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Galliens Anteil

I.

. Italien hat menschentiefere Darsteller, – doch Frankreich ist das Land der Regie.

Kein Spielleiter irgendwo hat es heraus, den Gang der Handlung zu tönen wie Antoine. Keiner, ein Kunstwerk so zu gliedern. Eine rara avis! Das Ritardando mit überlegener Macht zu brauchen, wie bald das Accelerando; herauszuheben, abzustufen, zurückzudrängen, hinwegzuhuschen; die Künstler zu formen zum Ebenbild seines brutalen Willens; und das Ganze zu bändigen, daß es »steht«, ein für alle Mal; darin ruht die Geniekraft dieses Mannes.

Nicht in seiner Darstellung. Antoines Grenzen sind eng, in der Simplizitätsspielerei, wie die seiner Vettern in Deutschland, und ein Italiener steckt beide in den Sack … noch als Simplizitätsspieler. Antoine ist groß als Anreger für eine Schauspielerrichtung. (Er selber bildet einen gewissen Wert in der schlichten Linie. Er spielt sozusagen mit dem Gestus der umgekehrten Hand von links unten nach rechts oben, mit der diagonalen Wucht, wobei sich etwa der große Zug mit dem groben Zug berührt.)

Aus jedem mittleren Stück macht er eine Aufführung, an die man nach zwanzig Jahren denkt, mit den Einzelheiten. Man hat das Gefühl: die Aufführung ist das Werk eines Kopfes, eine Faust schob die Puppen, zähmte Schatten und Licht. Nicht bloß im Naturalismus, – er weiß ein Traumstück wie Hannele zu inszenieren …! Man hat den Wunsch: könnte der Mann zu uns kommen, Werke zu spielen, die größer sind. Er würde den Florian Geyer auf die Beine stellen … Erst durch Reinhardt und seine Schar sind bei uns in der Regie Zustände geschaffen, die sich vor Antoine sehen lassen können.

siehe Bildunterschrift

Karikatur auf den jungen Antoine.
Désiré Luc

II.

In der Antoine-Ära ist noch im kleinsten Bums-Theater an der Seine die Regie bewundernswert. Es wird die Wahrheit des Alltags in einem Dutzend Bühnenhäuserchen von wenigen Parkettreihen mit einer Täuschungskraft gespiegelt, daß Schmarren, Melodramen, Polizeiberichte, Sensationen, Brutalitäten tief erschüttern können. Man erlebt die seltsamsten Theaterwirkungen, über die man staunt, dank einer diesem Volk eingeborenen Gabe der Regie; sie ist in der Antoinezeit zum Gipfel gelangt. Die Einzelnen sind auch hier nicht verblüffend groß: doch ihre Menge, ihre Gesamtheit wird unsterblich. Sie machen sechzig Proben und wagen alles. Eine nationale Verbreitung dieser Regiefähigkeit ermöglicht, daß in irgend einem Zufallskasten von Meistern gespielt wird (die vielleicht Hungerpfoten saugen) mit einer Abtönung, mit einer Rapidität des Ineinanderfassens, mit einem Wahrheitsmut, daß ein nationales Unikum aufleuchtet. Man sehe das Stück eines Spätlings wie Capus mit dem leisen Galgenhumor, mit dem Lächeln des Verzichtens, mit dem Fünfgradeseinlassen, mit dem etwas gepreßten Glück, mit dem müd ironischen Einlenken, – was für köstliche Zwischenstufler als Regisseure sind sie hier, ebenso bei dem zarteren Donnay. Es ist die Vollendung: nicht bloß an Naturtreue, sondern an Musik. In der Regie liegt der Gipfel von Galliens Bühnenkunst.

siehe Bildunterschrift

Gilles.
Watteau

III.

Hierneben verblassen die Einzelnaturen. Das Wrack Sarah kennen zu lernen ist ein Stoß der Enttäuschung. (Ich spreche von der Periode bevor sie nach Berlin kam.) Man braucht Zeit, um sich klar zu machen, weshalb die Frau so berühmt ist. Dann gelegentlich erkennt man, was sie Bezauberndes hat. Ein gemäßigter Vogelkopf. In der Schärfe des Blickes, in der scharfen Betonung fühlt man die Jüdin. Auch in der Art, wie sie zum Diener spricht, in irgend einem Lustspiel als ob sie sagen wollte: »'s gut, mach' schon, daß du rauskommst.« Man fühlt, daß die Rachel, von der uns die Väter erzählten, aus ganz andrem altbiblischen Holz gewesen sein muß. Die Schlitze, aus denen die Bernhardt sieht, sind verquollen; die Nase von prachtvoller Feinheit …

Die Erinnerung an die merkwürdige Person bekommt nach und nach Gewalt. Vor allem die Stimme, wenngleich sie zerbrochen ist, und einige Bewegungen werden nachher lebendig. Die Stimme und einige Bewegungen: sie spricht wie ein Kind; sie hat die klingende Stimme eines Kindes im alten Leib; eines wundersamen, verzogenen Kindes. Verzogen sind ihre Haltungen; mit einem einzigen Neigen des Körpers und einem Ausstrecken der Arme, im Flug vorübergehend, bleibt sie im Gedächtnis. Es liegt etwas sehr Schmeichlerisches darin. Und wenn sie heiter die Zähne weist, als ob sie lächelnd bezwungen wäre, so hält vor diesem Lächeln von großer, verwöhnter, provozierender und einkassierender Liebenswürdigkeit niemand stand.

Aber niemand vergißt für eine halbe Minute das glänzend Zurechtgelegte des Spiels. Die Frau ist gefallsüchtig bis in die Fingerspitzen, spielerisch bis ins Gekröse. Sie mit der Duse vergleichen zu wollen, – ach Gott. Und sollte die Duse nicht sechzig-, sondern hundertzwanzigjährig sein, man würde noch erkennen, daß sie ein Naturspiel ist, wie man bei der Bernhardt erkennt, daß sie eine berückende Macherin ist.

Du schaust mich an – du fragst mich, was dir fehle?
Ein Busen. Und im Busen eine Seele.

siehe Bildunterschrift

Sarah Bernhardt

IV.

Ich zergliedre sie zweckmäßig in einem Stück, das sie nach Deutschland gebracht hat: Tosca. Der erste Akt in der Kirche: Sarah Bernhardt ist schmeichlerisch nett zu ihrem Geliebten. Im zweiten Akt geschieht nichts Besonderes. Im dritten dieses Schmarrens wird der Geliebte gefoltert, – sie hört es, der Menschheit ganzer Jammer soll schreien. Aber sie macht kluge, sehr technisch-sichere Geschichtchen. Sie macht »Qual«. Sie greift keinem ans Herz. Im vierten Akt ist die Hauptszene: sie soll sich hingeben, um den Geliebten frei zu sehn (wie Marion Delorme bei Victor Hugo). Hier ist ein Augenblick auf dem Sofa sehr gut, sehr knapp gemacht. Sie gibt in Todesangst das Jawort, es scheint sich zur selben Zeit ihr Magen zu empören, und sie schämt sich. Diese drei Dinge macht sie geschwind und prachtvoll treffsicher. Dicht hintereinander: Zustimmung, Widerwille, Scham. Hierauf ergreift sie den Dolch und tötet den Bedränger. Wie eine Nachtwandlerin, ganz fahl (ich dachte: sie macht »Fahlheit«), große hypnotisierte Augen, sie stößt zu wie im Traum (sie macht »Traum«). Siegreiche Fertigkeit verwandter Art werden wir bei der Réjane sehen, – die größer ist. Und das alles bleibt eine über die Maßen gelungene Nummer Sehr tüchtig sehr klug.

Die Töne sind bei ihr immer unecht; sonst hat sie keinen Fehler. Sie sagt mir nichts. Ich kann mir nicht helfen: sie sagt mir nichts. Sie macht sich niedlich, wobei sie oft bezaubernd ist, oder sie entwickelt Tigernervosität; an tiefer Kunst gemessen, bleibt es immer Talmi. Und alles wirkt nicht etwan als Folge der Jahre. Ich fühlte, als ich sie zum erstenmal in Frankreich sah: sie kann nie echt gewesen sein. So erscheint sie auch ganz schwach, wenn ihr Geliebter tot ist; sie macht »Weinen«. Sie weint nicht wirklich um einen erlittenen Schmerz. Sie hatte diesen Statisten in keinem Augenblicke geliebt. Sie gab nur Gebärden der Hingebung, des Schmollens, der Besorgnis, – (wo bei der Duse ein Liebesblick Welten heraufdämmern läßt) …

Bei der Duse hört man die Ewigkeit rauschen, bei der Bernhardt die Kulissen wackeln.


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