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Erstes Kapitel.
Wien

Auf dem Nachthimmel Wiens funkelt ein gewaltiger Lichterkreis. Es ist das Riesenrad im Prater. Zum erstenmal strahlten seine Lichter im Mai 1873 auf, als der Kaiser die Weltausstellung eröffnete. In der gleichen Woche eröffnete die Wiener Börse mit einem Krach auf dem Aktienmarkt die Panik des Jahres 1873. Sie ergriff die ganze Welt.

59 Jahre später, fast genau auf den gleichen Tag im Mai, erklärte sich die Österreichische Kreditanstalt für zahlungsunfähig. Die Panik eilte rasch über den ganzen Erdball; die Depression herrscht noch, aber noch immer funkeln die Lichter des Riesenrades einer glücklichen Stadt.

Ihre Einwohner denken zum größten Teil nicht an die Krise. Ihre Bankiers denken, wie die Bankiers überall in der Welt, kaum daran, daß es auch schon andere Krisen gegeben hat, und daß diese sich fundamental oder qualitativ von keiner der früheren unterscheidet, von denen mindestens eine schlimmer war als diese, und die sämtlich nichts anderes waren als Vorläufer erneuter Prosperität.

Die schlimmste nahm von dieser Stadt aus ihren Ausgang in die Welt ungefähr zu der Zeit, da der junge Franz Joseph dem schönen Fräulein Tingel Tangel einen Preis dafür verlieh, daß sie sich mit einem milchweißen Pferd auf das Dach eines Häuschens des wunderbaren neuen Riesenrades stellte und sich auf dem Rücken ihres Reittiers in dem glitzernden Kreis mitbewegte.

Eine der wichtigsten Vorbedingungen für die Beantwortung der Frage: »Wird Europa wieder hochkommen?« ist die Feststellung, wieviel Europa in der Vergangenheit durchgemacht hat. Mit anderen Worten: ist es richtig, daß diese Krise die schlimmste ist, die die Geschichte kennt; vor allem jedoch: birgt diese Krise Elemente, auf Grund deren sie sich qualitativ von früheren unterscheidet? Wenn es so ist, dann mag der Skeptizismus derjenigen, die meinen, Europa könne nicht wieder gesunden, einige logische Gründe für sich haben. Ist es aber nicht so, dann gibt es nur eine einzige mögliche Schlußfolgerung, nämlich die, daß Europa sich von dieser Krise wie von allen anderen erholen wird. Die Schilderung eines Augenzeugen von den Ereignissen des Jahres 1873 in Wien ist ungemein belehrend für eine Beurteilung des relativen Ernstes und der relativen Ausdehnung der jetzigen Krise. »Panik, Chaos, wilde Verzweiflung, hoffnungslose Tollheit, Zusammenbruch des Vertrauens, völliger Wirtschaftsruin –« so zitiert ein Historiker die zeitgenössische Schilderung. Es war die erste ernste Krise in diesem Teil der Welt, sie griff zuerst, was seltsam genug ist, nach Amerika über, und von da wieder zurück auf den ganzen europäischen Kontinent. Und sie dauerte sieben Jahre!

In jenen sieben Jahren litt Österreich-Ungarn, das heißt praktisch das ganze Gebiet, das jetzt von Österreich, Ungarn, der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Teilen Rumäniens und Polens eingenommen wird, unter gewaltiger Beschäftigungslosigkeit, schwerer Depression und tatsächlicher Hungersnot, die vielen direkt den Tod brachte. Heute gibt es in den Nachfolgestaaten nichts Derartiges.

Ein Vergleich der Arbeitslosigkeitsziffern der beiden Krisen ist unmöglich, weil für die 1870iger Krise keine Statistik erhältlich ist, aber die offiziellen Arbeitslosigkeitszahlen weisen darauf hin, daß dieser Teil Europas im großen ganzen weniger unter Arbeitslosigkeit leidet als die übrigen. Österreich verzeichnet 352 000 Arbeitslose bei einer Bevölkerung von 6 740 000, also 5 Prozent. Das ist der höchste Prozentsatz, er kommt ungefähr dem englischen gleich, ist aber bedeutend geringer als Deutschlands 9 und Amerikas geschätzte 10 Prozent. An nächster Stelle kommt die Tschechoslowakei mit 458 000 Arbeitslosen von 14 801 000, also ungefähr 3 Prozent.

In den Agrarstaaten, wo die Statistiken jedoch weniger verläßlich sind, weil es keine staatliche Arbeitslosenunterstützung gibt, ist es folgendermaßen: Ungarn verzeichnet 70 000 Arbeitslose bei einer Bevölkerung von 8 700 000, also ungefähr 0,8 Prozent; Jugoslawien gegen 25 000 von 13 970 000, also weniger als 0,2 Prozent; in Rumänien 60 000 von 18 200 000, also etwa 0,3 Prozent. Wahrscheinlich sind in diesen Ziffern die Massen der beschäftigungslosen Landarbeiter nicht eingerechnet, aber insgesamt werden ungefähr 1 Million Arbeitslose von der nahezu 63 Millionen umfassenden Gesamtbevölkerung der Donaustaaten gezählt, also rund 1½ Prozent. Einen so geringen Grad der Beschäftigungslosigkeit weist keine der Großmächte auf.

Die beiden Industriestaaten Österreich und Tschechoslowakei zahlen eine Unterstützung, die zur Fristung des Lebens ausreicht. Die österreichische Unterstützung entspricht ungefähr 36 RM im Monat, die tschechoslowakische hat ungefähr dieselbe Höhe. In Wien sind diejenigen Arbeitslosen, die in einigen der 65 000 Wohnungen leben, welche seit dem Jahre 1919 vom sozialistischen Magistrat erbaut wurden, von allen Arbeitslosen der Welt entschieden am besten versorgt. Die Mieten, die nur die reinen Unterhaltungskosten einzubringen haben und für die einzelne Wohnung durchschnittlich 20 RM im Monat betragen, sind wohl die niedrigsten in Europa.

Ich besuchte eine Reihe dieser prächtigen Wohnstätten für Arbeiter und Angestellte, ohne mich einem offiziellen Führer anzuvertrauen. Sie müssen einfach als grandios bezeichnet werden, aber noch mehr Eindruck als das Demonstrationsobjekt unter ihnen, der unter einem Kostenaufwand von 16 Millionen RM erbaute Karl-Marx-Hof, der, im Jahre 1930 dem Gebrauch übergeben, im zweiten Krisenjahr 6000 Menschen beherbergt, machen die Kinder, die in den Gärten spielen. In einem halben Dutzend »Proletarier«-Behausungen hielten wir uns auf, um die Scharen halb nackter junger Menschen zu bewundern, die in der Sonne herumsprangen. Ihre braunen kräftigen Körper, ihre übersprudelnde Lebenskraft könnten ein Gegenstand des Neides für Millionärskinder sein. Wir fragten immer wieder nach, und es stellte sich heraus, daß ein Viertel bis ein Drittel dieser Kinder Arbeitslosenfamilien angehörte.

»Was geschieht, wenn ein Haushalt seine Miete nicht bezahlen kann?« fragte ich einen Gärtner, der den Rasen eines von den kleineren Wohnhäusern besprengte. »Werden sie exmittiert?«

»Aber nein!« rief der Gärtner aus. »Sie bleiben da, solange sie wollen. Brauchen nichts zu bezahlen.«

Der Kaiser Franz Joseph hatte in der Burg kein Badezimmer, und in der Burg, dem gewaltigen Palast, der das Herz Wiens einnimmt, wohnt es sich nicht halb so gut wie in irgendeinem von zehn oder zwölf Arbeiterhäusern, welche von der ersten sozialdemokratischen Verwaltung erbaut wurden, die jemals etwas so Greifbares für ihre Anhänger getan hat. Nicht nur haben alle städtischen Wohnhäuser luxuriöse Badezimmer, die Stadt hat überall so zahlreiche und so wohl ausgestattete Schwimmbäder eingerichtet, daß Wien zum Zentrum des Wassersports in Europa geworden ist.

Der Stolz der Stadt ist das gekachelte und mit Marmor ausgelegte Amalienbad, das sich zur Abhaltung olympischer Spiele eignet. Um seine russischen, türkischen und anderen Dampfbäder und seine Turnhalle müßte es von so manchem reichen New Yorker Sportklub beneidet werden. Aber sein fünfstöckiges Bauwerk erhebt sich inmitten eines der ärmsten Viertel von Wien und ist der Allgemeinheit gewidmet.

An den Ufern der Donau liegen Strandbäder, in denen Hunderttausende von Wienern Sport treiben. Die Preise sind für die Massen berechnet. Für 80 Pfennig bekommt man an den Buffets eine volle Mahlzeit. Lautsprecher lassen Wiener Walzer über den Fluß erklingen, und die sonnverbrannte Jugend dieser unter der Krise leidenden Stadt wirbelt umher, bis das Orchester einen Rumba zu spielen beginnt. Dann hören sie auf. Vor dem Rumba zieht die Stadt der Strauß' eine Grenze.

Wien, das einst von Seuchen heimgesucht, ein Zentrum der Schwindsucht war, dessen Bevölkerungsmassen sich in wahren Rattenlöchern zusammendrängten, die sich nur mit den schlimmsten Moskaus vergleichen ließen – Wien weist heute einen Gesundheitsstatus auf, mit dem es nur wenige europäische Städte aufnehmen können, und das Aussehen seiner jüngeren Bevölkerung beweist, was die Statistiken sagen.

Ein Nebenergebnis dieser Magistratspolitik ist es, daß die kommunistische Partei in Wien heute auf dem Höhepunkt der Krise noch nicht imstande gewesen ist, auch nur einen Sitz im Stadtrat zu erobern. Von 90 Sitzen gewannen die Sozialdemokraten 66, die Christlichsozialen 19 und die Hitlerianer 15. Moskau hat keine Lockungen für Arbeiter, die nicht nur unter besseren Bedingungen als ihre Genossen in der Sowjetunion leben, sondern auch als ihre Kollegen überall sonst in Europa.

Zweifellos gibt es auch Elend in Wien. Ich fragte, wo ich danach zu suchen hätte. Zu den Leidenden gehört Baron Louis Rothschild, der frühere Chef der zusammengebrochenen Kreditanstalt, der erste, dem die peinliche Rolle zufiel, eine Bank zur Zahlungsunfähigkeit zu führen; er wurde gezwungen, aus seinem eigenen geräumigen Palais in der Prinz-Eugen-Straße in das ebenso geräumige Palais seines Bruders Alphonse in der Theresianumstraße umzuziehen.

Nicht nur die Anzahl der Bridgespieler in den Caféhäusern ist geringer geworden, man hört auch überall, daß nahezu jede Familie Wiens, die drei Dienstboten hatte, sich genötigt gesehen hat, sich auf zwei einzuschränken. Baron Rothschild soll sein Hauspersonal von 48 auf 24 herabgesetzt haben.

Damit soll gesagt werden, daß die Krise die Reichen und die oberen Schichten verhältnismäßig härter getroffen hat als alle anderen, daß sie es aber zuwege bringen, ihre Lebensführung auf einem erträglichen Niveau zu erhalten. Die sozialistische Verwaltung Wiens hat ihr ohne Beispiel dastehendes Bauprogramm finanziert, indem sie die existierenden Gebäude mit Steuern belegte, die praktisch auf eine Expropriierung hinausliefen, und ihr weitgespanntes System sozialer Leistungen durch Abgaben durchgeführt, die bei allen außer den Arbeitern überaus unbeliebt waren. Absolut genommen ist natürlich die Klasse, die am schwersten leidet, die derjenigen Beschäftigungslosen, deren Unterstützungsansprüche erschöpft sind.

Das nicht mehr junge Zimmermädchen in meinem Hotel erzählte mir, ihr Mann sei seit 18 Monaten arbeitslos. Als Kellner hatte er im ersten Jahr 12 RM wöchentliche Unterstützung bezogen, und in den letzten 6 Monaten 9 RM. Er wird seine Unterstützung noch weitere 6 Monate hindurch beziehen, und dann wird seine Frau, die jetzt rund 20 RM in der Woche verdient, ihn zu unterstützen haben. Sie hat viele arbeitslose Freunde.

»Was wird aus den Arbeitern, die keine Posten mehr haben und auch keine Unterstützung mehr bekommen?« fragte ich sie.

»Ach, wenn ihre Frauen Arbeit haben, leben sie von denen, oder sie gehen betteln oder stehlen«, sagte sie. »Sterben tun sie nicht. Die sind zäh.«

Wien behauptet, infolge der Krise schlechter daran zu sein als alle anderen Orte Mittel- und Südosteuropas. Wenn das stimmt, ist die Not dieses Teiles der Welt gewaltig übertrieben worden. Im Jahre 1920 ließ sich statistisch nachweisen, daß Tausende von Wienern innerhalb weniger Monate Hungers sterben würden. Sie starben nicht nur nicht, sie zeugten überdies die außerordentlich gesunde Generation, die jetzt diese, wie es scheint, nicht unterzukriegende Stadt bevölkert.

Österreichs Wirtschaftsstatistik beweist, daß die Bevölkerung durchschnittlich mehr ißt als jemals nach dem Krieg. Das Österreichische Institut für Konjunkturforschung weist nach, daß die Bevölkerung in der Mitte des Jahres 1932, wenn man den Nahrungsmittelverbrauch in dem Abschnitt 1923-1930 mit 100 bezeichnet, einen durchschnittlichen Nahrungsmittelverbrauch von 107 hatte. Die Anschaffungen von Schuhen und Haushaltungsartikeln wiesen eine Rate von 102 auf. Allerdings kauften sie um 15 Prozent weniger Bekleidungsartikel, und der Cafébesuch hatte um 20 Prozent abgenommen. Man fragt sich nur, wo diese 20 Prozent Platz gefunden hatten, und welches andere Land der Welt den Caféhausbesuch ernsthaft im Wirtschaftsindex aufführen würde. Aber selbst die Zeitungsreklame hat nur um 6 Prozent abgenommen, und das ist sicherlich ein Zeichen dafür, daß ein Volk, das so gut weiß, welche lebenswichtige Rolle die Reklame innerhalb des kapitalistischen Systems spielt, etwas von der Erholung spüren muß.

Das hohe Verbrauchsniveau hier läßt sich damit erklären, daß die Löhne, obwohl die Lebenshaltungskosten nicht nur nicht heruntergegangen sind, sondern sich sogar tatsächlich um eine Kleinigkeit erhöht haben, und zwar von 106 im Jahre 1927 auf 109 heute, gleichfalls nicht reduziert wurden. Dieses Nichtheruntergehen von Löhnen und Preisen mag sehr gut für den noch beschäftigten Arbeiter sein, aber es hat fürchterliches Unheil angerichtet im Exporthandel und in der Exportbilanz Österreichs und daher auch sehr zur Arbeitslosigkeit beigetragen. Normalerweise sollte die österreichische Industrie 50 Prozent ihrer Produktion ausführen. Am deutlichsten zeigen sich die Wirkungen in der Stahl- und Eisenindustrie; der letzte österreichische Hochofen ist eben stillgelegt worden, die Produktion von Eisenerz ist auf 32 Prozent ihrer normalen Höhe abgesunken, die von Roheisen auf 8 Prozent, und die von Stahl auf 15 Prozent.

Die Baumwollspinnindustrie andererseits arbeitet mit kaum geringerer Intensität als in den Jahren 1927-1930, die Furnier-, Zellulose- und Papierindustrien halten sich auf einem Durchschnitt, der nicht tief unter dem von 1927-1930 liegt, und die überaus wichtige Lederindustrie produziert ebenso viel, wie der damalige Durchschnitt ausmachte. Die Vorräte sind betrüblich hoch und wachsen sogar noch an, was daraus hervorgeht, daß die Lagerausweise Wiens um ein Siebentel mehr Waren aufführen als zur selben Zeit im vergangenen Jahr. Der Export ist um 42 Prozent gefallen, der Import jedoch um 50 Prozent – eine erfreuliche Tendenz in einem Schuldnerland, wenn auch die verzweifeltsten Anstrengungen bis jetzt keine aktive Bilanz herbeiführen konnten.

Schließlich ist jedoch noch zu bemerken: während Bankrotte die Anzahl unrentabler Konzerne zu einem Satz von etwa 20 wöchentlich reduzieren und Umstellungen mit Kapitalverringerungen zu einem Satz von ungefähr 100 in der Woche vor sich gehen, also in einem verdoppelten Tempo gegenüber 1927, einem sogenannten Jahr des Aufstieges, hat sich der ausdauernde Lebensmut der Österreicher noch niemals besser bewiesen als darin, daß durchschnittlich 55 neue Unternehmungen es allwöchentlich wagen, um ihre Eintragung nachzusuchen.

Viele von den Anomalien in Österreichs wirtschaftlicher Situation lassen sich durch seinen Währungszustand erklären. Die Nationalbank hat 193 Millionen Schillinge in Gold und fremden Valuten zur Deckung ihres Banknotenumlaufs von 966 Millionen Schillingen, was eine nominelle Decke von 18 Prozent bedeutet. Von dieser 193 Millionen betragenden Deckung sind aber 100 Millionen von der Bank von England und 90 Millionen von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich geborgt, so daß die Nationalbank in Wirklichkeit an eigenen Mitteln nur 3 Millionen Schillinge Gold besitzt, und das bedeutet eine wirkliche Decke von 0,3 Prozent – wohl ein neuer Weltrekord »nach unten«.

Hier haben wir eine lückenlose Illustrierung für die fundamentale Situation der mitteleuropäischen Länder. Österreich borgte die 190 Millionen Schillinge, um seine Währung zu schützen. Sie borgte sie kurzfristig. Heute hat der Völkerbund – das heißt Frankreich, da Frankreich der Hauptfinanzier ist – Österreich 250 Millionen Schillinge auf 20 Jahre angeboten. Von diesen 250 Millionen würde Österreich 190 Millionen brauchen, um sein kurzfristiges Darlehen abzudecken. Aber die übrigen 60 Millionen müßte es dazu verwenden, augenblicklich den kurzfristigen Verpflichtungen gegenüber Italien und anderen Ländern nachzukommen, die durch die getroffenen Stillhalteabkommen zurückgestellt wurden. Die nackte Bedeutung des Völkerbundskredites für Österreich ist also, daß sie lediglich die Umwandlung eines kurzfristigen in einen langfristigen Kredit darstellt.

Als Gegenleistung für diese Umwandlung hat Frankreich von Österreich verlangt, es solle von neuem, und zwar auf weitere 20 Jahre, seine Bestrebungen, sich an Deutschland anzuschließen, aufgeben und sich überdies einer erneuten Völkerbundkontrolle unterwerfen. Ist es zu verwundern, daß das österreichische Parlament mit lauter Stimme die heftigsten Einwendungen gegen dieses Geschäft machte? Die französische Tendenz, die Politik der Wirtschaft vorgehen zu lassen, ist am vollkommensten in ihrem Verhalten gegenüber Österreich exemplifiziert. Frankreich würde eine Erholung Österreichs begrüßen, aber lieber möchte es Österreich zusammenbrechen sehen, als seine Zustimmung dazu geben, daß es sich an Deutschland anschließe und so die »potentielle Kriegsstärke« Deutschlands verstärke. Hinter jedem französischen Finanzschritt in Mitteleuropa steht der Schatten der deutschen Waffen, oder um es präziser auszudrücken, die französische Angst vor diesem Schatten.

Österreich jedoch, nach außen das Opfer, der »Under-dog« der Umstände, beweist durch die Tatsachen, daß niemand glücklicher ist als ein bankrott Gewordener, dessen Gläubiger sich anstrengen, um ihn am Leben zu erhalten, weil sie darauf hoffen, eines Tages ihr Geld wiederzubekommen. Österreichs Gläubiger wissen, daß es ohne ein neues Darlehen die 190 Millionen kurzfristige Kredite nicht zurückzahlen könnte. Zur Zahlung aufgefordert, würde es sie einfach verweigern.

Die Anleihe stellt jedoch ein weiteres Mittel zur Erhaltung Österreichs in diesem Schwebezustand zwischen Solvenz und Insolvenz dar, der seine Geschichte seit einem Jahrhundert charakterisiert. Das Völkerbundsdarlehen ist für Österreich zu viel zum Sterben und zu wenig zum fiskalischen Leben. Mit ihr kann es weiterhin seine Währung nominell, im Inneren, mit Polizeigewalt »auf Goldbasis« erhalten. Ohne sie würde es dasselbe tun, da es das kurzfristige Darlehen nicht zurückzahlen würde. Aber die Völkerbundsanleihe reicht nicht dazu aus, es Österreich zu ermöglichen, daß es das einzige tue, was seine fiskalischen und privaten Finanzen in Ordnung bringen könnte, nämlich daß es seine Währung auf ein Niveau herabsetze, das ihrem wirklichen Wert einigermaßen entspräche, und in Wahrheit auf die Goldbasis zurückkomme.

Solange Österreich nicht so viel finanzielle Hilfe in Form eines Kredites an seine Nationalbank erhält, daß es ihm möglich wird, seine Währung auf ein voraus bestimmtes Niveau, das wahrscheinlich 30–40 Prozent der jetzigen Parität darstellen würde, herabsinken zu lassen und dann auf diesem Niveau zu erhalten, wird es wirtschaftlich nicht wieder gesund werden können, es sei denn auf dem Wege eines unverblümten Staatsbankrottes.

Im Inneren wird die Parität der österreichischen Währung mit Polizeigewalt aufrechterhalten. Im Ausland und auf der »Schwarzen Börse« in den Wiener Caféhäusern liegt der Kurs 25–40 Prozent unter pari. Alle Welt weiß, daß die Notierung der »Schwarzen Börse« den wahren Wert des Schillings repräsentiert. Warum kann die Regierung den Schilling nicht »von der Goldbasis abgleiten« und »selbst seine Kurshöhe regulieren« lassen, wie man es mit dem britischen Pfund getan hat?

Vor allem, weil die Österreicher inflationsbewußt sind, und weil die Regierung nicht genug Geld hat, um den Schilling auf seine natürliche Kurshöhe absinken zu lassen und auch auf dieser festzuhalten.

Die Inflationsbewußtheit bedeutet, daß die Regierung mehr dazu tun müßte als andere Regierungen, um die »Abwertung « der Währung auf einem gesunden Niveau aufzufangen. In einem Lande, das eine unkontrollierte Inflation durchgemacht hat, treibt das erste Anzeichen eines Währungssturzes das Publikum zu Panikhandlungen. Das gebrannte Kind beeilt sich, Waren zu kaufen, das, woraus völlig wertloses Papier werden könnte, in Sachwerte umzutauschen. Preise und Löhne steigen dann rapid, der ganze Vorteil der Abwertung geht verloren, die Ausgaben der Regierung steigen, das Budgetdefizit nimmt zu, es müssen mehr Noten gedruckt werden, und so fort bis ins Uferlose.

Wenn die Regierung jedoch genug Geld oder fremde Valuten hat, um den Abwertungsprozeß auf einem gesunden Niveau aufzuhalten, und wenn die Regierung im Inneren Macht genug hat, um ein augenblickliches Ansteigen der Löhne zu verhindern, bringt die Abwertung eine budgetäre Erleichterung, sie verbilligt den Export und regt ihn an, sie verbessert die internationale Zahlungsbilanz und kann zu einer natürlichen Abhilfe für den Bankrottzustand des Landes führen, so wie es heute in England der Fall ist.

Die Notwendigkeit der Schillingabwertung wird von allen österreichischen Behörden anerkannt. Das künstliche Preisniveau infolge der mit Polizeimitteln aufrecht erhaltenen Währung macht Österreich eine Konkurrenz auf dem Weltmarkt nahezu unmöglich. Eine Wiener Lederware, eine Brieftasche, wird heute für 7 Schillinge verkauft. Der amerikanische Käufer hat für die 7 Schillinge 1 Dollar zu bezahlen. In Wirklichkeit sind die 7 Schillinge jedoch nur 75 Cent wert, weil die Brieftasche in Begriffen der Weltmarktpreise nicht mehr als 75 Cent wert ist. Deshalb kauft der Amerikaner nicht und wird auch nicht kaufen, solange er nicht in der Lage ist 75 Cent für 7 Schillinge einzutauschen. Sobald er das tun kann, wird er kaufen.

Österreich ist im Augenblick also zwischen der Scylla einer künstlich im Zustand der Deflation gehaltenen Währung, die seinen Handel stranguliert, und der Charybdis der Inflation. Im Augenblick ist ihm die Scylla das liebere. Alle Behörden in Wien versicherten mir, Österreich werde alles tun, um eine Inflation zu vermeiden. »Alles«: dazu gehört unter den herrschenden Umständen auch der Bankrott. Mittlerweile sind die Nutznießer der mißlichen Lage Österreichs die Leute, die in seiner Währung spekulieren. Aber nicht immer!

Ganz Wien lachte, als zwei Engländer im Café »Schwarze Börse« erschienen und 15 000 Pfund Sterling für Schillinge zum Kauf anboten. Sie hatten Tausendpfund-Noten und wurden sie augenblicklich zu einem Kurs los, der um 40 Prozent über der Polizeiparität der Nationalbank lag, weil eine Tausendpfund-Note ohne die geringste Schwierigkeit in einer Zigarette ins Ausland geschmuggelt werden kann. Kaum waren die Makler über die Grenze gekommen, da entdeckten sie, daß ihre kostbaren Pfunde Fälschungen waren. Die Engländer waren weg, aber auch wenn sie in Wien geblieben wären, hätten sie sich in Sicherheit wiegen können, da niemand Anklage gegen sie hätte erheben können, ohne sich selbst wegen unerlaubten Handels mit fremden Valuten ins Gefängnis zu bringen.

Alles weist auf die Wahrscheinlichkeit hin, daß Österreich sich vor einer Inflation bewahren wird, und daß es nicht bestrebt sein wird, seine Währung abzuwerten, bevor es das mit Sicherheit tun kann, das heißt bevor es genügend Mittel aus dem Ausland erhält. Vorgänge außerhalb Österreichs lassen hoffen, daß diese Mittel vielleicht gegeben werden. Wenn nicht, wird Österreich sich in aller Ruhe mit dem Bankrott abfinden und sein Moratorium für Auslandszahlungen zu einem dauernden machen, und das bedeutet, daß seinen Gläubigern ungefähr 28 Millionen RM monatlich an Zinsen und Amortisation ihrer Darlehen verloren gehen werden. Das wird seinen Gläubigern mehr schaden als Österreich selbst, das auf eine lange und glänzende Vergangenheit in Bankrotten zurückblicken kann.

Diese Vergangenheit zeigt, daß das große Reich Österreich-Ungarn im neunzehnten Jahrhundert nicht weniger als fünfmal in den Bankrott ging. In den Jahren 1803 und 1806 verweigerte es die Zahlungen. 1811 reduzierte es willkürlich seine Schulden auf ein Fünftel. 1818 halbierte es die Zinsen seiner Schulden. 1868 führte es eine Couponsteuer auf seine eigenen Obligationen ein, welche die Zinsen von 5 auf 4,2 Prozent herabsetzte. London und Amsterdam schlossen die österreichischen Obligationen von der Börse aus, und von da an konnte die österreichische Monarchie bis zum Zusammenbruch weitere Gelder aus dem Ausland nur durch die Emission vierprozentiger steuerfreier Obligationen, Zinsen und Kapital ausschließlich in Gold zahlbar, erhalten.

Während dieser nahezu ein Jahrhundert lang dauernden Periode wuchs und gedieh Österreich. Seine Bevölkerung stieg von 30 über 40 auf 50 Millionen, sein Territorium und sein Vermögen nahmen zu. Nach der Niederlage im letzten Krieg wurde Österreich von seiner Monarchie befreit, von 696 000 auf 82 800 qkm verkleinert, und von seiner 51 Millionen zählenden Bevölkerung blieben ihm nur 6 Millionen. Obwohl es auch von den Reparationszahlungen befreit wurde, bestand unmittelbar nach Einstellung der Feindseligkeiten die Gefahr des Verhungerns. Augenblicklich beeilte sich die ganze Welt, dem Lande zu Hilfe zu kommen, Österreich erhielt Rettungskredite in einer Höhe von mehr als 400 Millionen RM und dann in rascher Aufeinanderfolge andere internationale Darlehen, die insgesamt rund 200 Millionen Dollar ausmachten. Jetzt hat Österreich, vielleicht mit vollem Recht, Witze über die Aufnahme der letzten Anleihe in einer Höhe von rund 140 Millionen RM gemacht.

Ist es verwunderlich, daß die Wiener die heitersten Leute auf dem Kontinent und ihre Witze über die Krise die treffendsten sind? Ein Wiener Bankdirektor sagte zu mir: »Mit der Krise ist es so schlimm geworden, daß heute der Optimist zum Pessimisten sagt: ›Wir werden noch alle betteln gehen müssen‹, und der Pessimist ihm antwortet: ›Ja – aber bei wem?‹«

Österreich braucht sich über das »bei wem« nicht allzu sehr den Kopf zu zerbrechen.

»Ein Pessimist«, erklärte der Bankdirektor, »ist wie eine Maus, die in einen Eimer mit Sahne fällt, herauszukrabbeln versucht und, wenn sie sieht, daß es nicht geht, alle vier von sich streckt und ertrinkt. Der Optimist«, sprach er weiter, »ist wie die andere Maus, die auch hineinfällt und schwimmt und schwimmt und schwimmt, bis sie die Sahne zu Butter geschlagen hat und herauskriecht.«

Die Österreicher schwimmen noch immer. Sie schwimmen seit nahezu einem Jahrhundert gegen eine Wirtschaftsströmung, die buchstäblich eine chronische Depression bedeutet. Von den fünf Industriestaaten Nordamerika, England, Frankreich, Deutschland und Österreich machte Österreich als einziger in der Zeit von 1866-1925 mehr Depressions- als Prosperitätsjahre durch. Während nach dem National Bureau of Economic Research in Amerika durchschnittlich 15 Jahre der Prosperität auf 10 der Depression kamen, entfielen in Österreich im Verlauf der letzten 60 Jahre auf 10 Jahre der Depression 7 der Prosperität.

Was bedeutet das für Wien?

An einer der belebtesten Ecken der Stadt strahlen die Lichter eines funkelnagelneuen Cafés. Vor 50 Jahren war hier eine Bank. Die Bank ging in Konkurs, und ein Café nahm ihre Stelle ein. Dann kaufte eine andere Bank das Grundstück und arbeitete einige Jahre hindurch. Schließlich zog diese Bank auch aus, und heute beherbergt die Ecke wieder das Symbol des Stadtlebens – das »Café Fenstergucker«.

Es sind auch nicht nur die Bankdirektoren, die die Krise von der humoristischen Seite nehmen können.

Unsere Taxe blieb neben einer Kette von Straßenbahnwagen stehen, um eine Schar lachender, sich drängender Männer und Frauen aussteigen zu lassen. Ein Straßenbahnwagen nach dem anderen kam heran und leerte sich, bis tausend oder mehr Menschen ausgestiegen waren. Alle strömten einem Amtsgebäude zu, stießen und schoben sich unter Scherzen, bis sie in einer Reihe standen. Ich fragte, wer sie seien. Es waren Arbeitslose, die ihre Unterstützung abholen wollten. Der Schalter wurde um 10 Uhr geöffnet. Es war bereits 10 Uhr 15. In Deutschland wären die Arbeitslosen eine Stunde früher dagewesen, um ihr Geld zu bekommen. Aber der Österreicher wird, auch wenn er arbeitslos ist, niemals auf sein Privileg verzichten, um fünfzehn Minuten zu spät zu kommen – um das berühmte »akademische Viertel«. Sie alle fuhren Straßenbahn, weil die Stadt den Arbeitslosen zur Abholung ihrer Unterstützung freie Fahrt gibt.

Wir kamen an einer Statue vorbei – der reizendsten Statue Wiens. Ein rundlicher Dudelsackpfeifer, zerlumpt, steht in trunkener Haltung da und spielt eine ewige Melodie. Was spielt er? »Ach du lieber Augustin!« Das ist die Melodie, und die Statue ist das Denkmal Augustins selbst, des wirklichen Menschen, der seinerzeit der berühmte Autor dieses in der ganzen Welt bekannten Trinkliedes war. Er liebte Wein, Witz und Weiber. Er war Wiener.

Man sagt, in Wien konzentriere sich das Schwergewicht Mitteleuropas. In Wien konzentriert sich der leichte Sinn. Die Wiener Bevölkerung hatte heute, während seine Staatsmänner sich mit dem Budget abquälten, eine andere Sorge. Die Sensation des Tages ging in Klosterneuburg an der Donau vor sich, und zehntausend Wiener versammelten sich an den Ufern des alten Stroms. In Klosterneuburg fand der österreichische Wettbewerb im Makkaroni-Essen ein lang hinausgezögertes, aber befriedigendes Ende. Der Sieger brach nicht zusammen.

Wien ist noch immer die Stadt Augustins.

*

Der Krieg war eine Höllenmaschine, die Österreich-Ungarn in vier Teile zerriß. Die Höllenmaschine wurde in dem großen, hohen Raum eines Wiener Palais gelegt. Heute setzte sich der Chef desjenigen österreichischen Staates, der einst der größte von den Teilen des Reiches war und heute der kleinste seiner Nachfolger ist, an einen furnierten Tisch in eben demselben großen Raum und erklärte die Rolle, welche die Teilung des Habsburger Reiches bei der Beantwortung der Frage: »Wird Europa wieder hochkommen?« spielt.

So fern dieses Problem Amerika auch räumlich ist, seine Bedeutung geht den Vereinigten Staaten sehr nahe. Ein Achtel der Bevölkerung Europas wohnt im Donaubecken. Es ist wichtig zu wissen, ob Europa sich erholen kann, und es ist notwendig zu wissen, ob Mitteleuropa sich erholen kann. New York blickt auf Europa, und Europa blickt auf die Donau. Seit dem Krach der Kreditanstalt kann sicherlich niemand in der abendländischen Welt Österreich mit Gewalt außer Betracht lassen.

Sein Sprecher war Dr. Wilhelm Miklas, von Beruf Lehrer, ein bescheidener, würdevoller, leicht gebeugter Mann, Vater von elf Kindern, seit 1928 Präsident der österreichischen Republik und bis zum Jahre 1935 wieder gewählt.

Der Rahmen unserer Unterredung hob scharf den Kontrast zwischen einst und jetzt hervor. Das Zimmer, die Arbeitsstätte Metternichs, war das Zentrum der österreichischen Vergrößerungspläne bis zu dem letzten Prachtentwurf des Grafen Berchthold, der ihm unter den Händen explodierte, zum Krieg führte und das Reich zerstückelte. Der Kaiser und König verschwand, sein Gebiet wurde aufgeteilt, die Herrlichkeit der Monarchie ist nicht mehr, aber das Land, das sie einnahm, ist noch da, die Menschen sind da, und die Wichtigkeit des ci-devant Österreich-Ungarn ist heute wegen seiner Schwierigkeiten womöglich noch größer als zur Zeit, da es den Namen einer »Großmacht« trug.

Für Außenstehende ist es schwer, zu begreifen, warum die Nachfolgestaaten Österreich, Ungarn, Tschechoslowakei und Jugoslawien sich nicht zur Erleichterung ihrer offenbaren und große Kosten verursachenden Wirtschaftsnöte auf irgendeine primitive Form der Zusammenarbeit einigen können. »Warum können sie sich nicht einigen?« so lautet die häufigste ungeduldige Frage.

Dr. Miklas ist hervorragend dazu geeignet, die Gründe dafür zu erklären. Und auch zu erklären, wie wünschenswert es ist, daß die Nachfolgestaaten sich einigen. Das alte Reich bot, was immer an Gutem oder Schlechtem es in der auswärtigen Politik tat, ein Freihandelsgebiet mit mehr als 50 Millionen Einwohnern. Welche Möglichkeit besteht zu einer Wiedervereinigung dieses Territoriums in wirtschaftlicher Hinsicht?

»Das«, sagte Präsident Miklas, »kann nur beantwortet werden, wenn man sich ins Gedächtnis zurückruft, was seit der Zerstückelung des Reiches geschehen ist.« Er legte die Handflächen aneinander und sprach in angenehm akademischem Ton weiter. »Das Reich war ein sehr großer und sich nahezu selbst erhaltender Doppelstaat. Er besaß alle Elemente von Landwirtschaft und Industrie, die dazu notwendig waren, seiner Bevölkerung einen hohen Lebensstandard zu ermöglichen. Was geschah nach der Zerstückelung?

Jeder Staat begann daran zu arbeiten, sich Möglichkeiten zur Selbsterhaltung zu schaffen. Bis zu einem gewissen Grade gelang das auch. Wir in Österreich hatten eine Lehre in unseren Erlebnissen unmittelbar nach dem Krieg, als das Land nahezu verhungerte, weil es uns an landwirtschaftlichen Produkten innerhalb unserer eigenen Grenzen fehlte. Wir machten uns unter dem Beifall ganz Europas daran, unsere Landwirtschaft aufzubauen.«

Ich dachte an die Weizenfelder auf den Berghängen, die ich vom Eisenbahnfenster aus gesehen hatte, und daran, daß wohl alle Weizenfelder Österreichs zusammen kaum eine so große Ernte ergeben könnten wie eine mittelgroße Farm in Minnesota. All dies war neu für Österreich, nach dem Krieg begonnen, und um welche Kosten begonnen!

Aber der Präsident fuhr fort mit der völlig zutreffenden, aber nichts destoweniger erstaunlichen Feststellung, daß die Umwelt mit dieser überaus unwirtschaftlichen Entwicklung einverstanden war.

»Ein Beispiel!« sagte er. »Als der Völkerbund uns den Kredit zur Wiederherstellung unserer Finanzen gewährte, kamen wir dahinter, daß es nicht notwendig war, ihn ganz für die rein fiskalischen Zwecke zu verwenden, für die er gedacht war. Wir fragten den Überwachungsausschuß des Völkerbundes, ob wir die übrigbleibende Summe zum Aufbau unserer Wirtschaft verwenden dürften. Er gab seine Zustimmung. Wir ließen das Geld in den verschiedensten Arten arbeiten, aber ich will Ihnen nur ein Beispiel erzählen, und zwar davon, wie wir unsere Milchwirtschaft aufbauten.

Unmittelbar nach dem Krieg belieferte das österreichische Hinterland die Stadt Wien mit siebzigtausend Litern Milch. Heute versorgt Österreich Wien mit siebenhundertausend Litern Milch. Noch vor kurzer Zeit, im Jahre neunzehnhundertsechsundzwanzig, kauften wir im Ausland Molkereiprodukte im Wert von ungefähr vierzig Millionen Schilling. Heute kaufen wir eine ganz unbeträchtliche Menge im Ausland und exportieren so viel, daß wir bei diesem Posten sogar einen kleinen Ausfuhrüberschuß haben.

Oder denken Sie an Zucker. Das Territorium des heutigen Österreich produzierte unmittelbar nach dem Krieg zwölf Prozent seines Rübenzuckerbedarfs, heute produziert es fünfundneunzig, wenn nicht volle hundert Prozent seines Bedarfs.«

Es ließ sich nicht der Gedanke von der Hand weisen, daß dies einer von den Gründen sei, weshalb die Tschechoslowakei mit ihrem gewaltigen Rübenzuckerüberschuß so schlecht auf Österreich zu sprechen ist und so wenig Lust hat, eine Wirtschaftsvereinbarung zu treffen. Aber Präsident Miklas hatte eine weitere, noch aufschlußreichere Erklärung zu machen.

»Die Nahrungsmittel, die heute von Österreich gebraucht werden«, setzte er auseinander, »erzeugen wir jetzt praktisch sämtlich im eigenen Lande, mit Ausnahme vielleicht des Weizens, von dem wir fünfzig Prozent unseres Inlandbedarfes aus dem Ausland beziehen müssen. Wenn wir aufhörten, so viel Weißbrot zu essen, und die Bevölkerung mehr Roggen verbrauchte, könnten wir auch in betreff des Brotes Selbstversorger sein.«

Das war wirklich aufschlußreich und bildete ein hervorragendes Beispiel für die zielbewußten Anstrengungen, die allen Erfordernissen des Wirtschaftslebens zum Trotz von den Nachfolgestaaten zur Erreichung der Selbsterhaltung gemacht werden. Österreich war unmittelbar nach dem Krieg dem Verhungern nahe. Das war Grund genug dafür, daß es seine Nahrungsmittel selbst erzeugen wollte. Seine Nachbarn, die damals noch von Kriegsgeist und von Groll gegen ihren alten Herrn Österreich erfüllt waren, weigerten sich, ihm Nahrungsmittel zu liefern. Heute schreien sie, insbesondere Ungarn, Jugoslawien und Rumänien, danach, Österreich Nahrungsmittel zu günstigen Preisen zu verkaufen, Österreich aber zieht es vor, sie selbst zu erzeugen, auch wenn sie doppelt so viel kosten. Jedenfalls beweist die Tatsache, daß Österreich sich im Lauf von 14 Jahren hinsichtlich seiner Ernährung von der Außenwelt praktisch unabhängig gemacht hat, nicht nur die Größe seiner nationalen Energie, sie zeigt auch ein bedeutsames Element in den Schwierigkeiten auf, die sich dem Zustandebringen eines Donauabkommens entgegenstellen.

»Jedenfalls«, erlaubte ich mir zu sagen, »scheint das darauf hinzuweisen, daß Österreich nie wieder so hungern wird wie nach dem Krieg?«

»Ja, wir werden nicht en masse verhungern«, stimmte der Präsident zu.

»Verhungert überhaupt jemand in Österreich?«

»Es hat in Österreich Todesfälle gegeben und gibt auch noch Todesfälle infolge von Krankheiten, die auf Unterernährung zurückzuführen sind, aber kein Massenhungern. Immerhin haben die Einkommensverringerungen in manchen Schichten der Bevölkerung zu ernsten körperlichen Schädigungen infolge von Unterernährung geführt.«

»Würden Sie sagen, daß das Gros der österreichischen Bevölkerung schlechter lebt als im Jahre neunzehnhundertdreizehn?«

»Viel schlechter«, lautete seine entschiedene Antwort.

Diese Streitfrage kann natürlich am besten von den Leuten beurteilt werden, die sowohl das Österreich von 1913 wie das von heute kennen. Statistisch ist die Antwort anfechtbar, und eine Beobachtung in diesem Augenblick zeigt entschieden einen besseren Lebensstandard in breiteren Bevölkerungsschichten als in vielen anderen europäischen Ländern, was Wohnung und Bekleidung wie Ernährung betrifft. Der Schuldner, der zur Zahlung aufgefordert wird, betont seine Armut. Der Schuldner, der neue Kredite sucht, weist nachdrücklich auf seine vertrauenswürdige Zukunft hin. Fiskalisch ist Österreich so gut wie bankrott. Dem einzelnen Österreicher ist wenig davon anzumerken.

»Aber was ist mit den Arbeiterschichten – leben die nicht besser?«

»Sie wohnen ganz entschieden besser, allerdings müssen Sie bedenken, daß die Wohnzustände vor dem Krieg für die Arbeiter in vielen Fällen einfach fürchterlich waren. Zweifellos gibt es unter den Arbeitern etliche Schichten, die jetzt besser leben. Aber das trifft nur zu, wenn sie gerade Arbeit haben, und gilt nicht für die unzähligen Beschäftigungslosen. Die vielen Zehntausende von Arbeitern, die keine Unterstützung mehr beziehen, sind sehr schlimm daran. Außerdem darf nicht vergessen werden, daß die besseren Wohnbedingungen durch Maßnahmen erreicht wurden, die in der Tat auf eine Teilexpropriierung des Hausbesitzes hinauslaufen.«

»Und die Landbevölkerung?«

»Die Bergbauern, die einen großen Teil ihres Bedarfs an Brot und Mehl durch Käufe decken müssen, sind sehr übel daran. Die Getreidebauern und die Milchbauern kommen gerade so durch, dank den von der Regierung ergriffenen Maßnahmen und trotz der Besteuerung, die bedeutend höher ist als vor dem Kriege. Eigentliches Elend aber herrscht im städtischen Mittelstand. Der ist bedeutend schlimmer daran als im Jahre 1930, etwa fünfundsiebzig Prozent sind proletarisiert und können ihre besseren Wohnungen augenblicklich nur noch dank der scharfen Mietengesetzgebung erhalten.

Aber was ist das Resultat alles dessen?« rief er aus. »Österreich braucht heute viel weniger landwirtschaftliche Erzeugnisse aus dem Ausland als seinerzeit, und die Agrikulturstaaten andererseits, die mittlerweile ihre Industrien ausgebaut haben, brauchen viel weniger Industrieerzeugnisse von uns. Die österreichische Vorkriegsindustrie des heutigen Territoriums exportierte siebzig Prozent ihrer Totalproduktion, und selbst heute müßte die österreichische Industrie mindestens fünfzig Prozent ihrer Erzeugnisse ausführen.

Aber ebenso, wie Österreich seine Landwirtschaft ausgebaut hat, haben unsere Nachbaren, die früher fast reine Agrikulturländer waren, ihre Industrien ausgebaut. Die Tschechoslowakei, Rumänien und Ungarn haben mit Hilfe fremden Kapitals ihre Industrien gewaltig vergrößert.

Sie alle haben Zollmauern, deren Wirkung so gut wie prohibitiv ist, errichtet, um ihre eigene Industrie zu schützen. Niemand wird uns unsere Industrieprodukte abnehmen, die wir also nicht exportieren können. Unsere Industrien schrumpfen, die Arbeitslosigkeit nimmt in erschreckendem Maße zu, während die zugrunde gehenden Industrien die Banken, von denen sie gestützt werden, mit sich ziehen.«

»Aber wo liegt dann der Ausweg; das heißt, was sehen Sie als wahrscheinliche Entwicklung in der Zukunft?«

»Wir werden versuchen, uns den Bedingungen anzupassen, die uns aufgezwungen werden. Es gibt nur eine Alternative: daß wir zu einer zweiten Schweiz werden, einer Art Schweiz des Ostens, und nicht imstande sind, unser kulturelles Niveau und unsere Kunstinstitute zu erhalten. Daß wir auf einen viel niedrigeren Lebensstandard heruntergedrückt werden – wir werden uns dann selbst erhalten, aber auf einem Niveau, das unserer tausend Jahre alten Geschichte unwürdig ist.

Auch dann werden wir nicht auf das Niveau montenigrinischer Schafhirten herabsinken, aber wir werden gezwungen sein, schlechter zu leben als je zuvor. Ich weiß nicht, ob unsere Bevölkerung das ertragen wird. Es besteht die Gefahr, wenn die Bevölkerung gezwungen ist, sich mit einem Lebenstandard abzufinden, der um so viel niedriger ist als der, den sie gewohnt ist – dann besteht die Gefahr, sage ich, daß sie den radikalsten Ideen zum Opfer fällt. Ich sage nicht, daß dies unvermeidlich ist, denn ich denke an den Charakter unseres Volkes, das nicht zu Exzessen neigt, und denke auch daran, wie konservativ die österreichische Bauernschaft ist. Auf jeden Fall aber müssen gefährliche Massenbewegungen entschieden in den Bereich des Möglichen gezogen werden.

Die andere Seite der Alternative ist, daß Österreich mit Hilfe Europas wiederum für ein großes Wirtschaftsgebiet zum Transaktionszentrum werden kann. Man darf dabei nicht bloß an die wirtschaftliche Vereinigung Österreichs, der Tschechoslowakei und Ungarns denken. Denn die Agrikulturstaaten des Ostens, nämlich Jugoslawien, Ungarn, Bulgarien und Rumänien, brauchen, um ihre Kaufkraft wiederzugewinnen, einen viel größeren Markt für ihre eigenen landwirtschaftlichen Erzeugnisse, als Österreich und die Tschechoslowakei allein ihnen unter den gegenwärtigen Umständen bieten können. Und solange die Agrikulturstaaten nicht imstande sind, ihren reichlichen Überschuß an landwirtschaftlichen Erzeugnissen restlos zu angemessenen Preisen abzusetzen, werden sie auch nicht imstande sein, unsere Industrieerzeugnisse zu kaufen.

Was wir brauchen«, betonte der Präsident, »ist eine wirtschaftliche Verständigung zwischen den genannten Staaten und mindestens Deutschland, womöglich auch Italien. Nur diese großen Mächte könnten den notwendigen Markt für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse Südosteuropas bieten, und Südosteuropa könnte dann ein angemessener Markt für die Industrien Österreichs und der Tschechoslowakei werden.

Auch die deutsche und die italienische Industrie würden durch ein derartiges Abkommen profitieren, obwohl sie viel weniger darauf angewiesen wären als Österreich, da sie Exportmöglichkeiten nach Übersee haben.«

Der Gedanke ist entschieden von imposanter Logik. Bis nun hatte der Präsident sehr ruhig gesprochen, aber jetzt, zum Schluß, wurde er lebhafter:

»Im vorigen Jahr versuchten wir, aus eigener Initiative unsere wirtschaftliche Lage durch die angestrebte Zollunion mit Deutschland zu verbessern – eine Union, die ausdrücklich die Tür für dritte Staaten offen ließ.«

Der Präsident sprach pointiert: »Man hat es uns verboten! Der Weltgerichtshof im Haag hat uns auf die Finger geklopft. Darauf lud Kanzler Buresch zu Beginn dieses Jahres die Wiener Vertreter der vier europäischen Mächte Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien zu sich ein und sagte ihnen ungefähr folgendes: ›Sie haben es uns unmöglich gemacht, uns selbst in dieser Weise zu helfen – jetzt haben Sie die Freundlichkeit, uns zu sagen, meine Herren, in welcher Weise wir uns helfen dürfen und helfen können, um einer Situation zu entrinnen, die uns durch das Verdikt Europas aufgenötigt wurde?‹

Wir warten noch immer auf eine Antwort«, schloß der Präsident.

Er stand auf. Wir gingen über den Parkettboden dreier riesiger Salons. Dr. Miklas steht an der Stelle der Habsburger. Die ganze Einrichtung ist noch da, die Palais, die dekorative Hauptstadt, der Name Österreich. Aber Dr. Miklas könnte auf sich und die Familie der Habsburger das bekannte Wortspiel anwenden, das sich an den österreichischen Gruß »Ich habe die Ehre« knüpft. Ein Österreicher begrüßt einen anderen mit diesen Worten und bekommt zur Antwort: »Ja, und ich habe die Arbeit.«

Die Habsburger hatten die Ehre, aber die Beamten der Republik haben heute die Arbeit und müssen sich anstrengen, um das wirtschaftliche Gleichgewicht eines durch die imperialistischen Bestrebungen ihrer früheren Herren verstümmelten Torsostaates zu bewahren.


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