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Neue Schauspielkunst

I.

. Der vorletzte Stil in Deutschland war der Stil des deutschen Theaters (unter Brahm). Formel für den letzten Stil: die Linie der Entwicklung geht zum Symbolistisch-Malerischen. Worin dieser letzte Stil über das Eintönige der Naturalistik vor ihm hinauskommt, das ist der Gestus. Farbige Tragik.

Oder: Schauspielkunst der Linien und Flecke. Impressionismus der Schauspielkunst.

Wer hat diesen Stil gemacht? Man könnte sprechen: Unser Leben seit einem Lustrum ist dekorativer geworden, auch die Schauspielkunst … Dichter haben ihn gemacht. Sie sind Ursache, daß der sogenannte Armeleutstil des Brahmschen Theaters abgelöst wird – etwa durch einen Stil der psychischen Farbenreize. In der Regie durch ein Seelenmeiningertum, das vorher nicht bestand. Durch den Impressionismus der Schauspielkunst.

Der Stil des Deutschen Theaters hatte sozusagen kehrseitige Tugenden. Er war groß in der Abkehr vom Unnatürlichen. Er war groß im Vermeiden. Bejahend gedacht: er war groß im Herausarbeiten verhaltener Innerlichkeit; wobei der Ton auf dem Verhalten liegt. Meine Lieben, die geringe Begabung der nördlichen Rassen für die Schauspielkunst fand auf dieser Bühne den bewundernswertesten Ausdruck. Die Germanen sind ja weniger gemacht zur Schauspielkunst als zur Verkneifungskunst. Germanische Völker genieren sich. Vom Christentum haben sie die Abtötung übernommen, die Selbstunterdrückung (während die lateinischen Stämme den Marienkult vorzogen). Oder kommt dies Verhüllen vom Nebel ihres Firmaments? Dann war das Deutsche Theater das deutscheste Theater. Ein nördlicherer Stil der Schauspielkunst wird nicht mehr durchbrechen.

Und doch hat er uns manche tiefe Erschütterung gegeben, – die wir nun einmal unter diesem Himmel groß geworden sind.

siehe Bildunterschrift

Felsentheater im Park von Hellbrunn bei Salzburg

II.

Also die Dichter fingen an zu stilisieren; die Bühne mußte dasselbe tun. Maeterlinck, Wilde, Hofmannsthal, D'Annunzio, Wedekind schaffen ja keine Gestalten mehr. Eher Dinge. Seelenreize. Sie verkörpern tragische Farbenspiele; oder komische Linienspiele; oder tragikomische Kaleidoskope. Sie schaffen vielleicht etwas Verglühendes oder Sehnsüchtiges statt eines Menschen. Sie schaffen vielleicht etwas Aufleuchtendes oder Dahinklingendes statt einer Gestalt. Sie geben vielleicht eine Musik statt eines Charakters. Vielleicht einen Traum statt eines Umrisses. Vielleicht ein Lächeln statt einer Komödie. Vielleicht einen Rausch für eine Begebenheit. Aber keine Menschen.

Sie geben die Furcht: nicht einen furchtsamen Charakter. Sie malen Perversität: nicht eine bestimmte Hedda Gabler, die mit bestimmten sonstigen Zügen pervers ist. Sie malen eher den Prophetismus als einen Propheten. Sie dichten das Leben eines Kammersängers: nicht die Gestalt eines solchen. In der Frau ohne Hände nicht so sehr eine liebende Gattin, eher die blutende Gattenliebe. Der Tod des Tintagiles heißt nicht: ein beseitigtes Kind; sondern: das Dunkel des Kinderbeseitigens; ein Akkord des Erstickens. Der Eindringling ist keine Begebenheit, – sondern eine Angst. Bunbury ist kein Drama bestimmter Menschen; vielmehr eine Parodie auf bestimmte Dramen. Immer kommt es auf eine Sache hinaus. Der Erdgeist Lulu ist so wenig ein faßbares Weib, daß er just »die Unfaßbarkeit des Weibes« ist.

Auf eine Sache kommt es hinaus. Der einzelne Darsteller ist für diese Kunst ein Lichtpunkt oder ein Schattenstreif oder ein Farbenfleck im ganzen Bild, mehr als früher. Auf dieses ganze Bild kommt es an. Auf die Impression, die vom ganzen Bild ausgeht. Darum streift heute die Kunst des Schauspielers nahe daran, den Ausdruck einer Sache zu bieten statt eines Menschen. Er hat (weil die Gestalten fast Allegorien – sagen wir: Symbole – sind) auch für den Seheindruck bildhafte, symbolgleiche Zeichnungen zu bieten, mehr als früher. Nicht etwa nur durch die Maske: sondern vielleicht durch eine bestimmte einprägsame Symbolhaltung in einer entscheidenden Szene, … worin schlimmstenfalls die ganze Gestalt zusammengedrängt ist; will sagen: das Sachliche der Gestalt zusammengedrängt ist.

Ich muß deutlicher sein. Wenn bei Tolstoj jemand in der naturalistischen Macht der Finsternis aufpaßt, während des Mordes, daß keiner dazukomme: so würde diese bestimmte Person vor diesem bestimmten Mord Wache halten. Bei Hofmannsthal in der Elektra liegt alles anders. Die Schauspielerin Eysoldt ist hier keineswegs eine Frau, die bei einem Mord Schmiere steht; auch nicht die bei »ihrem« Mord Schmiere seht. Sondern sie ist »Hüterin des Mordes« schlechtweg; schlechtweg eine Fledermaus der Rache: weil das ganze Werk Erfüllung des Rachgefühls ausdrückt. Sie verkörpert ein Ding; nicht einen Fall. Sie hält wundervoll die Arme gespreizt wie ein Nachtvogel die Fittiche (der Dichter sagt nur, sie solle mit dem Rücken gegen die Tür gepreßt stehen), sie ist mit Raubtieraugen Hüterin des Mordes, wird zu einem Ornament, zu einer Impression, zu einem Symbol, sie gibt den Stil der malenden Schauspielkunst. Man hat schlimmstenfalls das ganze Geschöpf in dieser Geberde. Und die Sache in diesem Geschöpf.

Der Leser wird Bescheid wissen.

siehe Bildunterschrift

Gertrud Eysoldt als Salome.
Lovis Corinth

III.

Hinter diesem Gestus liegt eine Geschichte. Die Duse gab (in ganz anderem Sinn) einen ganz ähnlichen; er enthielt dieses mit dem Rücken Angepreßte bei diesen gespreizten Armen, ein langdauernd unbewegliches Bild, – das nach Jahr und Tag in meinem Gedächtnis haust. In gar keinem symbolistischen Werk, und in schwermutvollerer Beziehung: als ob die Trauer einer todgezeichneten stummen Nachtfigur darüber hinge. Sie tat es in der Zeit, da sie mit bildender Kunst durchsättigt war, vom Glück etwas bestrahlter und mit d'Annunzio verflochten. Als Adrienne Lecouvreur stand sie beim Feuer: doch sie war nicht mehr die Adrienne: sie war ein »Ornament am Kamin«. Ein unsterbliches Ornament. Befreit von Scribe. Nie vergeßbar in der dunklen Linienschönheit dieser einzigen Trauer. Nie vergeßbar in der Zeichnung.

 … Sie hat in jenen Tagen das Bild-Symbolistische bevorzugt. Als sie dem Lövborg das Punschglas reichte, war sie nicht mehr Hedda: sondern sie war »die Verführung«. Etwas Malerisches, vom Ganzen Losgelöstes. Es entsprang einer Laune (was man ihre »Maniertheit« nennt); oder einem großen Durst nach Schönheit, – wenn sie schon willkürvoll Ibsen als ein Substrat behandelte.

Die Eysoldt ist wohl unabhängig von der Duse zum Zeichnerischen gelangt. Sie kam als Hannele nach Berlin gegen das Ende der 90er Jahre. Zum Bildstil führten sie die Dichter; ihre Anlage half dabei. Ein Schusterlehrling dämonisch geworden … ist etwan ihre Formel. Mit ihrem Kinderleib und ihrer Kinderstimme kann sie das Böse, das Verdorbene, das Eigenwillige, Groteske, Miaulende, Balzende, Exzentrische, Saloppe, Zoologische, Schreckhafte, das Akrobatische und das Nachlässig-Heitere tiefer überzeugend machen als sonst wer bei uns. Die Bewegungslinien bleiben in der Erinnerung, wenn sie gleich einem Nachtmahr in Röcken, jemand umschlingt. Der Akzent ihrer Bewegungen haftet … haftet im Ohr, wenn sie einen besonderen Schritt und Tritt für Wildesche Komödien annimmt, sowie ihre Linien zu jonglieren beginnen, sowie ihre Stimme Hand in Hand damit hüpft und plärrt. Gertrud Eysoldt ist heut als zeichnerische Begabung die Stärkste. (Von dieser Fähigkeit des Zeichnens grundgeschieden bleibt ja die Frage nach dem schauspielerischen Temperament; ob etwan alles in einem Gusse strömt; ob es kalt oder heiß ist; das hat hiermit fast nichts zu tun.)

Bei Hofmannsthal gibt sie eine Szene mit der Bertens. Sie rückt mir den Unterschied zweier Kunstgeschlechter ganz in die Augen. Die Bertens ist hier dreimal so groß: aber nicht den dritten Teil so zeichnerisch. Sie hat eine wundersame Vollendung in der Art zu sprechen; diese Klytämnestra ist gewiß die erste Sprecherin Deutschlands: aber die kleine Eysoldt zeichnet, sie gibt Linien, sie ist ein Symbol. Die Bertens kommt auf eine Stufe der innerlichsten Entwicklung, die sie vorher nie betrat: aber die Eysoldt hat neue Mittel. Die Eysoldt ist sehr folgerichtig, sehr mutig, sehr geistreich, – doch ein zwingendes Temperament ist sie, unter der Hand, nicht. Die Bertens wiederum zeichnet nicht; sie beschränkt sich auf ihr Kostüm … und greift an die Seele. Wertvoller ist mir die Bertens. Anregender für den Gang der Entwicklung die Eysoldt (aus der vielleicht eines Tages doch ein Schrei quillt).

Dasselbe Ergebnis, wenn man die Lehmann und Rittner gegen sie hielte.

Die Soldaten des alten Heers sind vorläufig machtvoller, … aber die anderen siegen auf eine neue Art.

siehe Bildunterschrift

Rudolf Rittner als Fuhrmann Henschel

IV.

Zu den Anderen rechnet Bassermann. (Als Nachwuchsgestalten, im Zeichnerischen, sind neben der Eysoldt Tilla Durieux zu nennen und die realere köstliche Zeichnerin Hedwig Wangel) … Bassermann störte die Nördlichkeit des Deutschen Theaters und die dortigen Seelenbewegungen (die eigentlich Widerstand waren) durch Farbenblitze, ja durch genialer huschende Linien. Er drang durch am 21. April 1899 in einem Schauspiel »Kain«, das er mit seltsamen Lichtern als ein Ruhmgierig-Kranker durchschritt. Durchschritt? Durchfuhr. Durchfuhr? Durchspensterte – möcht man sprechen. Hier sah man die neuen Linien. Er spielte E. T. A. Hoffmann. Es ließ sich vermuten wie er Wedekind spielen würde … Er braucht das zeichnerische Verfahren für eine unstilisierte Gestalt wie den Crampton: um wieviel mehr kommt das Phantastische heraus, das auch in naturalischen Verkörperungen selbstverständlich lebt. Man vergleiche den Nichtzeichner Engels, der Cramptons Worte sprach, mit ihm, der sie spricht und zugleich durch hundert malerische Lichtflecken, hundert zeichnerische Linien die Gestaltung versinnlicht und vertieft. Ich sehe Bassermann auf dem Sopha hingestreckt, für lange Zeit, nachts, in der Kneipe … Er gibt eine Gestalt von Schnitzler; einen selbstischen, seelenfeinen Auskoster, der vor dunklem Toresschluß den einsamen Weg zieht; Bassermann singt da in mannheimischer Sprache wie ein Vogel, wie ein heiserer … doch er wächst, gestaltend, geradenwegs zu einem denkmalhaften Gefäß der abgestuftesten Regungen, wo sie sich fast verflüchtigen – zu einer großen Phantasiegestalt, mit malerischen Lichtflecken, umrissen von besonderen Linien. Ein Denkmal; ein Mythus.

Aber man halte neben die Gipfel im Zeichnerischen, neben die Eysoldt und Bassermann, den großen Simplizitätsspieler der letztvergangenen Epoche, Rudolf Rittner. Er ist ein wundervoller Vertreter der nördlichen Kunst, und bleibt für mein Gefühl ein stolzer deutscher Besitz. Hier jedoch schweigt er. Entsinnt sich jemand, daß Rittner in einer bestimmten Figur unterscheidlicher gemalt hat (ich meine nicht den Fuhrmann Henschel, wo das Unterscheidliche in der Tracht lag)? Hat er oder die wahrhaft himmlische, das heißt wahrhaft menschliche Else Lehmann je eine Geberde gemacht, die eine Gestalt umschloß? Die über den Augenblick hinauswuchs?

Beide stehen, von deutschen Künstlern, unserem Gefühl am nächsten. Aber sie sind (große, nicht vergängliche) Hyperboräer.

siehe Bildunterschrift

Else Lehmann als Rose Berndt
Aufnahme Otto Becker & Maass

V.

Der neue Stil bringt eine Versüdlichung der Kunst, – was nicht gleichbedeutend mit Verflachung ist. Meine Teuren, der Zeichner Bassermann könnte Hamlet sein; der größte Simplizitätsspieler, den wir haben, nie.

Ich glaube nicht an die Verflachung, ich sehe ja eine Verfeinerung.

Die Kämpfer des alten Heers sind machtvoller, … aber die anderen siegen auf eine neue Art. Es handelt sich um Leute, die durch den Naturalismus hindurchgegangen sind.

Ob das psychische Meiningertum in der Regie Fortschritte macht; ob wir auf ein japanisches Theater losgehen: dafür sind heut keine Merkmale vorhanden.

 … Die Reinhardtschen Theater in Berlin beherrschen jedenfalls beide Stile. Den Armeleutstil bei Gorki, die farbige Tragik im sonstigen. Alle Guten rechnen mit diesen Bühnen zuvörderst.

Berlin, seit zehn Jahren die erste Theaterstadt der Welt, wird in dem neuen Impressionismus den Stil für Henrik Ibsens letzte Werke finden.

siehe Bildunterschrift

Engel der venezianischen Assunta.
Tizian


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