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Zweites Kapitel.
Prag

Aus einer Höhe von 3500 Metern über Mitteleuropa hat der Luftreisende einen weiten Ausblick. Wir durchfuhren eine hochfliegende Wolke, sausten in ein Meer kalten Sonnenlichtes hinaus, und da lagen, weit weg, zur einen Seite Polen, zur anderen Österreich, und direkt unter uns die sauberen Felder, die rotgekachelten Dächer und die sich aneinander drängenden Wälder der Tschechoslowakei. All dies war einst Österreich-Ungarn. Die neuen Grenzen, die das alte Reich in vier Staaten zerstückelt und Teile noch zwei anderen zugewiesen haben, spielen eine wichtige Rolle in der Frage: »Wird Europa wieder hochkommen?«

Der Mann, der am meisten zu dieser Grenzziehung beitrug, der Mann, der die Zerteilung des österreichisch-ungarischen Reiches herbeiführte, ist 82 Jahre alt. Ein Alter von 82 Jahren gibt einen noch besseren Überblick als eine Höhe von 3500 Metern. Und wenn der 82 Jahre zählende Geschichtsschöpfer noch immer an der Spitze des wichtigsten Staates Mitteleuropas steht, noch immer Geschichte macht, dann müssen seine Ansichten über die Weltkrise von einzigartigem Wert sein.

Der im Jahre 1850 geborene tschechoslowakische Präsident Thomas Garrigue Masaryk hat von allen Regierungschefs republikanischer Staaten auf der Erde das höchste Dienstalter. Er hat nicht ganz so lange gedient, wie der im übrigen unfehlbar genaue Weltalmanach behauptet, der in einer Anmerkung erklärt, der Präsident hätte sein Amt im November 1018 übernommen. Bis auf 900 Jahre ist die Angabe richtig; Präsident Masaryk steht seit 14 Jahren ununterbrochen an der Spitze seiner Republik – die längste Amtszeit, auf die es je ein Präsident gebracht hat.

Die Frage, wie Präsident Masaryk über sein eigenes Werk denkt, ist mehr als reizvoll in diesem Augenblick, da ganze Völker in Mitteleuropa ihre Übel und die Übel der Welt darauf zurückführen, daß nach dem Krieg auf diesem Kontinent zehn neue Staaten, zehn neue Zollmauern, zehn neue Währungen – von den zehn neuen Heeren ganz zu schweigen – geschaffen wurden. Für das Entstehen seines eigenen Staates ist Präsident Masaryk fast ausschließlich verantwortlich, aber er unterstützte auch die anderen nationalistischen Gruppen im österreichisch-ungarischen Reich mit Hilfe und Anregungen, so daß er mehr als jeder andere es verdient, der Vater des Mitteleuropa von heute genannt zu werden, wo fünf von den zehn neuen Staaten Europas darum kämpfen, ihr wirtschaftliches Gleichgewicht zu erhalten.

Unser Flugzeug ließ sich tiefer herab. Unter uns dehnte sich ein schönes Land. Getreidefelder wechselten mit Fabrikgrundstücken, und das erinnerte an den fast vollkommenen günstigen Ausgleich, der in der Tschechoslowakei zwischen Industrie und Landwirtschaft herrscht. 39 Prozent der Bevölkerung arbeiten auf dem Lande, 33 Prozent in der Industrie, der Rest in anderen Berufen. Wie das ihr verbündete Frankreich hat die Tschechoslowakei ihre Eier zu nahezu gleichen Partien in die beiden großen Körbe der Wirtschaft verteilt.

Dorf um Dorf flitzte unter uns vorüber, und rings um jedes Dorf war ein Kranz neuer Häuser im Entstehen begriffen. Stapel von Baumaterial, halb fertiggestellte Dächer und Hunderte umhereilender Arbeitsleute legten Zeugnis ab für die Wirksamkeit der tschechoslowakischen Steuerermäßigungsgesetze. Die sich über einen gewissen Zeitabschnitt erstreckende Steuerfreiheit für Neubauten hat trotz der Krise eine außerordentliche Bautätigkeit angeregt.

Aus der Luft gesehen, bietet die Tschechoslowakei ein erfreuliches Bild. Aus den Kaminen stieg Rauch auf. Fabrikpfeifen sandten Dampfstrahlen in die Höhe, und in den Höfen der Bauernhäuser wurde eifrig Getreide aus Wagen entladen. Unten vertiefte sich der Eindruck, daß dieses Land weit davon entfernt sei, unter einer Depression, geschweige denn unter Elend zu leiden. Unser Automobil fuhr rasch vom Flugplatz über geschotterte Chausseen, durch wohlgehaltene Stadtstraßen, umfuhr die Ränder Prags und folgte schließlich einer Straße, die zwischen wogenden Weizen- und Roggenfeldern hindurchführte. Wir mußten unser Tempo nur verlangsamen, wenn wir an Arbeitern vorbeikamen, die mit Asphaltierungsarbeiten beschäftigt waren.

In einer Entfernung von ungefähr 50 Kilometern von Prag fuhren wir durch ein hohes Eisentor in einen ausgedehnten Park. Ein geeigneterer Sitz für einen Staatschef als Schloß Lana, die Wohnstätte des Präsidenten, ursprünglich eine fürstliche Residenz, ließe sich in der Hauptstadt keiner Großmacht finden. Es repräsentiert den Dank von 15 Millionen Bürgern an den Mann, der sie zu einer Nation machte.

Durch lange kühle Korridore kamen wir in seine Bibliothek. Präsident Masaryk war für seinen Nachmittagsgalopp angekleidet. Mit seinen 82 Jahren führt er ein aktiveres Leben als mancher 60jährige. In seinen Reitstiefeln, den grauen Whipcordhosen und dem schwarzen Rock wirkte der Präsident elegant und schlank, als er sich hinter einem mit Büchern beladenen Tisch erhob. Helle Augen blickten durch einen Kneifer, und mit seinem weißen Schnurrbart und Spitzbart sah er aus wie ein Edelmann alter Schule aus den Südstaaten, der sich bereit gemacht hat, hinter den Hunden auf seiner Pflanzung in Virginia einherzureiten.

Wir kamen direkt zur Sache. »Glauben Sie, daß die Wirtschaftskrise, wie viele in diesem Teil der Welt behaupten, zu einem beträchtlichen Teil darauf zurückzuführen ist, daß das österreichisch-ungarische Reich auseinandergefallen ist und seine jetzige Form angenommen hat?«

Der Präsident legte ein Bein über das andere, zupfte seinen Schnurrbart, dachte nach und antwortete in perfektem Englisch:

»Meiner Ansicht nach hat die Krise in der ganzen Welt in jedem einzelnen Land, beziehungsweise in jeder einzelnen Ländergruppe, ihre eigenen Gründe. Sie haben selbst den Unterschied zwischen den Erscheinungsformen der Krise in unserem und in anderen Ländern beobachtet.

In Wien macht sich der Zerfall Österreich-Ungarns allerdings sehr schlimm fühlbar. Der wirtschaftliche Zustand, unter dem man in Wien leidet, ist in der Hauptsache darauf zurückzuführen, daß Wien seine Profite aus dem ganzen Reich zu ziehen pflegte, und dieser Profite ist man dort jetzt zum größten Teil beraubt.

Hier in der Tschechoslowakei hat die Wirtschaftsdepression eine andere Ursache. Wir haben für den Aufbau unseres neuen Staates mehr ausgegeben, als wir getan hätten, wenn wir größere administrative Erfahrungen gehabt hätten. Dieser Umstand hat unsere jetzigen Schwierigkeiten, wenn auch nicht gerade verursacht, so doch jedenfalls verschärft.

Ich mache vielleicht klar, was ich meine, wenn ich das Aufbauen eines neuen Staates bei uns mit dem Aufbauen neuer Heere in England und Amerika bei Kriegsausbruch vergleiche. Weder England noch Amerika hatten bei ihrem Eintritt in den Krieg ein Heer von nennenswerter Größe. Sie mußten ihre Armeen ganz neu schaffen. Aus diesem Grunde kosteten ihre Heere bedeutend mehr als die alten Armeen Frankreichs und Deutschlands. Sie gaben unvergleichlich mehr Geld, auf den Kopf berechnet, für ihre Soldaten aus als Frankreich oder Deutschland. In ganz gleicher Weise hat es uns bedeutend mehr gekostet, unseren neuen Staat aufzubauen und zu organisieren, als es einem bereits existierenden Staat gekostet hätte, eine gleiche Organisationshöhe zu erreichen.

Ich führe also einen guten Teil der Krise in der Tschechoslowakei auf die Kosten zurück, welche die Schaffung der neuen Nation verursachte. Aber wenn man der Ansicht ist, daß der Zerfall des österreichischen Reiches in einem wichtigen Zusammenhang mit der Krise stand, wie erklären Sie sich dann die Krisen in Amerika und England, wo es keinen politischen Zerfall gab, und wo die Depression womöglich noch ärger ist als in Mitteleuropa?«

Die Tatsachen bekräftigen diese vernünftige Bemerkung des Präsidenten. Nach der niedrigsten existierenden Ziffer kommen in den Vereinigten Staaten 207 Arbeitslose auf 1000 von der Bevölkerung, und in England 186 auf 1000. In Österreich kommen auf das Tausend 140, in der Tschechoslowakei 120, in Polen 32, in Ungarn 14, in Rumänien 3 und in Jugoslawien 6. Die relative Arbeitslosigkeit ist in Mitteleuropa durchschnittlich noch nicht halb so groß wie in den Vereinigten Staaten, dem größten Freihandelsgebiet der Welt.

»Ja«, wiederholte der Präsident, »die Krise hat Sie ebenso schlimm getroffen wie alle anderen, Sie können die Schuld daran also nicht Mitteleuropa geben.«

Ich dachte an den österreichischen Präsidenten Miklas und sagte: »Aber es gibt viele Menschen, die sich nicht nehmen lassen wollen, daß die Errichtung von Zollmauern innerhalb des Gebietes, das seinerzeit vom österreichischen Reich eingenommen wurde, die wirtschaftliche Widerstandskraft der Nachfolgestaaten überaus geschwächt habe. Was waren Ihrer Ansicht nach die Wirkungen dieser Zollmauern auf die Krise?«

»Selbstverständlich können Zölle den Handel einschränken«, antwortete der Präsident, »aber wenn das alte Reich noch existierte, würde es genau so wie die anderen Schranken errichtet und Zölle erhoben haben. Haben die größeren Wirtschaftsgebiete das etwa nicht getan? Waren die Wirkungen hoher Zölle zwischen zwei großen Ländern nicht ebenso schädlich wie die der Zölle zwischen kleineren?

Ich gebe zu, daß der Zerfall des Reiches auf die Krise in diesem Teil der Welt vielleicht von einigem Einfluß gewesen ist, daß er sie vielleicht verschärft hat, aber seine Wirkungen waren viel geringer, als viele Menschen annehmen, und ganz entschieden war er nicht die Hauptursache für die Krise. Wie ich schon vorhin sagte, jede Reorganisation bringt eine gewisse Verschwendung mit sich, aber die Vorteile dieser Reorganisation sind unvergleichlich größer als ihre Nachteile.

Die Schaffung neuer Staaten brachte eine Vermehrung der Energie in allen Bezirken der öffentlichen Tätigkeit mit sich. Ein Amerikaner wird die historische Tatsache ganz besonders würdigen können, daß an die Stelle dreier absolutistischer Reiche, Österreich-Ungarns, Deutschlands und Rußlands, Freistaaten getreten sind. Diese neuen Staaten haben ihre Schwierigkeiten, aber wo in aller Welt gibt es einen Staat, der keine Schwierigkeiten hätte?«

Keine andere Feststellung hätte mehr Licht auf den weit verbreiteten Irrtum werfen können, daß Mitteleuropa als Ganzes unter seinen geographischen, politischen und wirtschaftlichen Begrenzungen zu leiden habe. Es wurden wohl bei der Ziehung der neuen Grenzen Mitteleuropas offenbare Fehler begangen, aber die 15 Millionen der Tschechoslowakei, die 14 Millionen Jugoslawiens und die 17 Millionen Rumäniens – zusammen 46 Millionen, und rechnet man noch Polens 32 Millionen dazu, so sind es heute 78 Millionen Menschen, die mit ihren Grenzen zufrieden sind. Österreich mit seinen 7 Millionen und Ungarn mit seinen 9 Millionen sind unzufrieden, und von diesen 16 Millionen kommen die Proteste, welche in der Umwelt den Glauben erwecken, Mitteleuropa sei schlechter daran als jemals zuvor. Vorher aber waren es die 78 Millionen, die protestierten, und ihre Proteste führten zu dem größten Krieg der Weltgeschichte. Die von einer Majorität begangenen Ungerechtigkeiten mögen verdammt werden, aber sie gefährden den Weltfrieden weniger als Ungerechtigkeiten, die von einer Minorität begangen werden.

Die Siegernationen in Mitteleuropa sind heute politisch zufrieden gestellt. Sie leben in beständiger Angst davor, daß ein neues wirtschaftliches Arrangement schließlich zu einem Wandel in der militärischen und politischen Überlegenheit führen könnte, die sie jetzt über ihre früheren Feinde haben. Trotzdem würde ein Verlust von 50 Prozent ihres gemeinsamen Handels allem Anschein nach dazu genügen, um bis zu einem gewissen Grade einen Geist wirtschaftlicher Versöhnlichkeit auch den Siegernationen nahezulegen. Dem Außenstehenden müßte als wünschenswerteste Form einer Vereinbarung zur Ermäßigung der Zölle und zur Förderung des Handels eine allgemeine Vereinbarung aller mitteleuropäischen Staaten erscheinen. Präsident Masaryk schaufelte allen derartigen Hoffnungen ein Grab.

»Was für Möglichkeiten«, fragte ich, »sehen Sie dafür, daß die Tschechoslowakei, Österreich, Ungarn, Jugoslawien und Rumänien zu einem Wirtschaftsabkommen gelangen, das einige der existierenden Beschränkungen für Handel und Geldumlauf aufheben würde?«

»Ich sehe eine ausgezeichnete Möglichkeit für eine derartige Vereinbarung«, gab der Präsident zur Antwort, »aber nur in Form von Einzelabkommen zwischen den betreffenden Staaten; jeder Staat müßte seine eigenen Vereinbarungen mit jedem anderen Staat treffen. Zunächst kann ich keine andere durchführbare Methode sehen.

Was nun Abkommen zur Erleichterung der Währungsschwierigkeiten betrifft – wie soll es möglich sein, daß mehr als zwei Staaten eine durchführbare Methode ausarbeiten? Denken Sie sich ein Clearing-System zwischen mehr als zwei Staaten: wer soll entscheiden, wem die Profite zufallen sollen, und welcher Staat die Vorteile des Überschusses von Ausfuhr über Einfuhr genießen soll? Wir können nicht wissen, was für Bedürfnisse Ungarn hat, aber Ungarn kann das für sich entscheiden und mit uns, die wir wiederum unsere eigenen Bedürfnisse kennen ein Abkommen treffen.«

»Halten Sie nicht eine allgemeinere Vereinbarung für wünschenswert?«

»Vielleicht«, antwortete der Präsident zaudernd. »Ich würde nichts dagegen haben. Aber ich kann nicht einsehen, wie sie augenblicklich erreicht werden könnte. Jedes derartige allgemeine Abkommen erfordert eine ganz neue Form wirtschaftlicher Organisation, fast so wie das Aufbauen eines neuen Staates. Und vergessen Sie nicht, daß diese fünf Staaten zusammen eine größere Wirtschaftseinheit bilden würden, als das alte österreichische Reich war. Und die Methoden des alten Reichs genügen nicht.«

Wieder zeigte sich die bereits bekannte Abneigung gegen alles, was auch nur im entferntesten an das alte Reich erinnert. Schon der Schatten derartiger Dinge ist Anathema für die befreiten Nationen, die seine Grenzen sprengten.

»Und was ist mit einer Zollunion dieser Staaten? Halten Sie eine Zollunion für denkbar?«

»Ich bin nicht dagegen«, erwiderte der Präsident ohne jede Begeisterung. »Aber meine erste Methode zielt auf den Versuch ab, die gleichen oder ähnliche Resultate mit Einzelverträgen von Einzelstaat zu Einzelstaat zu erreichen. Allerdings wir haben jetzt neue Grenzen, aber wie wirken sie sich wirtschaftlich aus? Sehen Sie sich die Statistik des Außenhandels an. Sie zeigt, daß wir nach denselben Ländern exportieren – nach eben denselben: Österreich, Ungarn und Deutschland. Das beweist, daß alte Gewohnheiten allen Grenzen zum Trotz sich erhalten. Die Menschen, die gewohnt waren, hauptsächlich von uns zu kaufen, kaufen noch immer unbeschadet aller politischen Grenzlinien hauptsächlich von uns. Es ist also durchaus vernünftig anzunehmen, daß Einzelverträge, die zur Förderung dieser Handelsbewegung gedacht sind, ihren Zweck erfüllen werden.«

Der österreichische Präsident Miklas hatte mit Nachdruck von seiner Überzeugung gesprochen, daß die einzige wirklich wirksame Hilfe für Mitteleuropa von einem Abkommen zu erwarten sei, welches Deutschland und Italien mit umschließe, damit diese Staaten den landwirtschaftlichen Überschuß Ungarns, Rumäniens, Jugoslawiens und vielleicht auch Bulgariens aufnehmen und dadurch diese Länder in die Lage versetzen könnten, die Industrieüberschüsse Österreichs und der Tschechoslowakei zu kaufen. Es war daher von Wichtigkeit, den Präsidenten Masaryk über seine Ansicht zu diesem Plan zu befragen.

»Halten Sie es für wünschenswert oder durchführbar, Deutschland und Italien zu einem Wirtschaftsabkommen der Donaustaaten hinzuzuziehen?«

Die Antwort des Präsidenten wurde mit überzeugendem Nachdruck gegeben.

»Aber was würde das denn nützen? Deutschland läßt uns bereits seine Konkurrenz in nahezu allen Zweigen unserer Industrie fühlen. Es konkurriert sogar mit uns auf dem Gebiet unserer Spezialität, unseres ›weißen Goldes‹, unseres Zuckers. Nein, die Frage, wie ein annehmbares Abkommen zu erreichen wäre, wird durch ein Hereinziehen Deutschlands oder Italiens in dieses Problem nicht gefördert werden. Die Frage ist im wesentlichen eine taktische, und das ist der Grund dafür, daß die einzige durchführbare Methode darin besteht, Einzelabkommen zwischen den in Betracht kommenden Staaten anzustreben. Natürlich auch mit Deutschland und Italien. Je mehr Staaten Sie in die Verhandlungen einbeziehen, desto mehr Probleme haben Sie zu lösen, und wenn wir alle Schwierigkeiten aufeinander häufen, werden wir verrückt werden. Es wäre viel besser, wenn wir, die wir seit Jahrhunderten Handel miteinander treiben, Verträge abschließen und Abkommen treffen, als wenn wir danach streben, den Kreis in unmöglicher Weise zu erweitern.«

Diese Antwort macht einen der wesentlichsten Gründe für die Unfähigkeit der Donaustaaten, einen gemeinsamen Boden für ein Abkommen zu finden, klarer als alle statistischen Zahlenreihen. Die Agrikulturstaaten wissen, daß sie nicht ihr ganzes Getreide an die beiden Industriestaaten Tschechoslowakei und Österreich verkaufen können. Sie müssen den Überschuß absetzen, wenn ihre Kaufkraft erhalten bleiben soll. Der Überschuß ist gar nicht so groß. Wenn Österreich und die Tschechoslowakei ihren ganzen Bedarf an ausländischem Getreide aus Ungarn, Rumänien und Jugoslawien deckten, würden diese drei Länder im Durchschnitt nicht mehr als 300000 Tonnen jährlich nach anderen Ländern zu verkaufen haben. Deutschland oder Italien könnten diesen Überschuß leicht aufnehmen, für beide zusammen würde das nur einen unbedeutenden Bruchteil ihres gesamten Getreideimports ausmachen.

Aber weder Deutschland noch Italien würde sich bereit finden, mitteleuropäisches Getreide auf einer Präferenzbasis aufzunehmen, wenn ihnen nicht für ihre Industrieprodukte gleichfalls Präferenz zugestanden wird. Wie man an der Bemerkung des Präsidenten Masaryk erkennen kann, ist die Tschechoslowakei nicht bereit, diese zusätzliche Konkurrenz zuzugeben. Der Plan eines wirtschaftlichen Abkommens Deutschland–Italien–Donaustaaten scheint angesichts dieser Überlegungen zumindest überaus geringe Wahrscheinlichkeiten für eine Erfüllung zu bergen.

»Aber«, sprach der Präsident weiter, »bei dieser ganzen Krisenfrage handelt es sich nicht lediglich um ein Wirtschaftsproblem. Es handelt sich auch um ein moralisches und ein politisches Problem. Die Wissenschaft der Nationalökonomie wird seit dem achtzehnten Jahrhundert gepflegt, und dennoch können die Nationalökonomen kein Heilmittel für die Krise finden. Es gibt keine Panazee. Die Lösung muß von selbst kommen. Das Malheur liegt darin, daß die Nationalökonomen im großen ganzen die Tatsache, daß Freundschaft und Vertrauen für den Handel wesentlich sind, nicht in Rechnung stellen. Wenn ich mit Ihnen befreundet bin und Ihre Waren brauche, kaufe ich von Ihnen. Wenn ich Sie nicht leiden kann, werde ich wo anders kaufen gehen. Sie können niemand zur Liebe zwingen, aber vernünftige Leute werden warten, und mit Geduld werden wir Freunde werden.«

Die Worte des Philosophen-Präsidenten bezogen sich offenbar auf die gespannten Handelsbeziehungen seines Staates mit Ungarn und Österreich.

»Was für Aussichten«, fragte ich, »sehen Sie für eine Besserung des Ausmaßes von Freundschaft und Vertrauen?«

»Ich sehe Aussichten für eine Besserung vor allem in der Tatsache, daß die Vertreter aller dieser Nationen sich bei den verschiedenen internationalen Konferenzen in Genf oder Lausanne treffen und alles mit einander durchsprechen. Das ist ein starker Faktor, und ein ganz neuer. Vor dem Kriege gab es ihn nicht.

Außerdem vergessen die Menschen ihre alten Abneigungen. Sie vergessen das Alte und versöhnen sich mit dem Neuen. Oder wenn sie nicht vergessen, fügen sie sich in die neue Situation. Ich unterschätze die rein wirtschaftliche Seite der Krise nicht, aber ich messe auch der moralischen und politischen Seite großen Wert bei.

Denken Sie zum Beispiel an die Frage der nationalen Minderheiten in Mitteleuropa. Auch sie spielt eine Rolle in dieser Krise. Sie gehört zu den Faktoren, die in die notwendigen wirtschaftlichen Verhandlungen hineinspielen. Aber wie sollte sich das vermeiden lassen? Viele Amerikaner, die nach Europa kommen, werfen einen Blick darauf, sehen zwanzig bis dreißig Nationen und rufen aus: ›Balkanisierung Europas.‹ Sie vergessen einfach, daß das Europa ist, und daß es nirgends in Europa einen Staat gibt, der von einer einzigen Rasse bewohnt wird. Jeder europäische Staat ist gemischt und hat seine nationalen Minderheiten.«

Er unterbrach sich und klopfte sich auf den Reitstiefel, dann sagte er langsam:

»Natürlich lag im Krieg die große Hauptursache der Krise, oder besser, ohne ihn wäre sie wohl kaum gekommen.«

Wieder hielt er inne, und dann, vielleicht in Gedanken daran, daß der Krieg auch die Schaffung der Tschechoslowakei ermöglicht hatte, fügte er hinzu: »Und der Krieg war natürlich das Ergebnis früherer Fehler. Aber Sie können nicht erwarten, daß die durch einen Weltkrieg angerichteten Schäden in vierzehn Jahren behoben werden. Während des Krieges gaben alle Nationen aus, was sie an Ersparnissen angehäuft hatten. Sie alle hatten gewisse Reserven für schlechte Zeiten. Und dann verpulverten sie alle im wahrsten Sinne des Wortes ihr Vermögen.

Bedenken Sie auch, daß die Krise nicht unmittelbar nach dem Kriege fühlbar wurde. Ich kann klarmachen, was ich meine, wenn ich von der Situation eines Mannes spreche, der sein Geld verliert. Er hängt sich nicht sofort auf, sondern erst wenn einige Zeit vergangen ist und er begreift, was sein Verlust bedeutet. Es dauerte einige Zeit nach dem Kriege, bis die Menschen merkten, was geschehen war, und unruhig wurden.«

»Wie sehen Sie die unmittelbare Zukunft?«

»Wir werden in diesem Jahr eine gute Ernte haben, aber der Winter wird wahrscheinlich schwer werden. Es kann noch einige Jahre dauern, bis wir wieder zu ganz normalen Zuständen kommen. In der Tschechoslowakei braucht niemand zu verhungern. Wir haben ein gutes Arbeitslosenunterstützungssystem. Wir sind auf alle Eventualitäten vorbereitet.«

Alle Maßregeln der Regierung für die Krise gründen sich auf die Aussicht, daß die wirtschaftlichen Schwierigkeiten noch zwei Jahre anhalten. Der österreichische Präsident Miklas beharrt darauf, daß die Zerstückelung des österreichisch-ungarischen Reiches die Hauptursache für die Schwierigkeiten Mitteleuropas sei, daß nur eine allgemeine Wiederzusammenfassung der Nachfolgestaaten in einem Wirtschaftsabkommen unter Einschluß Deutschlands und Italiens zur Rettung führen könne. Präsident Masaryk beharrt darauf, daß die Aufteilung des Reiches nur wenig mit den heutigen Schwierigkeiten zu tun habe, und erklärt ein allgemeines Wirtschaftsabkommen für nicht gut durchführbar. Beide führen logische Argumente an.

Sieg oder Niederlage in ihren nationalen Zielen spielen noch immer die Hauptrolle in der wirtschaftlichen Haltung der einzelnen mitteleuropäischen Mächte. In einer Gesellschaft von Wiener Intellektuellen stellte ich die Frage: »Kann Europa sich erholen?«

Die Antwort lautete: »Nein«.

Im Hause Karl Capeks, des weltbekannten ausgezeichneten Autors der »Robotter« und eines Dutzends anderer Satyren, des bekanntesten Literaten der Tschechoslowakei, fragte ich ein Dutzend aus der Prager Intellektuellen-Elite: »Kann Europa sich erholen?«

»Ja«, war die einstimmige Antwort.

Die Tschechoslowakei ist von den mitteleuropäischen, den Donaustaaten der wirtschaftlich stärkste. Sie ist gegen ein gemeinsames Abkommen oder hält es für unmöglich, aber sie ist der Erholung gewiß. Ihre Politik und ihre Voraussage haben die besten Chancen, sich zu bewähren.


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