3 Milliarden 33.2 Millionen RM auf 10 Milliarden 348 Millionen RM im Jahre 1928 an und wuchs dann weiter auf 10 Milliarden 828 Millionen RM im Jahre 1929 und 12 Milliarden 760 Millionen RM im Jahre 1930, bis er am Ende des Jahres 1931 die Rekordhöhe von 14 Milliarden 396 Millionen RM erreichte. In den ersten Monaten des Jahres 1932 hielt er sich ungefähr auf dieser Höhe, dann begann er abzunehmen, bis er in der Sommermitte um 416 Millionen RM auf 13 Milliarden 980 Millionen RM abgesunken war. Um diese Zeit war der Gesamtvorrat der Bank von Frankreich an fremden Valuten bis auf rund 800 Millionen RM in Gold umgewandelt worden.

Im laufenden Jahre hat die Abnahme allerdings bis jetzt nur 3 Prozent betragen. Das Wichtige am französischen Goldvorrat aber ist die Quelle, aus der er kommt. Diese Quelle war das französische Kapital, das sich während der Inflation ins Ausland geflüchtet hatte. Es mußten die fünf Jahre von 1927 bis 1932 vergehen, bis es in Gold zurückgebracht werden konnte, aber nach Ansicht aller französischen und fremden Finanzbeobachter ist jetzt praktisch der letzte Centime des französischen Kapitals wieder ins Land zurückgekehrt. Man schätzt, daß in den Jahren von 1926 bis 1932 10 Millionen einzelne französische Staatsbürger ihr Geld nach Frankreich zurückgebracht haben.

Überdies hat Frankreich praktisch aufgehört, eine Gläubigernation zu sein. Man kann sagen, daß es so ziemlich alle seine Darlehen gekündigt hat, und alles, was es an Geldern im Ausland stehen hat, sind einige wenige politische Kredite, von denen die Mehrzahl eingefroren ist. Mit anderen Worten, wenn man Goldbewegungen, die auf rein psychologischen Motiven basieren, außer Betracht läßt, gibt es keine wirtschaftliche Quelle mehr, aus der noch Gold nach Frankreich kommen kann.

Zwischen dieser Lage und der amerikanischen Goldsituation besteht ein großer Unterschied. Die Investoren der Vereinigten Staaten haben nach den Angaben des amerikanischen Handelsministeriums noch rund 60 Milliarden RM an Privatanlagen im Ausland, so daß die Summe der Amerika jährlich zustehenden Zinsen-, Dividenden- und Amortisationszahlungen vom Ausland ohne Einrechnung der Kriegsschulden mindestens 3 Milliarden 600 Millionen RM ausmacht. Das Problem, wie diese Zahlungen zu erhalten sind, hat seine eigenen Schwierigkeiten. Das französische Problem gehört heute einer anderen Kategorie an.

In den einfachsten Begriffen ausgedrückt, lautet es: wie kann Frankreich jetzt, da es sein gesamtes Kapital repatriiert hat, einen Goldabfluß verhüten, der zunächst wünschenswert erscheint, sich aber der Kontrolle entziehen und darum für die Währung gefährlich werden mag? Der jetzige Abfluß von 3 Prozent innerhalb weniger Monate hat gewiß nichts Beunruhigendes. Aber die Bilanz der französischen Staatseinkünfte zeigt ein anderes Bild.

Im Jahre 1928 hatte Frankreich nach der Berechnung Pierre Meynials auf den Konten: internationale Warenzirkulation, Transporte, Zinsen und Dividenden, ein reines Credit von 1 Milliarde 960 Millionen RM. Die Zahlen dieser Autorität zeigen, daß das Credit 1929 auf 1 Milliarde 268 Millionen RM abgesunken war, 1930 auf 832 Millionen RM, und im Jahre 1931 wandelte es sich in ein Debet von 480 Millionen RM um. Dieses Debet von 1931 konnte mit Gold abgedeckt werden und noch immer einen Nettozustrom von rund 1 Milliarde 600 Millionen RM in Gold und fremden Valuten während des Jahres übrig lassen, weil der Bruttozustrom an Gold und fremden Valuten im Verlauf des Jahres eine Höhe von ungefähr 2 Milliarden 80 Millionen RM erreichte.

Wie wird aber das Debet der Konten: Waren, Transporte, Zinsen und Dividenden, im Jahre 1932 aussehen? Darüber können nur Schätzungen angestellt werden, aber gewisse klar umrissene Tendenzen sind deutlich zu erkennen. Die Bilanz der französischen Staatseinkünfte hat sich in vier Punkten geändert, beziehungsweise ist sie dabei, sich rapide zu ändern: Reparationen von Deutschland, Einkünfte von Reisenden, Außenhandelsbilanz und Einkünfte von den wenigen im Ausland verbliebenen Darlehen.

An Reparationen verbuchte Frankreich im Jahre 1931 bis zum Hoover-Moratorium auf sein Konto 416 Millionen RM. Diese Summe wird 1932 und in den folgenden Jahren ausfallen.

Auf Grund der vorsichtigst berechneten erhältlichen Zahlen, die vom französischen Reiseamt zusammengestellt und von M. Meynial als einigermaßen genau anerkannt wurden, verbuchte Frankreich an Einkünften von Reisenden im Jahre 1931 ungefähr 960 Millionen RM, im Gegensatz zu 1 Milliarde 360 Millionen RM im Jahre 1930 und dem Maximum von 1 Milliarde 600 Millionen RM des Jahres 1929. Die Nettoverminderung an Einkünften von Reisenden im Jahre 1932 im Vergleich mit 1931 wird von den besten Autoritäten auf 30 Prozent geschätzt. Das würde bedeuten, daß die Einkünfte in diesem Jahr auf 640 Millionen RM, 320 Millionen RM weniger als im Jahre 1931, absinken werden.

In seiner Außenhandelspolitik hat Frankreich durch Zollerhöhungen und Kontingentierungen verzweifelte Anstrengungen gemacht, um seine passive Handelsbilanz zu reduzieren. Der Erfolg war, daß eine große Anzahl von Kontingentierungs-Repressalien gegen seine eigene Ausfuhr durchgeführt wurden, die in den ersten sieben Monaten des Jahres 1932 gegenüber dem gleichen Abschnitt 1931 um 43 Prozent abnahm, während seine Einfuhr nur um 35 Prozent sank. Nichtsdestoweniger war die absolute Einfuhreinschränkung so groß, daß sie die Passivität der französischen Handelsbilanz in diesem Jahr bis jetzt um ungefähr 400 Millionen RM reduzieren konnte.

Andererseits werden sich die Verluste Frankreichs aus eingefrorenen Auslandskrediten im Jahre 1932 auf Grund vorsichtiger Schätzungen auf rund 80 Millionen RM belaufen.

Die Bilanz internationaler Einkünfte und Ausgaben aus bzw. für Waren, Transporte, Zinsen und Dividenden dürfte also für 1932 im Vergleich zu 1931 erwartungsgemäß folgende Änderungen aufweisen: ein Plus von 400 Millionen RM auf der Passivseite der Handelsbilanz, ein Minus von 416 Millionen RM auf Reparationskonto, ein weiteres Minus von 320 Millionen RM auf dem Konto Einkünfte von Reisenden und ein drittes von etwa 80 Millionen RM auf dem Konto Einkünfte von Auslandskrediten – also ein Netto-Minus im Gesamtbetrag von rund 416 Millionen RM. Hinzugefügt zu den 480 Millionen RM des Defizits von 1931, ergäbe das für 1932 ein Gesamtdefizit von rund 896 Millionen RM.

Wie kann dieses Defizit ausgeglichen werden? Wenn es zutrifft, daß das ganze französische Kapital aus dem Ausland repatriiert ist, und daß kein Goldzufluß aus französischen Quellen erwartet werden kann, kann das Defizit einzig und allein durch reine Ausfuhrzahlungen von Gold oder fremden Valuten ausgeglichen werden. Im August 1932 hatte die Bank von Frankreich noch rund 800 Millionen RM an fremden Valuten übrig. Selbst wenn diese Summe dem Defizit auf Konto Einkünfte zugeführt wird, ist der Schluß zu ziehen, daß gegen Ende des Jahres Gold abzufließen beginnen muß, und daß im Jahre 1933 der Abfluß fortschreitend größer werden wird.

Wenn alle anderen Faktoren gleich bleiben, und wenn man annimmt, daß das Defizit der Zahlungsbilanz nicht weiter anwächst, müßte Frankreich im Jahre 1933 mindestens 1 Milliarde RM Gold verlieren. Bei diesem Tempo würde es vier Jahre dauern, bis Frankreich wieder auf dem Niveau des Jahres 1928 wäre, aber die anderen Faktoren bleiben niemals die gleichen. Das öffentliche Vertrauen ist der empfindlichste und am leichtesten wandelbare Faktor, und was nüchterne Beobachter dieser Tendenz in der französischen Finanz heute befürchten, ist die psychologische Wirkung des wirtschaftlich bestimmten Abflusses von Gold aus den französischen Bankgewölben auf die Stimmung in Frankreich und der ganzen Welt.

Der durch die hier beschriebenen, rein wirtschaftlichen Faktoren herbeigeführte Goldverlust Frankreichs könnte dem allgemeinen Besten dienen, indem er die Bank von Frankreich von ihrer Blutüberfülle befreit und das Gold wiederum an Länder verteilt, in denen es am besten zur Stabilisierung verwendet werden könnte. Ein bedeutender Teil des Kapitals in Frankreich, dessen Höhe nicht zu bestimmen ist, aber wahrscheinlich nicht weniger als 2 Milliarden RM beträgt, gehört jedoch Ausländern. Es ist Panikgeld, das, getragen von dem Strom des zufließenden Goldes, zum Franc flüchtete. Panikgeld folgt dem Strom, und sobald zu dem wirtschaftlich bestimmten Abfluß des Goldes der durch psychologische Gründe bestimmte hinzukommt, sind die sich daraus ergebenden Möglichkeiten nicht abzuschätzen.

Diese Möglichkeiten helfen erklären, warum die Franzosen so hartnäckig dabei bleiben, daß sie an Amerika nicht einen Centime mehr zahlen werden, als Deutschland an Frankreich zahlt. Sie helfen auch erklären, warum die Franzosen so hartnäckig darauf bestehen, daß die Bank von Frankreich kein Wohltätigkeitsinstitut sei.

Laissez faire: das ist die Quintessenz der französischen Wirtschaftspolitik. Wenn Mitteleuropa seine Währungen restabilisieren will, sollen sie zuerst fallen, und dann mag man die Bank von Frankreich um Hilfe bitten. Das war die Antwort, die mir eine französische Autorität gab, als ich fragte, ob Frankreich sich an einem Stabilisierungsdarlehen beteiligen würde. Aber das Laissez-faire wirkt sich nach beiden Seiten aus.

»Frankreich«, sagte mir einer der schärfsten Finanzbeobachter in Europa, »wird sich in wenigen Jahren Geld von Deutschland borgen.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Nun, das tut es doch seit dem Krieg, nicht?«

Die französischen »Anleihen« bei Deutschland, genannt »Reparationen«, haben seit 1922 allein gemäß der Schätzung von Frankreichs eigener Reparationskommission nicht weniger als 6 Milliarden, oder durchschnittlich 600 Millionen RM im Jahr, betragen.

Heute ist diese Einkunftsquelle verstopft. Die Umwandlung von mehr als 8 Milliarden RM französischen Kapitals in Gold, die zwischen 1928 und 1932 vor sich ging, hat die Franzosen eines Einkommens von mindestens 480 Millionen jährlich beraubt. Die französischen Preise, die heute durch den Druck seines hohen Zolltarifs und seines Goldes gehalten werden, sind die höchsten in Europa. Seine Einkünfte von Reisenden werden fortschreitend dezimiert. Seine Ausfuhr nimmt rascher ab als die der meisten anderen Länder. Seine Arbeitslosigkeit hat noch nicht die Zahl von 1 Million erreicht, aber alles spricht für eine Steigerung.

Sein Budget weist ein zunehmendes Defizit auf, und die Regierung, die im Jahre 1927 ihre Gesamtschulden durch die Währungsinflation um vier Fünftel verringerte, hat heute eine Staatsschuld von rund 40 Milliarden RM, mehr als die Hälfte der Schuld der Vereinigten Staaten. Mindestens jeder dritte französische Staatsbürger bezieht eine Pension in der einen oder anderen Form.

Der Abfluß französischen Geldes in den Jahren 1922 bis 1927 trug dazu bei, daß England mit seinem Sterling auf der Goldbasis bleiben konnte. Der Zufluß französischen Geldes in den Jahren von 1927 bis 1931 trug dazu bei, daß der Sterling von der Goldbasis abrutschte. Der zu erwartende Abfluß französischen Geldes von 1932 an mag dazu beitragen, daß der Sterling wieder auf Goldbasis kommt.

Die Gewölbe der Bank von Frankreich sind die stärksten der Welt. Aber die Wirtschaftsgesetze sind doch noch stärker.


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